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Als Marina Weisband ihre Followerschaft bei Twitter fragte, was sie so am Judentum interessiere, wurde sie mit Fragen überschüttet. Angesichts der Fülle an Themen holte sie sich Unterstützung von Eliyah Havemann. Zusammen beschlossen sie, die Fragen zunächst in der Videoreihe #FragEinenJuden bei YouTube und dann – in erweiterter Form – in einem Buch zu beantworten. Entstanden ist eine so lebendige und anschauliche Annäherung an das Judentum, wie es keine trockene Einführung zu vermitteln vermag. Denn sie listen keine Fakten auf, sondern tauschen sich aus und sprechen jeweils aus ihrer eigenen Perspektive: Marina Weisband als gläubige, nicht religiöse Jüdin und Eliyah Havemann als modern-orthodoxer Jude. Nicht immer sind sie sich einig – und genau das spiegelt die Vielfalt des Judentums. Es geht darum, wer Juden eigentlich sind, um die Religion allgemein, um religiöse Strömungen, um die jüdische Kultur und das Zusammenleben und nicht zuletzt um Antisemitismus.
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Seitenzahl: 227
Marina Weisband | Eliyah Havemann
Frag uns doch!
Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben
FISCHER E-Books
Vorwort von Michael Blume
Es ist völlig egal, welche Religion oder Weltanschauung, welches Geschlecht, welche Hautfarbe oder welche Herkunft wir haben – da wir Menschen sind, wird unser Schicksal durch Medien bestimmt. In Sprachen, Schriften, Symbolen schwimmen – oder ertrinken – wir im medialen Miteinander. Welche Medien wir wie benutzen prägt vorbewusst, wie wir denken, fühlen, träumen, lieben, hassen, wählen, glauben, leben und – lesen. Genau jetzt, in diesem Moment, benutzen Sie und ich »gemeinsam« eines der mächtigsten Medien der Erde: Ein Alphabet.
Es ist bis heute nach den ersten beiden hebräischen Buchstaben benannt: Nach Aleph für »Stier« und Beth für »Haus«.
Denn das älteste Alphabet entstand um das 18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf dem Sinai, und es war gegenüber allen älteren Schriftsystemen eine absolute Sensation: Mit unter 30 Schriftzeichen ließen sich alle Sprachen der Erde ausdrücken, es war vergleichsweise leicht zu lernen, es »demokratisierte« den Schriftbesitz und ermöglichte auch den Aufstieg des vielleicht schönsten Begriffes der heutigen deutschen Sprache: Bildung. Weil jeder Mensch – jedes Mädchen, jeder Junge, jede Nichtjüdin, jeder Jude – laut dem ersten Buch der hebräischen Bibel »im Bilde Gottes« geschaffen sei. Dass nicht nur die eigenen Eltern, sondern eine ganze Gemeinschaft »für Bildung« zuständig sein sollte, dass einmal jedes Kind Lesen und Schreiben lernen soll, war der wohl gewagteste religiöse Gedanke der Antike.
Wenn wir also verstehen wollen, warum Jüdinnen und Juden über 20 Prozent aller jemals verliehenen Nobelpreise gewonnen haben, obwohl sie nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, dann streichen wir bitte genetische, rassistische und verschwörungsmythologische Erklärungen dafür. Schauen wir auf die Wertschätzung von Bildung, die im entstehenden Judentum ihre Gestalt gewann und auch in diesem Buch zum Vorschein kommt. Bis heute besteht eine koschere Torahrolle aus 304805 mit Vogelfedern handgeschriebenen Alphabet-Buchstaben – keine mehr, keine weniger. Die Weisen lehren: So wie kein Mensch durch einen anderen ersetzt werden könne, so auch kein Buchstabe. Und wenn ein Kind in der Synagoge das erste Mal vorgelesen hat – die Bar Mizwa von Jungen, die Bat Mizwa von Mädchen –, dann bricht Jubel in der Gemeinde aus, und von den Tribünen regnet es Bonbons. Das ist »das Geheimnis« – und führte leider auch zu Neid, Hass und Verfolgungen.
Antisemitische Erklärungen sind also nicht nur menschenverachtend, niederträchtig und gefährlich. Sie sind auch schlichtweg falsch und übersehen, dass »Bildung« unsere gemeinsame Aufgabe sein kann.
Immer noch treffe ich dagegen auf die wahnwitzige Vorstellung, bei »Semiten« handele es sich um eine »Rasse« aus »Juden und Arabern«. Aber es gibt wissenschaftlich gesehen keine abgrenzbaren »Menschenrassen« – weswegen sich Rassist:innen nicht einmal auf eine Zahl derselben einigen konnten –, und das Judentum ist schon gar keine. Marina Weisband gehört ihm durch die Geburt von einer jüdischen Mutter an und schreibt über ihren eigenen, lernenden Weg dazu. Eliyah Havemann wurde jüdisch durch Konversion, also durch Lernen und Leben. Ein Schmock, wer Marina wegen ihrer Halskette zu einer »anderen Rasse« zählen oder Eliyah als nicht wirklich jüdisch deuten wollte! »Frag uns doch!« ist auch ein Buch gegen Rassismus.
Auch in der Niederschrift der mündlichen Torah, des Talmud, wird »Schem« nicht als Begründer einer »Rasse« gewürdigt, sondern einer Schule. Er habe, gemeinsam mit seinem Enkel Eber – dem ersten Hebräer – im heutigen Jerusalem das erste Lehrhaus der Erde gegründet, in dem in Alphabetschrift unterrichtet worden sei. Und tatsächlich finden wir die ersten Alphabetzeichen in Lachisch bei Jerusalem schon um das 15. Jahrhundert v.u.Z. – was keine wortwörtliche Wahrheit des Talmud beweist, aber sehr wohl eine klug bewahrende Tradition der Erinnerung. Gelehrt hätten die beiden in ihrem gemeinsamen Projekt dabei noch nicht den Bund des Moses – der ja viel später kam –, sondern den Bund des Noah, des Regenbogens, der sich an alle Menschen und die Schöpfung insgesamt richte. Wenige haben gemerkt, dass in diesem Jahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« vor allem der Regenbogen als Zeichen der Vielfalt, der Menschenrechte und des Miteinanders Furore machte.
Meine Frau als Muslimin und Deutsche türkischer Herkunft und ich als konfessionsfrei aufgewachsener, später evangelischer Christ versuchen, uns immer mal wieder vor Augen zu führen, wie viel von dem, was unsere Herkünfte ausmacht, durch verschiedene Kulturen hervorgebracht wurde. Lateinische Alphabete, arabische Ziffern – mit der Null als entscheidender Zugabe aus Indien –, unsere Heilige Schriften und das Grundgesetz auf Basis von Alphabeten, die globale Zeitrechnung nach einem jüdischen Arbeiterkind, das schon im Alter von zwölf Jahren drei Tage mit Schriftgelehrten reden konnte – die Liste ließe sich ewig fortsetzen.
Wer also eine Kultur, eine Religion hasst und zu vernichten trachtet, vor dem ist genau niemand sicher. Im nationalsozialistischen, nicht zuletzt durch elektronische Medien verbreiteten Rassen- und Verschwörungswahn half es Roma und Sinti nicht, dass sie christlichen Kirchen angehörten. »Der Hass, der immer bei den Juden beginnt, endet nie bei den Juden.« So hat Rabbi Lord Jonathan Sacks sel. A. diesen Zusammenhang benannt. Wer Antisemitismus »nur der Juden zuliebe« bekämpft oder glaubt, es wäre eine Angelegenheit, um die sich vor allem Jüdinnen und Juden zu kümmern haben, hat noch nicht einmal im Ansatz begriffen, um was für eine Art der Gefahr es geht.
Medien sind also im Guten wie im Schlechten so überaus mächtig, dass schon kleinste Veränderungen große Unterschiede machen. Entsprechend identifizierten die Weisen des Talmud das Alphabet der Griechen mit Sems Bruder Japheth. Sie hätten ja auch sagen können: »Wer hat es erfunden? Kein anderes Volk soll Alphabete benutzen!« Doch sie behaupteten eben gar nicht, dass Sem das Alphabet erfunden habe – sie rühmten ihn als Lehrer. Und obwohl hinter den Buchstaben Alpha – Beta schon keine Symbolbedeutungen mehr standen, stellten sie das japhetitische Alphabet »neben« das semitische und rühmten beide. Heute verwenden wir das griechische Alphabet weltweit im Dienst der Wissenschaft – auch zur Benennung der Covid-19-Varianten. Mit einem Enkel des Japheth, Aschkenas, wurde schließlich die Sprachregion nördlich der Alpen verbunden, die wir heute »deutsch« nennen. Wenn Marina zu Recht darauf hinweist, dass auch das »nicht aschkenasische Judentum« zu verstehen sei, so möchte ich zuspitzen: Wer von Aschkenasim und Sephardim nichts weiß, verbaut sich die Chance, die deutsche und europäische Geschichte – einschließlich jener Israels – auch nur annähernd zu verstehen. Wer das Judentum nur als Block denken kann, verschließt die Augen vor der lebendigen Vielfalt von Kultur(en) insgesamt.
Und beide, Marina und Eliyah, beschreiben eben auch, dass sie in der Schule erst dann vom Judentum erfuhren, als es um den Holocaust ging. Auch weil kaum noch Holocaustüberlebende zu den jungen Menschen gehen können, wachsen heute in Deutschland Millionen Kinder auf, die nur von toten Jüdinnen und Juden gelernt haben. Viele glauben dann, das Judentum bestünde aus trauriger Klagemusik, körnigen Schwarzweißbildern von Männern mit Schläfenlocken und schlechtem Gewissen. Auch gestandene Politikerinnen und Politiker sind immer wieder überrascht, wenn ich sie einmal zu einem jüdischen Gemeindefest oder einem Kindergarten mitnehme oder wenn sie das erste Mal Israel betreten. Ja, die Erinnerung an den Genozid der Shoa darf nicht verblassen. Doch gerade deswegen ist es wichtig, heutige Jüdinnen und Juden als lebendig und vielfältig anzuerkennen, statt sie mit Mitleid herabzusetzen und als vermeintliche Museumsstücke zu verzwecken. Marina hat in ihrem Vorwort zur Sehnsucht nach »Normalität« dazu deutlich geschrieben.
Betrachten wir also als letztes Medium das Internet, das ja eigentlich aus einer Vielzahl verschiedener Portale besteht. Einige davon nennen sich »soziale Medien«, obwohl sie auch die üblen Seiten der menschlichen Psyche offenlegen. Frauenfeindlichkeit, Verschwörungsmythen, Antisemitismus und Rassismus sind buchstäblich Alltag in diesen Foren. Während ich diese Zeilen schreibe, pausiert der deutsch-jüdische Komponist Igor Levit auf Twitter nach einer Serie unterirdischer Angriffe, und auch die deutsch-irakische Journalistin Dunja Hayali macht eine Pause, nachdem sie Twitter-öffentlich als »Deep State Marionette« verhöhnt und bedroht wurde. Internet-Trolle suchen gezielt bekanntere Personen, jagen nach privaten und emotionalen Schwachstellen, zielen auf digitale Macht, sexualisierte Gewalt gegen Frauen und die Zerstörung demokratischer Diskurse. Auch ich selbst musste nun mehrfach auf Beleidigungen und Drohungen reagieren, mich an Polizei und Justiz wenden und habe 2019 auch öffentlich darüber gesprochen, warum ich meinen Facebook-Account nicht mehr aufrechterhalten konnte. Es ist recht leicht dahingesagt, man dürfe »das Netz nicht dem Hass überlassen«, bis sich die Angriffe gegen die eigene Integrität, gegen den eigenen Körper und gegen die eigene Familie richten. Im Irak mussten wir erleben, dass sich ganze Terrororganisationen wie der sogenannte »Islamische Staat« fast vollständig digital organisierten, bis hin zur professionellen Anwerbung von Spenden und radikalisierten Rekruten. Wer sich einmal darüber schlaumacht, wie der Buchdruck ganz Europa einschließlich der Kirchen aufgesprengt und umgepflügt hat, bekommt eine Ahnung, was hier gerade vor sich geht.
Mit »Frag uns doch!« haben Marina Weisband und Eliyah Havemann daher nicht einfach nur Twitter clever und konstruktiv genutzt. Sie haben – zumindest mich – daran erinnert, dass es auch einen Traum vom Internet als ein Medium der respektvollen Begegnung und des Kennenlernens gab. Es liegt an uns allen, jeden Tag neu, ob und wie wir das Medium Internet zum Guten oder Schlechten benutzen – und auf welche Bücher wir uns dadurch hinweisen lassen. Es war nie so leicht, andere anzugreifen. Es war aber auch noch nie so leicht, andere zu fragen.
Deswegen danke ich von Herzen allen, die Marina und Eliyah konstruktive Fragen gestellt und damit dieses Buch möglich gemacht haben – und nicht weniger allen, die es in die Hand nehmen und damit zum Leben erwecken. Denn Medien bestimmen nicht weniger als unser Schicksal als Mit-Menschen.
Dr. Michael Blume, 45, ist Religions- und Politikwissenschaftler in Filderstadt bei Stuttgart. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet, die beiden haben drei gemeinsame Kinder. 2015/16 leitete Blume das Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus Kurdistan-Irak, mit dem 1100 vor allem ezidische Überlebende aus IS-Gefangenschaft nach Deutschland evakuiert werden konnten. Blume lehrt Medienethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). 2018 schlugen ihn die jüdischen Landesgemeinden in Baden und Württemberg gemeinsam bei Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und beim Landtag zum bundesweit ersten Beauftragten einer Landesregierung gegen Antisemitismus vor. Sie hatten Blume vorher nicht gefragt, doch er sagte dann zu.
Es begann alles mit »Menschen jüdischen Glaubens«. Dieser Satz hat mich in der öffentlichen Kommunikation schon länger gestört: »Wir müssen Menschen jüdischen Glaubens schützen.« Warum nur Menschen jüdischen Glaubens? Was ist mit jüdischen Menschen, die atheistisch sind? Oder agnostisch? Oder getauft? Mir schien, dass sich hinter diesem Ausdruck ein Missverständnis dessen offenbarte, wer Jüd:innen sind. Ich habe darüber getwittert und festgestellt, dass viele Deutsche gar nicht wissen, dass das Judentum anders ist als missionierende Religionen – dass die Identität über den Glaubensaspekt hinausgeht. Dazu wollte ich ein Video drehen. Diese kurzen Videos, fünf oder acht Minuten lang, stelle ich häufiger auf Youtube, um etwas zu teilen, was ich gelernt habe, oder meine Meinung zu einem Thema kundzutun.
Ehe ich mir aber die Mühe gemacht habe, meine Kamera im Wohnzimmer aufzubauen und mich auszuleuchten, dachte ich, ich könnte ein paar andere Fragen gleich mit bearbeiten. Also habe ich einen Tweet abgesetzt, um ein wenig zu sammeln:
Ich gebe frei zu, an dieser Stelle die Neugier der Community ein wenig unterschätzt zu haben. Ich dachte, ich nehme fünf oder sechs Fragen mit, damit sich ein Video auch wirklich lohnt. Es kamen aber in den ersten Tagen etwa 450 Fragen zusammen. Es waren naive Fragen. Es waren fortgeschrittene Fragen. Es waren persönliche Fragen. Fragen zur Religion, zum Alltag, zu mir, zur Geschichte. Das war der Zeitpunkt, an dem ich begriff, dass dies ein klein wenig mehr Zeit in Anspruch nehmen würde.
Ich begann damit, alle diese Fragen in einer Exceltabelle zu kuratieren, die Dopplungen rauszulöschen, sie thematisch halbwegs zu sortieren. Sofort verstand ich, dass es mir unmöglich sein würde, alle diese Fragen zu beantworten. Erstens fehlt mir in einigen Bereichen schlicht die Fachkenntnis. Zweitens würde ich sie notwendigerweise nur aus meiner Perspektive beantworten können. Das wäre der Sache aber nicht angemessen. Denn es gibt unendlich viele Arten, das Judentum zu definieren.
Es ergab sich die Notwendigkeit, zumindest eine zweite Stimme in den Antworten zu haben, die ganz anders ist als meine. Das hätte zudem den Vorteil, die Hälfte der Schuld abwälzen zu können. Zu meinem Glück erbot sich Eliyah Havemann, den ich bis dahin nur ab und an auf Twitter gesprochen hatte, mir zu helfen. Wirklich kennengelernt haben wir uns also erst über die Arbeit an den Videos und an diesem Buch. Eliyah brachte sehr viel Expertise gerade in den Fragen der Religion und Halacha sowie in nicht aschkenasischen Strömungen des Judentums ein. (Wenn ihr diesen Satz nicht versteht, das ist okay. Dafür ist dieses Buch da.)
Anschließend machten wir uns an die Arbeit, die Fragen nicht nur in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, sondern auch zu beantworten. Wir kannten die Fragen zwar schon vor dem Dreh, doch die Antworten waren nicht vorformuliert. Wir haben uns stattdessen hingesetzt, jeder in seinem Wohnzimmer, eine Verbindung über Zoom zwischen Deutschland und Israel aufgebaut und die Fragen gelesen und frei von der Leber weg beantwortet. Das Setting war also sehr Diaspora-typisch. Manchmal hatten wir dabei Meinungsverschiedenheiten. Wir haben selbst voneinander viel gelernt. Das Ergebnis ist eine fünfteilige Videoreihe auf Youtube, die der Künstler Karol Kosmonaut produziert und untertitelt hat. Alles auf Nullbudget.
Die Videos erfreuten sich großen Zuspruchs und wurden oft auch in Schulklassen gezeigt. Es folgten viele Rückfragen zu unseren Antworten, teilweise ganze Fragenkataloge, die in Klassen gesammelt wurden. Die Fragen, die sich rund um das Projekt ergaben, sind nun in diesem Buch versammelt.
Keine dieser Fragen haben wir uns ausgedacht. Manche dieser Fragen wurden von Jugendlichen gestellt und können vielleicht etwas naiv oder unkorrekt klingen. Aber es gibt keine dummen Fragen! Auf manche Fragen wären wir nie gekommen. Wir glauben dennoch, dass Menschen von der Beantwortung dieser allesamt ehrlichen und aus Neugier gestellten Fragen profitieren können. Das ist, was den Reiz dieses Projekts ausmacht: Menschen, die sich mit dem Judentum nicht auskennen, können diese Fragen nicht beantworten. Menschen, die Bücher über das Judentum schreiben, halten einiges davon für selbstverständlich oder kommen nicht auf die Idee, auf diese Themen einzugehen. Insofern versteht sich dieses Werk nicht als Einstiegswerk ins Judentum oder als Konkurrenz zu phantastischen Werken wie 99 Fragen zum Judentum von Rabbiner Walter Rothschild, auch wenn es ein ähnliches Fragenformat hat und wundervoll locker antwortet. Es ist nicht didaktisch kuratiert und fragt nicht nach Expertise, sondern sucht nach neuen Formen des Teilens von Erfahrung und Dialog.
Die Druckerpresse hat es Autor:innen ermöglicht, allein zu vielen Menschen zu kommunizieren. Die digitalisierte, vernetzte Welt ermöglicht es uns, von vielen zu vielen zu kommunizieren. Das wird das Schreiben verändern. Für mich war das Experiment, ein Produkt herzustellen, das sich praktisch ausschließlich auf das geäußerte Interesse seines Publikums stützt, eine neue und spannende Erfahrung. Das Erarbeiten im ständigen Austausch mit Interessierten, mit Jugendlichen, ist das, was mich begeistert und überhaupt bewegt hat, ein Buch rund um das Thema Judentum zu machen. Denn es ist nicht das Feld meiner Expertise. Nicht das Objekt meines Aktivismus. Es ist ein verlegener Schritt in die Sichtbarkeit, die zu Normalität werden soll.
Eine kleine Anmerkung: Wir gendern in diesem Buch. Wir haben verschiedene Vor- und Nachteile dessen erwogen. Aber schwerer als das Argument »Manche Leute fühlen sich davon so gekränkt, dass sie darüber nicht hinweglesen können« wog folgendes Argument von Eliyah: Wir schreiben dieses Buch, um Jüd:innen sichtbarer zu machen. Da wäre es irgendwie ironisch, wenn wir Frauen sprachlich unsichtbar machen. Wir schreiben dabei »Jüd:innen« überall dort, wo (zumindest potenziell) individuelle Menschen gemeint sind, und »Juden«, wo es um das Volk Israel allgemein geht. Ein Beispiel: »Für viele Jüd:innen ist der Schabbat heilig.«, aber »Der Schabbat ist Juden heilig.« Ähnlich halten wir es auch mit Christ:innen und Muslim:innen.
Das Sichtbarkeitsparadoxon
Es gibt eine Legende in unserer Familie, woher mein Großvater (Jahrgang 1906) seine prominente Nase hatte. Bei den Pogromen in Kiew 1919 soll er aus der Straßenbahn geschubst worden sein und sich die Nase gebrochen haben. Seitdem sei sie so. Mein Vater hatte diese Nase, und ich habe sie nun auch. Über diese Geschichten aus dem Bereich des magischen Realismus und tragikomische jüdische Witze hinaus spielte das Judentum in meiner Kindheit keine wirkliche Rolle. Was genau es bedeutete, dass meine Familie jüdisch ist, war mir während meiner Kindheit nicht klar. Mir war nicht klar, warum wir unseren Namen wechseln mussten und uns Onufriyenko statt Weisband nannten. Mir war nicht klar, dass ich mit dem Namen Weisband in der Ukraine wahrscheinlich nicht hätte studieren können. Mir war in besonderem Maße nicht klar, warum Großvater 1993 erklärte, dass die Familie nach Deutschland übersiedeln würde. Hatte der Patriarch nicht selbst auf alle geschimpft, die das Land verließen, seit die Ausreise 1990 möglich geworden war?
Niemand hatte mir von den Gerüchten über anstehende Pogrome erzählt, die er so ernst genommen hatte, dass er die ganze Familie nach Deutschland übersiedelte. Alle seine Söhne, deren Frauen, die Kinder und Enkel seiner Schwester. Die ganze Großfamilie. Auf sein Wort hin zogen sie alle fort. Ließen Häuser zurück, Berufe, Lebensläufe, Freunde, Sprache, Klaviere und Katzen. (Die Klaviere und Katzen waren mir selbst am schmerzhaftesten, präziser, mein Klavier und meineKatze. Mein sechsjähriges Ich hatte wenig Verständnis für diese Art von Opfer.)