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In den verschneiten Parks des winterlichen Frankfurts werden mehrere Prostituierte ermordet aufgefunden. Die nackten und verstümmelten Frauenleichen tragen eine blutige Botschaft – das Werk eines Serienkillers. Hauptkommissar Gregor Mandelbaum und sein Team geraten bei den Ermittlungen auf die Spur einer verletzten Kinderseele. Im Bann von Liebe und Hass müssen sie einen hohen Preis zahlen, bevor sie den Täter stellen können. Nach diesem Fall wird nichts mehr so sein, wie es war.
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Seitenzahl: 379
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Dieter Aurass
Frankfurter Blutspur
Kriminalroman
Quälende Erinnerung Innerhalb kurzer Zeit werden zwei ermordete Prostituierte in den verschneiten Parks des winterlichen Frankfurts aufgefunden. Schnell ist klar, dass hier ein Serienkiller am Werk sein muss, denn die nackten Frauenleichen weisen nicht nur gleichartige Verstümmelungen auf, sondern tragen auch beide eine in Blut verfasste Botschaft. Hauptkommissar Gregor Mandelbaum und sein eingespieltes Team nehmen die Ermittlungen auf. Wegen des Bezugs zum Rotlichtmilieu erhalten sie dabei Unterstützung von zwei Beamten des Sittendezernats, die allerdings für einige Unruhe und Verwirrung sorgen. Unterdessen geht das Morden weiter; die Spur führt zu einer verletzten Kinderseele. Im Bann von Liebe und Hass muss die Mordkommission II einen hohen Preis zahlen, bevor sie den Täter stellen kann. Nach diesem Fall wird nichts mehr so sein, wie es war.
Dieter Aurass wurde 1955 in Frankfurt am Main geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Abitur begann er seine 41 Jahre andauernde Karriere bei der Polizei. Die ersten 30 Jahre war er als Ermittler des Bundeskriminalamtes in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und Spionageabwehr tätig. Die letzten elf Jahre arbeitete er im IT-Management der Bundespolizei. Seit drei Jahren schreibt er in seiner Freizeit Kriminalromane; das vorliegende Buch ist der zweite Band seiner Reihe um den Frankfurter Ermittler Gregor Mandelbaum. Dieter Aurass ist seit 31 Jahren in zweiter Ehe verheiratet und lebt mit seiner Frau und einer Boston-Terrier-Hündin in Mülheim-Kärlich bei Koblenz am Rhein.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Frankfurter Kaddisch (2016)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Dominika Sobecki
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © joexx / photocase.de
ISBN 978-3-8392-5434-9
Für meine Frau Ellen … immer und immer wieder!
Die junge Frau schleppte sich auf allen vieren über die mit Schnee bedeckte Wiese. Ihr leises Wimmern wäre schon aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr zu hören gewesen. Die Kraft, laut um Hilfe zu rufen, hatte sie bereits vor langer Zeit eingebüßt. Die Kälte des Schnees fühlte sie kaum, denn ihr Körper bestand fast nur noch aus Schmerzen. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, laut zu schreien – die Chancen, drei Stunden nach Mitternacht in diesem Park von einer Menschenseele gehört zu werden, waren gleich null. Selbst in den Sommermonaten wurde dieses Stück Natur mitten in Frankfurt zu Nachtzeiten nicht sehr stark frequentiert. In einer so kalten Januarnacht, bei einer Temperatur von minus acht Grad Celsius und starkem Schneefall, wäre niemand auf die Idee gekommen, durch den Park zu wandern.
Die vollständig nackte Frau spürte, wie sowohl die Schmerzen als auch ihre kaum noch vorhandenen Kräfte sehr schnell nachließen.
Ein letztes Mal versuchte sie, sich aufzurichten und statt auf Händen und Knien auf ihren Füßen ein paar Schritte zurückzulegen. Wie bei den ersten beiden Malen gelang es ihr nicht, auch nur einen Schritt zu tun. Allein bei dem Versuch, einen Fuß vor den anderen zu setzen, fiel sie unkontrolliert nach vorne. Sie schaute auf ihre Füße, aber ihr Blick war so verschleiert und unscharf, dass sie nur Schemen erkennen konnte. Sie sah eine Unmenge von Rot, und als sie auf den Weg blickte, den sie kriechend zurückgelegt hatte, erkannte sie im Schein einer in der Nähe befindlichen Laterne eine dunkle Spur. Sie verstand nicht, was das bedeutete.
Sie war so müde und erschöpft, und das Abebben der Schmerzen ließ sie die Entscheidung treffen, sich ein wenig auszuruhen. Sollte ihr Martyrium wirklich vorbei sein? Warum hatte der Mann sie hier aus dem Wagen geworfen, wo immer das auch war? Warum hatte er ihr das angetan? Waren nicht Tage vergangen, seit er sie entführt hatte? Sicherlich suchte man schon nach ihr.
Die Müdigkeit ergriff vollkommen Besitz von ihr. Sie spürte keine Schmerzen mehr, keine Kälte und keine Angst. Langsam rollte sie sich in eine Schlafposition wie ein Fötus im Mutterleib. Dann schlief sie mit einem leichten Lächeln auf den zerschundenen Lippen ein.
Dr. Sonja Savoyen beugte sich über die weibliche Leiche, die vor wenigen Minuten ins Institut für forensische Medizin des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität gebracht worden war. Zu ihren Aufgabenbereichen als zuständige Rechtsmedizinerin gehörte es, die Leichenschau vorzunehmen und die genauen Todesumstände zu ermitteln. Im vorliegenden Fall erkannte sie ohne Schwierigkeiten, dass kein natürlicher Tod vorlag. Die junge Frau lag vollständig unbekleidet in einer fötalen Stellung auf dem Seziertisch, und … sie war steinhart gefroren. Sonja nahm nicht an, dass sie freiwillig die Nacht bei Minustemperaturen nackt im Freien zugebracht hatte. Zudem wies die Leiche nach erstem Augenschein auch noch zahlreiche Verletzungen auf.
»Hallo, Eisprinzessin«, erklang hinter ihr die vertraute Stimme des Leiters der Rechtsmedizin, Professor Bernd Bücking, »schon wieder schwer beschäftigt?«
Es hätte nicht der Stimme bedurft, um zu erkennen, wer da den Sektionssaal betreten hatte, denn Bücking war der Einzige, der es wagen konnte, sie »Eisprinzessin« zu nennen. Der Spitzname, den Mitarbeiter des Instituts nur hinter vorgehaltener Hand oder in ihrer Abwesenheit benutzten, war teilweise dem Umstand geschuldet, dass sie nordische Vorfahren hatte – was man ihr ansah. Hauptsächlich aber lag es an ihrer oft kalten und abweisenden Art, vor allem im Umgang mit den männlichen Kollegen. Sie hatte sich diesen Schutzpanzer der kühlen Distanzierung zugelegt, um sich der oftmals aufdringlichen Avancen zu erwehren. Es war nicht immer ein Vorteil, wie eine jugendliche Ausgabe von Brigitte Nielsen auszusehen.
Mit Bücking verband sie eine langjährige Bekanntschaft, nicht nur durch seine Tätigkeit als Leiter der Institution. Er war auch ihr Dozent während des Studiums gewesen, ihr Doktorvater und Mentor zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Rechtsmedizin. Es kam nicht oft vor, dass er seine Mitarbeiter in den Sektionsräumen aufsuchte, denn das ließ seine Position als Verwaltungschef kaum zu. Er galt zwar als eine Koryphäe mit internationalem Ruf, aber er praktizierte seinen Beruf als Rechtsmediziner lediglich in Ausnahmefällen. Bei besonders interessanten Fällen schaute er bisweilen bei den zuständigen Rechtsmedizinern vorbei oder ließ sich noch vor Abschluss einer Untersuchung berichten. Sonja rechnete es ihm hoch an, dass er speziell in ihren Fällen des Öfteren vorbeischaute, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sich dahinter mehr als Freundschaft und berufliches Interesse verbarg. Ihres Wissens war der Professor alleinstehend, aber über private Dinge sprach er zu niemandem.
Sie richtete sich über dem Seziertisch auf und streckte sich mit einem leichten Ächzen auf die vollen 1,85 Meter. Rückenschmerzen stellten eine der vielen unangenehmen Begleiterscheinungen ihres Berufes dar.
Der Professor stand grinsend vor ihr und schaute zu ihr auf. Mit seiner Größe von knapp 1,60 Metern und seiner leicht zur Fülle neigenden Figur wirkte er in Anwesenheit der schlanken und hochgewachsenen Sonja fast wie ein Gnom. Der Eindruck wurde noch durch den Gehstock und die leicht gekrümmte Haltung verstärkt. Sonja hatte nie erfahren, wie es zu der Verkrüppelung seines linken Beins gekommen war. Bücking sprach über dieses Thema mit niemandem. Aber selbst lebensältere Kollegen kannten ihn nur mit dieser Behinderung. Sie musste in voller Konzentration auf die Leiche gewesen sein, sonst wäre ihr sein Eintreten in den Sektionssaal an dem deutlich hörbaren »Tock-Tock« seines Stockes beim Gehen aufgefallen.
»Na, meine Schöne«, begann er die Unterhaltung, »interessanter neuer Fall?«
»Hallo, Herr Professor, das freut mich aber, dass Sie sich mal wieder bei mir sehen lassen.« Sonja trat einen Schritt beiseite und gab damit den Blick auf den Tisch frei. »Vermutlich sehr interessant, aber«, sie zuckte bedauernd mit den Schultern, »sehr viel kann ich noch nicht sagen, denn momentan bleibt mir nichts anderes übrig, als die Tote grob in Augenschein zu nehmen.«
Der Professor zog fragend eine Augenbraue hoch.
Sonja zeigte auf die Leiche und erklärte: »So hart gefroren wie Stein. Ich kann derzeit weder den Todeszeitpunkt bestimmen noch den Körper in eine normale Position bewegen. Das wird wohl noch eine Weile dauern.«
Der Professor trat näher an den Tisch heran.
»Aber«, fuhr Sonja fort, »bereits jetzt kann ich einige interessante Verletzungen erkennen.«
»Zum Beispiel?«, fragte Bücking mit unverhohlener Neugierde und der ihm eigenen schulmeisterlichen Manier, die er seit dem Ende seiner Laufbahn als Dozent und Ausbilder nie abgelegt hatte.
»Außer den sichtbaren Hämatomen am ganzen Körper hat sie auffällige Verletzungen an den Füßen.« Sonja schlug das weiße Leinentuch, das bislang noch halb über dem Leichnam gelegen hatte, gänzlich zurück, wodurch der Blick auf den unteren Teil der Leiche frei wurde.
»Oha«, entfuhr es dem Professor, »wie deuten Sie diese Verletzung, Frau Kollegin?«
Sonja musste angesichts der immer verschiedenen Ansprachen durch Bücking kurz lächeln. Während eines Gesprächs sprach er sie niemals gleich an. Von »Mädchen«, »Frau Kollegin«, »Eisprinzessin« über »Frau Doktor«, »Kleine« bis »Schönheit«, »Liebes« oder »teure Freundin« – er war schon immer ein Quell unerschöpflicher Namensgebungen gewesen. Aber sie wurde schnell wieder ernst und konzentrierte sich auf die professionelle Begutachtung der Verletzungen. »Wie man deutlich sehen kann, sind alle Zehen an beiden Füßen entfernt worden. Soweit ich es bisher beurteilen kann, handelt es sich um saubere, glatte Schnitte mit einem scharfen Instrument – ich tippe auf eine Baum- oder Geflügelschere.«
»Prä oder post mortem?«, fragte Bücking, obwohl er es nach Sonjas Einschätzung längst selbst beurteilt hatte.
»Ich bin mir sicher, dass diese Amputationen längere Zeit vor Eintritt des Todes vorgenommen worden sind.«
»Warum?«, kam die prompte Nachfrage, und Sonja fühlte sich ein wenig in die Zeit der Prüfungen während des Studiums zurückversetzt. Aber es war ihr nicht unangenehm, mit ihrem Chef in eine solche Frage-und-Antwort-Session zu gehen. Im Gegenteil, es stellte für sie immer wieder eine Herausforderung dar, dieses Urgestein der Rechtsmedizin über ihre Gedankengänge zu informieren und seine Meinung dazu zu hören. »Auch beim derzeitigen Zustand der Leiche ist bereits erkennbar, dass die Blutung der Wunden vermutlich mit großer Hitze gestoppt wurde. Ich tippe da auf ein Brenneisen oder etwas Ähnliches.«
»Ziemlich barbarisch, oder?«, erkundigte sich Bücking und gab damit seine Zustimmung zu ihrer Beobachtung zu erkennen.
»Fast wie im Mittelalter«, stimmte Sonja ihm zu. »Zumal bei genauerer Betrachtung zu erkennen ist, dass vor dem Abtrennen der Zehen keine Maßnahmen wie Abbinden oder Eindämmung des Blutflusses ergriffen worden waren. Ich kann nur hoffen, dass die junge Frau das nicht bei vollem Bewusstsein erdulden musste. Genauer kann ich das aber erst beurteilen, wenn der Leichnam aufgetaut ist und ich weitergehende Untersuchungen machen kann.«
»Gut so, ich komme vielleicht später noch mal vorbei und schaue nach dem Stand. Bis dahin erst mal: Bonne chance, chérie.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ humpelnd den Raum.
Sonja sah ihm nachdenklich hinterher und fragte sich im Stillen, ob er wohl eine genauere Vorstellung als sie hatte, wie lange es dauern würde, bis die Leiche aufgetaut war.
Gregor Mandelbaum stand am Rand der Wiese im Grüneburgpark und fror erbärmlich. Der 30-jährige Leiter der Mordkommission 2 beim Polizeipräsidium Frankfurt betrachtete aufmerksam das sich bietende Schauspiel. Die leicht zu überschauende Fläche hatte eine Abmessung von etwa 50 mal 80 Metern und lag am östlichen Rand des insgesamt fast 300.000 Quadratmeter großen Parks. Der lag im Stadtteil Westend und war Luftlinie nur etwa 1.000 Meter vom Polizeipräsidium entfernt. Eine Oase des Friedens mitten in der Stadt. Dieser Eindruck wurde durch den weißen Teppich aus Schnee noch verstärkt. Die Szene hätte friedlich wirken können, wären da nicht das halbe Dutzend Einsatzfahrzeuge der Polizei und die großräumige Absperrung mit rot-weißem Trassierband mit dem Aufdruck »Polizeiabsperrung« gewesen.
Die Mitarbeiter seines Teams befanden sich auf der Spurensuche und waren an verschiedenen Stellen rund um den Fundort der Leiche unterwegs. Die erste Tatortaufnahme war bereits durch die uniformierten Kollegen in Zusammenarbeit mit der Tatortgruppe vorgenommen worden, und es fiel schwer, die vielen Spuren im Schnee zu übersehen, die in den letzten beiden Stunden entstanden waren. Glücklicherweise hatten die ersten Beamten am Tatort so viel Umsicht bewiesen, nur einen einzigen Zugang, und diesen auch nur zu Fuß, zum Fundort zu gestatten. Sogar der Abtransport der Leiche war nicht mit einem Leichenwagen vorgenommen worden, der bis in die Mitte der Wiese vorfuhr, sondern durch Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, die den Zinksarg mit der Leiche über den zugeschneiten Rasen getragen hatten. So gab es einen einzigen Trampelpfad zum Fundort, der an der Spur der Finderin entlangführte. Bei der handelte es sich um die Labradorhündin eines frühen Spaziergängers, die eine fast gerade Furche in den Schnee gepflügt hatte, bis zu der Toten. Die Hündin hatte sich von ihrem Besitzer losgerissen und war, vermutlich aufgrund des Blutgeruchs, auf dem kürzesten Weg zur Leiche gerannt. Ihr Herrchen war ihr nur so weit gefolgt, bis er hatte erkennen können, dass dort ein toter und mit Schnee bedeckter Körper lag. Die Hündin hatte er noch davon abhalten können, mehr als nur einen Teil der Füße auszubuddeln. Inzwischen saß er mit einer Tasse Kaffee in einem der Einsatzwagen und versuchte, seine Nerven zu beruhigen.
Gregor nahm ein Zehn-Zoll-Notepad aus seiner Manteltasche und schaltete es ein. Zum Bedienen des Gerätes musste er allerdings zumindest einen Handschuh ausziehen. Er verfluchte zum wiederholten Mal an diesem Tag, dass er sich noch nicht diese neuen Handschuhe gekauft hatte, mit denen man eine Touch-Oberfläche bedienen konnte. Immer wieder hauchte er in seine rechte Hand, um anschließend über die Fläche des Bildschirms zu fahren, damit die Bilder vom Tatort in rascher Folge wechselten. Die Fotos, welche die Tatortgruppe gemacht hatte, waren direkt auf einem sicheren Server des Polizeipräsidiums gelandet und über einen ebenfalls durch hohe Passwortsicherheit geschützten Zugang nun für jeden Berechtigten abrufbar – zu denen Gregor selbstverständlich zählte. Das Notepad hatte er vor wenigen Wochen auf Anraten seines Mitarbeiters Oberkommissar Klaus Braake angefordert, damit er immer und überall über neue Erkenntnisse, auch mit umfangreichem Bildmaterial, informiert werden konnte. Der 31-jährige Computerspezialist war das »Enfant terrible« des Teams, das »schreckliche Kind«. Er war auf seine Weise genial, aber unkonventionell, vorlaut, frech und er erkannte keine Autorität an, vor allem aber war er ungepflegt und hatte einen sehr fragwürdigen Kleidungsstil, was ihm bereits frühzeitig den Spitznamen »Schmuddel« eingebracht hatte. Es passte zu seiner Wesensart, dass er diesen Spitznamen mit Stolz trug.
Schmuddel war mit den anderen draußen und suchte nach Spuren und Hinweisen, wobei Gregor wohl Mitleid für ihn empfunden hätte, wenn er zu solchen Gefühlen in der Lage gewesen wäre. Als sie fast zeitgleich am Fundort eingetroffen waren, hatte er mit Überraschung feststellen müssen, dass Schmuddel offensichtlich weder einen Wintermantel noch Handschuhe besaß. Aufgrund von Gregors besonderer Prädisposition war sein tatsächliches Empfinden aber lediglich Unverständnis. Es war einfach nicht logisch, keine Winterbekleidung zu besitzen – in einer Zeit, in der die Temperaturen seit Tagen nicht über den Gefrierpunkt gestiegen waren.
Gregor litt an einer leichten Form des Asperger-Syndroms, einer genetisch bedingten Entwicklungsstörung, die sich darin äußerte, dass er im Umgang mit seinem sozialen Umfeld schwere Defizite aufwies. Er empfand und zeigte so gut wie keine Gefühle, da er rein logisch dachte, und konnte die Gefühlsäußerungen anderer nicht wie ein »normaler« Mensch intuitiv erfassen und deuten. Dies führte zu einer oft beleidigenden Ehrlichkeit und dem falschen Eindruck, dass ihm andere Menschen völlig egal waren. Nach den Ereignissen des vergangenen Jahres hatte er sein Umfeld in die Besonderheiten und Auswirkungen des Asperger-Syndroms eingeweiht, sodass sie sein oft seltsames Verhalten nun besser verstehen konnten.
Etwa 100 Meter entfernt sah er eine Gestalt, bei der es sich um Schmuddel handeln musste. Dieser war inzwischen in eine blaue Winterjacke mit der Rückenaufschrift »POLIZEI« gekleidet. Vermutlich hatte er sich von den uniformierten Kollegen eine überzählige Jacke geliehen. Er bewegte sich auf einem der Wege am Rand der Wiese auf der Suche nach Spuren, die Rückschlüsse darauf zuließen, wie die Frau zu der Wiese gelangt war. Mit Sicherheit war sie nicht weit gelaufen, nackt und bei den Minustemperaturen der vergangenen Tage.
Weniger als 50 Meter entfernt sah Gregor den erfahrensten Kollegen des Teams, Hauptkommissar Dieter Alsmann, ebenfalls allein zwischen den Bäumen am Rand der Wiese in gebückter Haltung vorsichtig und langsam den Boden absuchend. Alsmann würde in wenigen Monaten seinen 60. Geburtstag feiern und stand somit kurz vor der Pensionierung. Dennoch stellte er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Mordermittler einen unverzichtbaren Gewinn für das Team dar. In der linken Hand hielt er dünne, zirka 30 Zentimeter lange Metallstangen mit jeweils einem roten Fähnchen an einem Ende. Gerade als Gregor zu ihm hinblickte, steckte Alsmann eine der Stangen in den Boden. Er würde mit Bestimmtheit sehr bald erfahren, was der Kollege dort gefunden hatte.
Nach anfänglichen Problemen in der Zusammenarbeit mit Gregor hatte Alsmann inzwischen dessen überragende Intelligenz erkannt, seine sozialen Defizite hingenommen und ihn trotz seiner Jugend als Chef akzeptiert.
Gregor konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die zwei anderen Teammitglieder, die beiden Frauen, die gerade etwas untersuchten, das sich nur wenige Meter von der Fundstelle der Leiche befand. Jenny Jung und Jutta Beltermann knieten nebeneinander im Schnee und nahmen Proben von einem Bereich, an dem Gregor aus dieser Entfernung nichts Auffälliges erkennen konnte.
Er warf noch einmal einen Blick auf die Bilder vom Fundort der Leiche. Sie waren aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen worden und die ersten Fotos zeigten die Auffindesituation, noch bevor man begonnen hatte, den Körper freizulegen. Bis auf eine Stelle an den Beinen, an der der Hund vermutlich das Blut gewittert und einen Teil freigescharrt hatte, war die Leiche mit einer mehrere Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Daraus wird mit Sicherheit zu errechnen sein, wie lange die Tote an dieser Stelle gelegen hat, dachte Gregor und machte sich eine mentale Notiz, diese Nachforschung in Auftrag zu geben.
Da er nicht den Drang verspürte, laut über die Wiese zu rufen und alle anwesenden Sicherheitskräfte über sein Vorhaben zu informieren, holte er sein Smartphone aus der Tasche und sandte eine Sammel-SMS an die Teammitglieder: »Fahre in die Rechtsmedizin. Meldet euch, wenn ihr wieder in der Einsatzzentrale seid. G«
Danach ging er den gleichen Weg, den er gekommen war, zu seinem Wagen zurück und machte sich auf, das Opfer zu begutachten.
Gregor Mandelbaum parkte seinen Peugeot 308 Cabrio, Baujahr 1989, auf dem Mitarbeiterparkplatz des Instituts für Gerichtsmedizin. Aufgrund seiner häufigen Besuche in dieser Institution war sein schrottreif wirkendes Fahrzeug den meisten Mitarbeitern bekannt. Obwohl die Besucherparkplätze wesentlich näher am Eingang lagen, zog er das Parken auf den Mitarbeiterplätzen mit einer Ausnahmegenehmigung des Dekans der Universität vor. Der Grund dafür war, dass dieser Wagen das einzige Erinnerungsstück an seine verstorbene Mutter war, die 1989 bei einem Autounfall zusammen mit seinem Vater ums Leben gekommen war. Gregor war damals fünf Jahre alt gewesen und hatte den Wagen bis zu seinem Erwachsenenalter gepflegt. Dann hatte er ihn von seinem ersten selbst verdienten Geld in einen fahrtüchtigen Zustand versetzen lassen. Lediglich das Äußere hatte er in möglichst originalem Zustand belassen, was ihn an seine verstorbene Mutter erinnern sollte, aber eben auch den Anschein erweckte, der Wagen sei schrottreif, obwohl er technisch auf dem allerneusten Stand war.
Seit dieser Zeit hütete er ihn wie seinen Augapfel. Gregor hätte einen Nervenzusammenbruch bekommen, wenn ihm jemand auf dem Besucherparkplatz eine Delle in die Tür geschlagen hätte oder ein gramgeschüttelter Angehöriger auf dem Weg zur Identifizierung einer Leiche in seinen Wagen gefahren wäre.
Zielstrebig begab er sich zum Sektionssaal II, wo er den Ort der Obduktion wusste. Umso größer war seine Überraschung, als er den Raum betrat und niemanden bei der Arbeit antraf, wie er es erwartet hatte. Auf einem der Tische lag ein abgedeckter Körper, aber kein Mitarbeiter war zu sehen.
»Hallo, ist hier jemand?«, rief er laut in den Raum hinein.
»Hier bin ich, im Büro!«, erklang es aus einem Nebenraum.
Noch bevor er das Büro erreichte, erschien in der Tür die große blonde Frau, die er anzutreffen gehofft hatte. Ein Strahlen erhellte Gregors sonst eher traurig wirkenden Züge, als er auf sie zueilte. Ohne ein Wort trat er an sie heran, nahm sie in die Arme und küsste sie. Er genoss es, wie sich ihr gertenschlanker und doch weiblicher Körper in seinen Armen anfühlte, und sie schmiegte sich kurz an ihn und erwiderte den Kuss.
Dann jedoch stieß sie ihn von sich. »Gregor, du weißt doch, dass ich nicht immer allein hier bin, oder?« Sie sah ihn ein wenig vorwurfsvoll an, und er erkannte, dass ihr die Situation unangenehm gewesen wäre, wenn jemand sie gesehen hätte.
»Warum wäre es dir unangenehm, wenn ein Kollege uns zusammen sehen würde?«, fragte er sachlich und ohne Vorwurf.
Umso mehr verwunderte es ihn, dass ihr die Antwort schwerfiel. Es musste etwas mit dem Zusammenspiel von Kollegialität und zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben, das er nicht nachvollziehen konnte.
»Ich möchte einfach nicht, dass die Kollegen wissen, dass wir zusammen sind.«
»Warum?«, fragte er unschuldig und wusste im gleichen Moment, wie ihre Reaktion ausfallen würde.
Sie schüttelte voller Unverständnis den Kopf. »Du reagierst manchmal immer noch wie ein kleines Kind.« Ihre Brauen hatten sich zusammengezogen und signalisierten ihren Unwillen, das Thema zu vertiefen.
Seit inzwischen über zwei Monaten waren Sonja Savoyen und er ein Paar, und er liebte diese Frau, ohne das Gefühl genau beschreiben zu können. Er spürte, dass er möglichst viel Zeit mit ihr verbringen wollte, dass er sich in ihrer Nähe wohler fühlte, als wenn sie abwesend war. Er hatte inzwischen sehr viel über das Konzept »Liebe« gelesen, aber das meiste davon war für ihn nicht nachvollziehbar. Auch sein Studium der Psychologie half ihm diesbezüglich überhaupt nicht weiter, weil er zwar die Beschreibungen von Gefühlen auswendig aufsagen, sie aber nicht im gleichen Maße nachempfinden konnte.
Er hatte immer noch beide Hände um ihre Hüften gelegt. Sie hatte sich seit ihrem ersten Treffen vor über sechs Monaten nicht im Geringsten verändert. Die platinblonden Haare in einer modischen Kurzhaarfrisur und eine Vorliebe für hautenge Jeans und helle Blusen, die ihre weiblichen Formen voll zur Geltung brachten. Aber es waren nicht ihre äußerlichen Vorzüge, die ihm ihre Nähe so angenehm machten, es waren ihre Wesensart und ihre geistigen Fähigkeiten. Abgesehen davon, dass er in ihr eine wirklich adäquate Diskussionspartnerin hatte, war sie ihm in den vergangenen Monaten Lehrmeisterin in allen Dingen gewesen, die ihm fehlten.
Er war als einzelgängerisches Wunderkind aufgewachsen, Abitur mit 15, abgeschlossenes Psychologiestudium mit 18, kometenhafter Aufstieg bei der Kriminalpolizei und mit nun 29 Jahren jüngster Leiter einer Mordkommission jemals. Dem gegenüber stand seine Erkrankung. Durch sie, den frühen Verlust seiner Eltern und die fehlenden Sozialkontakte im persönlichen und schulischen Umfeld war er ein eigenbrötlerischer, kauziger und vielen unangenehm erscheinender Zeitgenosse geworden. Er hatte keine Freunde oder wohlmeinenden Bekannten vorzuweisen gehabt, die ihm hätten beibringen können, wie man am besten mit Menschen umging.
Erst Sonja hatte ihm nachhaltig vermitteln können, wie wichtig es war, den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung, also zum Beispiel seinen engsten Mitarbeitern, Dinge aus der Vergangenheit, aber auch Probleme aus der Gegenwart mitzuteilen. Er konnte sich das nur antrainieren, von selbst hätte und hatte er das nie getan. Vergrößert wurden diese Defizite im Umgang mit Menschen noch dadurch, dass er sich im Laufe seines Psychologiestudiums eine besondere Fähigkeit angeeignet hatte.
Es handelte sich dabei um das Lesen der Gestik und vor allem der Mimik eines Menschen, um dessen emotionalen Zustand zu erkennen. Dabei reichten unbewusste und willentlich nicht kontrollierbare Muskelbewegungen im Gesicht, sogenannte Mikroausdrücke, um Gefühle wie Angst, Zorn, Abscheu, Ekel, Scham, Widerwillen, Erleichterung zu bemerken. Gregor kannte und erkannte sie, wusste, was sie bedeuteten, obwohl er selbst diese Gefühle überhaupt nicht oder nur in einer sehr abgeschwächten Form empfand. Dadurch sah er sich besser als jeder Lügendetektor in der Lage, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Dies brachte ihm zwar beruflich enorme Vorteile, im persönlichen Bereich hatte es sich aber eher als nachteilig herausgestellt. Es wirkte sich auf die eigene Einstellung anderen Menschen gegenüber nicht gut aus, wenn man deren Emotionen und Gefühle in Bezug auf sich erkennen konnte. Zumal Gregor nicht mit diesen Emotionen hatte umgehen können, weder mit Ablehnung noch mit starker Sympathie oder sogar sexuellen Begehrlichkeiten. Ihm fehlte durch seine Behinderung die Möglichkeit der intuitiv richtigen Reaktion auf fremde Emotionen. Er sah alles aus dem Blickwinkel der nüchternen Logik und der Zweckmäßigkeit. Zudem war er, in einer auf die meisten Menschen sehr abschreckend wirkenden Weise, ehrlich und direkt.
Auf Fragen wie »Finden Sie mich zu dick?« oder »Steht mir die neue Frisur?« würde er immer absolut ehrlich antworten – und das war nicht das, was die Menschen hören wollten. Gleiches galt, wenn er den Leuten unbedacht auf den Kopf zu sagte, dass sie logen.
Aus diesem Grund war er nur kurze und stets von vorneherein zum Scheitern verurteilte Verbindungen zu Frauen eingegangen – und schließlich gar keine mehr.
All das hatte sich mit Sonja geändert. Er war ihr über alle Maßen dankbar und ließ sich von ihr in jeglicher Hinsicht belehren. Aber er wusste auch, dass er Sonja im Gegenzug etwas gab, sowohl durch seine rückhaltlose Ehrlichkeit als auch dadurch, dass sie ihn nicht belügen konnte. Ihre auf absoluter Ehrlichkeit und gegenseitiger Achtung basierende Liebesbeziehung war für Gregor etwas völlig Neues und gleichzeitig Wundervolles. Aber noch immer gab es viele Momente, in denen seine oft seltsamen Verhaltensweisen für Probleme sorgten.
Mühsam löste er sich von ihr und versuchte, seine Gedanken wieder auf den Fall zu lenken, den eigentlichen Grund für seine Anwesenheit an ihrem Arbeitsplatz.
»Ich bin zwingend davon ausgegangen, du hättest schon längst mit der Obduktion unserer neuen Leiche begonnen«, stellte er mit einem fragenden Unterton fest.
Daraufhin grinste sie ihn an und die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich. »Schön zu sehen, dass auch die Intelligenzbestie mal etwas übersieht.« Er hatte den Mund noch nicht ganz offen, als sie fortfuhr: »Ich sage nur eins – Gefrierfleisch!«
»Oh … daran habe ich wirklich nicht gedacht. Wie lange wird es noch dauern, bis du anfangen kannst, an ihr zu arbeiten?«
»Vermutlich mehrere Stunden. Außerdem kann ich den Vorgang nicht beschleunigen wie … entschuldige den unappetitlichen Vergleich … beim Auftauen einer Hühnerkeule oder eines Schinkens. Ich würde durch Mikrowellenstrahlung oder auch nur durch Überschütten mit heißem Wasser Spuren vernichten. Was ich dir aber jetzt schon sagen kann«, Gregor horchte erwartungsvoll auf, »ist, dass ich aufgrund der nicht feststellbaren Dauer des Gefrorenseins vermutlich kaum etwas Genaues zum Todeszeitpunkt werde mitteilen können, sorry.«
Nun war es an Gregor, sie zu überraschen. »Ich stelle fest, dass die forensische Medizin manchmal durch logisches Denken geschlagen werden kann. Ich behaupte, ich kann dir spätestens heute Abend ziemlich genau den Todeszeitpunkt sagen.«
Der Beantwortung ihrer neugierigen Nachfragen konnte er sich entziehen, da sein Handy summte und er die eingegangene SMS las. »Entschuldige bitte, ich muss ins Polizeipräsidium. Heute Abend mehr dazu.«
Ihre Proteste ignorierend, drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und entfernte sich eilig.
Jenny Jung war erst vor wenigen Minuten zusammen mit Jutta Beltermann in der Einsatzzentrale der Mordkommission 2 eingetroffen, als Gregor den Raum betrat. Jutta, die von allen aufgrund ihrer fürsorglichen Art nur »Mutti« genannt wurde, hatte Gregor an diesem Tag bisher nur aus der Ferne am Fundort der Leiche gesehen. Sie ging sofort zu ihm, umarmte ihn kurz und erkundigte sich nach seinem Befinden.
Es stellte für Jenny kein Problem dar, wenn andere ihren inzwischen guten Freund umarmten. Auch die anfängliche Eifersucht auf Sonja Savoyen war vollständig verflogen, zumal sie seit ein paar Wochen wieder eine Beziehung hatte. Aber sie freute sich immer, wenn sie mit Gregor zusammentraf. »Hi, Chef!«, rief sie ihm zu und strahlte ihn an. Sie hatte diesen auf eine spezielle Weise attraktiven Mann von Beginn an gemocht, ihm seine Marotten früher als andere nachgesehen und betrachtete ihn inzwischen als einen echten Freund. Wie viele kam auch sie nicht umhin zu bemerken, dass sich in den letzten Monaten eine Veränderung in ihm vollzogen hatte. Er war um einiges lockerer und umgänglicher geworden, als er es noch in der Anfangszeit ihrer Zusammenarbeit im Team der zweiten Mordkommission gewesen war. Seit jenen denkwürdigen Ereignissen vor sechs Monaten, als die MK 2 eine Reihe von als Suizid getarnten Morden aufdecken musste. Dabei waren nicht nur das Team, sondern auch Gregors jüngere Schwester Sarah und Sonja, die er damals gerade kennengelernt hatte, in Lebensgefahr geraten.
Gregor hatte vor diesen Ereignissen emotionalen Abstand zum gesamten Team gehalten, sie gesiezt und ihnen keine Einzelheiten aus seinem Leben, geschweige denn seiner eingeschränkten Gefühlswelt preisgegeben. Das hatte zu erheblichen Dissonanzen geführt. Besonders Dieter Alsmann und Klaus Braake hatten ihn abgelehnt und mehr als einmal als arrogantes Arschloch und notorischen Besserwisser bezeichnet. Sein damals sehr seltsamer Kleidungsstil hatte ihn noch mehr ins Abseits gestellt. Aufgrund seiner stets nur schwarzen Kleidung, in Verbindung mit seiner bei 1,90 Metern Körpergröße sehr hageren Gestalt, hatten ihm die Kollegen des Polizeipräsidiums schnell den Spitznamen »Bestatter« angehängt – zumindest diejenigen, die ihn nur vom Sehen kannten.
»Kommen Schmuddel und Dieter auch in der nächsten Zeit?«
Gregors Frage riss Jenny aus ihren Gedanken. Sie blickte von einem Probenfläschchen auf, das sie in Gedanken versunken vor ihrem Gesicht geschwenkt hatte. Darin schwappte eine blassrote Flüssigkeit.
»Die müssten jede Sekunde hier sein.« Sie hielt das Fläschchen hoch. »Hast du eine Ahnung, was das ist?«
»Nein, aber ich gehe davon aus, dass du es mir gleich sagen wirst«, antwortete Gregor. Er blickte sie erwartungsvoll und mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Äh … ach so … ja klar. Also, wir haben im Schnee von der Leiche ausgehend eine deutliche Spur gefunden, die zwar schon wieder überschneit war, aber eben doch eine deutliche Vertiefung darstellte. Sie war so breit und einheitlich, dass wir davon ausgehen, dass die Tote auf allen vieren bis zu dem Punkt gerobbt ist, an dem man sie gefunden hat.«
»Das wäre dann allerdings«, wandte Jutta Beltermann grinsend ein, »die erste Tote, die noch irgendwohin gerobbt ist.«
Jenny konnte nicht verhindern, dass sich eine leichte Rötung auf ihren Wangen zeigte. »Ich habe natürlich die später Verstorbene gemeint, also … ich meine … die Frau, als sie noch lebte.«
Gregor zwang sich, durch ein Lächeln Verständnis zu simulieren, da er wusste, dass man das von ihm erwartete. Ihm war selbstverständlich der sprachliche Lapsus von Jenny aufgefallen und er hatte sich gerade noch zurückhalten können, sie zu korrigieren.
Selbst bei so schrecklichen Todesumständen war es nicht ungewöhnlich, dass Witze oder anzügliche Bemerkungen gemacht wurden. Es war einfach unmöglich, bei jedem Todesfall nur mit Leichenbittermiene herumzulaufen und ständig an die Tragik eines unnatürlichen Todes zu denken.
»Okay, okay, ich habe Blödsinn geredet.« Jenny hatte sich wieder gefangen. »Was ich eigentlich sagen wollte – wir haben rot gefärbten Schnee gefunden, der sich natürlich inzwischen in Wasser verwandelt hat. Wir gehen auf jeden Fall davon aus, dass es sich um Blut von der Toten handelt.«
Jutta lenkte das Gespräch ebenfalls wieder auf sachliche Dinge und fragte Gregor: »Was hört man denn von der rechtsmedizinischen Front Interessantes?«
Gregor zuckte mit den Schultern. »Fürs Erste voraussichtlich eine ganze Zeit lang noch nichts. Die Leiche ist tiefgefroren und muss erst auftauen. Sonja meint übrigens, dass sie deshalb auch bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes Probleme bekommen wird.«
»Das sollte für uns eigentlich kein Problem darstellen«, erklang von der Tür zur Einsatzzentrale die Stimme von Dieter Alsmann, der gerade in diesem Moment zusammen mit Schmuddel den Raum betreten hatte. »Ich hätte da eine Idee, wie wir den Todeszeitpunkt ziemlich genau bestimmen können, auch ohne die Hilfe der forensischen Medizin.«
Jenny, die gerade Gregor ansah, hatte den Eindruck, dass er zu wissen schien, was Alsmanns Idee sein könnte, sich aber zurückhielt. Es hätte sie nicht gewundert, denn er hatte den schärfsten Verstand, den sie je kennengelernt hatte. Sie hingegen hatte keinen Schimmer und war demzufolge entsprechend gespannt auf Alsmanns weitere Ausführungen.
»Gehen wir mal davon aus«, begann dieser, während er sich den Wintermantel auszog und ihn an die Garderobe hängte, »dass die Frau nicht mehr lange gelebt hat, nachdem sie am späteren Fundort angekommen war. Genaueres kann uns dazu sicher Sonja sagen; wie lange man bei dieser Temperatur stillliegend überlebt, meine ich. Ab dem Zeitpunkt hat es auf sie geschneit, also müssen wir nur erfahren, wie viel Schnee in dieser Nacht heruntergekommen ist. Von der Dicke der Schneedecke auf ihr und von dem Zeitpunkt, zu dem es aufgehört hat zu schneien, sollte ein Meteorologe oder Physiker oder was weiß ich was wohl zurückrechnen können, ab wann sie da gelegen hat.« Alsmann blickte auffordernd zu Klaus Braake, der nach ihm eingetreten war und sich direkt an seinen Computerarbeitsplatz begeben hatte. »Das wäre doch was für unseren Internet-Freak, da den Richtigen zu finden, oder Schmuddel?«
Dieser lachte kurz auf. »So was von kein Problem!« Er begann sofort eifrig die Tastatur zu bearbeiten.
»Habt ihr denn die Dicke der Schneedecke gemessen?«, erlaubte Jenny sich zu fragen.
»Pah, lächerlich!«, rief Braake, ohne auch nur von seiner Tastatur aufzusehen.
»Selbstverständlich, Schlaumeierin«, bemerkte Alsmann mit einem Ton der Entrüstung. Er zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Wir haben sechs Messungen an sechs verschiedenen Stellen vorgenommen und sind auf eine durchschnittliche Dicke der Schneedecke von 32 Millimetern gekommen. Mir selbst sagt das zwar nichts über die Dauer des Schneefalls, aber da sollte sich doch jemand finden lassen, der mit diesen Daten was anfangen kann.«
»Worauf du einen lassen kannst!«, erscholl es aus dem Hintergrund laut von Klaus Braake.
»Gute Arbeit«, meinte Gregor an alle gerichtet. »Lasst uns jetzt gemeinsam die Fotos vom Fundort und von der Leiche durchsehen. Wir müssen überlegen, was wir zur Feststellung der Identität tun können, noch bevor wir aus dem Labor der Rechtsmedizin vielleicht Fingerabdrücke bekommen.«
Sonja war gerade mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt, als Gregor zu Hause eintraf. Seit sie tatsächlich ein Paar waren, war er wieder bei ihr eingezogen. Bereits während der Ereignisse vor sechs Monaten hatte er einige Nächte auf ihrer Couch geschlafen. Danach war er in eine Pension gezogen, da sein eigentliches Zuhause, die Villa Mandelbaum, durch einen Brand zerstört worden war.
Es war ein schwerer Weg bis dahin gewesen, wo sie jetzt standen. Gregor war das genaue Gegenteil eines als emotional zu bezeichnenden Menschen. Aber auch er hatte Gefühle, selbst wenn es ihm schwerfiel, sie auszudrücken. Sonja hatte ihn trainiert. Sie hatte ihm beigebracht, wann er verärgert zu sein hatte, wann enttäuscht und dass es oft von Vorteil war, sich diese Empfindungen ansehen zu lassen. Also setzte er inzwischen einen enttäuschten Gesichtsausdruck auf, wenn er in eine Situation geriet, in der jeder normale Mensch enttäuscht wäre. Anfänglich schien er der Meinung zu sein, diese schauspielerische Leistung bei Sonja nicht anwenden zu müssen, schließlich war sie doch seine »Trainerin«. Sie wusste, dass die Darstellung der Gefühle nur gespielt war. Also war es in seinen Augen unlogisch, ihr das Gleiche vorzumachen wie den Mitmenschen, die nicht über seine Krankheit informiert waren. Sonja hatte ihn darüber belehren müssen, dass es ein entscheidender Faktor im Zusammensein zweier Menschen war, dass man merkte, ob das Gegenüber zufrieden, verärgert oder enttäuscht war. Da sie Gregor dafür logische Gründe liefern konnte, hatte er ihre Bitte akzeptiert und umgesetzt. Sie waren sich im Laufe von Wochen immer näher gekommen und in der Rückschau war ihr klar, dass sie sich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihn verliebt hatte. Aber die Gefühle waren ambivalent. Immer wieder überraschte er sie mit Verhaltensweisen, die sie nicht vorhersehen konnte.
Irgendwann war sie sich sicher, dass er ihr die gleichen Gefühle entgegenbrachte, obwohl er nie in der Lage gewesen wäre, sie zu beschreiben. Danach hatte es nicht mehr lange gedauert, bis ihr Verhältnis diesen intimen Status erreichte, der ein wirkliches Paar ausmachte. Der Sex unterschied sich nicht von dem anderer frisch verliebter Paare, und Sonja war überrascht gewesen, dass Gregor nicht egoistisch oder ihren Bedürfnissen gegenüber gleichgültig war. Er war in der Lage, sie in einer Weise zu befriedigen, die sie weder bisher erfahren noch von ihm erwartet hatte. Bis auf einzelne kleine Rückschläge lief es in ihrer Beziehung wirklich gut. Als logische Folge war Gregor aus der Pension aus- und bei ihr eingezogen.
Allerdings hatten sie trotz aller Verliebtheit schnell festgestellt, dass das 40 Quadratmeter große Appartement zwar schön, aber für zwei Personen doch ein wenig eng war. Deshalb hatten sie sich vor zwei Wochen entschlossen, eine gemeinsame, größere Wohnung oder ein kleines Haus zu suchen.
Sonja musste sich eingestehen, dass sie nicht mit ganzem Herzen hinter dieser Suche stand. Manchmal ging es ihr doch zu schnell, so sehr sie Gregor auch liebte.
»Ich bin zu Hause, Schatz!«, erscholl Gregors Ruf von der Haustür.
Wie sich das anhörte. Sonja musste verwundert den Kopf schütteln. Es klang wie bei einem alten Ehepaar – ein Gedanke, der sie verwirrte, aber auch irgendwie angenehm war.
Alles war so gut gelaufen in diesen vergangenen Wochen. Im Geheimen fragte sie sich allerdings, ob das immer so weitergehen würde? In welche Richtung würde sich ihre Verbindung entwickeln?
Sie war gerade dabei, die kurz angebratenen Steaks aus der Pfanne zu nehmen, als Gregor sie von hinten mit den Armen umschlang und an sich drückte.
»Hey, hey, Vorsicht, ich hantiere gerade mit unserem Abendessen, und du willst das doch nicht vom Boden essen, oder?«
30 Minuten später saßen sie vor geleerten Tellern, genossen einen guten Rotwein und unterhielten sich über das aktuelle Tagesgeschehen, allgemeine Neuigkeiten von ihren jeweiligen Arbeitsstellen – aber sprachen kein Wort über den Fall.
»Hast du schon etwas erreicht in Sachen Wohnungs- oder Haussuche?«
Gregors Frage erwischte Sonja eiskalt. Sie wusste, dass ihr nun ihre Emotionen deutlich ins Gesicht geschrieben waren. Peinlichkeit, Ärger, Angst und Unsicherheit. Er würde das erkennen und auch die richtigen Rückschlüsse daraus ziehen. Es war ihr peinlich, dass sie ihm nicht von sich aus gesagt hatte, mit wie wenig Eifer sie an die Suche gegangen war. Sie ärgerte sich über sich selbst und dass sie es versäumt hatte, das Thema von sich aus anzusprechen. Darüber hinaus hatte sie Angst, was ihr Verhalten in Gregor auslösen mochte, und war unsicher, wie sie sich weiter verhalten sollte.
Gregor kam ihr wie meist zuvor. »Schatz, mir ist klar, dass du dir noch nicht wirklich sicher bist, ob es die allerbeste Idee ist, dass wir eine gemeinsame Wohnung oder ein Haus beziehen. Ich habe es auch nicht eilig. Warum setzt du dich unter Druck? Das ist unlogisch.« Er schien nicht verärgert zu sein und sah sie lediglich fragend an. »Und was hat es für einen Sinn«, fuhr er fort, »mir das nicht direkt zu sagen? Dann können wir gemeinsam überlegen, wie wir am besten damit umgehen.«
Das war wieder einer der Momente, in denen sie ihn mehr liebte, als sie es sich je hätte vorstellen können. Seine Ehrlichkeit und seine unverblümte Offenheit hatten etwas Erfrischendes. Zudem ging er mit Sachverhalten, die bei anderen eine große Krise ausgelöst hätten, völlig ruhig – eben logisch – um. Sie stand auf, ging um den Tisch herum zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sein fragender Blick sagte ihr, dass er keine Ahnung hatte, aus welchem Grund und mit welcher Absicht sie so zu ihm kam. Dann nahm sie seinen Kopf in beide Hände und sah ihm tief in die Augen. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe, du großer Junge?« Noch bevor er wie üblich mit »Ja, warum?« antworten konnte, verschloss sie seinen Mund mit dem ihren.
Erst als sie aus dem Schlafzimmer zurückgekehrt waren, es sich mit je einem Espresso auf der Wohnzimmercouch gemütlich gemacht hatten und aus der Stereoanlage leise Musik ertönte, konnte Sonja ihre Neugierde nicht mehr zügeln. »Also … wenn du meine Erkenntnisse zu der Leiche hören willst, erwarte ich, dass du mir endlich sagst, wie du den Todeszeitpunkt erfahren haben willst und was dabei rausgekommen ist.«
»Okay, ich zuerst, aber danach du.« Gregor nippte an seinem stark gesüßten Espresso. Dann schilderte er ihr den Ansatz zur Ermittlung des Zeitpunktes und was Schmuddel innerhalb kürzester Zeit herausgefunden hatte. »Es hat in dieser Nacht fast ununterbrochen geschneit. Erst um zirka 5:00 Uhr hat es aufgehört, und ein Meteorologe hat uns von der Schneefallmenge und der Dicke der Schneeschicht auf der Leiche ausgehend eine Zeit berechnet. Er kommt zu dem Schluss, dass die Frau ab etwa 3:00 Uhr an dieser Stelle gelegen haben muss.« Er sah Sonja fragend an. »Jetzt fehlt uns noch die Aussage, wie lange eine Person bei einer Temperatur von minus acht Grad ohne Kleidung überleben kann. Da hoffe ich auf eine Aussage von dir.«
Sonja überlegte kurz. »Nach meinen ersten Feststellungen war die Frau 22 bis 24 Jahre alt, wog lediglich 48 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80, also sehr dünn, kurz vor der Magersucht, und ich würde ihr nicht mehr als«, sie überlegte nochmals und stellte im Kopf eine überschlägige Berechnung an, »fünf bis maximal zehn Minuten bis zum Tod durch Hyperthermie zugestehen.«
»Also können wir den Todeszeitpunkt auf 3:00 Uhr plus/minus zehn Minuten aufgrund der Berechnungsunschärfe bezüglich des Schneefalls festlegen«, stellte Gregor fest. »Das hilft uns bei der Suche nach Zeugen, die irgendetwas gesehen haben, was uns bei der Frage weiterhelfen könnte: Wie ist sie in den Park gekommen? Ich gehe nicht davon aus, dass sie eine längere Strecke durch die Stadt zurückgelegt hat.«
Sonja ergänzte seine Überlegungen: »Zumal sie nach meiner Einschätzung nicht gehen konnte.«
Gregor blickte sie überrascht an. »Weshalb nicht?«
»Weil ihr die Zehen an beiden Füßen einige Zeit vor ihrem Tod amputiert wurden.«
»Ich habe auf den Fotos bereits gesehen, dass an ihren Füßen blutige Stümpfe waren, konnte aber die Art der Verletzung nicht genau einordnen. Der Begriff ›amputiert‹ impliziert allerdings rein sprachlich, dass diese Manipulation durch einen Arzt vorgenommen wurde.«
Da ist sie wieder, schoss es Sonja durch den Kopf, diese rein logische ans Haarspalterische grenzende Besserwisserei. Sie wusste, dass er es nicht böse oder rechthaberisch meinte. »Nein, nein, ich muss mich korrigieren. Es handelte sich lediglich um das Abschneiden der Zehen mit einer scharfen Schere, ich tippe auf Geflügel- oder Gartenschere, sowie anschließendes Versiegeln der Wunde durch Hitze. Das kann jede Art von glühendem Metall gewesen sein.« Sie überlegte noch einen kurzen Moment, bevor sie ergänzte: »So was könnte ohne Weiteres auch jemand ohne medizinische Kenntnisse zustande gebracht haben. Das Internet ist da leider eine unerschöpfliche Quelle an medizinischem Halbwissen für jedermann.«
Gregor schien diese Information eine Weile sacken lassen zu wollen. Sonja ließ ihm alle Zeit, die er brauchte. Als er mehrmals nickte, fuhr sie fort: »Die meisten Menschen unterschätzen die Wichtigkeit der Zehen. Sie sind ein zentrales Element, wenn es um Balance geht. Ohne Zehen zu gehen erfordert sehr viel Übung. In ihrem Zustand war sie mit Sicherheit nicht dazu in der Lage.«
Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Lass uns dieses Thema für den Moment vergessen. Ich mache dir einen Vorschlag: Morgen früh gehe ich etwas zeitiger ins Institut und hole mir dort die Ergebnisse der beauftragten Untersuchungen. Danach komme ich zu dir ins PP und bringe euch alle auf den aktuellen Stand. Wäre das okay?« Sie sah ihn bittend an. Sie wollte nicht mehr über den Fall reden.
»Aber natürlich, absolut in Ordnung. Morgen reicht allemal.«
Jede andere Antwort hätte Sonja sehr verwundert. Sie hatten es sich zur Regel gemacht, grundsätzlich in ihrem Heim nicht über Fälle und ganz besonders nicht über die unappetitlichen Seiten ihrer Berufe zu sprechen. Und Gregor hielt sich fast immer an Regeln. Das hieß aber auch, dass es Ausnahmen wie an diesem Abend gab, an dem beide viel zu neugierig gewesen waren, um das Thema gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen.
Nun aber war es an der Zeit, sich nur noch um ihre Beziehung zu kümmern. Sonja stellte die Espressotasse auf den Couchtisch, kniete sich neben Gregor auf die Couch und zog langsam und lasziv ihr T-Shirt über den Kopf. Darunter trug sie nichts und es freute sie zu hören, wie Gregor scharf die Luft einsog.
»Aber«, begann er, »wir haben doch gerade …« Dann wurde sein Mund mit ihrer weichen Brust gefüllt, und sie hatte ihn gelehrt, dass man mit vollem Mund nicht redete. Sie spürte aber auch, dass er bereits wieder etwas anderes im Sinn hatte, als zu reden.
Als Gregor an diesem Morgen in der Einsatzzentrale ankam, war der Rest der Truppe bereits versammelt. Er hatte in den vergangenen Monaten gelernt, freundlich »Guten Morgen« zu sagen und sich auch ab und zu nach dem Wohlbefinden der Kollegen zu erkundigen. Im Gegenzug gab er offen Antwort, wenn einer der anderen ihn nach seinem Befinden oder seiner Stimmung fragte.
Er war überhaupt im Kreise der Kollegen, die er inzwischen fast als so etwas wie seine Freunde bezeichnen konnte, überaus offen, was persönliche Gefühle und Befindlichkeiten anging.
Dies hatte allerdings zu einigen sehr skurrilen Vorfällen geführt. Auf die unschuldige Frage von Mutti »Na, Gregor, wie war der gestrige Abend?«, hatte er genauso unschuldig geantwortet: »Der Sex mit Sonja war sehr erquickend.« Mutti wäre beinahe an dem Kaffee erstickt, den sie in diesem Moment gerade trank. Sonja hatte ihm eindringlich erklären müssen, dass Offenheit auch Grenzen hatte und bestimmte private Dinge nicht unbedingt allen preisgegeben werden sollten. Er hatte nicht wirklich verstanden, warum.
Er hasste Lügen und setzte sie nur in gerechtfertigten Fällen bei ihren »Kunden« ein. Seit den Ereignissen vor sechs Monaten wussten alle um seine Fähigkeit, durch Beobachten die Stimmungslage von Menschen und ihre Aufrichtigkeit einschätzen zu können.
Sie hatten es so weit verinnerlicht, dass sie ihn nur noch sehr selten anlogen. Interessanterweise hatte er feststellen müssen, dass sie sich untereinander noch lange nicht immer die Wahrheit sagten. Jenny zum Beispiel gab auf vorwitzige Fragen von Klaus Braake zu ihrem Privatleben meist Antworten, an denen Gregor erkennen konnte, dass sie sich zum einen ärgerte und zum anderen Klaus schamlos belog. Er verstand die Menschen immer noch nicht. Wenn sie nicht wollten, dass jemand etwas erfuhr, warum verweigerten sie nicht einfach die Antwort? Er schob diese Gedanken als nicht zielführend beiseite, um sich auf den Fall konzentrieren zu können. »Guten Morgen. Wie sieht es aus? Was haben wir bisher?«
Noch während er fragte, fiel ihm das feiste Grinsen von Braake auf und der Ausdruck auf Alsmanns Gesicht strahlte Zufriedenheit und Stolz aus.
»Ich sehe, wir haben etwas. Gut. Was wisst ihr, das ich noch nicht weiß?«
Jenny zeigte schweigend auf eine Wand der Einsatzzentrale, die komplett von einem riesigen Whiteboard eingenommen wurde. Dort waren ausgedruckte Fotografien mit kleinen Magneten befestigt, und mit schwarzen und roten Filzstiften waren Linien zwischen einzelnen Bildern gezogen oder erläuternde Beschriftungen angebracht worden.