Fragen an Maria Montessori -  - E-Book

Fragen an Maria Montessori E-Book

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Beschreibung

Mehr als 100 Jahre nach Eröffnung des ersten Kinderhauses in Rom durch Dr. Maria Montessori (1870-1952) beleuchten 20 Fachleute die zentralen Aspekte ihres weltberühmten Konzeptes. Die international renommierten Autorinnen und Autoren praktizieren und erforschen Montessoris Pädagogik seit vielen Jahren. Zentral sind dabei Fragen wie: Ist Maria Montessori heute noch zeitgemäß oder sogar weiterhin ihrer Zeit voraus? Wo sind Weiterentwicklungen ihrer Pädagogik erforderlich?

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Michael Klein-Landeck (Hrsg.)

Fragen anMaria Montessori

Immer noch ihrer Zeit voraus?

Festschrift für Harald Ludwig zum 75. Geburtstag

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Berres & Stenzel, Freiburg

Umschlagfoto: © Association Montessori Internationale (AMI), Amsterdam

Fotos im Innenteil: S. 170, 175, 177, 178: © Fred Kelpin; S. 171, 172, 176: © Photo collection Anne Frank House, Amsterdam; S. 174: © Anne Frank Stichting; S. 181: © Harold Baumann; S. 182: © Federico Sorge; S. 185: Scuola Montessori Bergamo; S. 186: © Association Montessori Internationale (AMI), Amsterdam

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80505-9

ISBN (Buch) 978-3-451-32875-6

Inhalt

Vorwort

Michael Klein-Landeck

Die Bedeutung der AMI für Maria Montessori – und die Bedeutung von Harald Ludwigs Wirken für die AMI

Carolina Montessori

Welche Erziehungsangebote in welcher Phase?Zur Bedeutung der Entwicklungsstufen in der Montessori-Pädagogik

Ela Eckert/Hans-Dietrich Raapke

Haben Sie Phantasie und Kreativität unterschätzt?Vorstellungskraft und Kreativität aus der Sicht Maria Montessoris

Clara Tornar

Wie aktuell ist heute Ihr personales Bild vom Menschen?Maria Montessoris Bild vom Kind und Günter Ragers Entwurf einer neuen Anthropologie

Hildegard Holtstiege

Sind auch »schwierige« Schüler bei Montessori »richtig«?Die Geschichte des unverstandenen Kindes

Jacqueline Hendriksen

Warum ist »Lernen mit allen Sinnen« so wichtig?Erziehung und Bildung durch körperliches Erfassen und Erkennen

Eva-Maria Ahlquist

Ist eine Erziehung zum Frieden möglich?Maria Montessori und der Aufbau einer »Wissenschaft vom Frieden«

Paola Trabalzini

Wie wichtig ist der Pädagoge im Erziehungsprozess?Lässt Maria Montessori der Lehrerpersönlichkeit genügend Raum?

Peter Ortling

Dürfen Kinder in der Freiarbeit machen, was sie wollen?Wie frei sind die Montessori-Kinder?

Andrej Dorofeev

Warum sollen Jugendliche »raus aufs Land«?Montessoris Erdkinderplan – pädagogische Utopie oder zeitgemäßes Konzept?

Gudula Meisterjahn-Knebel

Unterfordert oder herausgefordert und gefördert?Ist die Montessori-Pädagogik auch für besonders begabte Schüler geeignet? Theorie und Praxis im Dialog

Christian Fischer/Esther Grindel

Dürfen wir nach Ihrem Sohn Mario fragen?Maria Montessori als Mutter – Die private Frau in der Öffentlichkeit

Theresia Herbst

Was verbindet Sie mit Anne Frank?Anne Frank in Amsterdam

Fred Kelpin

Welche Hilfe erhielten Sie durch treue Anhängerinnen?Giuliana Sorge – eine kongeniale Mitarbeiterin von Maria Montessori

Harold Baumann

Warum und wie sollten wir heute Ihre Schriften lesen?»Den Nachfahren überlasse ich das schwierige Urteil!« Bemerkungen zum Sinn einer Gesamtausgabe der Werke Maria Montessoris

Volker Ladenthin

Meine Begegnung mit der Montessori-Pädagogik

Harald Ludwig

Autorenverzeichnis

Vorwort

Fragen an Maria Montessori – so lautet der Titel des vorliegenden Bandes. Aber ist denn nicht schon längst alles über diese weltberühmte Pädagogin und ihr Erziehungskonzept erforscht, hinterfragt, gesagt und geschrieben? Was könnten denn das für Fragen sein, die man der großen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori (1870–1952) heute noch stellen kann oder gar sollte? Füllen nicht schon unzählige Schriften und Filme über ihr pädagogisches Lebenswerk die Regale unserer Bibliotheken und geben auf alle Fragen eine Antwort?

In der Tat werden seit der Eröffnung des ersten Kinderhauses am 6. Januar 1907 im römischen Stadtteil San Lorenzo die Grundgedanken und Prinzipien, aber auch spezifische Aspekte und Hintergründe dieser bis heute Menschen aus aller Welt faszinierenden und begeisternden Pädagogik lebhaft und unermüdlich diskutiert. Rund um den Globus wendet man sich der Montessori-Pädagogik zu, weil man sich von ihr Anregungen zur Bewältigung aktueller pädagogischer Herausforderungen und Probleme erhofft. Doch manches wird durchaus kontrovers betrachtet: Stimmt es, dass Montessori die Rolle des Erwachsenen im Erziehungsgeschehen unterschätzt hat? Hat sie das Lernmaterial vielleicht zu wichtig genommen? War sie der kindlichen Phantasie gegenüber negativ eingestellt? Hat sie die soziale Erziehung vernachlässigt? Eignet sich ihre Pädagogik auch für die Arbeit mit »schwierigen« Kindern? Dürfen Schüler in Montessori-Klassen machen, was sie wollen? Solche Fragen werden in Hochschulseminaren und Montessori-Ausbildungskursen oder in der Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Lehrern immer wieder gestellt und diskutiert.

Achtzehn Wissenschaftler, Theoretiker und Praktiker aus verschiedenen Nationen haben sich dieser Fragen an Maria Montessori in diesem Band angenommen und geben aus ihrer Sicht und auf der Basis ihrer international anerkannten Montessori-Expertise Antworten.

Der Band ist zugleich eine Festschrift anlässlich des 75. Geburtstages von Prof. (em.) Dr. Harald Ludwig (Universität Münster), einem der bedeutendsten und international renommiertesten Montessori-Forscher unserer Zeit. Alle Autorinnen und Autoren sind Kollegen, Freunde und ehemalige akademische Schüler, die sich mit Harald Ludwig zusammen der Pädagogik Maria Montessoris vom Kinde aus verbunden fühlen und ihm auf diese Weise ihre herzlichsten Glückwünsche übermitteln wollen.

Ihnen allen sei ganz herzlich für ihre Mitarbeit gedankt. Dem Verlag Herder, bei dem die von Harald Ludwig als kritische Edition herausgegebenen Gesammelten Werke Maria Montessoris in 21 Bänden erscheinen, gebührt ein besonderer Dank dafür, dass Fragen an Maria Montessori in die Reihe MONTESSORI WISSEN aufgenommen wurde. Vor allem sei an dieser Stelle dem Programmleiter Pädagogik, Herrn Jochen Fähndrich, ganz herzlich dafür gedankt, dass er das Entstehen dieser Schrift von Anfang an wohlwollend begleitet und unterstützt hat.

Hamburg, im April 2015Michael Klein-Landeck

Die Bedeutung der AMI für Maria Montessori – und die Bedeutung von Harald Ludwigs Wirken für die AMI

Carolina Montessori

Das Logo der Association Montessori Internationale (AMI) ist offen für unterschiedliche Interpretationen, aber ich erkenne darin eine sehr charakteristische Qualität dieser Vereinigung: eine Familie mit einem gemeinsamen Interesse an Montessori im weitesten Sinne. Einige interessieren sich für die Methode und ihre Anwendung in der Praxis, andere für Montessoris Philosophie – etwa zu Themen wie die Erziehung zum Frieden oder die Rechte des Kindes – oder in jüngster Zeit für die »Éducateurs sans Frontières« (»Erzieher ohne Grenzen«). Da gibt es diejenigen, die fasziniert sind von Maria Montessori, ihrem Leben und ihrer Zeit, andere sind fasziniert von der wissenschaftlichen Grundlage ihrer Methode, aber wir alle gehören zur großen Montessori-Familie, die in der AMI zusammenkommt. Wie in jeder Großfamilie werden enge Freundschaften geschlossen, gibt es einen lebhaften Austausch von Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch, und Meinungsverschiedenheiten gibt es auch. Aber der Zusammenhalt der Familie ist groß: Wir geben aufeinander acht, treffen uns an den unterschiedlichsten Orten und in verschiedenen Zusammenhängen, wir gedenken verstorbener Mitglieder, und wir feiern Erfolge und andere wichtige Anlässe.

Ich empfinde es als große Ehre, um ein Vorwort für diesen Band gebeten worden zu sein, den Freunde, ehemalige Schüler und Kollegen aus verschiedenen Ländern aus Anlass des 75. Geburtstages von Harald Ludwig verfasst haben. Ich hoffe, dass ihn die behandelten Themen ansprechen und er diesen Band immer wieder in die Hand nehmen wird, um mehr über die Themen zu erfahren, die für ihn wichtig sind.

Harald Ludwig ist ein sehr geliebtes und hochgeschätztes Mitglied unserer AMI-Familie. Zunächst einmal gratuliere ich Harald ganz herzlich zum Geburtstag und hoffe, dass er noch viele weitere Ehrentage in guter Gesundheit und in Gesellschaft seiner geliebten Frau Christa wird feiern können. Dies sind gute Wünsche für den Privatmann Harald Ludwig, aber nicht ganz uneigennützig hoffe ich ebenfalls sehr, dass es ihm gelingen wird, sein großes Werk zu vollenden: die deutschsprachige wissenschaftliche Ausgabe der Gesammelten Werke Maria Montessoris. Das ist etwas, an das sich bisher sonst niemand herangewagt hat. Um Harald Ludwigs Rolle in der AMI und seinen Beitrag für Montessoris Werk im Allgemeinen richtig einschätzen zu können, ist ein kurzer Überblick über die Geschichte der AMI und deren Bedeutung für Maria Montessori und die Montessori-Bewegung hilfreich.

Im Jahre 1929, also vor über 85 Jahren, wurde die Association Montessori Internationale in Dänemark gegründet. Aber schon 1912 hatte Montessori die Notwendigkeit einer internationalen Organisation zum Schutz ihres Werkes erkannt. In einem Brief an Anne E. George1 aus diesem Jahr diskutierte Montessori ihre Ideen hinsichtlich einer solchen Organisation. Fast täglich komme es in immer mehr Ländern zur Gründung von Montessori-Bewegungen, so schrieb sie, und erst kürzlich hätten Russland und Bulgarien ihr Interesse zum Ausdruck gebracht, die Montessori-Methode kennenzulernen und Schulen zu gründen. Ganz im Gegensatz dazu hatte Montessori in Italien keine eigene Schule, und die Lehrerausbildung dort war oberflächlich. Selbst wenn ihre Methode in Italien großflächig eingeführt werden sollte – was würde denn mit den Sechsjährigen geschehen, die eine traditionelle Schule besuchen müssten? Alles, was sie bisher gelernt hatten, wäre umsonst gewesen.

Montessori erkannte, dass ihr gesamtes Schaffen bis zu diesem Moment erst der Anfang war. Und dass es weltweit ein so großes Interesse hervorgerufen hatte, sprach für die Notwendigkeit einer internationalen Organisation. In Amerika war eine Reihe von Ausschüssen für verschiedene Zwecke gegründet worden: einer für das didaktische Material, einer für die Veröffentlichung ihrer Bücher usw. Aber die Engländer hatten die Idee, dass es eine Organisation für die Bewegung geben sollte, eine Organisation, welche sich mit den praktischen Fragen der Ausbreitung und des Schutzes der Methode, mit der Lehrerausbildung usw. befassen sollte. Diese Organisation sollte aus Menschen bestehen, die wirklich an Montessoris Konzept glaubten und als eine Art Apostel fungieren konnten: Hochschullehrer, Journalisten, einflussreiche Leute im Bereich der Pädagogik, die Bildungselite.

Zunächst sollten sie öffentlich die Wirksamkeit der Montessori-Methode bestätigen und vor Leuten warnen, die eine nicht-autorisierte Montessori-Lehrerausbildung anboten, und sie sollten dabei gleichzeitig für die Förderung der Montessori-Methode und eines intensiven Lehrer-Trainings sorgen. Danach sollten sich die verschiedenen schon existierenden Komitees zusammenschließen, um gemeinsam zu agieren und die Verbreitung der Methode nicht weiter zu verzögern. Nach Montessori sollten die amerikanischen und die englischen Komitees einen soliden Anfang der internationalen Bewegung bilden. Im Gegenzug wollte Montessori im Laufe des Jahres 1913 zwei Ausbildungskurse für Lehrer geben: einen Intensivkurs für ausgewählte Amerikaner, die dann in der Lage sein würden, amerikanische Lehrer auszubilden, und einen Sommerkurs für Lehrer, die die Methode in den Schulen umsetzen und Modellschulen in Italien würden leiten können. Das waren Montessoris Pläne für ihre internationale Organisation, und sie bat Anne George um Unterstützung bei deren Umsetzung.

Dieser Brief lässt erahnen, dass Montessori vom Beginn der Verbreitung ihrer Ideen an auf Schwierigkeiten stieß oder zumindest sah, welche Probleme sie ihr ganzes Leben lang beschäftigen würden: von der Kritik aus der akademischen Welt über den Schutz geistigen Eigentums bis hin zu Schülern, die nach Abschluss eines oder mehrerer Kurse auszogen, um ihre eigene Version der Montessori-Methode zu lehren; von der Unmöglichkeit, ein dauerhaftes Labor für die Fortsetzung ihrer Forschungsarbeit sowie eine Modellschule zu gründen, wo sie zeigen konnte, wozu Kinder in der Lage sind, wenn sie in ihrem eigenen Tempo lernen und sich in einer vorbereiteten Umgebung entwickeln können, bis hin zu dem Dauerproblem, nicht genügend Lehrer ausbilden und der konstanten Nachfrage nach autorisierten Ausbildungskursen und guten Montessori-Schulen nicht nachkommen zu können.

Die Allgemeingültigkeit von Montessoris Ideen machte die Dinge so viel schwieriger. Wäre es ihr möglich gewesen, sich dauerhaft in einem Land niederzulassen, hätten sich zumindest einige der oben dargestellten Hindernisse überwinden lassen. Aber da Montessoris Leben durch politische Ereignisse oder die kontinuierliche Nachfrage nach Ausbildungskursen aus der ganzen Welt viele Male eine neue Richtung erfuhr, musste um die Einführung ihrer Methode immer wieder gerungen werden, wo immer sie sich aufhielt. Als sie älter wurde, muss sie auch über die Fortführung ihres Werkes nach ihrem Tod und besonders über ihren Wunsch nachgedacht haben, ihrem Sohn Mario, zu dem sie sich nie öffentlich bekannt hatte, eine maßgebliche Position innerhalb der Montessori-Bewegung einzuräumen und ihn zum einzig rechtmäßigen Erben ihres Lebenswerkes zu ernennen.

So überrascht es nicht besonders, wenn Maria Montessori auf Marios Initiative hin im August 1929 in Dänemark die Association Montessori Internationale gründete – als Dachorganisation zur Überwachung der Aktivitäten von Montessori-Gesellschaften und -Schulen in verschiedenen Ländern sowie zur Organisation der Lehrerausbildung. Maria Montessori wurde Präsidentin und Mario Montessori Generaldirektor – Positionen, die sie bis zu ihrem Lebensende behielten. Genau wie ihre Gründer zog auch die AMI mit ihrem Hauptsitz von einem Land zum anderen, bis sie in den späten Dreißigerjahren ihre endgültige Heimat in Amsterdam fand – zuletzt in dem Haus, das Maria Montessori während ihrer letzten Lebensjahre bewohnte. Die Fragen und Probleme, welche zur Gründung der AMI geführt hatten, wurden nie ganz gelöst, sondern immer nur teilweise. Aber es gelang der AMI, Maria Montessori mit einem ergebenen Kreis von Ausbildern und Lehrern, Freunden und Anhängern zu versorgen, die sie bei der Fortsetzung ihrer Forschungsarbeit unterstützten und Ausbildungskurse gemäß ihren klaren Richtlinien organisierten.

Jede Organisation ist in hohem Maße auf ihre Mitglieder angewiesen, und dank der anhaltenden Anstrengungen von Ausbildern und Lehrern, die – unterstützt durch die Mitarbeiter der AMI – fundierte Montessori-Lehrgänge geben und weltweit gute Montessori-Schulen leiten, wird die AMI heute allgemein als die Autorität in Bezug auf die Pädagogik Maria Montessoris und die Bewahrung ihres Vermächtnisses angesehen. – So viel, in aller Kürze, zur AMI. Es könnte noch viel mehr zu diesem Thema gesagt werden, aber das würde den Rahmen dieser Würdigung der Leistung von Harald Ludwig sprengen.

Ausbilder und Lehrer wenden sich auch an die AMI, um Inspiration oder neue Einblicke zu gewinnen, im Zusammenhang mit Forschungsproblemen oder wegen der Verfügbarkeit von Montessori-Literatur. Dabei spielt Harald Ludwig eine entscheidende Rolle. Er war und ist immer noch sehr aktiv damit befasst, diese Literatur nicht nur Mitgliedern der AMI, sondern der ganzen interessierten Montessori-Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Harald war Kollege des verstorbenen Günter Schulz-Benesch, eines hochgeschätzten, engagierten und sehr beliebten Mitglieds der AMI. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass wir in Harald Ludwig einen weiteren deutschen Gelehrten und Pädagogen gefunden haben, der die AMI und die Montessori-Pädagogik in hohem Maße unterstützt. Als Mitglied des AMI-Vorstandes (2002–2008) und in den letzten Jahren in besonderer Weise als Redaktionsmitglied hat er maßgeblich dazu beigetragen, die AMI Communications zu dem wesentlich wissenschaftlicheren AMI Journal weiterzuentwickeln. Für einige der älteren Mitglieder war das Ende der AMI Communications zwar ein ziemlicher Schock; jedoch werden die akademisch anspruchsvollen Artikel zusammen mit bislang unveröffentlichten Beiträgen Maria Montessoris zu bestimmten Themen von den meisten Mitgliedern inzwischen, da das Journal schon seit einigen Jahren erscheint, sehr positiv aufgenommen.

Und dann gibt es da ja auch noch das AMI Bulletin, welches über nicht so gewichtige, für viele aber dennoch genauso interessante Nachrichten und Ereignisse berichtet. Im Laufe der Jahre hat sich die AMI zu einer unabhängigen, professionellen Organisation entwickelt, genau wie ihre Publikationen. Harald leistet seine Arbeit für das AMI Journal mit großem Engagement, und als einer der Schriftleiter verfügt er über eine besondere Gabe, die Inhalte der Zeitschrift zusammenzustellen und mit den anderen Redaktionsmitgliedern zu kommunizieren.

Zusammen mit seiner Frau Christa besucht Harald regelmäßig die Geschäftsstelle der AMI in Amsterdam, um im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Edition der Gesammelten Werke Maria Montessoris zu recherchieren. Diesen Besuchen gehen lange E-Mails mit detaillierten Nachfragen zum Ursprung bestimmter Zitate oder zu den benötigten Dokumenten voraus, begleitet von Vorschlägen, wo man danach suchen könnte, sodass sich die AMI-Archivare auf weitläufige Suchexpeditionen in Archive und Bibliotheken begeben müssen. Antworten wie »Gibt es nicht« oder »Unauffindbar« lässt er nicht gelten, und für gewöhnlich hat er damit recht. Die Besuche selbst sind immer unvergessliche Ereignisse – nicht nur wegen der großzügigen Vorräte an Süßigkeiten, die Christa für die AMI-Mitarbeiter mitbringt, sondern auch wegen des leckeren Mittagessens, das wir gemeinsam in der AMI-Küche einnehmen, nachdem Harald Zeit hatte, die für ihn ausgegrabenen Dokumente zu sichten. Dann ist auch Zeit für einen persönlichen Austausch.

Aber am eindrucksvollsten an diesem gelehrten Wissenschaftler mit dem milden Lächeln ist die unvergleichliche Gründlichkeit, mit der er so lange forscht, bis er gefunden hat, wonach er sucht, dann geduldig zusammensetzt, was seine Forschungen ergeben haben, und so Montessoris Schriften mit einer Fülle an informativen Anmerkungen versieht. Die Leidenschaft und Geschwindigkeit, mit der er, seine Übersetzer und sein Herausgeberteam einen Band der Gesammelten Werke nach dem anderen veröffentlichen, ist außergewöhnlich.

Im Namen der ganzen AMI-Familie wünsche ich Harald Ludwig einen wunderschönen Geburtstag. Wir alle hier bei der AMI sagen Dir ein großes Dankeschön für deine wunderbare Arbeit.

Literatur

Mario M. MONTESSORI: Che cosa è l’AMI?, in: Vita dell’Infanzia 1 (1952).

Mario MONTESSORI jun.: Association Montessori Internationale: Past, Present and Future. Address to the Irish Montessori Society (Nov. 1989), in: AMI Communications 2–3/1993.

Welche Erziehungsangebote in welcher Phase?

Zur Bedeutung der Entwicklungsstufen in der Montessori-Pädagogik

Ela Eckert/Hans-Dietrich Raapke

1. Die Bedeutung der Entwicklungsstufen für das Lernen nach Maria Montessori (Ela Eckert)

1.1 Ausgangspunkt für die Erziehung sind die Entwicklungsstufen

In dem vorliegenden Beitrag geht es mir darum, Maria Montessoris Konzept der Entwicklungsstufen aus dem Blickwinkel der London Lectures von 1946 zu betrachten. Dabei handelt es sich um 33 Theorie-Vorträge im Rahmen des ersten Montessori-Ausbildungskurses nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa.2 Maria Montessori war inzwischen 76 Jahre alt. Die Vorträge sind in außergewöhnlicher Prägnanz und Klarheit formuliert, und möglicherweise hat Montessori sie selbst als eine Art Vermächtnis und als Fundament für eine Zeit angesehen, in der sie, die stets größten Wert darauf gelegt hat, Montessori-Pädagoginnen und -Pädagogen höchstpersönlich auszubilden, selbst keine Kurse mehr würde halten können. Lange Jahre galt das Manuskript dieser Vorträge als ein Juwel, das nur wenigen Insidern zugänglich war. Erst 2012 erschien eine gedruckte Ausgabe in englischer Sprache, in deren Vorwort Renilde Montessori – die Enkelin – diese Texte ausdrücklich als Basis für die späteren internationalen Ausbildungskurse der AMI für das Alter von 3 bis 6 Jahren bezeichnet. Es scheint mir daher lohnend, das Thema der Entwicklungsstufen auf dieser Grundlage zu beleuchten.

Im Zentrum von Maria Montessoris Interesse standen ein Leben lang Kinder und Jugendliche aller Altersstufen und ihre Entwicklungsbedürfnisse – und zwar Kinder unterschiedlichster kultureller Milieus und verschiedenster sozio-ökonomischer Herkunft. Ihre lebenslangen Beobachtungen führten Montessori zu einer Auffassung von kindlicher Entwicklung, die sie immer wieder aufs Neue überprüfte und bestätigt fand:

Der vierte Vortrag der 1946 London Lectures trägt den Titel The Planes of Development (Die Stufen [Ebenen/Niveaus] der Entwicklung)5, und hier erläutert Montessori den Kursteilnehmern ihre Auffassung von einer Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen in drei aufeinander folgenden Stufen. Die Erkenntnis einer Entwicklung in Phasen oder Stufen war zu Montessoris Zeit an sich nicht neu. Von Interesse sind insbesondere die Stufentheorien von Johann Amos Comenius, Sigmund Freud, Jean Piaget und Erik H. Erikson.

1946 fasste die damals 76-jährige Montessori in London auf sehr komprimierte Weise die wesentlichen Ergebnisse ihrer lebenslangen und in vielen Kulturen und Gesellschaftsschichten gemachten Beobachtungen zur physisch-psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einem Schaubild zusammen, das sie in ihrem Vortrag erwähnt (das dort allerdings nicht abgebildet ist). Die Erklärungen Montessoris lassen vermuten, dass es sich dabei um ein Diagramm gehandelt haben dürfte, das 1950 – also wenige Jahre später – in seiner endgültigen Ausformung (d.h. erweitert um die vierte Entwicklungsstufe der frühen Erwachsenenjahre von 18–24) in Perugia unter dem Titel The Constructive Rhythm of Life vorgelegt wurde.6 Es ist ein sehr ausdrucksstarkes Schaubild, das im oberen Teil den Blick auf die Entwicklung des Individuums lenkt und im unteren Teil die Antworten aufzeigt, die das traditionelle Bildungssystem für diese Entwicklungsbedürfnisse bereithält bzw. eben nicht anbietet.

Es scheint mir sinnvoll, bei der Interpretation von Montessoris Gedanken dieses Schaubild im Hintergrund im Blick zu haben, da es zusätzlich verdeutlicht, welche Charakteristika in den einzelnen 6-Jahres-Phasen kindlicher Entwicklung wirklich bestehen, welche angemessene Vorbereitung der Umgebung die konsequente Antwort darauf ist und welche Rolle sich daraus für uns als Erzieher und Lehrkräfte als die jeweils adäquate ergibt, wenn wir die kindliche und jugendliche Entwicklung unterstützen wollen.

Das Kind – so Montessoris Überzeugung – bringt bei seiner Geburt einen inneren Antrieb mit auf die Welt, der es zum Selbstaufbau seiner Persönlichkeit anleitet. In dem Diagramm The Constructive Rhythm of Life deutet (in manchen Versionen) eine Flamme im linken oberen Teil dieses physisch-psychisch-mentale Potenzial des Kindes bei der Geburt an. Es zeigt sich, dass die Entwicklung bis zum Erwachsenenalter in einem Rhythmus von aufeinander folgenden Phasen von jeweils sechs Jahren verläuft, und zwar nicht linear, sondern im Wechsel zwischen Schüben und eher ruhigen Phasen. Montessori bezeichnet die erste und die dritte Stufe als »formativ«, d.h. konstruktiv aufbauend, schöpferisch, mit großen Veränderungen für die Persönlichkeit, für Intelligenz und Soziabilität verbunden. Zugleich sind diese Stufen gekennzeichnet durch Labilität. Die zweite und (im erweiterten Schaubild) die vierte kennzeichnet sie dagegen als »stabil«. Das Besondere der zweiten Entwicklungsstufe liegt dabei in der großen Weltneugier, dem Forscher- und Abenteuergeist und der moralischen und sozialen Sensibilität dieses Alters. Zur Verdeutlichung dieses »konstruktiven Lebens-Rhythmus« markiert sie die erste und dritte Phase rot, die zweite und vierte Phase blau, sodass die Folge rot – blau – rot – blau entsteht. Es wechseln also Phasen mit großen Entwicklungsfortschritten und Veränderungen der Persönlichkeit (Transformationen) mit solchen ruhiger Weiterentwicklung und Konsolidierung des Erworbenen miteinander ab. Innerhalb jeder Phase vollzieht sich die Entwicklung entlang bestimmter sensibler Phasen, die auftreten, zunehmen, ein Maximum an Wirksamkeit erreichen und wieder abklingen, um von anderen abgelöst zu werden.

Das Erziehungs- und Lernangebot – so die Ärztin Montessori – muss die physisch-psychischen Voraussetzungen unbedingt berücksichtigen. In ihren Londoner Vorträgen bringt sie ihre Beobachtungen zum Verhalten und zu den Reaktionsweisen von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Entwicklungsaltern noch einmal komprimiert zum Ausdruck. Dazu zwei Zitate: »Wenn ich zum Beispiel eine Erziehungsform für ein bestimmtes Lebensalter konzipiert habe, so heißt dies nicht, dass ich sie für alle Altersgruppen so gedacht habe. Was in einer Lebensphase perfekt ist, passt für die nächste nicht mehr … Die Charakteristika einer Entwicklungsphase sind nicht die gleichen für die darauffolgende.«7 Und an anderer Stelle heißt es: »In der Natur geht es nicht so zu. Entwicklungsfortschritte sind nicht linear. In der Natur ist jede Phase ein spezieller Zeitabschnitt für sich. Die Zeit von der Geburt bis zum Alter von sechs Jahren ist eine Zeit mit spezifischen Charakteristika, die sich stark von denjenigen unterscheiden, die zur Phase von sechs bis zwölf gehören – so stark, dass wir sagen können, das Kind habe zwei unterschiedliche Leben: Eines endet mit dem Alter von sechs Jahren, das andere beginnt dort. Es ist wie eine zweite Geburt.«8

Und folgerichtig kritisiert Montessori in ihrem Vortrag das traditionelle Bildungssystem mit seinen Anforderungen, die den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes und Jugendlichen genau entgegenstehen: Es gibt nur wenige Angebote für die frühe Kindheit, relativ begrenzte Lernangebote während der Jahre von 6 bis 12 und eine umso größere Masse an Lernstoff in den anschließenden Jahren – wobei dieser noch dazu vollständig durch ein fest umrissenes Curriculum vorgegeben ist und durch die Lehrkräfte vermittelt wird, sodass man als lernender junger Mensch darauf keinen Einfluss hat.

Maria Montessoris Schlussfolgerung dagegen lautet: Vieles, was traditionell in der Grundschule gelehrt wird, passt viel besser für das Alter der 3- bis 6-Jährigen, und erst recht eignen sich Inhalte, die traditionell den 12- bis 15-Jährigen vorbehalten sind, viel besser für die 6- bis 12-Jährigen mit ihrer großen Weltneugier. Die jungen Adoleszenten im Alter von 12 bis 15 Jahren dagegen dürfe man zum Lernen nicht zwingen; sie brauchten Zeit und Ruhe für ihre Entwicklung und einen gänzlich anderen Lernzugang.9 Vor diesem Hintergrund möchte ich die Entwicklungsstufen und die für sie jeweils adäquate Vorbereitete Umgebung, wie sie von Montessori entworfen wird, im Einzelnen betrachten (wobei ich das Alter von 18–24 Jahren nicht in meine Überlegungen einbeziehe, da es in ihrem Londoner Vortrag nicht behandelt wird).

1.2 Jeder Entwicklungsstufe entspricht eine spezifische Vorbereitete Umgebung

1.2.1 Erste Entwicklungsstufe (0–3 bzw. 3–6 Jahre)

Welches sind die Entwicklungsbedürfnisse in den Jahren von 0 bis 3? Wie aus dem vierten Vortrag und aus dem Diagramm The Constructive Rhythm of Life erkennbar ist, erleben Kinder der ersten Entwicklungsstufe in ihrer frühen Lebenszeit eine Phase riesiger sowohl physischer als auch geistig-psychischer Entwicklungsfortschritte, die zugleich eine starke Labilität bedingen. Wie wir wissen, hat Maria Montessori als charakteristisch für dieses Alter die sensiblen Phasen für Bewegung, Ordnung und Sprache beschrieben. Sehr bewusst setzt sie eine Zäsur in der Mitte dieser Entwicklungsstufe, denn in der ersten Hälfte dieser Jahre geht es um den Erwerb der Bewegungen und der Bewegungskoordination sowie der Orientierung in der Umwelt und um das Erlernen von Sprache, während die zweite Hälfte eher eine Zeit der Konsolidierung und Verfeinerung bereits erworbener Fähigkeiten und Fertigkeiten ist.

Die Arbeit mit Kindern von 3 bis 6 Jahren in der Vorbereiteten Umgebung des Kinderhauses hat Maria Montessori früh ausführlich und sehr sorgfältig beschrieben. Sie hat in ihrer praktischen Umsetzung international und national eine lange bewährte Tradition und ist das am besten verstandene Konzept ihres Ansatzes. Anders verhält es sich mit den ersten drei Jahren der ersten Entwicklungsstufe. Wohl haben wir hierzu mit Montessoris 1948 in Indien publiziertem Spätwerk Das kreative Kind – Der absorbierende Geist, in dem sie ihre Erkenntnisse zu Embryologie, Geburt, Bewegungs- und Intelligenzentwicklung sowie zur Bedeutung der frühen Sprachentwicklung systematisch darstellt, ein hervorragendes Grundlagenwerk; und detaillierte Ausführungen zur frühen Kindheit finden sich auch schon viel früher in ihrer Schrift Das Kind in der Familie. Aber wie steht es mit konkreten Hinweisen zur Umsetzung in die Praxis einer Montessori-Einrichtung für junge Kinder?

Dazu hatte sie sehr wohl schon in Indien Überlegungen angestellt. Nach ihrer Rückkehr nach Europa initiierte Maria Montessori während der letzten ihr verbleibenden Lebensjahre gemeinsam mit einigen engen Mitarbeiterinnen, darunter maßgeblich Adele Costa Gnocchi in Rom, den Aufbau einer für das früheste Kindesalter adäquaten Erziehungsumgebung. In einem intensiven Dialog zwischen ihr und diesen Mitarbeiterinnen wurden ihre Beobachtungen in konkretes Handeln umgesetzt, spezifische Materialien entworfen, ausprobiert und revidiert, und alles mit dem Ziel, den speziellen Entwicklungsbedürfnissen dieser jüngsten Kinder eine genau passende Lernumgebung zur Verfügung zu stellen. Denn es stellte sich schnell heraus, dass es nicht darum gehen konnte, den ½ bis 2½-Jährigen die gleiche Vorbereitete Umgebung anzubieten, die für das Kinderhaus passt.

Ein angemessenes Milieu für diese jüngsten Kinder muss Folgendes berücksichtigen:

Jedes Baby bringt bei der Geburt das

Bedürfnis nach Interaktion

mit seiner Umwelt mit.

In seinen wachen Phasen ist es

von Anfang an ein intensiver Beobachter

mit dem Bedürfnis, sich in seiner Umgebung zu

orientieren

und mit seinen Bezugspersonen zu

kommunizieren

.

Mithilfe seines absorbierenden Geistes

nimmt es

vielfältige Eindrücke

aus dieser Umgebung auf und erfasst die engen

Bezugspersonen als Vorbild für das, was Menschsein insgesamt bedeutet

.

Mit den großen Meilensteinen der Entwicklung im ersten Jahr erlebt das Kind

Selbstwirksamkeit

und

erste Unabhängigkeit

, die es anspornen, braucht dazu aber Vertrauen und Unterstützung.

Hat es das Stadium des freien Bewegens im Raum erreicht, ist es sein

Bedürfnis, sich an den Handlungen zu beteiligen

, die es so lange Zeit intensiv beobachtet hat. Es verlangt nach

maximalen Herausforderungen

, um sich erproben zu können.

Welches ist die angemessene Vorbereitete Umgebung für dieses Alter? Kleinkinder in ihren Verhaltensweisen zu verstehen, sie in der Entwicklung ihrer Selbstwirksamkeit und Unabhängigkeit angemessen zu unterstützen, ohne sie zu hindern und zu frustrieren, birgt seine sehr besonderen Herausforderungen. Montessoris wichtigster Grundsatz für die Arbeit mit diesen jüngsten Kindern lautet: »Der fundamentale Grundsatz für den Erzieher besteht demnach darin, nicht zum Hindernis für die Entwicklung des Kindes zu werden.«10

Für das Alter von 0 bis 3 wurden damals in Rom zwei unterschiedliche Ausformungen einer Vorbereiteten Umgebung konzipiert: Einerseits der »Nido« (»Nest«) für die allerjüngsten Kinder und andererseits eine Einrichtung für die Kinder etwa vom Laufalter bis zu ca. 2½ Jahren, die heute in der internationalen Montessori-Pädagogik den Namen »Infant Community« trägt. Jede dieser Vorbereiteten Umgebungen ist sehr spezifisch. Beim »Nido« wie bei der »Infant Community« handelt es sich um ein Milieu mit klar-übersichtlichen Bereichen für Nahrungsaufnahme, Körperpflege und Schlafen sowie für die Bewegungs- und die kognitive Entwicklung, die ausgesprochen sparsam, aber einladend ausgestattet sind. In ihnen wird besonders großer Wert darauf gelegt, dass für die jungen Kinder keine Hindernisse für ihre Entwicklung bestehen und dass die Erzieherinnen und Erzieher sorgfältig darauf achten, die Kinder auf klare, positive Weise zu bestätigen, ihnen Hilfe anzubieten, wenn es nötig ist, und zu verstehen, dass sie in allem, was sie tun, den Kindern Vorbild für deren Verständnis von Menschsein sind. Das sind Aufgaben, die eine gründliche Ausbildung erfordern.

Aus den Praxis-Anfängen entwickelten sich allmählich die internationalen Ausbildungskurse für »Assistants to Infancy«, die auf die Arbeit mit diesen jüngsten Kindern hervorragend vorbereiten. Zusätzlich wurde damals in Rom der »Centro Nascita« (»Geburtszentrum«) gegründet, der jungen Müttern im Zusammenhang mit der Geburt und in der Zeit unmittelbar davor und danach Unterstützung anbot. Aus diesen Anfängen entstanden die heutigen »Parent-Child-Kurse«, die auf wunderbare Weise geeignet sind, werdende und junge Eltern in ihrer großen Verantwortung zu unterstützen. In Deutschland steckt die Umsetzung dieses Konzepts für die jüngsten Kinder noch ganz in den Anfängen. Gleichzeitig besteht seit Kurzem ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter 3 Jahren. Nichts liegt näher, als Montessoris Praxis-Konzept für diese Altersstufe intensiv zu diskutieren und interessierte Erzieherinnen zu einer adäquaten Ausbildung zu motivieren. Hier liegt eine sehr große und spannende Herausforderung für die kommenden Jahre!11

1.2.2 Zweite Entwicklungsstufe (6–12 Jahre)

Welches sind die Entwicklungsbedürfnisse dieses Alters? Montessori zufolge leben Kinder in diesem Alter in einer Zeit physisch-psychischer Stabilität. Sie sind im Allgemeinen körperlich robust, ausdauernd und voller Energie. Im Hinblick auf ihre geistig-psychische Entwicklung erkannte Montessori als spezielle Sensibilitäten dieses Alters eine enorme Lernneugier, von ihr als extrovertierende Intelligenz bezeichnet, verbunden mit einer großen Vorstellungskraft bzw. Imaginationskraft, einer beginnenden Abstraktionsfähigkeit sowie einer großen Sensibilität für moralische Fragen.

In den 1940er Jahren, während eines mehrjährigen Aufenthalts in Indien, entwickelten Maria und Mario Montessori unter durch die Kriegsereignisse sehr eingeschränkten Arbeitsbedingungen bei der Arbeit mit Kindern im Grundschulalter in einem Ort namens Kodaikanal das großartige Konzept der »Kosmischen Erziehung« als die Antwort auf die Entwicklungsbedürfnisse der zweiten Entwicklungsstufe. Mario Montessori sagte später über diese Zeit, für seine Mutter hätten sich damals die Entwicklungsbedürfnisse dieses Alters und das vernetzte Erforschen gegenseitiger Abhängigkeiten und Ordnungsstrukturen im Universum sowie die Verantwortlichkeit des Menschen dafür zusammengefügt wie zwei optimal zueinander passende Puzzlestücke. Die Kinder hätten mit riesigem Enthusiasmus zu verschiedensten Aspekten der Entstehung der Erde, der Evolution des Lebens, zu Naturphänomenen wie Bodenbeschaffenheit und Erosion, aber auch zu kulturellen Errungenschaften des Menschen gearbeitet und die Erwachsenen inspiriert, in diesen Bahnen weiterzudenken. Er wies auch darauf hin, dass dieses umfangreiche Konzept ohne die Einschränkung der Reise- und Vortragsfreiheit damals nie hätte entstehen können, dass also diese Begrenzung im Rückblick betrachtet eine große Chance gewesen sei.12

Das Kernstück der Kosmischen Erziehung ist das Kennenlernen des Aufbaus des Kosmos als eines Ganzen mit seinen vielfältigen Ordnungsstrukturen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Der Kosmos soll den Kindern vorgestellt werden »… als eine packende Geschichte der Erde, auf der wir leben, ihrer vielen Wandlungen durch lange Zeitalter hindurch … Veranschaulicht durch faszinierende Karten und graphische Darstellungen.« »Weil die Notwendigkeit ersichtlich ist, dem Kind so viel anzubieten, wollen wir ihm eine Vision des ganzen Universums geben … Das Kind ist befriedigt, wenn es das universale Zentrum seiner selbst und aller Dinge entdeckt hat.«13

In der Kosmischen Erziehung ist der Weg stets der vom Ganzen zum Detail. In Form von inspirierenden Erzählungen durch die Lehrkraft (»cosmic tales«), unterstützt durch Schaubilder, Zeitleisten und Experimente, bekommen die Kinder panoramaartige Einblicke in große Zusammenhänge des Kosmos:

Die Entstehung des Universums

Die Entwicklung des Lebens

Vom Kommen des Menschen

Die Entstehung der Zahlen

Die Entstehung der Schrift

.

Anschließend erforschen sie nach eigenen Interessen vielfältige Details und Zusammenhänge und lernen dabei, Beziehungen zu erkennen, Respekt gegenüber den Phänomenen der Natur und Kultur aufzubauen und komplex zu denken. Kosmische Erziehung lässt Kinder

Einzelheiten nie als beziehungslos nebeneinander, sondern als Teil eines Ganzen erkennen;

die kosmische Aufgabe von Lebewesen und die Verantwortung des Menschen dafür verstehen;

Ordnungskriterien in der Natur und in der Kultur bewusst erfahren;

die Leistungen der menschlichen Zivilisation (Schrift, Mathematik) und den Beitrag einzelner Menschen zum Fortschritt des Wissens verstehen;

interdisziplinär denken, da sie über die Grenzen der Fachdisziplinen hinaus arbeiten.

Welches ist die adäquate Vorbereitete Umgebung für dieses Alter? Längst vor Indien war Montessori der Überzeugung, dass das Klassenzimmer als adäquate Lernumgebung für die forschende Arbeit dieser Kinder nicht mehr ausreichend sei, sondern dass sie Gelegenheit erhalten müssten, in der Natur, in Museen oder Bibliotheken eigenverantwortlich Antworten auf ihre Fragen zu suchen. Dieses Prinzip ist heute als »Going-out« bekannt und stellt ein unverzichtbares Element der Vorbereiteten Umgebung für diese Altersstufe dar.

Und welches sind die Essentials für die Vorbereitete Umgebung der zweiten Entwicklungsstufe? Wichtigste Voraussetzung ist der Aufbau eines Lernmilieus, in dem die Kosmische Erziehung das Zentrum bildet. Ausgehend von der Darbietung der großen cosmic tales und kleinerer Erzählungen mit den dazugehörenden Zeitleisten und Schaubildern muss für die Kinder die Möglichkeit bestehen, exemplarisch und unter Anleitung ihrer Pädagogen zu Details und Zusammenhängen zu arbeiten, und zwar nach ihren eigenen Interessen und Voraussetzungen. Vorhanden sein müssen Materialien zu Schlüsseldarbietungen (der Geografie, Geologie, Astronomie, Physik, Chemie), Sachbücher zum Nachlesen und Forschen, Materialien zum selbstständigen Experimentieren, zur Systematik von Flora und Fauna und selbstverständlich solche zur Montessori-Mathematik und -Sprache für das Grundschulalter (auch der Fremdsprache). Vor allem aber muss für die Kinder und die Pädagoginnen Klarheit darüber bestehen, dass es sich bei der Kosmischen Erziehung nicht um eine Ansammlung von Materialien handelt, die neben den als Hauptsache betrachteten Mathematik- und Sprachmaterialien auch noch existiert, sondern dass es sich umgekehrt bei Sprache und Mathematik um Leistungen menschlicher Zivilisation handelt, die somit Teil der Kosmischen Erziehung sind.

Die Praxis in Deutschland zeigt jedoch, dass viele Montessori-Grundschulklassen nicht so strukturiert sind. Hauptgründe dafür sind die insgesamt sehr späte Rezeption des Konzepts »Kosmische Erziehung« und die deutsche Tradition einer Montessori-Diplom-Ausbildung nach einem Konzept, das nicht stringent auf die Bedürfnisse der zweiten Entwicklungsstufe ausgerichtet ist. Indem aber die Fokussierung auf die Kosmische Erziehung nicht deutlich genug erfolgt, erreichen Kinder in dieser Umgebung oft nicht den Grad an Selbstaufbau, der möglich wäre und ihren Entwicklungsbedürfnissen entspräche. Hier besteht meiner Meinung nach in Deutschland die Notwendigkeit zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Konzept »Kosmische Erziehung« und zu einer Umorientierung in deren praktischer Umsetzung. Eine solche neue Orientierung an Montessoris Konzept für die zweite Entwicklungsstufe hat zwar mittlerweile durchaus begonnen, ist aber noch lange nicht überall in der Praxis zu finden.

1.2.3 Dritte Entwicklungsstufe (12–18 Jahre)

Welches sind die Entwicklungsbedürfnisse dieses Alters? Die umfangreichste und spannendste Herausforderung innerhalb der Montessori-Pädagogik liegt in der Tat ganz gewiss in Montessoris Vorstellungen zu einem adäquaten Erziehungskonzept für die dritte Entwicklungsstufe, also für das Alter der 12- bis 18-Jährigen. In ihrem Diagramm The Constructive Rhythm of Life ist sie rot umrandet dargestellt, also als eine Zeit mit großer Dynamik und Veränderung, die wiederum in der Mitte eine Zäsur hat. Das leuchtet ein, denn die Jahre von 12 bis 15 sind die wichtigsten Jahre der Pubertät mit ihren großen physischen Veränderungen und einem im Umbau begriffenen Gehirn. Ab etwa der Mitte dieser Entwicklungsstufe ändert die Pubertät ihren Charakter, und die anschließenden Jahre sind eher wieder eine Zeit der Konsolidierung und des Hineinwachsens in die neue Rolle des Erwachsenen.

Die frühen Jahre der Pubertät jedoch sind mit großen mentalen und psychischen Unsicherheiten verknüpft und werden von Montessori so gekennzeichnet: »… der Organismus wandelt sich um … das Alter der Zweifel und der Unschlüssigkeiten, der heftigen Gemütsbewegungen und der Entmutigung. In dieser Zeit tritt eine Verminderung der intellektuellen Fähigkeiten ein … Die Schwierigkeit, sich auf das Studieren zu konzentrieren, hängt nicht von einem Mangel an gutem Willen ab … Die Kraft der Aneignung und das Gedächtnis, die die jungen Menschen (in der Phase davor) mit einem solchen Interesse für die Details und die materiellen Dinge ausstattete, scheinen ihre Natur zu ändern.«14

Junge Adoleszenten

wollen heraus aus dem engen Milieu der Schule

lieben große physische Herausforderungen

wollen Lebensvisionen entwickeln

suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft

wollen reflektieren, in Frage stellen, sich eine Meinung bilden

sind sensibel für Kunst und Poesie.

Montessori erkannte bei ihnen einerseits den Wunsch nach Geborgenheit und Schutz, andererseits den nach Unabhängigkeit, aber auf neue Weise: Unabhängigkeit von der Familie, Unabhängigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht und ein Leben in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen. Montessori schlussfolgerte: »Die wesentliche Reform besteht also darin, den jungen Menschen in den Stand zu versetzen, seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu gewinnen. Es geht darum, eine ›Erfahrungsschule des sozialen Lebens‹ zu schaffen.«15

Welches ist die angemessene Vorbereitete Umgebung für dieses Alter? 1939 publizierte Maria Montessori ihre Empfehlungen für die Erziehung in der dritten Entwicklungsstufe unter dem Titel: The Erdkinder. A Reform of Secondary Education. Es handelt sich bei dem Text lediglich um eine Ideenskizze, aber um eine von großer Radikalität und Konsequenz. Das für diese Altersstufe angemessene Lernarrangement müsse etwas anderes sein als Schule, forderte sie. Vielmehr solle es ein »Studien- und Arbeitszentrum auf dem Lande« sein und aus folgenden Elementen bestehen: Bauernhof (Produktion), Geschäft (Handel/Verkauf/Warenaustausch, Kommunikation), Gasthaus/Hotel (Service/Kontakte), Schule (Unterricht).

Es ging Montessori dabei keinesfalls darum, aus den Jugendlichen Bauern zu machen, sondern sie verstand dieses Arrangement als Möglichkeit einer Einführung in die Grundstrukturen des Arbeitslebens, und zwar im Wechselspiel zwischen praktischen Tätigkeiten und theoretischer Arbeit. Das Arrangement des »Studien- und Arbeitszentrums« übernimmt hierbei die Rolle, die im Kinderhaus das Material hatte, und die Schule im engeren Sinne ist ein Teil dieser Vorbereiteten Umgebung. Jahrzehntelang wurde dieses Konzept Montessoris aufgrund seiner Radikalität und seines Umfangs sowie wegen fehlender Detailhinweise nirgends auf der Welt konsequent in die Praxis umgesetzt. Dort, wo überhaupt Montessori-Sekundarschulen bestanden, verwirklichte man einzelne und sehr unterschiedliche Facetten. Daher ist auch in Deutschland das Bild der Montessori-Sekundarschulen sehr vielgestaltig.

Mitte der 1990er Jahre nahmen sich US-amerikanische Montessori-Ausbilder unter der Federführung von David Kahn vor, den Schritt in die Praxis ernsthaft zu wagen. Montessori-Theoretiker mit langer Erfahrung sichteten dazu schriftliche Quellen über den ›Erdkinder‹-Text hinaus,16 und Montessori-Praktiker werteten Erfahrungen zum Lernen von Jugendlichen und zu bis dahin bestehenden Farmschool-Projekten systematisch aus. Im Jahr 2000 gründete man in Ohio auf der Basis dieser Recherchen und Erfahrungen die »Hershey Montessori Farmschool«, in der Maria Montessoris Vision erstmals konsequent zu einem Praxiskonzept verdichtet wurde. Inzwischen gibt es an etlichen Orten – auch in Europa – Versuche der Umsetzung eines solchen Modells für Jugendliche dieses Alters. Im Sommer 2014 fand in Sätila bei Göteborg unter der Leitung von Jenny Höglund und David Kahn erstmals in Europa die »AMI Montessori Orientation to Adolescent Studies« als vierwöchiger Einführungskurs in die authentische Arbeit nach Montessoris Erdkinderkonzept statt (ein Kurs, an dem auch die Autorin dieses Beitrags teilnahm). Wer mit Schülern in dieser Umgebung gesprochen und sie in ihrer Arbeit erlebt hat, versteht, was es wirklich heißt, den altersgemäßen Selbstaufbau junger Menschen zu fördern!

1.4 Fazit

Es gibt also allen Grund zu der Auffassung, mit dem umfassenden Erziehungsansatz Maria Montessoris auf einem guten Weg zu sein, der Kindern einen schrittweisen und systematischen Selbstaufbau ermöglicht und sie befähigt, zu Persönlichkeiten heranzuwachsen, die gewillt und fähig sind, gemeinsam mit anderen Verantwortung zu übernehmen, die Herausforderungen ihrer Zukunft zu erkennen und sie mit kreativen Lösungen zu meistern. Aber können wir uns damit zufriedengeben? Wie Maria Montessori selbst sollten wir die Wirksamkeit der jeweiligen Umsetzung ihrer hervorragenden Konzeption in die Praxis auf jeder Ebene immer wieder aufs Neue überprüfen und optimieren:

für die erste Entwicklungsstufe

gilt es, das international bekannte Praxis-Konzept für das Alter 0–3 im Detail zur Kenntnis zu nehmen sowie interessierte junge Leute für eine umfassende und authentische Montessori-Ausbildung für diese Altersstufe zu motivieren;

für die zweite Entwicklungsstufe

gilt es, das Konzept der »

Kosmischen Erziehung

« im Detail unter die Lupe zu nehmen und Montessori-Grundschulen stärker auf diesen Fokus hin zu orientieren;

für die dritte Entwicklungsstufe

gilt es, sich mit dem

»Erdkinder«-Konzept

Montessoris intensiv auseinanderzusetzen und eine authentische Umsetzung zumindest an einigen Montessori-Zentren voranzubringen;

insgesamt

gilt es, erstklassige Montessori-Einrichtungen auf allen Entwicklungsstufen als

Best-Practice-Modelle

zu identifizieren und interessierten Montessori-Pädagogen Gelegenheit zu geben, deren Arbeit kennenzulernen sowie

in größerem Ausmaß

Kongresse, Fachtagungen und Fortbildungsangebote zu organisieren, die zu nationalem und internationalem Erfahrungsaustausch Gelegenheit geben und inspirierend wirken.

Vor uns sehe ich also eine Reihe von »Entwicklungsaufgaben«. Die sollten wir in Angriff nehmen und kontinuierlich verfolgen. Unsere Kinder sind es wert!

2. Fragen zur aktuellen Bedeutung der Entwicklungsstufentheorie in der Montessori-Pädagogik (Hans-Dietrich Raapke)