Forsberg und der Teufel von Björlanda - Ben Tomasson - E-Book + Hörbuch

Forsberg und der Teufel von Björlanda Hörbuch

Ben Tomasson

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Beschreibung

Mord am malerischen Strand von Björlanda! Teil 3 der atmosphärischen Schweden-Krimi-Reihe zum Miträtseln: ein Toter am Strand, familiäre Abgründe und ein privates Dilemma für Kommissar Forsberg. Am Strand von Björlanda bei Göteborg wird ein Toter im Neoprenanzug gefunden: Es handelt sich um den erfolgreichen Werftbesitzer Sixten Nordin – und was zunächst wie ein tragischer Paddle-Board-Unfall aussieht, erweist sich schnell als Mord. Wie sich herausstellt, ist es nicht der erste rätselhafte Todesfall in der Familie. Bald kommt Kommissar Frederik Forsberg einigen dunklen Geheimnissen auf die Spur. Eine ungeahnte Wendung nimmt der Fall, als ausgerechnet Arvid Ekström dringend tatverdächtig scheint, mit dem Forsberg um seine große Liebe Lea konkurriert. Plötzlich steht der Kommissar vor einer Herausforderung, die ihn bis an seine Grenzen bringt. Die »Frederik-Forsberg-Reihe« von Ben Tomasson steht für unblutige Urlaubskrimis aus Schweden, die zum Miträtseln einladen. Die Krimi-Reihe um den Göteborger Kommissar ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Forsberg und das verschwundene Mädchen - Forsberg und der Tote von Asperö - Forsberg und der Teufel von Björlanda »Tomassons Schweden-Krimi-Reihe um Kommissar Forsberg aus Göteborg überzeugt mit einem sympathischen Ermittler, hohem Rätsel-Faktor und natürlich der einzigartigen Schärenlandschaft Göteborgs.« Medien Info Buch Magazin  

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Zeit:13 Std. 2 min

Sprecher:Markus Hoffmann
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Über dieses Buch

Am Strand von Björlanda wird ein Toter im Neoprenanzug gefunden: Es handelt sich um den erfolgreichen Göteborger Werftbesitzer Sixten Nordin – und was zunächst wie ein tragischer Unfall aussieht, erweist sich schnell als Mord. Wie sich herausstellt, ist es nicht der erste rätselhafte Todesfall in der Familie. Bald kommt Kommissar Frederik Forsberg einigen dunklen Geheimnissen auf die Spur. Eine ungeahnte Wendung nimmt der Fall, als ausgerechnet Arvid Ekström dringend tatverdächtig scheint, mit dem Forsberg um seine große Liebe Lea konkurriert. Eine Herausforderung, die den Kommissar bis an seine Grenzen bringt …

Inhaltsübersicht

Widmung

Den ganzen Vormittag schon [...]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Dank

Leseprobe »Forsberg und die Schatten von Trollhättan«

Für Reinders

Ohne dich wäre alles anders gekommen

Den ganzen Vormittag schon hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt. Dabei war es ein wunderschöner Tag. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser des Kattegats, das sie vom Küchenfenster aus sehen konnte. Das neue Haus war auf den Felsen unmittelbar an der Küste von Björlanda gebaut worden, nur ein paar Hundert Meter von der Werft entfernt. Weit genug, um nichts vom Lärm der Bootsbauer zu hören, aber doch nah genug, um in wenigen Minuten an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Sie hatte Casper hundertmal gesagt, dass das nicht nötig war. Er arbeitete schließlich nicht auf der Werft, sondern bei der Zeitung in Göteborg. Sein Weg ins Büro hatte sich seit dem Wegzug aus der Stadt in den Vorort deutlich verlängert. Doch für Casper spielte das keine Rolle. Er wollte, dass seine Frau glücklich war, mit dem Meer vor der Tür und dem eigenen Steg, an dem das kleine Motorboot lag, mit dem sie so gern zwischen den Göteborger Schären herumfuhr.

Astrid lächelte. Alles in ihrem Leben hatte sich wundervoll gefügt, viel besser, als sie es sich jemals ausgemalt hatte. Sie hatte zwei großartige Söhne und den besten Mann, den sie sich wünschen konnte. Ein Wermutstropfen mochte sein, dass Casper wegen seiner Reportagen ständig in der Welt herumreiste und selten zu Hause war, doch im Grunde war es ihr so lieber, als mit einem Mann zusammen zu sein, der sich ständig in ihr Leben und ihre Arbeit einmischte.

Ihre Eltern waren nicht begeistert gewesen von diesem Schwiegersohn, der nicht aus der richtigen Gesellschaftsschicht stammte und sich überdies nicht für den Bootsbau interessierte. Ganz im Gegensatz zu Caspers Bruder Halvar, der gleich nach der Hochzeit von Astrid und Casper in der Werft von Astrids Eltern angefangen hatte und seitdem als leitender Bootsbauingenieur arbeitete. Aber mit Halvar war es leicht. Im Gegensatz zu Casper war er ein ruhiger und ausgeglichener Mann, mit dem es noch nie Konflikte gegeben hatte. Casper dagegen war ein Sturkopf. Eine Eigenschaft, die ihm in seinem Job zweifellos zugutekam, die aber die Zusammenarbeit sicherlich erschwert hätte. Deshalb war es gut, so wie es war. Astrid konnte die Geschicke der elterlichen Werft ohne die Einmischung ihres Mannes lenken und die praktischen Dinge Halvar überlassen, und Casper, der verwegene Abenteurer, machte ihr Privatleben reich.

Astrid hängte das nasse Geschirrtuch auf und ging durchs Wohnzimmer mit den bodentiefen Fenstern auf die Terrasse, die ebenfalls einen großartigen Blick über das Meer und die Göteborger Schären bot. Sie beschirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne und spähte über das Wasser.

Casper war am Morgen mit seinem geliebten Kutter hinausgefahren. Das Fischen war die einzige Tätigkeit, bei der er entspannen und die Seele baumeln lassen konnte. Ansonsten stand er ständig unter Strom. Astrid dagegen langweilte sich dabei. Sie hatte den Tag lieber nutzen wollen, um ein paar dringende Angelegenheiten im Haushalt zu erledigen. Zumal ihr Schwager angeboten hatte, ihre beiden Söhne auf die Probefahrt mit der schnellen Jacht eines Göteborger Industriellen mitzunehmen. Sixten und Anders waren natürlich Feuer und Flamme gewesen, auch wenn es bedeutete, dass sie Zeit mit Halvars Sohn Lasse verbringen mussten, der anscheinend schon mitten in der Pubertät steckte und ständig Unfrieden stiftete, obwohl er erst zwölf war, genau wie ihr älterer Sohn Sixten. Anders dagegen war noch ein Kind, ein freundlicher, quirliger Junge, den sie über alles liebte.

Nun hatte sie bereits am frühen Nachmittag alle Arbeiten im Haus erledigt und bedauerte, dass sie nicht zusammen mit den Jungen aufs Meer gefahren war. Sie liebte Boote, und die Jacht war ein Prachtstück. Sie hätte es genossen, den starken Motor aufzudrehen und zwischen den Schären hindurchzufliegen. Es gab kaum etwas Schöneres als dieses Gefühl der Leichtigkeit, umgeben von den flachen grauen Steininseln mit dem niedrigen Bewuchs, dem hohen Himmel und dem Sonnenlicht, das sich im klaren Wasser brach.

Sie überlegte, ob sie mit ihrem eigenen Boot hinausfahren oder lieber in die Werft in ihr Büro gehen sollte. Auch dort wartete einiges an Arbeit auf sie.

Aber es war Sonntag. Sie sollte sich einen schönen Tag machen.

Sie zuckte zusammen, als in der Ferne plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen erklang. Das Kreischen von Metall auf Metall. Geräusche von splitterndem Holz und berstendem Glas.

Das Unbehagen, das sie verspürt hatte, kehrte mit einem Schlag zurück.

Hatte es da draußen auf dem Meer ein Unglück gegeben?

Astrid hastete über die glatten Felsen zum Wasser hinunter und legte die Hand über die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. Sie spähte in die Richtung, aus der sie den Lärm zu hören geglaubt hatte, aber da war nichts. Kein Qualm, keine Rauchsäule über dem Wasser. Nichts, das in irgendeiner Weise auf eine Explosion hindeutete, und auch keine Sirene, die irgendwo heulte.

Astrid wischte sich die feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr los war. Sie war nie eine besonders ängstliche Frau gewesen. Was sie gerade gehört hatte, musste nichts mit ihrer Familie zu tun haben. Schließlich waren an einem Sommersonntag wie diesem unzählige Schiffe und Boote auf dem Meer zwischen den Schären unterwegs. Es war ja nicht einmal sicher, dass der Lärm vom Wasser gekommen war. Und selbst wenn, könnte es auch eine Fähre gewesen sein, die auf einen Felsen aufgelaufen war. So etwas kam vor.

Sie musste sich dringend beruhigen.

Mit raschen Schritten ging sie zurück ins Haus und setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen.

Zwei Minuten später pfiff der Kessel. Im selben Moment schrillte das Telefon auf dem kleinen Regal im Eingang.

Astrid nahm hastig den Wasserkessel von der Kochplatte und stürzte in den Flur. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Hörer griff.

Der Anruf konnte vollkommen harmlos sein. Aber ihre innere Stimme sagte ihr, dass es nicht so war.

1

Aus dem Erdgeschoss drang der Lärm zu ihm herauf. Das Scharren auf dem Boden von schweren Gegenständen, die hin und her geschoben wurden. Türen, die aufgestoßen wurden und gegen Wände krachten. Gepolter, weil Dinge unsanft abgestellt oder fallen gelassen wurden.

Sixten Nordin starrte aus dem Fenster seines Büros über das Kattegat und seufzte.

Er wusste genau, was dort unten passierte. In der großen Halle, in der die Konstruktionstische und Modelle standen, wurde alles Arbeitsmaterial beiseitegeschoben. Stattdessen baute man eine Bühne auf, Stehtische mit weißen Lacktischdecken und ein exquisites Büfett. Die Firma, Nordins Schiffs- und Bootsbau, feierte ihr fünfundsiebzigjähriges Bestehen. Es würde Reden geben und Musik, Häppchen mit Kaviar und Lachs und natürlich Champagner. Politiker, Honoratioren, Geschäftspartner, alle würden da sein. Und niemand würde ahnen, wie dünn das Eis war, auf dem sie tanzten.

Sixten fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. Er war ratlos, was er tun sollte.

Er hatte geglaubt, das beste Geschäft seines Lebens abzuschließen, und nun glitt ihm alles aus den Händen.

Eigentlich war es nicht seine Schuld. Sein Onkel Halvar hatte ihm den Kontakt zu dem deutschen Holzgroßhändler vermittelt. Er hatte ihm geraten, das Teakholz, das sich einer ihrer wichtigsten Kunden für das Deck seiner neuen Jacht wünschte, von dort zu beschaffen. Der Preis war günstig gewesen, die Lieferung schnell und unkompliziert, die Ware von hervorragender Qualität.

Wie hätte er wissen sollen, dass das Holz illegal geschlagen, falsch deklariert und gesetzeswidrig importiert worden war? Als ein paar Tage zuvor ein Ingenieur bei einem Treffen der Göteborger Schiffbau-Vereinigung davon berichtet hatte, dass das Lager des deutschen Großhändlers geräumt worden war und die Staatsanwaltschaft ermittelte, hätte ihn beinahe der Schlag getroffen. Noch hatte man die Lieferung nach Schweden offenbar nicht nachverfolgt, doch Sixten rechnete jeden Moment damit, dass die Sache aufflog. Der Schaden, der dem Familienunternehmen entstand, wenn er das Holz nicht verwenden konnte, den Kaufpreis nicht erstattet bekam und womöglich noch eine Geldstrafe zahlen müsste, wäre in der gegenwärtigen angespannten Lage nicht zu verkraften.

Fünfundsiebzig Jahre lang hatten drei Generationen von Nordins den Betrieb sicher durch unwägbare Gewässer geführt, Stürme und Flauten überstanden. Und er, Sixten Nordin, würde die Flotte möglicherweise im Handstreich versenken, zwei Jahre nur nachdem er die Geschäfte von seiner Mutter übernommen hatte.

Onkel Halvar hatte ihm geraten, das Angebot der Chinesen anzunehmen, ehe Polizei und Zoll in der Firma aufkreuzten. Zu verkaufen, solange der Betrieb noch etwas wert war. Aber das würde er nicht tun.

Er hatte das Geschäft mit den Deutschen nach bestem Wissen und Gewissen abgeschlossen. Die Rechtslage war kompliziert. Es war nicht gesagt, dass man ihn und die Firma zur Rechenschaft zog. Auf keinen Fall würde er einfach aufgeben. Er würde kämpfen und seiner Mutter beweisen, dass es kein Fehler gewesen war, ihm den Betrieb anzuvertrauen.

Allein um ihretwillen musste er weitermachen. Sie brauchte jetzt jeden Halt, den sie bekommen konnte. Alles andere würde über ihre Kraft gehen.

Sixten löste sich vom Fenster und ging über den Flur in den Waschraum. Er rückte den weißen Hemdkragen zurecht und korrigierte den Sitz der Krawatte, die das Firmenemblem trug, einen stolzen Dreimaster mit aufgeblähten Segeln. Sixten strich ein paarmal über die Aufschläge des dunklen Jacketts und befeuchtete seine Finger, um die blonden Haare zurückzustreichen. Er war zu blass, wie immer, aber daran konnte er nichts ändern. Seine Stärke waren nicht sein gutes Aussehen oder seine Ausstrahlung, sondern seine Intelligenz und sein Ehrgeiz. Zwei erfolgreich abgeschlossene Studiengänge und harte Lehrjahre im Bootsbaubetrieb. Er hatte das alles durchgestanden, weil er wollte, dass seine Mutter stolz auf ihn war.

Das war die Währung, in der man in ihrer Familie zahlte. Leistung und Anerkennung, nur darum ging es. Jedenfalls, seit sein Vater nicht mehr da war.

Sixten kehrte in sein Büro zurück und ließ den Blick erneut über die liebliche Göteborger Schärenlandschaft wandern. Kleine, graugrüne Perlen im blau schimmernden Meer. So unfassbar schön und friedlich. Und doch war genau dort das Schreckliche geschehen.

Sixten wandte sich vom Fenster ab. Er wollte nicht daran denken. Nicht an damals, nicht an seinen Vater und an das, was passiert war, und auch nicht an die Härte seiner Mutter. Die Vergangenheit spielte am heutigen Tag keine Rolle. Es ging einzig und allein um die Zukunft.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.

»Herein«, rief er heiser.

Es war Tuva, seine Frau. Sie blieb im Türrahmen stehen, eine schlanke Gestalt, die ihn mit einem warmen Lächeln ansah, wunderschön mit ihren langen blonden Locken und dem blauen Kleid, dessen Farbe sich in ihren Augen spiegelte.

»Bist du bereit?«, erkundigte sie sich. »Die beiden deutschen Studentinnen, denen du die Werft zeigen wolltest, sind jetzt da.«

»Ja«, sagte Sixten, obwohl er es ganz und gar nicht war.

Tuva kam mit leichten Schritten auf ihn zu und korrigierte noch einmal den Sitz seiner Krawatte. »Um sechs solltest du zu Hause sein, damit wir uns in Ruhe umziehen können.«

»Das schaffe ich«, versprach Sixten.

Er sah ihr an, dass sie sich auf den Abend freute. Tuva ging gern unter Menschen, und sie liebte es, zu feiern und zu tanzen. Sixten fragte sich gelegentlich, warum sie einen Mann wie ihn geheiratet hatte, der steif, verkopft und unbeholfen im Umgang mit Menschen war, wenn es nicht ums Geschäft ging, aber das behielt er für sich. Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte.

»Dann lass die jungen Frauen nicht warten.« Tuva griff nach seiner Hand, zog ihn aus dem Büro, und sie liefen gemeinsam die Treppe in die Halle hinunter.

Sixten atmete tief durch.

Was auch immer geschah, vor den Studentinnen und bei der Feier heute Abend würde er sich nichts anmerken lassen. Er würde seine Rolle spielen. Sixten Nordin, der erfolgreiche Geschäftsführer von Nordins Schiffs- und Bootsbau. Er würde dafür sorgen, dass der Betrieb keinen Imageschaden erlitt. Und nach den Feierlichkeiten würde er darüber nachdenken, wie er den Karren am besten aus dem Dreck holte.

 

Jeder Schritt auf dem steinigen Weg war eine Qual. Ihre Nerven gehorchten ihr nicht mehr. Eine fremde Macht in ihrem Kopf hatte die Kontrolle übernommen und stahl ihr jeden Tag mehr von ihrer Selbstständigkeit und ihrer Würde. Ihr war ständig schlecht von den Medikamenten, und ihr Körper war zu einer absurden Monstrosität aufgedunsen. Sie vermied den Blick in den Spiegel, aber sie wusste, dass von der schönen Frau, die sie einmal gewesen war, nichts mehr übrig war.

Sie sah es auch in Halvars Augen. Früher hatte er sie angebetet. Jetzt stieß sie ihn ab.

Natürlich sagte er das nicht, und er versuchte auch, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie spürte es trotzdem. Er hatte aufgehört, sie zu begehren. Sie war nur noch eine Last für ihn.

Ihre Therapeutin riet ihr immer wieder, loszulassen. Es sich nicht unnötig schwer zu machen. Das Schicksal zu akzeptieren und ihren Frieden zu finden. Doch das konnte sie nicht.

Solange sie lebte, würde sie kämpfen. Schon allein deshalb, weil sie noch gebraucht wurde.

Sie blieb kurz stehen, um sich auszuruhen.

Das Haus war eigentlich ein alter Bootsschuppen. Es stand auf den flachen Felsen an der Küste vor Björlanda, direkt am Meer. Irgendwann einmal waren die Holzbretter tiefrot und die Kanten und Fensterrahmen weiß gewesen. Jetzt überwog das Grau; die typischen Schwedenfarben waren nur noch eine ferne Ahnung im verwitterten Holz. Das Dach sah aus, als müsste es dringend geflickt werden, und im großen Garten stand das Gras so hoch, dass man mit einem gewöhnlichen Rasenmäher kaum noch durchkommen würde.

Aber das alles interessierte Anders nicht. Er verwendete seine gesamte Energie auf die Skulpturen, die den Garten bevölkerten. Mannshohe, schlanke Figuren aus verschiedenen Holzarten, manche hell, aus Ahorn oder Birke, andere dunkel, fast schwarz wie Ebenholz. Es waren menschliche Gestalten, anmutig und zugleich verstörend, weil jede von ihnen Leid verkörperte. Grässliche, vor Schreck oder Schmerz verzerrte Gesichter, klagend zum Himmel gereckte Hände, weit aufgerissene Münder. Fehlende Gliedmaßen, gespaltene Schädel oder Stichwaffen, die noch im Körper steckten. Das Ausmaß des Grauens kannte keine Grenzen.

Handwerklich waren die Skulpturen Meisterwerke. Ernähren taten sie den Künstler nicht. Kein Wunder. Wer mochte sich schon solche fürchterlichen Gestalten ins Haus holen und sich beständig die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens vor Augen führen? Aber Anders war nicht bereit, irgendetwas anderes herzustellen. Angebote hatte es durchaus gegeben, doch seine Antwort war immer dieselbe gewesen.

Ich bin Künstler. Keine Hure.

Astrid verzog den Mund. So primitiv. So vulgär. Das war nicht der Ton, in dem man in ihrer Familie miteinander sprach. Aber auch hier waren sie gescheitert.

Sie ging weiter und stieß die Luft aus, als sie endlich die Tür erreichte.

Die Klingel funktionierte schon lange nicht mehr, also klopfte sie ein paarmal mit der Faust gegen das Türblatt, bis im Inneren schließlich Geräusche erklangen. Schlurfende Schritte, ein asthmatisches Husten, eine raue Stimme, die irgendetwas Unverständliches murmelte.

Man könnte denken, dass man einen Achtzigjährigen besucht, schoss es Astrid durch den Kopf. Nur der Jetski, der am Ende des langen Holzstegs auf dem Wasser dümpelte, passte nicht dazu. Ein merkwürdiger Kontrast, leuchtend roter Lack, glänzend poliert, und, wie sie wusste, ein leistungsstarker Motor unter der Haube. Aber ihr Sohn war schon immer ein widersprüchlicher Charakter gewesen.

Die Tür schwang auf. Anders stand vor ihr. Er schwankte ein wenig und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Unrasiert, mit wirren Haaren, die Augen blutunterlaufen. Im Mundwinkel hing eine selbst gedrehte Zigarette, die zur Hälfte heruntergebrannt war. Asche rieselte auf seine ausgeleierte Jogginghose. Dazu trug er ein fleckiges graues Hemd, das ihm aus der Hose hing, und ausgeblichene Stoffturnschuhe.

»Mutter.« Sein Blick war spöttisch. »Warum kommst du nicht einfach herein? Du weißt, dass ich nie abschließe.«

Sie sah seine glasigen Augen, roch den Alkohol in seinem Atem und wusste, dass es wieder einmal schwer werden würde.

»Es gehört sich nicht.« Astrid stützte sich auf ihre Krücken. Es war einer ihrer guten Tage. An den schlechten saß sie im Rollstuhl. Die Beine hatten als Erstes ihren Dienst versagt, damals, als sie plötzlich ständig gestolpert war. Als sie noch darüber gelacht hatten. Bevor sie wussten, dass sich der Feind in ihrem Gehirn eingenistet hatte.

Anders fuhr sich mit der Hand durch die Haare und machte einen Schritt zur Seite. Astrid betrat das Haus, das im Wesentlichen aus einem großen Raum bestand, der zugleich Wohnzimmer, Werkstatt und Küche war. Daneben gab es nur noch einen winzigen Schlafraum und ein noch kleineres Bad.

Es herrschte fürchterliches Chaos. Schmutzverkrustetes Geschirr neben der Spüle, leere Fast-Food-Verpackungen auf dem Couchtisch, getragene Kleidungsstücke, die über sämtlichen verfügbaren Stuhllehnen hingen. Überquellende Aschenbecher, leere Bier- und Schnapsflaschen, Werkzeuge, die auf dem Boden verteilt lagen. Und in der Mitte des Raums eine weitere Skulptur. Ein Mann, der auf einem Klotz saß, die Finger beider Hände an die Stirn gepresst. Der Unterleib war nur andeutungsweise aus dem Holz herausgeschält, aber das Gesicht war bereits fertig.

Astrid verspürte ein saures Brennen in der Kehle. Das hatte Anders noch nie getan. Er stellte Menschen dar, aber seine Figuren hatten keine Ähnlichkeit mit Personen aus seinem Umfeld. Es waren Fantasiegestalten. Bis auf diese.

»Das ist dein Bruder.«

Anders hob den linken Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Du erkennst ihn. Das ist gut.« Er nahm eine halb volle Schnapsflasche von der Anrichte und setzte sie an die Lippen. Anschließend stellte er sie mit einem Knall zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Es wird ein Geschenk. Zum Firmenjubiläum. Allerdings fürchte ich, sie wird nicht rechtzeitig fertig.«

Astrid krallte die Finger um die Griffe der Krücken. Sie humpelte zu Anders’ zerschlissenem Sofa und ließ sich vorsichtig darauf nieder.

Früher war sie regelmäßig gekommen, um für ihn aufzuräumen. Hatte das Geschirr gespült, die leeren Flaschen eingesammelt und in den Altglascontainer geworfen, die Aschenbecher geleert und den Boden gewischt. Die schmutzige Wäsche hatte sie mitgenommen und von ihrer Haushälterin waschen lassen. Sie hatte ihm auch Geld gegeben. Damit er sich etwas zu essen kaufen konnte und neue Kleidung. Doch er hatte es wohl eher in die Kneipe getragen.

Jetzt ging das alles nicht mehr. Sie war froh, wenn sie ihre Morgentoilette bewältigte und es schaffte, sich selbst anzukleiden. Nur Geld konnte sie ihm weiterhin geben, doch in der letzten Zeit hatte sie sich immer öfter gefragt, ob sie ihm damit eigentlich einen Gefallen tat. Ihre Therapeutin hatte das in aller Deutlichkeit ausgesprochen.

Hören Sie auf, seine Alkoholsucht zu unterstützen. Solange er nicht am Boden ist, wird er damit weitermachen.

Deshalb hatte sie auch ihr Testament geändert. Anders war krank. Man durfte die Geschicke der Werft nicht in seine Hände legen. Sonst wäre irgendwann nicht nur Anders, sondern auch der Betrieb am Boden.

Sie betrachtete die Skulptur. »Wenn das Sixten ist – warum sieht er so gequält aus?«

Anders griff erneut zur Flasche und trank. »Das hat er dir nicht gesagt, nehme ich an?« Sein Grinsen war breit und hässlich. Er machte ein paar schwankende Schritte auf sie zu. »Dein Vorzeigesohn. Brav. Erfolgreich. Nicht so ein Versager wie ich. Kein Säufer.« Wieder setzte er die Flasche an die Lippen. Mit der anderen Hand vollführte er eine ausholende Geste. »Vielleicht verrät er es ja heute Abend. Bei seiner Jubiläumsrede. Fünfundsiebzig Jahre Nordins Schiffs- und Bootsbau, und jetzt – puff! – der große Knall. Sixtens persönlicher Eisberg, an dem seine Titanic zerschellt.« Er gestikulierte; Schnaps rann aus der Flasche in seiner Hand. »Dann sitzt er nicht mehr auf seinem hohen Ross. Dann sieht er so aus.« Er wies mit ausgestrecktem Arm auf die Statue seines Bruders.

»Du bist betrunken.« Astrid stemmte sich mühsam vom Sofa hoch. Sie nahm ihre Krücken und humpelte zur Tür. »Eigentlich wollte ich dich einladen, heute Abend zu unserer Feier dazuzukommen, weil wir eine Familie sind«, sagte sie kühl. »Aber jetzt bitte ich dich, es nicht zu tun.«

Anders hob ihr die Flasche entgegen. »Das liegt ganz bei dir. Wenn du mir ein bisschen Geld dalässt, damit ich Nachschub besorgen kann, bleibe ich hier und arbeite an meinem Geschenk. Andernfalls … Auf der Feier gibt es sicher Champagner?«

Astrid starrte ihn an. Wie war es möglich, dass aus dem freundlichen Jungen von früher dieser verbitterte, gehässige Mann geworden war? Das Schicksal hatte sie alle verändert, aber nur Anders war daran zerbrochen. Dabei hatten sie sich gerade mit ihm so viel Mühe gegeben.

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm die Geldbörse heraus und legte ihm ein paar Scheine auf den Tisch, obwohl sie es nicht mehr hatte tun wollen. Ein wenig lag es am schlechten Gewissen. Vielleicht war sie nicht die Mutter gewesen, die er gebraucht hätte. Vor allem aber wollte sie nicht, dass er ihr den Abend zerstörte.

Wer wusste schon, wie viele feierliche Anlässe es in ihrem Leben noch geben würde, an denen sie teilnehmen konnte? Und diesen besonderen wollte sie ungestört genießen.

»Verbindlichsten Dank.«

Sie hörte sein garstiges Lachen noch, als sie die Tür schon hinter sich zugezogen hatte und sich über die Felsen zurück zu ihrem Wagen schleppte.

Hoffentlich würde er wirklich zu Hause bleiben!

 

Halvar blickte von seinen Unterlagen auf und sah aus dem Fenster, als er den Wagen in der Auffahrt hörte. Es war Astrids blauer Golf. Er war bereits umgebaut, rollstuhlgerecht, sodass sie auch allein damit unterwegs sein konnte. Astrids Selbstständigkeit sollte so lange wie möglich erhalten bleiben.

Der Rollstuhl wurde von einem Mechanismus durch die hintere Tür ein- und ausgeladen und direkt neben der Fahrertür abgestellt, sodass sie nur hinüberrutschen musste. Aber wann immer es ging, verzichtete sie darauf und nahm lieber die beiden Krücken, die sie vor dem Beifahrersitz verstaute.

So auch jetzt.

Es tat ihm weh zu sehen, wie sie sich aus dem Auto quälte. Wie sie den Mund verzog, als sie sich auf die Krücken stützte. Die Wagentür mit dem Ellbogen zuwarf und mühsam den Schlüssel in ihrer Handtasche verstaute, nachdem sie den Wagen verriegelt hatte. Was absolut überflüssig war. Niemand würde hier, direkt vor der Nordin-Villa, ein Auto stehlen. Erst recht nicht eines, bei dem man über eine Handschaltung Gas gab und bremste.

Bis vor fünf Jahren war Astrid der Inbegriff einer Karrierefrau gewesen. Immer schick gekleidet, die schwarzen Haare modisch kurz geschnitten. Selbstbewusst und stets mit einem Hauch von Ungeduld im Blick, wenn man ihrem rasanten Tempo nicht folgen konnte. Eine attraktive Frau mit feinen Gesichtszügen, schmaler Nase und energischen Lippen. Unter ihrer Führung hatte die Nordin-Werft ihre größten Erfolge zu verbuchen gehabt, und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie den Chefsessel erst im hohen Alter räumen würde.

Doch das Schicksal hatte darauf keine Rücksicht genommen. Mit ein paar harmlosen Ausfallerscheinungen hatte es angefangen. Sie hatten das gar nicht ernst genommen. Bis sich die Vorfälle gehäuft hatten. Und dann war die niederschmetternde Diagnose gekommen. Das eine, fürchterliche Wort.

Unheilbar.

Am Anfang hatten die Ärzte ihnen Mut gemacht. Die Prognosen waren heutzutage günstiger als früher. Viele Erkrankte konnten dennoch ein langes und erfülltes Leben führen. Wie sich herausstellte, gehörte Astrid nicht dazu. Bei ihr verlief die Krankheit schnell und aggressiv.

Jetzt ging es darum, Zeit zu gewinnen. Tage, die noch Lebensqualität bedeuteten. Bevor die Systeme nach und nach das Funktionieren einstellten. Am Ende stand ein zu früher Tod, das wussten sie beide. Aber sie sprachen nicht darüber. Nur über Behandlungen, Möglichkeiten, Perspektiven. Astrid Nordin war nicht die Frau, die jammerte, Trost suchte, sich anlehnte.

Den Verfall aber konnte sie nicht aufhalten, weder mit Geld noch mit ihrem unbezwingbaren Willen. Er ließ sich auch nicht mehr verbergen. Die fehlende Bewegung und die Medikamente hatten ihren Körper verändert, er war aufgedunsen und hatte jegliche Spannung eingebüßt. Von ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung und der starken Anziehung, die er früher gespürt hatte, war nichts mehr geblieben.

Wie sehr hatte er diese Frau geliebt! Und nun brachte er es kaum noch fertig, sie in die Arme zu schließen.

Er erhob sich und strich seinen anthrazitfarbenen Anzug glatt. Heute Abend mussten sie noch einmal Theater spielen. Weder Astrid noch die Gäste der Jubiläumsfeier durften merken, wie es um die Werft stand.

Die Luft wurde langsam dünn, sie mussten dringend eine Lösung finden.

Wie naiv er gewesen war zu glauben, es könnte alles gut ausgehen.

So funktionierte das Leben nicht. Das Schicksal hatte ihn mit Glück überhäuft, und nun nahm es ihm alles wieder weg.

Aber so leicht würde er nicht aufgeben. Er würde Astrid verlieren, daran war nichts zu ändern. Die Krankheit schritt rasant voran, rascher als bei anderen. Doch er würde nicht einfach untergehen wie ein leckgeschlagener Kahn im Sturm.

Jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne. Hieß es nicht so?

Nun, genau an dieses Motto würde er sich halten.

Unten öffnete sich die Eingangstür der Villa. Halvar verließ sein Büro, trat an die Treppe und breitete die Arme aus.

»Astrid, meine Liebe«, rief er so herzlich, wie er konnte. »Wo warst du denn? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

Äußerlich mochte sie sich verändert haben, doch innerlich war sie immer noch unantastbar.

»Ich hatte etwas zu erledigen«, entgegnete sie kühl.

Halvar versuchte sich an einem gleichmütigen Lächeln. Sie sollte nicht merken, dass sie ihn verletzte, immer wieder. Es würde nicht ihr Mitleid wecken, sondern nur Verachtung hervorrufen.

Mit leichten Schritten ging er die Treppe hinunter, ihr entgegen.

Er hätte gern gewusst, ob sie ihn noch liebte. Ob sie ihn überhaupt jemals geliebt hatte.

Aber er stellte die Frage nicht.

2

Schon als kleines Mädchen war sie verrückt nach Schiffen gewesen. Seit ihr Vater sie zum ersten Mal mit in die Werft genommen hatte. Sie mochte vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, doch die Erinnerung hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Der große Platz, auf dem die aufgebockten Boote standen. Die Halle, in der das Gerippe eines Schiffs bearbeitet wurde. Der Geruch nach Holz und Leim, nach Metall und Teer – und nach Tabak. Obwohl es gefährlich und verboten war, hatten die meisten Arbeiter eine Zigarette oder eine Pfeife im Mund. Breitschultrige, kräftige Männer, die lange Balken auf den Schultern trugen oder schwere Säcke mit unbekanntem Inhalt. Die mit Hämmern und Nägeln oder mit Schweißbrennern arbeiteten. In der Nordin-Werft wurden Jachten gebaut, teure Luxusmodelle für die Reichen, einfache Segelboote für die Einheimischen und manchmal auch ein Mittelklassemotorboot für die Touristen, die alljährlich in immer größerer Zahl in die Göteborger Schären zu kommen schienen.

Astrid mochte den Trubel im Sommer, die bunten Buden überall an den Promenaden, die zahllosen Boote, die in Zweier-, manchmal in Dreierreihen im Hafen von Björlanda lagen, die vielen fremden Stimmen, die sich mit dem Schwedischen mischten. Die große weite Welt schien direkt hier, vor den Toren Göteborgs zu beginnen.

Sie hatte schon früh gewusst, dass sie eines Tages diesen Betrieb leiten wollte. Da sie keine Geschwister hatte, war es auch kein Kunststück gewesen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ihr Vater hatte ihr das Tagesgeschäft übergeben, als sie zuerst ihr Bootsbauingenieur- und anschließend ihr BWL-Studium abgeschlossen hatte, beides mit Bestnoten. Er war ungeheuer stolz auf seine Tochter, die Nordins Schiffs- und Bootsbau souverän und erfolgreich führte. Und ihm selbst hatte die Rolle als graue Eminenz gefallen. Statt die Tage im Büro zu verbringen, hatte er vom Garten seiner Villa aus die Fäden gezogen, sich um die Repräsentation bei solventen Kunden gekümmert und ausgedehnte Reisen zu anderen Werftbesitzern überall auf der Welt unternommen, meist gemeinsam mit ihrer Mutter.

Es hatte sich alles genau so entwickelt, wie ihre Eltern und sie es sich immer gewünscht hatten. Und dennoch war es fast zum Bruch gekommen, als sie Casper getroffen hatte.

Einen Mann, der sie mehr fasziniert hatte als all die Kommilitonen, die sie während des Studiums kennengelernt hatte. Mutig und frei, unterwegs in den Krisengebieten der Welt, ein Abenteurer, der kein Risiko scheute. Und ein äußerst attraktiver Mann obendrein. Er hatte eine Menge Verehrerinnen gehabt, aber seine Blicke hatten einzig Astrid gegolten.

Ihre Eltern hatten gegen die Verbindung protestiert. Casper war der Sohn eines Werftarbeiters. Aus ihrer Sicht passte das nicht: die Alleinerbin des Bootsbaubetriebs und ein fast mittelloser Reporter.

Ihr Vater hatte sie vor die Wahl gestellt – Casper oder die Werft. Sie hatte sich für Casper entschieden, und ihr Vater, dem ihre Haltung widerwilligen Respekt abnötigte, hatte sein Testament trotzdem nicht geändert.

Das war ihre Stärke. Konsequent ihren Weg zu gehen, auch wenn man ihr Steine vor die Füße warf.

Doch jetzt war davon nichts mehr übrig. Alle Kraft schien aus ihrem Körper gewichen zu sein.

Sie konnte die beiden Männer mit den dunkelblauen Hosen und den hellblauen Hemden, die vor der Tür der Villa standen, nur anstarren. Sie wollte die Botschaft, die ihr die Polizisten überbracht hatten, nicht hören. Alles in ihr weigerte sich, die Wahrheit zu akzeptieren, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie nach und nach in ihr Gehirn einsickerte. Am liebsten hätte sie geschrien oder sich die Ohren zugehalten, aber nicht einmal das schaffte sie. Ihr Leben lag von einer Sekunde zur nächsten in Trümmern.

 

Für Ende März war es ungewöhnlich warm. Als Paulina den Vorschlag gemacht hatte, war Jule nicht begeistert gewesen, doch mittlerweile hatte sie ihre Meinung geändert. Was konnte es Herrlicheres geben, als in der milden Morgensonne auf einem Campingplatz direkt am Meer aus dem Wohnmobil zu klettern und über die einmalige Schärenlandschaft zu blicken?

Jule war zum ersten Mal in Schweden, und sie bereute es keine Sekunde. Die Überfahrt in der beengten Kabine auf der Fähre von Kiel nach Göteborg war zwar furchtbar gewesen – eine Innenkabine ohne Fenster, nur mit einem aufgemalten Bullauge, das nicht für den fehlenden Ausblick entschädigen konnte, und die ganze Nacht das Dröhnen der Dieselmotoren im Ohr –, doch der Anblick am nächsten Morgen war es wert gewesen. Majestätisch schob sich das riesige Schiff vom offenen Meer in den Göta älv, den Fluss, an dem Göteborg lag. Vorbei an unzähligen flachen Felseninseln, auf denen die typischen rot-weißen Schwedenhäuser zu sehen waren. Zum Glück hatte sie ihre Kompaktkamera mit dem dreißigfachen Zoom mitgenommen. So konnte sie die Schären ganz dicht heranholen, mit den geduckten Büschen und Bäumen, die sich der vorherrschenden Windrichtung angepasst hatten, den Bootsstegen und der unfassbaren Idylle, die diese Landschaft ausstrahlte. Natürlich hatte sie vorher Bilder gesehen, doch in der Realität war diese Welt noch viel faszinierender.

Paulina drehte sich in ihrem Schlafsack von einer Seite auf die andere, und Jule, die ihre Freundin durch die Tür des Wohnmobils auf der schmalen Pritsche sehen konnte, musste lächeln.

Sie hatte ihr Studium in Hamburg ohne große Erwartungen angetreten. Schiffbau und Meerestechnik – das war etwas, das fast nur Männer studierten, und mit denen war sie noch nie gut zurechtgekommen. Überhaupt hatte sie nicht viele Freunde. Ihren Mitschülern hatte sie als Streberin gegolten, dabei interessierte sie sich einfach nur für alles Mögliche, und sie konnte sich Dinge gut merken. Gepaukt hatte sie nie, doch ihre Klassenkameraden waren ihr trotzdem fremd geblieben. Lieber war Jule mit dem Fahrrad an den Deich geradelt, hatte ein Buch gelesen oder den Schiffen zugesehen, die auf der Elbe fuhren und den Hamburger Hafen ansteuerten.

Doch ausgerechnet dort, an der Technischen Universität Hamburg-Harburg, hatte sie Paulina kennengelernt, die ebenfalls Schiffbau studierte und ihre beste Freundin geworden war. Gemeinsam hatten sie sich für diese Reise in den Semesterferien entschieden, um sich die Werften an der schwedischen Westküste anzusehen, in denen Bootsmodelle gebaut wurden, die es anderswo nicht gab. Paulinas Eltern hatten ihnen dazu ihr Wohnmobil geliehen. Um im Zelt zu schlafen, wäre es trotz der milden Frühlingstemperaturen noch zu kalt gewesen.

Paulina krabbelte aus ihrem Schlafsack und kam an die Tür des Campers. »Lass uns ans Meer gehen«, schlug sie vor.

»Ich würde vorher gern duschen und mir die Zähne putzen«, sagte Jule.

Paulina lachte. »Natürlich. Ich auch.«

Alles andere hätte Jule auch gewundert. Paulina war nicht nur nett, sie war auch außergewöhnlich hübsch – und ein bisschen eitel. Die langen brünetten Haare mussten jeden Morgen gewaschen und geglättet werden, bis sie Paulina glänzend über den Rücken fielen. Im Gegensatz zu Jule liefen Paulina die Männer hinterher, doch sie hatte kein Interesse. Sie wollte studieren und lernen und sich nicht ablenken lassen. Anders als Jule musste sie darauf einige Mühe verwenden. Aber Paulina war ehrgeizig. Jule war sicher, dass Paulina ihr Studium mit ebenso guten Noten abschließen würde wie sie selbst.

Sie kramten ihre Kulturbeutel hervor und gingen gemeinsam zu dem Gebäude, in dem sich die Waschräume befanden. Wie alles auf diesem Campingplatz waren sie sehr sauber. Schweden war genauso, wie Jule es sich vorgestellt hatte – freundlich, ordentlich und sicher.

Göteborgs Campingplatz an der Straße zwischen Lilleby und Sillvik bot einen Ferienhauspark mit achtzig schicken Cottages verschiedener Größe, die sie sich nicht hätten leisten können, aber auch Stellplätze für Wohnwagen, Wohnmobile und Zelte. Dazu gab es das jüngst renovierte Servicehaus mit Toiletten, Duschen und Waschküche. Zum Strand von Lilleby waren es nur zweihundertfünfzig Meter.

In den letzten Tagen hatten sie einige kleine Werften entlang der Küste aufgesucht und mehrfach ihren Standort gewechselt. Nun wollten sie die letzte Woche der Semesterferien hier verbringen, bevor sie am kommenden Samstag zurückfuhren, damit sie pünktlich zum Beginn des Sommersemesters wieder in Hamburg waren. Noch einmal die Tortur mit der Innenkabine … doch daran wollte Jule in diesem Moment nicht denken. Jetzt lagen erst einmal ein paar wundervolle Tage in der herrlichen Göteborger Schärenlandschaft vor ihr. Sie würde ungefähr zweitausend Fotos schießen und sie sich zu Hause immer wieder ansehen. Westschweden war einfach ein Traum!

Nachdem sie ihre Morgentoilette beendet und den Kaffee getrunken hatten, den sie auf dem kleinen Gaskocher zubereitet hatten, spazierten sie ans Meer. Es leuchtete blau in der Sonne, und die felsigen Inseln schienen auf der Wasseroberfläche zu schweben.

Erst als sie fast an der Wasserkante angelangt waren, entdeckte Jule, dass sie nicht allein waren. Ein Stück entfernt lag ein Mann ausgestreckt auf den flachen Steinen, die den Strand zur Meerseite begrenzten. Er hatte blondes Haar und steckte in einem schwarzen Neoprenanzug. Sein Kopf lag auf der Seite, das Gesicht zum Meer gerichtet.

»Was macht der denn da?«, wunderte sich Paulina. »Und weshalb bewegt er sich nicht?«

Jule zögerte. Sie nahm nicht gern Kontakt zu fremden Menschen auf. Aber womöglich brauchte der Mann Hilfe?

»Wir sollten vielleicht nachsehen.«

Paulina, die ihre Ängste nicht teilte, ging bereits mit raschen Schritten auf den Mann zu.

Aus der Nähe konnten sie sehen, dass er im Wasser gewesen war. Der Anzug glänzte feucht, und die blonden Haare waren nass und klebten am Kopf.

»Ist das Blut?« Paulina deutete auf den Hinterkopf des Mannes.

Jule spürte, wie sich ihre Kehle verengte. Beim Anblick von Blut wurde ihr schlecht. Aber Paulina hatte recht. An der Stelle, auf die sie zeigte, schimmerten die blonden Haare rötlich.

Hatte der Mann einen Unfall gehabt?

»Hallo! Können Sie uns hören? Alles in Ordnung bei Ihnen?« Paulina beugte sich vor und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. Gleich darauf zuckte sie erschrocken zurück. »Der ist ganz kalt.«

»Das liegt am Wasser.« Jule machte nun auch beherzt einen Schritt auf den Mann zu. Sie hockte sich hinter ihn und legte ihre Finger an seinen Hals, um den Puls zu fühlen, doch da war nichts.

Jules Magen krampfte sich zusammen. Am liebsten wäre sie weggelaufen, doch das durfte sie natürlich nicht. Sie richtete sich wieder auf. Mit wachsendem Unbehagen trat sie um den leblosen Körper herum, um dem Mann ins Gesicht zu sehen, und schlug gleich darauf die Hand vor den Mund.

Die Augen des Mannes waren weit geöffnet und starrten blicklos in den Morgenhimmel. Er war tot, daran konnte es überhaupt keinen Zweifel geben. Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste.

3

Es war alles wie immer, doch der Frieden und die Ruhe, die Frederik Forsberg all die Jahre an diesem Ort empfunden hatte, wollten sich nicht mehr einstellen. Bis zum letzten Sommer hatte er Emma hier in Sicherheit geglaubt. Dann hatte Arvid Ekström beschlossen, seine autistische Tochter nach Hause zu holen.

Es war nur ein kurzes Intermezzo gewesen. Arvid hatte rasch festgestellt, dass er mit diesem Kind nichts anfangen konnte. Und war gewalttätig geworden.

Lea hatte sich schützend vor Emma gestellt und seine Aggressionen abgefangen. Nicht zum ersten Mal, wie Frederik wusste. Er hatte Mutter und Tochter geholfen, ins Frauenhaus zu fliehen, doch Lea hatte nicht durchgehalten. Sie war zu Arvid zurückgekehrt. Dafür durfte Emma wieder ins Heim, das war der Deal.

Frederik hatte es fast das Herz zerrissen. Er liebte Lea. Zu wissen, dass sie sich Ekström auslieferte, um ihre Tochter zu schützen, war kaum zu ertragen. Aber er konnte nichts tun.

Jetzt betrachtete er Emma, die mit konzentrierter Miene den Containerlader aus ihrem neuen Lego-Technic-Kasten zusammenbaute. Daneben stand bereits der Sattelschlepper, der mit einer Lenkung, aufklappbaren Türen, einem abkoppelbaren Auflieger und zwei Containern zum Aufladen ausgestattet war. Der Containerlader besaß ebenfalls eine Lenkung und einen ausfahrbaren Ausleger mit Greifer, sodass Emma damit die Container auf den Sattelschlepper laden konnte. Darüber hinaus konnte man den Containerlader auch zu einem Portalhubwagen umbauen. Frederik hatte mit Emma vor einiger Zeit einen Ausflug in den Göteborger Containerhafen gemacht, und dort hatte Emma diese Gefährte bestaunt, die wie langbeinige Käfer auf Rädern zwischen den hoch aufgestapelten Containerreihen umherfuhren und die Container, quasi an den Bauch des Käfers gepresst, zu den wartenden Schiffen brachten.

Der Vorschlag, Emma den Technic-Kasten zu schenken, war von Mats Lundgren gekommen. Er war Psychologe in der Skogome-Anstalt und seit dem Fall der verschwundenen Lisbet vor zwei Jahren mit Frederik befreundet. Frederik hatte Zweifel gehabt, ob Emma mit dem anspruchsvollen Spielzeug zurechtkommen würde, doch Mats hatte recht behalten: Emma war traumatisiert und in ihren sozialen Fähigkeiten stark eingeschränkt, aber sie war intelligent. Überdurchschnittlich vielleicht sogar, wie viele Autisten. Der Containerlader war sofort ihr neues Lieblingsspielzeug geworden.

Trotzdem machte Frederik sich Sorgen. Emma war jetzt sechs. In diesem Alter kamen schwedische Kinder in die Vorschulklasse, förskoleklass, zur Vorbereitung auf die Grundschule. Wenn er sich mit Deutschen über dieses Thema unterhielt, stieß er oft auf Irritation, weil die schwedische grundskola etwas völlig anderes war als die deutsche Grundschule. Tatsächlich handelte es sich um eine Ganztags- und Gesamtschule, mit deren neunjährigem Besuch die Schulpflicht abgedeckt war. Anschließend konnte man sich für das dreiklassige Gymnasium entscheiden, auf dem man die Hochschulreife erwerben, aber auch eine Berufsausbildung absolvieren konnte.

Auch Emma würde in die förskoleklass gehen. Inklusion wurde in Schweden großgeschrieben. Nur Kinder mit geistigen Behinderungen kamen in Sonderschulen. Alle anderen wurden an den regulären Schulen aufgenommen. Sie bekamen einen Begleiter zur Seite gestellt oder wurden, wenn es gar nicht anders ging, in Sondergruppen unterrichtet, was an manchen Schulen besser, an anderen schlechter funktionierte.

Ob Emma dort gut aufgehoben war? Plötzlich mit so vielen Menschen konfrontiert, obwohl sie doch Kontakte lieber mied? Immer der Gefahr einer Reizüberflutung ausgesetzt, die bei ihr leicht einen epileptischen Anfall auslösen konnte? Zur Interaktion gezwungen, obwohl sie am liebsten für sich blieb? Und was würde geschehen, wenn ihre Routinen unterbrochen, ihre Zwänge gestört würden? Würde sie damit zurechtkommen? Und welche Möglichkeiten würde das Leben für sie bereithalten?

Größer war allerdings noch seine Angst, dass Ekström erneut das fragile Gefüge ins Wanken bringen könnte. Schließlich könnte er jederzeit wieder auf die Idee kommen, Emma zu sich zu holen, und diese Drohkulisse nutzte er schamlos aus, um Lea unter Druck zu setzen. Solange sie sich fügte, war ihre Tochter sicher, doch was würde geschehen, wenn sie es irgendwann einfach nicht mehr konnte?

Im Heim ging es Emma gut. Sie wurde hier bestens versorgt und liebevoll betreut. Frederik besuchte sie einmal in der Woche, immer samstags um halb zwei. Emma brauchte feste Strukturen und Verlässlichkeit.

Bei gutem Wetter fuhren sie mit seinem Elektroroller mit Beiwagen herum, den er extra für Emma angeschafft und umbauen lassen hatte. Wenn sie durch die Landschaft rollten, Emma mit ihrem zartgelben Kinderhelm auf dem Kopf im Beiwagen, hatte er das Gefühl, dass sie glücklich war. Sagen konnte sie das natürlich nicht, aber er verspürte eine Harmonie, die sie sonst nur ausstrahlte, wenn sie in das Bauen und Sortieren vertieft war, das ihr Halt gab.

Heute hatte er allerdings eine Ausnahme machen und seinen Besuch auf den Sonntagvormittag legen müssen. Am Samstag hatte er Dienst gehabt. Ein komplizierter Fall hatte nach monatelangen Ermittlungen seine Auflösung erfahren, und es hatte bis zum späten Samstagabend gedauert, bis endlich alle Vernehmungen abgeschlossen waren.

Frederik fühlte sich zerschlagen. Der Fall hatte Kraft gekostet, genau wie die Arbeit mit seinem Team, das noch immer nicht zu einer Einheit zusammengewachsen war. Er hoffte, dass die nächsten Wochen ruhiger werden würden.

Zum Glück hatte Emma positiv auf den Besuch zur ungewohnten Zeit reagiert.

Frederik schaute aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel und dachte, dass er gern mit ihr an den Strand fahren würde, doch dafür fehlte ihm die Zeit. Im Büro wartete Arbeit auf ihn, die Berichte mussten noch geschrieben werden. Wenn er das nicht zeitnah erledigte, würde er die Details vergessen und alles mühsam nachlesen müssen. Die eine Stunde bei Emma hatte er sich gestohlen, aber die Ausfahrt konnten sie frühestens am nächsten Wochenende unternehmen. Da der Sommer vor der Tür stand, war das nicht weiter schlimm. Es würde in der nächsten Zeit noch mehr schöne Tage geben.

Das Telefon in seiner Sakkotasche vibrierte, und Emma blickte von ihrem Containerlader hoch. Frederik stellte sein Handy immer auf lautlos, wenn er sie besuchte, doch Emma nahm mit ihren feinen Antennen auch das Geräusch wahr, das der Vibrationsalarm verursachte. Sie war ein zartes, schmales Mädchen mit halblangen blonden Haaren und tiefblauen Augen, die ihm wie das Tor zu einer geheimnisvollen Unterwasserwelt vorkamen. Sie konnte sich ganz in eine Tätigkeit versenken, wurde aber durch die kleinste Störung herausgerissen – womit sie nicht gut umgehen konnte.

»Entschuldige.« Frederik, der im Schneidersitz auf dem Boden gesessen hatte, erhob sich. »Das ist wichtig.« Dafür sorgte der Anruffilter, den er ebenfalls aktivierte, wenn er hier war. Nur die Kollegen und Lea konnten ihn dann erreichen. Alle anderen mussten warten.

Er zog das Smartphone aus der Sakkotasche und warf einen Blick auf das Display.

»Hey, Birger«, begrüßte er seinen Vorgesetzten mit gedämpfter Stimme. »Ich nehme an, du hast keine guten Nachrichten?«

»Hey, Frederik. Tut mir leid, wenn ich dich bei Emma störe«, sagte Birger Holm. »Wieder einmal.«

»Ja.« Frederik lachte unfroh. »Man möchte meinen, es steckt ein System dahinter.« Aber vermutlich lag es nur daran, dass er so oft hier war. Oder dass er so häufig Fälle hatte, die einen sofortigen Einsatz erforderten.

»Was gibt es denn?«, fragte er.

»Wir haben einen Toten«, berichtete Birger. »Am Strand in Lilleby, gleich beim Campingplatz. Wahrscheinlich ein Unfall, aber der Mann hat eine Schädelverletzung. Es wäre mir lieb, wenn du dir das ansiehst, ehe der Leichnam abtransportiert wird. Ich könnte natürlich auch jemand anderen hinschicken, aber die Auffindungszeuginnen sind Deutsche.«

Damit war es das Einfachste, wenn Frederik die Sache übernahm. Er brauchte keinen Dolmetscher, weil er selbst Deutsch sprach. Seine Mutter, die vor vielen Jahren gestorben war, war Deutsche gewesen, und nach ihrem Tod war Frederik bei seinen deutschen Großeltern in Kiel aufgewachsen.

»Ich fahre gleich hin.« In Lilleby war er bereits. Das Heim, in dem Emma lebte, befand sich unweit des kleinen Ortes. Bis zu Göteborgs Campingplatz waren es nur knapp zwei Kilometer den Lillebyvägen entlang in Richtung Sillvik.

»Danke.« Der Göteborger Polizeichef räusperte sich.

Frederik wartete, doch Birger sprach nicht weiter.

»Noch irgendetwas, das ich wissen sollte?«, erkundigte Frederik sich.

Birger lachte leise. Er wusste, dass Frederik in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, selbst wenn sie nur am Telefon miteinander sprachen.

»Der Fall wird vermutlich Wellen schlagen. Egal, ob es ein Unfall war oder irgendetwas anderes«, sagte er.

»Aha?«

Birger räusperte sich erneut. »Der Tote ist Sixten Nordin«, erklärte er dann.

Frederik war der Name geläufig. »Von Nordins Schiffs- und Bootsbau?«

»Richtig. Sixten ist der ältere Sohn der Eignerin Astrid Nordin.«

Frederik erinnerte sich dunkel. Den Betrieb hatte es schon gegeben, als er noch ein Kind gewesen war, und soweit er sich erinnerte, war sein Vater Sivard mit dem damaligen Besitzer befreundet gewesen. Immerhin war er im selben Gewerbe tätig. Forsbergs Bootsfabrik in Frederiks Geburtsort Långedrag vor den Toren Göteborgs existierte seit mehr als fünfzig Jahren. Sivard hatte das Geschäft von seinem Vater übernommen, genauso wie Astrid Nordin etliche Jahre später in Björlanda in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war.

Frederik schob den Gedanken beiseite. Er hatte den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen, als seine Mutter gestorben war, weil er ihn für ihren Tod verantwortlich gemacht hatte. Zu Unrecht, wie er heute wusste. Es war nicht Sivards Schuld gewesen, dass seine Frau sich das Leben genommen hatte. Frederiks Mutter war depressiv gewesen. Sivard hatte für sie sein Bestes gegeben, doch es hatte eben nicht gereicht.

Im letzten Jahr war Frederik seinem Vater wiederbegegnet. Sivard hatte ihn eingeladen, ihn zu besuchen, und Frederik hatte es ernsthaft vorgehabt, doch dann hatte er entdeckt, dass sein Vater eine neue Familie hatte.

Aber was hatte er denn erwartet, dreißig Jahre nachdem seine Mutter gestorben war? Sein Vater war damals noch ein junger Mann gewesen. Hätte er den Rest seines Lebens als Einsiedler verbringen sollen?

Trotzdem hatte Frederik das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Er blickte von draußen durchs Fenster seines Elternhauses, Sivard saß drinnen in der Küche mit seiner neuen Frau und seinen neuen Kindern. Frederik war nur noch ein Zuschauer. Er hatte sich selbst ins Abseits katapultiert.

Mats hatte nur die Augenbrauen gehoben, als Frederik ihm davon erzählte. Er war Frederiks Freund, nicht sein Therapeut, konnte aber trotzdem nicht anders, als das, was Frederik ihm erzählte, durch die Brille des Psychologen zu betrachten. Mats brauchte nichts zu sagen; Frederik wusste selbst, dass er über seinen Schatten springen musste. Aber bisher hatte er es nicht geschafft.

Frederik merkte, dass er weit abgeschweift war, und konzentrierte sich wieder auf seinen Vorgesetzten.

»Ich sehe mir die Sache an«, versprach er Birger und beendete das Gespräch.

Emma schaute mit großen Augen zu ihm auf. Sie hatte mittlerweile ihre Sprache wiedergefunden nach dem Vorfall mit Ekström im letzten Sommer, doch sie gab nur selten eine Äußerung von sich. Nicht, dass sie vorher sonderlich mitteilsam gewesen wäre, aber jetzt schien es, als müsse sie noch gründlicher über alles nachdenken und ihre Kontakte zur Außenwelt noch sorgfältiger abwägen.

Frederik ging vor ihr in die Hocke. »Ich muss los«, sagte er. »Da ist jemand gestorben. Ich muss herausfinden, was passiert ist.«

In Emmas Blick veränderte sich nichts. Sie schien durch ihn hindurchzusehen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit nickte sie. Dann wandte sie sich ab und begann, den Containerlader auseinanderzubauen.

Frederik lächelte, weil es ihn rührte, mit welcher Ernsthaftigkeit Emma sich ihrem Spielzeug widmete. Er ging zur Tür, schlüpfte hinaus und zog die Tür leise hinter sich zu.

Emma machte es ihm nie schwer. Es gab kein Gejammer und Geschrei, wenn er sie allein ließ. Allerdings auch keinen Blick, den sie ihm nachwarf, kein Küsschen, das sie ihm zum Abschied auf die Wange hauchte.

Kurz streifte ihn ein Gefühl der Traurigkeit und Leere. Dann lief er entschlossen nach draußen.

Dies war nicht der Moment, um über sein eigenes Schicksal nachzugrübeln. Nur ein paar Kilometer Luftlinie von hier lag ein toter Mann am Strand. Ihm würde jetzt Frederiks Aufmerksamkeit gelten.

 

Lea Ekström stand auf dem verglasten Balkon im ersten Stock der Villa und schaute in den Garten, in dem sich hier und da das erste junge Grün hervorwagte. Sie selbst traute sich nicht nach draußen. Sie fürchtete sich vor den Blicken, wenn man ihr ins Gesicht sah oder ihren hinkenden Gang bemerkte. Dabei war sie einmal eine wirklich schöne Frau gewesen, mit ihren langen, glänzenden braunen Locken, den braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin und den geschmeidigen Bewegungen einer Tänzerin.

Sie wandte sich von den Vorboten des Frühlings ab und ging zurück in den Raum, in dem sie seit dem letzten Sommer den Großteil ihrer Tage verbrachte. Der Balkon fühlte sich zu sehr nach einem Käfig an. Die ganze Welt lag vor ihr, aber die gläserne Trennwand verhinderte, dass sie nach dem Leben griff.

Das Zimmer war hell, mit weiß gestrichenen Wänden, cremefarbenen Möbeln und hellen Regalen, die mit langen Reihen von Büchern gefüllt waren, die einzigen Welten, in die sie fliehen konnte. Aber Lea hatte bereits zu viel Zeit in diesem Raum verbracht. Sie war von einer inneren Unruhe erfasst worden, die sich nicht mehr bändigen ließ.

Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, ihre Wangen brannten, und ihre Hände waren feucht. Seit Jahren unterdrückte sie ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihren Widerstand. Frederik hatte ihr mehr als einmal gesagt, dass ihr das irgendwann nicht mehr gelingen würde. Probleme, die man unter den Teppich kehrte, tauchten irgendwann wieder auf. Gefühle, die man verdrängte, brachen eines Tages erneut hervor, mächtiger, als sie es jemals gewesen waren.

Er hatte natürlich recht, doch was nützte diese Erkenntnis? Es gab nichts, das Lea an ihrem Leben ändern könnte.

Früher war sie gerne ausgegangen, zum Einkaufen in die Stadt, zum Bummeln durch den Park oder an den Kanälen entlang, oder, ihr größtes Vergnügen, ins Theater. Dort hatte sie Frederik kennengelernt, der in der langen Schlange vor der Kasse gewartet hatte in der Hoffnung, doch noch eine Karte zu ergattern, obwohl die Vorstellung bereits ausverkauft war. Arvid hatte an diesem Abend keine Lust gehabt, sie zu begleiten, und Frederik mit seinem wundersamen Gespür für das Ungesagte hatte ihr offenbar angesehen, dass sie eine überzählige Karte in der Handtasche trug, aber nicht den Mut besaß, sie laut zum Kauf anzubieten.

Er hatte seinen Platz in der Schlange und damit die Hoffnung auf eine Restkarte aufgegeben und war zu ihr gekommen. Sein Blick hatte ihr Leben verändert. Gemeinsam hatten sie sich das Stück angesehen und hinterher noch einen Kaffee zusammen getrunken, keinen Wein, aus dem sie sich beide nichts machten. Sie hatte sich in ihn verliebt, und eine Zeit lang waren sie glücklich gewesen, doch dann war alles nur noch schlimmer geworden.

Lea war schwanger geworden und hatte ein Mädchen auf die Welt gebracht, dem man sofort angesehen hatte, dass es anders war. Emma.

Arvid war zornig gewesen und hatte dafür gesorgt, dass Emma in ein Heim kam, sobald sie laufen gelernt hatte. Im letzten Jahr hatte Lea versucht, gemeinsam mit Emma zu fliehen, doch sie hatte es nicht geschafft. Nun war sie wieder bei Arvid, und Emma war sein Pfand. Wenn Lea nicht tat, was er wollte, würde Emma dafür bezahlen.

Deshalb ging Lea auch nicht mehr aus dem Haus. Früher hatte sie das einfach tun können, doch seit dem letzten Sommer ließ Arvid sie überwachen. Keine unbeschwerten Spaziergänge in Göteborg mehr, keine Kaffeekränzchen mit Freundinnen oder ihren Eltern, keine gestohlenen Stunden in Frederiks kleinem Haus direkt am Waldrand in Forsbäck. Die einzigen Momente, in denen sie sich ungestört mit Frederik treffen konnte, waren bei Emma im Heim in Lilleby. Auch dorthin folgten ihr Arvids Wachhunde, doch sie betraten das Heim nicht. Vermutlich machte ihnen die Vorstellung Angst, dass sie dort auf geistig beeinträchtigte Menschen treffen könnten. Dabei gab es niemanden auf der Welt, der geistig derart beeinträchtigt war wie Arvid. Er war abgrundtief böse, ohne Skrupel, ohne Gewissen. Ein Despot oder, wie Frederik es ausdrückte, ein Soziopath.

Aber wie immer man ihn nennen wollte, er war Leas gesetzlich angetrauter Ehemann. Lea hatte oft daran gedacht, ihren Eltern zu verraten, wie Arvid sie behandelte, aber sie hatte es nicht getan. Ihre Eltern würden es nicht einfach hinnehmen, und Arvid würde sie dafür büßen lassen, wenn sie sich gegen ihn stellten.

Nein, sie hatte sich dieses Leben selbst eingebrockt, und sie musste auch allein damit zurechtkommen.

Lea ging in das kleine Badezimmer, das direkt an die Bibliothek angrenzte, und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, eine Methode, die ihre beruhigende Wirkung ebenso verfehlte wie die Yoga-Übungen, an denen Lea sich versucht hatte, die Entspannungsmusik oder das straffe Training auf dem Crosstrainer, der im Zimmer nebenan stand. Arvid geizte nicht mit Luxus in Leas Gefängnis. Das Einzige, was ihr fehlte, war die Freiheit.

Leas Blick fiel auf ihr Gesicht im Spiegel. Die Haut um ihr linkes Auge herum hatte sich lila verfärbt, über die rechte Wange zog sich eine tiefe rote Schramme. Sie stammte von dem scharfkantigen Siegelring, den Arvid am rechten Ringfinger trug. Wie so oft hatte er zuerst mit der flachen Hand zugeschlagen, eine Ohrfeige, die exakt auf Wange und Auge landete, und danach mit der Rückseite der Hand das Gleiche auf der anderen Seite wiederholt, nur ein wenig tiefer, damit der Stein nicht ihr Auge traf. Das war es, was Arvid auszeichnete und so gefährlich machte. Selbst wenn er rasend vor Zorn war, kontrollierte er die Gewalt, die er ausübte, mit beängstigender Präzision. Zum Abschluss hatte er ihr, als sie schon am Boden lag, so brutal auf den rechten Knöchel getreten, dass eine Sehne gerissen war, weshalb sie seit zwei Wochen nur noch humpeln konnte.

Aber sie war ja selbst schuld. Sie wusste, dass er Widerworte hasste. Sie hätte ihre Meinung zu der Frage, die er ihr gestellt hatte, einfach für sich behalten sollen. Doch das war genau das Problem. Trotz allem, was Arvid ihr antat, verstummte ihre innere Stimme nicht. Arvid mochte auf sie einschlagen, aber ihren Lebenswillen hatte er bisher nicht zerstören können. Noch nicht. Lange würde sie dieses Leben allerdings nicht mehr ertragen können, das spürte sie.

Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich entschieden hatte, eine Sache zu klären, die sie schon lange mit sich herumtrug. Frederik hatte sie oft danach gefragt, aber sie hatte ihm die Auskunft immer verweigert. Nicht, weil sie ihm die Wahrheit nicht sagen wollte, wie er glaubte, sondern weil sie die Antwort selbst nicht kannte.

Lea ging die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, wo das Telefon stand. Arvid hatte einen Geschäftstermin, und das Telefon zumindest überwachte er bisher nicht. Lea hatte das getestet, indem sie die Nummer der Telefonseelsorge gewählt hatte. Gesagt hatte sie nichts, aber wenn Arvid davon erfahren hätte, hätte er sie mit Sicherheit nach dem Anlass für diesen Anruf ausgequetscht.

Sie nahm das Mobilteil aus der Station und tippte die Nummer ein, die sie auswendig gelernt hatte. Ihr Smartphone wollte sie lieber nicht verwenden, weil es über denselben Netzanbieter lief wie Arvids Mobiltelefone. Ihr Mann kontrollierte regelmäßig die Abrechnungen für alle Geräte und würde sich über die Nummer wundern. Außerdem argwöhnte sie, dass Arvid gelegentlich auch ihre Chats und ihre Suchanfragen im Internet kontrollierte. Sie hätte das geheime Handy benutzen können, das Frederik ihr besorgt hatte, doch das Risiko, es aus dem Versteck zu holen, war ihr zu groß. Es war ihr kostbarster Besitz, und sie benutzte es ausschließlich für die gelegentlichen nächtlichen Gespräche mit Frederik, wenn Arvid im Bett lag. Aber es gab andere Wege, mit der Welt in Kontakt zu treten.

Die Anzeige des Instituts hatte sie in der Zeitung gefunden, die Anfrage hatte sie mit der Post geschickt. Umschläge und Briefmarken gab es in Arvids Arbeitszimmer. Solange er nicht zu Hause war, war die Tür abgeschlossen, aber in der Nacht, wenn er schlief, konnte Lea den Schlüssel aus seinem Sakko nehmen und sich besorgen, was sie brauchte. Eingeworfen hatte sie das Kuvert in Emmas Heim in Lilleby.

Erst als sie die Nummer bereits gewählt hatte, fiel ihr ein, dass am Sonntag vermutlich niemand dort sein würde. Anders als Arvids Firma hatte ein solches Institut sicherlich geregelte Arbeitszeiten.

Lea wollte den Anruf gerade abbrechen, als sich eine freundlich-professionelle Frauenstimme meldete. Offenbar gab es einen Wochenenddienst. Lea nannte ihren Namen und erklärte ihr Anliegen.

»Einen Moment bitte«, sagte die Frau.

Lea vernahm das Klappern einer Tastatur und hoffte, dass Arvid nicht gerade jetzt nach Hause käme.

»Frau Ekström? Hören Sie?«, meldete sich die Frau wieder.

»Ja?«

»Es ist leider niemand im Haus, mit dem ich Sie verbinden könnte. Ich selbst bin bedauerlicherweise nicht befugt, Ihnen Auskunft zu erteilen. Aber morgen früh wird jemand da sein. Könnten Sie dann bitte noch einmal anrufen?«

Lea wollte nachfragen, ob denn die Ergebnisse schon vorlagen, doch in diesem Moment erklang ein Geräusch von der Haustür her.

»Ja, vielen Dank«, verabschiedete sie sich eilig und stellte das Mobilteil zurück in die Station.

Gerade noch rechtzeitig. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Wohnzimmertür, und Arvid trat ein.

Lea schaute auf das scharf geschnittene Gesicht, die eisblauen Augen unter den streng zurückgekämmten blonden Haaren und den schmalen, harten Mund. Irgendwann einmal hatte sie sich in diesen Mann verliebt. Arvid war intelligent und eloquent, und er konnte ausgesprochen charmant sein, wenn es seinen Interessen diente. Arvid hatte ihr die Welt zu Füßen gelegt, und Lea hatte sich von ihm einfangen lassen.

Arvid erwiderte ihren Blick, und sie sah die Begierde in seinen Augen aufblitzen. »Hallo, mein Schatz. Hast du auf mich gewartet?«

Lea trat auf ihn zu und strich ihm über die Brust. »Ja«, flüsterte sie. »Ich hatte Sehnsucht nach dir.«

Arvid legte seine Lippen auf ihre, und Lea erwiderte seinen Kuss.

Sie verspürte kein Verlangen danach, mit ihm zu schlafen, aber sie wusste aus Erfahrung, dass es weniger wehtat, wenn sie sich ihm freiwillig hingab. Passieren würde es ohnehin. Arvid nahm sich immer, was er wollte.

4

Alles lief wie in einem Nebel ab. Die Feier in der kleinen Kapelle. Die Prozession über den Friedhof, vorbei an den langen Reihen von Gräbern, alle mit den gleichen grauen Steinen eingefasst. Mit langsamen, gemessenen Schritten über die grauen Pflastersteine, an den schroffen Felsen entlang, die sich rechts von ihnen erhoben, zwischen den Statuen und den Bäumen hindurch. Göteborgs Västra Kyrkogården war ein Friedhof, der dem Begriff der letzten Ruhe angemessen war. Aber sie wollte nicht hier sein.

Wollte nicht zusehen, wie man den Sarg in die Grube hinabließ. Nicht die Worte auf den bunten Schleifen an den unzähligen Kränzen lesen, die die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts herangeschleppt hatten. Und vor allem nicht den Namen auf dem schlichten Holzkreuz am Kopfende des frisch ausgehobenen Grabs, das anstelle des Steins dort stand, der noch nicht fertig war.

Natürlich nicht. Das alles brauchte Zeit. Und das Unglück war erst wenige Tage zuvor geschehen.

Seit dem Moment, als man ihr die Nachricht überbracht hatte, schienen sich ihre Gedanken wie durch zähen Brei zu bewegen. Noch immer kam ihr alles wie ein böser Traum vor. Es konnte einfach nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein!

Und doch stand dort auf dem Kreuz der Name ihres Mannes. Es war sein Bild, das in der hellen weißen Kapelle auf dem kleinen Tisch neben dem Sarg gestanden hatte.

Casper Nordin.

Geboren in einer kalten Winternacht in Björlanda. Gestorben an einem herrlichen Sommertag auf dem Meer. Er war nur vierunddreißig Jahre alt geworden.

Astrid spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Ihr Magen. Ihre Kehle. Ihr Herz.

Eine Hand legte sich warm auf ihre Schulter. Sie gehörte ihrem Schwager Halvar. Er kümmerte sich um sie und die Jungen. Sie selbst wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Jede Bewegung kam ihr vor, als hätte sie Bleigewichte an Händen und Füßen. Sie konnte nicht kochen, aufräumen, waschen. Und erst recht nicht trösten.

Dabei brauchten ihre Söhne genau das. Sie waren dabei gewesen, hatten gesehen, wie ihr Vater gestorben war. Fühlten sich schuldig. Auch Halvar fühlte sich schuldig, dabei hätte er nichts tun können. Er hatte alles versucht. Es war ein tragisches Unglück gewesen.

Ob sie jemals darüber hinwegkommen würden?

Sie merkte, dass alle sie ansahen, etwas von ihr erwarteten. Der Pastor streckte ihr die Schaufel entgegen, mit der sie Erde auf den Sarg werfen sollte. Vor allen anderen, weil sie seine Frau gewesen war.

Die wenigen Schritte fühlten sich an, als würde sie durch eine starke Strömung waten. Sie zog Anders hinter sich her, der sich an ihren Ärmel klammerte und sie nicht loslassen wollte. Sixten folgte dahinter, steif wie ein Brett, die Arme seitlich an den Körper gepresst.