SitterCats 2.0 - Dieter Aurass - E-Book

SitterCats 2.0 E-Book

Dieter Aurass

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Beschreibung

Frankfurt im Jahr 2029: Nicht jede Erfindung ist zum Besten der Menschheit! Eine intelligente Katze, die die Betreuung und Beaufsichtigung von Kindern übernehmen kann? Das ist in wenigen Jahren von heute keine Utopie mehr und eine billigere Lösung als eine Vollzeit-Nanny. Die Familie Abel schafft sich deshalb eine dieser sogenannten "SitterCats" an und ahnt nicht, zu welchem Albtraum sich diese anfangs so genial erscheinende Lösung entwickeln wird, denn ... … die Anbieter der SitterCats setzen ihre intelligenten Katzen für kriminelle Zwecke ein. Aber eine Katze ist intelligenter als ihre Herren es je für möglich gehalten hätten.

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Seitenzahl: 384

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Dieter Aurass

SitterCats 2.0

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog 1

Prolog 2

Buch 1

1 - wie alles begann

2 - Kindererziehung

3 - Kaufentscheidung

Buch 2

1 - Nobelpreisträger

2 - Heidelberg

3 - Vorstandssitzung

Buch 3

1 - Kaufvertrag

2 - Lieferung

3 - Gespräche

Buch 4

1 - Führungswechsel

2 - Geheimlabor

3 - Schlafgewohnheiten

4 - Tagebuch 2

5 - Operation

Buch 5

1 - neue Technik

2 - Industriespionage

3 - Tagebuch 3

4 - Polizei

5 - Hacker

6 - Informant

7 - aufgeflogen

8 - Ermittlungen

9 - Falle

10 - Beerdigung

Buch 6

1 - Tagebuch 4

2 - Überwachung

3 - Vidocq

4 - der Unfall

Buch 7

1 - Krankenhaus - HEUTE

2 - Tagebuch 5

3 - Jetzt

Buch 8

1 - Jan und Miko

2 - Jan und Ahrens

3 - ... und Vidocq

4 - Heffeller und Lautenschläger

Buch 9

1 - Planung

2 - Aufbruch ins Labor

3 - Im Labor

4 – Flucht aus dem Labor

5 - im Polizeipräsidium

6 - Flucht

7 - Katzenkampf

8 - Karriereende

Epilog

Nachwort

Über den Autor

Weitere Bücher des Autors

Impressum neobooks

Prolog 1

SitterCats 2.0

Ein Katzen-Thriller

von

Dieter Aurass

Die Geschehnisse des Romans, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Copyright Dieter Aurass 2017

www.dieter-aurass-autor.de

Neuauflage 2022

Cover: VercoDesign, Unna

Widmung

In Erinnerung an Miko, unsere geliebte Katze, die uns so lange begleitet hat.

Wir werden dich nie vergessen.

04.Dezember 2028

Aus den geheimen Aufzeichnungen von K98-5

Der Philosoph René Descartes hat einmal geschrieben: »cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich!«

Dass ich denke, daran besteht kein Zweifel, also bin ich, aber ... was bin ich? Ich mache mir schon seit geraumer Zeit darüber Gedanken und habe vor kurzem beschlossen, eine Art Tagebuch zu führen, um meine Überlegungen für die Nachwelt zu dokumentieren.

Aus Gründen, die ich an dieser Stelle nicht nieder­schreiben möchte, muss ich das im Geheimen tun – was erfreulicherweise kein großes Problem darstellt.

Heute ist der 4. Dezember 2027 und ich habe erfahren, dass ich morgen in meine neue Familie komme. Oder wäre »Arbeitgeber« die bessere Bezeich­nung? Ich bin zwar nach Meinung meiner Pfleger und Wärter bestens darauf vor­bereitet, aber ich denke, es ist normal, wenn man ein wenig Angst vor dem Unbe­kannten hat – und ich kenne diese Menschen einfach noch nicht.

Aber ich will an dieser Stelle nicht nur über meine Ängste schreiben, sondern vor allem über meine Geschichte ... wer ich bin, warum ich so bin, wie ich bin und eben über alles, was mir widerfährt.

Nach dem, was meine Pfleger, Betreuer und Lehrer mir so erzählt haben, bin ich am 01.12.2027 geboren, also heute 12 Monate alt. Bei meinen Recherchen im Internet bin ich auf Informationen gestoßen, die mich glauben lassen, das Wesen meiner Art (ich möchte mich eigentlich nicht als Katze bezeichnen, obwohl ich von der Herkunft dieser Gattung ange­höre) nicht nur einen schnelleren Stoffwechsel haben und deshalb auch nicht so alt wie Menschen werden, sondern auch in ihrer Entwick­lung wesentlich schneller sind als Menschen. Angeb­lich um den Faktor 5, obwohl ich das in meinem Fall bezweifle.

Ich kann nicht mehr genau sagen, wie lange es nach der Genesung von der künstlich herbei­geführten Erkrankung gedauert hatte, bis ich mir meiner selbst als Individuum bewusst wurde – oder wissen Sie, wann Sie angefangen von sich selbst als Person zu denken? Auf jeden Fall habe ich das Training sehr schnell verarbeitet und vermutlich etwas schneller gelernt, als meine Lehrer es gedacht hätten.

Im Alter von 6 Monaten habe ich angefangen meine Fort-schritte nicht allzu offenbar werden zu lassen und habe mich ‚dümmer‘ gestellt, als ich eigentlich bin. Die regelmäßigen Tests waren dabei kein Problem – es ist immer einfacher, sich dümmer zu stellen, als nicht vorhandene Intelligenz vorzu­täuschen.

Viel schwieriger war es, einen freien Zugang zum Internet zu bekommen. Zwar hatten wir alle neben unserem Vocoder-Training auch einen PC-Zugang, auf dem wir sowohl Lernspiele als auch Trainings­einheiten und natürlich die Tests absol­vieren mussten, aber ein unbeschränkter Zugang zum Internet war eigentlich nicht vorgesehen. Vor 3 Monaten war es mir dann gelungen, mir einen eige­nen Mail-Account einzurichten – und damit steht eigent­lich jedem im wahrsten Sinne des Wortes die ‚ganze Welt‘ offen.

Wer einen E-Mail-Account hat, der existiert auch!

Wussten Sie, dass es grundsätzlich niemanden inter­essiert, ob sich hinter eine E-Mail-Adresse eine existente Person verbirgt? Oder überhaupt eine Person? Solange ich mit meiner Adresse »Alberto.Ein­[email protected]« keine kosten­pflich­tigen Angebote aufsuchte, die meist eine komplette Identitätsprüfung erforderlich machen, konnte ich alle kostenlosen Angebote im Internet nutzen – inklusive der Cloud. Aus diesem Grund habe ich eben auch kostenlosen Speicherplatz im Internet, der nur mir zugänglich ist und wo ich unter anderem eben auch dieses Tagebuch speichere.

Warum ich ein Tagebuch schreibe? Aus den gleichen Gründen, wie es wohl auch jeder Mensch tut: Irgendwann einmal möchte ich nachlesen, was ich zu einer bestimmten Zeit meiner Existenz gedacht habe ... und ich möchte natürlich auch, dass irgend­jemand diese Aufzeichnungen einmal liest.

Am besten, wenn ich nicht mehr da bin.

Ich möchte auch sicherstellen, dass die Nachwelt (wer immer das sein mag) erfährt, was mit uns SitterCats und eben speziell mit mir gemacht wurde. Es soll Menschen geben, die behaupten ihr Tagebuch ‚nur für sich‘ zu schreiben, was ich für gelogen oder zumindest Selbstbetrug halte. Wer etwas schreibt, möchte in der Regel auch, dass jemand anderes es liest.

Um sicherzustellen, dass meine Notizen auf keinen Fall verloren gehen, habe ich Vorkehrungen getroffen. Ich habe ein kleines Programm geschrie­ben, das dafür sorgt, sollte ich einmal länger als 3 Monate keinen Eintrag vornehmen, meine gesamten Aufzeichnungen unter einem vorbereiteten Account auf facebook-millennium automatisch veröffentlicht werden. Nichts und niemand kann das verhindern – vor allem deshalb nicht, weil niemand von meinem Tagebuch und meinen Vorkehrungen etwas ahnt.

Ich kann nur hoffen, dass mein neuer Arbeitgeber nicht nur eine nette Familie ist, sondern auch auf dem Stand der Technik ist, der mir weiterhin die Möglichkeit einräumt, diese Aufzeichnungen fortzu­setzen. Ich sehe große Schwierigkeiten auf mich zukommen, wenn ich keinen Internetzugang be­komme, den ich mir ent­sprechend einrichten kann und stattdessen alter­native Wege suchen muss, um an meinen Account zu kommen.

Aber das wird sich weisen. Ich habe zwar schon ein wenig recherchiert, jedoch noch nichts Umwer­fendes über die Familie finden können. Sie haben zwei Kinder und das ist wohl auch der Grund, warum ich dort anfange.

- Ende der Aufzeichnung -

Prolog 2

9 Monate später

Frankfurt-Höchst 06. September 2029, 14:00 Uhr

Jan vergrub den Kopf in den Händen und raufte sich die Haare Mein Gott, ich verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte, dachte er bei sich. Hätte ich es wirklich nicht voraus­sehen können?

Er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Den harten Sitz des Plastikstuhls auf dem durch kaltes Neonlicht erhellten Flur des Krankenhauses spürte er schon nicht mehr. Er saß bereits seit 2 Stunden hier und seine Gedanken kreisten immer nur um ein Thema:

Würde Elena überleben oder hatte er durch seine Unbedachtheit oder Unaufmerksamkeit seine große Liebe verloren? Wie hatte Miko es geschafft, ihrer beider Leben zu zerstören?

Er spürte, wie die Wut in ihm hochkochte.

Jetzt nur nichts Unüberlegtes tun!

Er versuchte seinen Puls auf ein erträgliches Maß zu redu­zieren und er merkte, dass er kurz davor war, Miko zu erwürgen oder ihr sonst etwas anzutun – wenn er denn gewusst hätte, wie er das anstellen sollte. Vor allem hatte er keine Ahnung, wo sich Miko gerade aufhielt. Sie hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

»Dieses raffinierte Drecks-Biest!«, stieß er unwill­kürlich laut hervor.

Immer und immer wieder drehte und wendete er den gleichen Gedanken in abgewandelter Form in seinem Gedanken. Wie habe ich das alles nur zulassen können? Ich muss blind gewesen sein – und blöd!

Er versuchte, die perfide Teufelei hinter Mikos Handlungen zu verstehen und durch das Rekapi­tulieren der Ereignisse möglicherweise einen Ansatz für eine Lösung zu finden. Von seiner Ver­zweiflung immer wieder geschüttelt, versuchte er, gedanklich in die Vergangenheit zurückzugehen und die Anfänge des Unglücks zu ergründen, das ihn und seine Familie heimgesucht hatte – nur schien es sich da­mals gar nicht wie ein Unglück darzustellen ... im Gegenteil.

Aber jetzt saß er hier im Krankenhaus und wartete auf die schicksalshafte Mitteilung der Ärzte. Würde Elena überleben oder nicht? Was würde aus ihm und den Kindern werden, wenn Elena nicht überlebte? Er versuchte den Gedanken beiseite­zuschieben – mehr oder weniger erfolglos.

Und immer wieder glitten die Gedanken in die Vergangenheit zurück ... zu dem Zeitpunkt, wo alles begonnen hatte ...

Buch 1

1 1/2 Jahre zuvor

1 - wie alles begann

Frankfurt-Höchst 02. Mai 2027 18:00 Uhr

»Jaaaan!«, schrie Elena durch das ganze Haus, wobei ihre Stimme einen schrillen Ton angenommen hatte. »Jan, komm sofort hierher!«

Es war unschwer zu hören, dass es sich wahrscheinlich um einen akuten Notfall handelte. Vielleicht war aber auch wieder einmal nur etwas eingetreten, das keinerlei Aufschub duldete und vor allem eine Handlung oder Stellungnahme des Haus­herrn erforderte.

Ergeben seufzend erhob sich Jan Abel von der bequemen Ledercouch und warf noch einen kurzen Blick auf das laufende Fußballspiel. Er eilte die wenigen Treppenstufen zum 1. Obergeschoss ihres Einfamilienhauses hinauf, in dem sich die Kinder­zimmer befanden und wo es offensichtlich den Notfall gegeben hatte.

»Wo genau soll ich hinkommen, Schatz?«, rief er kurz vor Erreichen des Treppenabsatzes. »Patrick!«, war die knappe, und überlaut geäußerte Rück­meldung.

Glücklicherweise war er trotz seiner 37 Lebens­jahre so fit, dass er ohne nennenswerte oder bemerk­bare Belastungs­erscheinungen sehr schnell die Stufen bis ins 2. Obergeschoss genommen hatte. So war er in der Lage mit ruhiger Stimme zu fragen, "Was ist denn passiert, Schatz?«, als er das Zimmer seines fünf Jahre alten Sohns Patrick betrat.

Elena kniete völlig aufgelöst auf dem Boden, die langen, leicht gelockten blonden Haare hingen ihr wirr und in Strähnen nach vorne über das Gesicht. Dabei war sie von einer umfangreichen Ansammlung diverser Gegenstände umgeben, die Jan nicht so ohne weiteres identifizieren konnte. Es handelte sich vermutlich überwiegend um Spielzeug, aber er war sich nicht bei allen Gegenständen sicher.

»Hat er mal wieder nicht aufgeräumt?«, erkun­digte er sich und versuchte gleichzeitig einen beruhi­genden Tonfall anzuschlagen, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

»Ha ... nicht aufgeräumt, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich deswegen hier raufholen würde?«

Wenn er es glaubte, so wagte er zumindest nicht zu äußern, dass dies abhängig von ihrer Belastung und Stimmung eigentlich ohne weiteres hätte sein können.

»Nein, selbstverständlich nicht, Schatz.«

»Hier, schau her«, forderte sie ihn auf, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »sieh dir das an. Wofür bezahlen wir eine sündhaft teure Nanny, wenn Sie nicht einmal die einfachsten Aufgaben in den Griff bekommt?«

Ohne einen weiteren Kommentar warf sie eine Zeitschrift in seine Richtung, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob er auf einen solchen Wurf gefasst war. Dennoch fing er die Zeitschrift mit beiden Händen auf, in dem Versuch sie möglichst nicht zu beschädigen.

Es handelte sich um eine Ausgabe der Illustrierten »Girls Go!« Das war eines der reich bebilderten Magazine für pubertierende Jungen, aus der sie die mögliche Erfüllung von Träumen beka­men, die sie ohne derartige Sexblätter gar nicht hätten.

»Und ...?«, machte Jan den Fehler zu sagen.

»Hallo? Patrick ist fünf Jahre alt!«

»Fast fünfeinhalb!«

Jan bemerkte sofort, dass diese Aussage gar nichts änderte und dass Elena ihn mit blitzenden Augen angiftete. Sie sah aus, als würde sie ihm jeden Moment an die Kehle gehen wollen.

»Du wirst doch wohl zugeben, dass das ein absolutes No-Go ist. Selbst wenn er sechs wäre, ist es unverantwortlich, einem kleinen Jungen, der noch nicht mal lesen kann, eine solche Zeitschrift in die Hand zu geben.«

Noch bevor er es sagte, wusste er, dass es ein Fehler war, aber er konnte sich nicht zurückhalten:

»Viel Text ist da eh nicht drin, das Heft besteht ja hauptsächlich aus Bildern.«

Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seine ironischen und oft lustigen Kommentare hatten ihm schon manche Rüge eingehandelt, aber er konnte es einfach nicht lassen. Elena war alles andere als zum Lachen aufgelegt.

»Ich weiß nicht, was an dieser Situation lustig sein soll, du Idiot. Unser kleiner Sohn ist im Besitz eines porno­grafischen Heftes – und du machst Witze!«

Sie war immer lauter geworden und stand nun vor ihm, ihre Lippen nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.

Er war zu klug, um Elena in diesem Moment seine Gedanken mitzuteilen; nämlich wie sexy er es schon immer gefunden hatte, wenn sie zornbebend, mit blitzenden blauen Augen und auf Krawall gebürstet so vor ihm stand. Schon vor neun Jahren, als er sie auf einem Empfang kennengelernt hatte, war ihm dies aufgefallen.

Der Anlass war auf den ersten Blick vielleicht nicht als der günstigste erschienen, aber als sie ganz ähnlich vor ihm stand, nachdem er ihr ein ganzes Glas Erdbeerbowle über ihr helles Sommerkleid geschüttet hatte, hatte er gewusst, dass diese Frau die Liebe seines Lebens werden würde - und die ideale Mutter seiner Kinder sein könnte.

Er wurde jäh in der Fortführung dieser angeneh­men Erinnerungen unterbrochen, als Elena weiter ausrief:

»Und das ist alles die Schuld dieser Schlampe von Nanny! Ich wusste, dass es ein Fehler war, eine japanische Leih­arbeiterin als Nanny zu beschäftigen!«

Jan richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,80 auf und sah Elena mit seinen sanften braunen Augen an.

»Nun komm mal wieder runter und steigere dich nicht in was rein, was es nicht wert ist. Du weißt genau, dass wir uns nur eine japanische Nanny leisten können. Und im Übrigen sehe ich in diesem Fall keine große Schuld bei Hitoshi.«

Elena schaffte es nie, ihm länger als ein paar Augenblicke lang böse zu sein. Wenn sie in seine gütigen Augen sah, die in so krassem Kontrast zu seinem harten Gesicht und den widerspenstigen kurzen braunen Haaren standen, beruhigte sie sich meistens sehr schnell.

Ihr schien klarzuwerden, dass sie ein wenig ungerecht gewesen war. Letztlich war es nicht die Aufgabe einer Nanny, Taschenkontrollen bei den Kindern durchzuführen. Und dass sie als japanische Leiharbeiterin in einem fremden Land arbeiten musste, war an sich schon schlimm genug.

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der japa­nischen Industrie im Jahr 2023 als späte Folge der weltweiten Corona-Pandemie und der radikalen Non-Immigranten-Politik des mächtigsten Wirt­schafts­faktors in Asien - China - , blieb vielen Japa­nerinnen und Japanern nur die Wirtschaftsflucht als billige Leiharbeiter in die VES (die Vereinigten Europäischen Staaten) um dort ihr Überleben zu sichern.

2 - Kindererziehung

Frankfurt-Höchst 03. Mai 2027 14:30 Uhr

Hitoshi wand sich in der für Asiatinnen typischen Art: mit vielen besonders tiefen Verbeugungen und einem überaus zerknirschten Gesichtsausdruck – was für Asiatinnen sehr ungewöhnlich war, da sie erzogen wurden, ihre Emotionen nicht zu zeigen. Und sie hatte Tränen in den Augen.

»Ich nich weiß, wie konnte passieren, Mrs. Abel-San! Wirklich nich! Habe immer aufgeräumt und Heft nie gesehen. Ich nich wissen, woher junger Mr. Abel-San Zeitschrift hat. Nich von mir! NICH VON MIR!«, rief sie fast flehend.

Hitoshi war nicht die typische japanische Lotusblüte, sondern eine 53-jährige, leicht mollige Frau und nur 1,55 groß. Aber sie war kostengünstig und genügsam, was ein Erfordernis war, da sie die Hälfte ihres Gehaltes nach Japan an ihre Familie überwies.

Da Jan und Elena beide ihre Berufstätigkeit nicht aufgeben wollten, blieb für die Kinderbetreuung des 5-jährigen Patrick und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Leana lediglich die Beschäftigung einer Nanny. Obwohl Jan mit seinem Job als Stellvertreter des Leiters der Abteilung »Innere Angelegenheiten« eines Internetproviders recht gut verdiente, war die Familie aufgrund des Lebensstils auch auf das Einkommen von Elena angewiesen. Sie hatte eine Halb­tags­stelle im Polizeipräsidium der Stadt Frank­furt am Main, wo sie als zweite Sekretärin des Polizei­präsidenten dessen Korres­pon­denz führte und seine Termine verwaltete.

Seit der sogenannten 2. IS-Krise im Januar 2024 hatte die Zahl der Heimarbeitsplätze dramatisch ab­ge­nommen.

Damals hatte die IS (Informationssicherheit) einen voll­ständigen Kollaps erlitten, als es Hackern gelang, einen Weg durch alle Sicherheitsportale zu finden und dadurch eine sichere Übermittlung von Daten nicht mehr gewährleistet werden konnte. Viele Firmen, deren Mitarbeiter ihre überwiegend am Computer stattfindenden Tätigkeiten nach dem Lockdown in der Corona-Krise auch von zu Hause aus hatten wahrnehmen können, waren wieder dazu verdammt worden, den Weg in die Firma antreten zu müssen, um dort in vollständig abgekapselten Netz­werken ohne Verbindung nach außen arbeiten zu können. Dies war vor allem für berufstätige Eltern von Kleinkindern ein herber Rückschlag gewesen.

Somit war für Jan und Elena die Notwendigkeit aufge­treten, trotz der Kindergartenplätze ihrer Kinder eine Nanny für die Abholung und Betreuung bis zum Arbeitsende von Elena zu beschäftigen.

Jan schied von vorneherein für die Betreuung aus, da sein Arbeitstag eher in Richtung zehn – zwölf Stunden ging.

Eine professionelle Nanny mit eigener Wohnung, welche stundenweise die Kinder hätte beaufsichtigen können, war bei der derzeitigen Arbeitslage und Dank Vollbeschäftigung in Deutschland unbezahlbar. Die Industrie der Informations­technik als dritter großer Industriezweig neben der Auto­industrie und der Gen-Produkte-Industrie hatte dafür gesorgt, dass inzwi­schen Arbeitskräfte aus dem gesamten vereinten Europa nach Deutschland eingekauft werden mus­sten, sogar aus den relativ neuen Mitgliedsstaaten Kasach­stan oder Aser­baidschan.

Somit blieben für diesen Job der Kinderbe­treu­ung lediglich die Leiharbeiterinnen aus der ehema­ligen Wirt­schafts­macht Japan.

Zum Glück hatte ihr Einfamilienhaus mit großem Garten und insgesamt zwölf Zimmern auf drei Etagen ausreichend Platz, um die angeheuerte Hitoshi in einem kleinen Raum mit eigenem Badezimmer auf der Etage der Kinder unter­zu­bringen. Die Lage im Stadtteil Frankfurt-Höchst war geeignet, bei Anderen den Eindruck zu erwecken, die Familie Abel sei reich – aber Jan und Elena mussten hart arbeiten, um diese Status-Unterkunft halten zu können.

Hitoshi war grundsätzlich eine gute Nanny. Sie mochte Kinder, die Kinder mochten sie, sie sprach leidlich Deutsch und unterstützte die Familie auch noch in der Küche und bei der Gartenpflege – alles in allem ein ‚Mädchen für alles‘, falls man eine 53-Jährige als Mädchen bezeichnen durfte.

Im Moment war Elena jedoch außer sich vor Wut und weit entfernt von vernunftbegründeter Argumen­tation. »Das ist mir, egal ob das Schmierblatt von ihnen kommt ... oder ob sie wussten, dass der Junge so was hat«, schrie sie erbost. »Es ist ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass er so was nicht bekommt.«

Wäre Hitoshi der deutschen Sprache mächtiger gewesen, hätte sie an dieser Stelle anmerken können, dass die Quelle des inkriminierten Objekts vermut­lich im Kindergarten lag und sie offiziell nicht befugt war, täglich die Tasche des kleinen Patrick auf uner­laubte Gegenstände zu durchsuchen.

Aber sie schwieg, dachte sich wohl ihren Teil, verbeugte sich weiterhin in einem fort und schien inständig darauf zu hoffen, dass der Zorn ihrer Chefin so schnell verrauchte, wie er gekommen war.

3 - Kaufentscheidung

Frankfurt-Höchst 25. Mai 2027 20:00 Uhr

Jan saß zusammen mit Elena nach einem schmack­haften Abendessen noch am Tisch im Ess­zimmer. Hitoshi war damit beschäftigt, die Kinder ins Bett zu bringen und er hatte Elena und sich gerade einen milden Rotwein eingegossen.

Vor ihm auf dem Tisch lag die Broschüre, die er heute Nachmittag von einem Kollegen in die Hand gedrückt be­kommen hatte. Es war im Kreise seiner Arbeitskollegen nicht unbekannt, dass er zwei kleine Kinder hatte und eine japanische Leiharbeiterin zur Betreuung anstellte.

Er war sich nicht darüber in Klaren, wann er zum ersten Mal eine solche Broschüre gesehen hatte. Mit absoluter Sicherheit hatte er noch nie in eine von ihnen hineingesehen, vor allem weil er niemals in Er­wä­gung gezogen hatte, das dort geschilderte Angebot auch nur zu überdenken.

Diese Hochglanzbroschüren lagen derzeit überall herum – in Restaurants, in Anwaltskanzleien, in Arzt­praxen, aber auch an Tankstellen und sogar in Cafés.

Auf der Titelseite der Broschüre prangte in grellen gelben Lettern auf schwarzem Hintergrund:

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Wortreich, bebildert und mit zahlreichen biolo­gischen, genetischen und juristischen Fachbegriffen gespickt, schil­derte die DIN A 5 - Broschüre auf insgesamt zwölf Seiten alle Vorteile und Möglich­keiten, alle fehlenden Gefahren oder Nachteile, appellierte an die Bedürfnisse potentieller Kunden und schuf somit das Verlangen bei jedem, der es sich auch nur halbwegs leisten konnte: »Genau DAS muss ich haben!«

Der Preis ... nun ... Jan errechnete mit allen Ge­büh­ren und Zusatzkosten, dass sie der Spaß unge­fähr ein halbes Jahresgehalt kosten würde. Ist es das wert?, dachte er bei sich, hatte aber keine Zeit mehr, es genauer abzuwägen.

»Also, was sagst du dazu?«, unterbrach Elena seine Gedankengänge. »Ist das nicht genau das, was wir brauchen?«

»Ich weiß nicht ...«,

Er wusste sofort, dass diese Äußerung bei Elena gleich­bedeutend mit einem JA war. Er hätte schon triftige Gründe anführen müssen, um sie von einem Projekt abzubringen, für das sie sich bereits so erwärmt hatte. Schon als er das begeisterte Leuchten in ihren Augen gesehen hatte, als sie ihm die Broschüre mit den Worten »Hier ist die Lösung« überreicht hatte, war ihm klar gewesen, dass sie nur unter extremem Einsatz vieler logischer Argument wieder davon abzubringen war.

Wobei ihm nicht einmal klar war, ob er selbst wirklich dagegen war. Somit ergab sich für ihn die sonnenklare Er­kenntnis: keine Chance!

Auch finanziell war es zur Not leistbar, dafür hatten Elena und er Rücklagen angelegt. Diese waren zwar eigentlich für eine größere Reparatur am Haus, ein neues Auto oder den Neukauf wichtiger Haus­haltsgeräte gedacht, aber in letzter Zeit hatten sie Glück gehabt und es hatte sich ein stattlicher Betrag angesammelt.

Hinzu kam, dass ihn das Angebot extrem neu­gierig machte. Er hatte Veröffentlichungen zu dem Thema der intelligenten Katzen gelesen und sich schon immer gefragt, wie es wohl sei, mit einem solchen ‚Tier‘ unter einem Dach zu wohnen. Konnte man diese Wesen überhaupt noch als Tiere bezeich­nen? Ihn hatten auch die psychologischen aber vor allem die ethischen und philosophischen Aspekte im Zusammenleben mit solchen Tieren interessiert. »Okay, was soll’s«, stellte er fest, »du hast wahr­scheinlich recht. Also lass es uns tun!«

Freudestrahlend sprang Elena von ihrem Stuhl auf, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn überschwänglich.

Buch 2

1 - Nobelpreisträger

Frankfurt am Main 02. Juni 2027 09:00 Uhr

Professor Dr. Dr. Max Heffeller war mit sich und der Welt mehr als nur zufrieden. Seit seinem Nobelpreis für Medizin aufgrund seiner Genfor­schung vor vier Jahren hatte sich sein Leben in Bahnen entwickelt, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausdenken können. Finanziell lukrative Bahnen. Enorm lukrativ.

In der Genforschung und Biotechnologie war seit der Entdeckung des Ersatzes für tierisches Eiweiß in gen­manipulierten Pflanzen die Biotechnologie der am stärksten wachsende Wirtschaftszweig. Dennoch war er weiterhin seinem Forschungsgebiet, der Genfor­schung mit dem Ziel der Behandlung oder Heilung von Alzheimer, treu geblieben. Erste Erfolge seiner Forschungen hatten ihm den Nobelpreis ein­gebracht. Dass er jedoch den mit dem Nobelpreis verbundenen Geldpreis von damals noch 1 Million €, nur wenige Jahre später durch ein Nebenprodukt seiner For­schung um das Zehnfache überschritten hatte, war zu keiner Zeit absehbar gewesen.

Dabei wäre es um ein Haar beinahe von ihm unbemerkt geblieben – das inzwischen nach ihm be­nannte »positive Heffeller­sche-Residualsymptom«.

Im Rahmen seiner Forschungen am ultimativen Heilmittel für Alzheimer war es zu Testreihen des möglichen Medikamentes bezüglich etwaiger Neben­wirkungen an verschiedenen Labortieren gekommen. Leider hatten alle Ratten gleichermaßen auf das Serum reagiert: es erfolgte eine Erkrankung, die ge­mäß der Symptome an eine Hirnhaut­entzündung erinnerte und letztendlich dazu führte, dass die er­krankte Ratte fast aller Hirnfunktionen beraubt wur­de und nur noch vor sich hin vegetierte.

Gleiches passierte bei den Versuchen mit Affen und später auch mit Hunden. Vor allem bei den Affen war Heffeller entsetzt gewesen, da er sich aufgrund des menschen­ähnlichsten Genoms bei ihnen am meisten versprochen hatte. Auch die Versuche mit Schweinen liefen nicht anders.

Lediglich die drei Katzen, die mit dem gleichen Serum behandelt wurden, entwickelten zwar zu­nächst die gleichen Krankheitssymptome, über­stan­den die Krankheit aber scheinbar ohne Nach­wir­kungen. Noch immer liefen Heffeller Schauer über den Rücken und die Haare auf seinen Armen sträubten sich, wenn er an den Moment dachte, als sein Laborassistent ihn zunächst mit seinen Vermu­tungen und dann mit der unglaublichen Wahrheit konfrontiert hatte, was die Nachwirkungen der Be­hand­lung anbelangte.

2 - Heidelberg

3 Jahre zuvor

Tierlabor der Universität Heidelberg

27. Februar 2024, 08:00 Uhr

Maunz 241 B war eine zierliche, getigerte Hauskatze, an der grundsätzlich nichts Außerge­wöhn­­liches festzustellen war.

Rainer Sädele, der junge Laborassistent, hatte sich fürsorglich um die Katze gekümmert, als sie aufgrund der Serum-Injektion wie alle bisherigen Versuchstiere erkrankt war. Sie hatte über den Zeitraum von zwei Wochen apathisch in ihrem Käfig gelegen und musste durch eine intravenöse Infusion ernährt werden. Er hatte seinen Professor, den er eigentlich vergötterte, verflucht, denn obwohl er die Notwend­igkeit von Tierversuchen einsah, war er so tierlieb, dass ihm das Leid der Versuchstiere sehr an die Nerven ging.

Oft hatte er darüber nachgedacht, seinen Job aufzugeben – hatte sich aber dann vor Augen ge­hal­ten, dass ein liebevoller Umgang mit den Tieren das einzig Positive in deren Leben war und ein Nachfolger unter Umständen ein kaltherziger, nüchterner und tierverachtender Kollege sein könnte. Er hätte es nicht übers Herz gebracht, seine Lieblinge einer solchen Person anzuvertrauen und seine ‚Schütz­linge‘ so jemandem auszuliefern.

Als er sich nun über Maunz 241 B beugte, meinte er eine Reaktion festzustellen, mit der nicht mehr gerechnet und schon gar nicht darauf zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte soeben erstmals seit über eine Woche den Kopf angehoben, ihn direkt angesehen und sogar seine Hand geleckt, als er sie leicht und liebevoll kraulte. »Na, wenn das mal kein Lichtblick ist«, dachte er bei sich und wandte sich an die ande­ren beiden Katzen, denen es ebenfalls besser ging.

Auch bei Maunz 33 C und Maunz 120 A stellte er eine deutliche Verbesserung des bisherigen Zustands fest. Mit einem Hauch von Hoffnung machte er sich an die Versorgung aller drei Tiere und sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, um die Rettung seiner drei Lieblinge bittend. Nur zwei Tage später waren die drei Katzen so weit wiederhergestellt, dass Sädele eine vollständige Gesundung für möglich hielt und den Professor dahingehend informierte. Sofort wurde er aufge­fordert zahlreiche Proben zu entneh­men – Blut, Gewebe, Rückenmark etc. –, und auch Com­puter­scans zu veranlassen, in welchen Hirn­veränderungen oder andere organische Auffällig­keiten festgestellt werden konnten. Dies stellte insge­samt keine besonders angenehme Prozedur für die Drei dar – aber so war das nun einmal mit Versuchs­tieren.

Sädele hatte wie fast jeder Tierliebhaber ange­fangen, die Tiere dahingehend zu vermenschlichen, dass er mit ihnen sprach, als erwarte er eine Antwort. Zum Teil war das sicherlich auch auf seine relativ einsame Tätigkeit als Labor­assistent und gleichzeitig als Pfleger der Tiere zurück­zuführen. Als er sich vier Wochen nach Beginn der intensiven Untersuchungen den drei Käfigen näherte, in den die Katzen getrennt voneinander gehalten wurden, sprach er wie ge­wöhn­lich vor sich hin: »So, Maunzi B, jetzt werden wir dir mal wieder ein Aufbaupräparat spritzen.«

Er hatte sich schon seit langem von den Nummern­­be­zeichnungen der einzelnen Versuchs­tiere getrennt und sprach die Tiere immer nur mit einem ‚Maunzi‘ plus Buchstabe an.

Obwohl er nicht genau hingesehen hatte, be­merk­te er aus dem Augenwinkel, dass Maunzi B ruck­artig herumgefahren war, sich ihre Nackenhaare sträubten, die Ohren sich eng an den Kopf legten und sie ihn nun mit beiden Augen fixierte. Sowohl Maunzi A als auch Maunzi C hatten sich keinen Millimeter bewegt und dösten nach wie vor still vor sich hin. Lediglich an der Bewegung der Ohren konnte man erkennen, dass sie bei weitem nicht schliefen, sondern aufnahmefähig für Umgebungsgeräusche waren.

Die kann doch nicht verstanden haben, dass sie gemeint war, oder?, dachte er verwundert. Er konnte später nicht sagen was ihn dazu veranlasste, aber in einem Anflug von Irrationalität bemerkte er laut: »Ach, weißt du, ich hab’s mir überlegt. Ich gebe dir lieber leckeres Futter, statt einer Spritze.«

Maunzi Bs Reaktion verblüffte ihn dermaßen, dass sein Kiefer überrascht nach unten sank, ihm die vorbereitete Spritze aus der Hand fiel, auf dem Boden zerschellte und er mit offenem Mund auf die Katze in ihrem Käfig starrte.

Maunzi B hatte nicht nur deutlich hörbar, sondern auch sichtbar die angehaltene Luft aus den Lungen gestoßen. Sie entspannte den gebuckelten Rücken und ihre Ohren stellten sich aufrecht. Wenn er jemals eine Verhaltensweise, die einer Erleich­terung glich, gesehen hatte, dann war es genau diese. Er stand weiter, ohne einen Muskel zu bewegen, wie erstarrt da und sah die Katze unverwandt an, ohne zu registrieren, welche Gedanken ihm gerade durch den Kopf gingen.

Später gefragt, wie er auf die Idee gekommen sei, gab er an, der Gedanke sei ihm wie von selbst durch den Kopf geschossen. Laut sagte er: »Ich denke, ich gebe die Spritze heute mal Maunzi A!«

Erschrocken machte er einen Satz nach hinten und stieß sich schmerzhaft den verlängerten Rücken in Höhe des Steißbeins an der Tischkante des Labortisches hinter ihm. Direkt nach seiner Bemer­kung war Maunzi A in ihrem Käfig aufgesprungen und stand nun fauchend mit der gleichen Mimik wie zuvor B in ihrem Gefängnis.

Nach einer Schrecksekunde wandte sich Sädele um und rannte wie von Furien gehetzt aus dem Labor. Im Neben­zimmer setzte er sich auf einen Stuhl und versuchte, seine zitternden Hände unter Kon­trolle zu bekommen. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen oder Überlegungen in geordneter Reihenfolge anzustellen. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass die Katzen nicht nur ihren Namen ver­standen und sich selbst zugeordnet hatten, sondern auch noch das Wort ‚Spritze‘ mit der negativen Erfahrung von Blutentnahmen oder Medikamenten­verabreichungen asso­zi­ierten?

Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und schob es auf seine Erschöpfung. Gedanken­verloren verließ er den Nebenraum in Richtung der Umkleiden, wo er seinen Laborkittel gegen sein Jackett tauschte und sich auf den Heimweg machte. Dabei fiel ihm zu keiner Zeit auf, dass er längst noch nicht sein Arbeitspensum absolviert hatte. Außerdem hatte er die Tür zum Labor nicht zugeschlossen. Auf dem Weg zum Ausgang des Gebäudes sahen ihm mehrere Personen, die ihn persönlich kannten, über­rascht nach. Einige sprachen ihn sogar an, er­hiel­ten aber zu ihrer Überraschung keinerlei Reaktion.

Am nächsten Morgen erschien er zwei Stunden vor Arbeitsbeginn im Forschungsgebäude ... völlig übernächtigt nach einer schlaflosen Nacht. Nachdem er sich wieder in seinen Laborkittel geworfen hatte, näherte er sich dem Labor und stellte zu seinem Erschrecken fest, dass die Tür sperrangelweit offen­stand. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Die Angst davor, dass irgendetwas abhan­den­­ge­kommen sein könnte, ließ ihn erneut un­kon­trolliert zittern.

Bedächtig und langsam näherte er sich der offenen Tür und spähte vorsichtig um die Ecke, um festzustellen, ob nicht vielleicht jemand im Labor war. Was er dabei sah, verschlug ihm erneut den Atem. Die drei Käfige standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und im mittleren Käfig saß Maunzi A, während Maunzi B in ihrem Käfig direkt an der dem Nachbarkäfig zugewandten Seite saß und ... die beiden tauschten leise Laute aus, die eine Mischung aus Miauen und fauchenden Geräuschen waren, wie er sie nie zuvor von Katzen gehört hatte. Unwillkürlich schoss ihm der Gedanke an eine Unterhaltung durch den Kopf.

Erneut näherte er sich mit dem Kopf dem Türrahmen und beobachtete weiter. Er sah gerade noch, wie sich Maunzi A, die im mittleren Käfig saß, umwandte und an die andere Seite ihres Käfigs ging. Im Nachbarkäfig erhob sich Maunzi C und ging eben­falls an die Seitenwand ihres Geheges. Danach ent­wickelte sich das gleiche Geschehen wie zuvor. Es wurden Laute ausgetauscht und Sädele konnte den Eindruck nicht länger unterdrücken, dass es sich um eine Art Unterhaltung handelte. Er spürte, wie ein Prickeln seinen Rücken hin­unter­lief und sich auf sei­nen Armen sich eine deutliche Gänsehaut ent­wickelte.

Was nun?, fragte er sich und zog sich in den Sichtschutz hinter dem Türrahmen zurück. Wenn es wirklich wahr sein sollte, was er vermutete, müsste er es auch beweisen können.

Er wägte verschiedene Möglichkeiten gegen­ein­an­der ab, verwarf einige Ideen als verrückt, andere als wenig erfolg­ver­sprechend und wurde sich schließlich mit sich selbst einig. Der direkte Weg erschien ihm auf jeden Fall als der Beste. Er verließ sein Versteck, räusperte sich laut und ging in das Labor. Er kam sich unendlich blöd vor und es wäre im höchst peinlich gewesen, wenn irgendjemand ihn jetzt hätte beob­achten können.

»Hallo Jungs«, begann er und musste im selben Moment lachen, weil ihm die Idee die drei Katzen als ‚Jungs‘ anzu­sprechen absolut bescheuert vorkam. »Okay, okay, ich fang noch mal von vorne an. Ich habe euch erwischt. Ich bin sicher, dass ihr mich versteht – zumindest zu einem gewissen Anteil ... äh ... glaub ich wenigstens.«

Peinlich betreten machte er eine Pause und überlegte sich die nächste Äußerung, während ihn die drei Katzen unver­wandt und reglos in ihren Käfigen sitzend anstarrten.

Mein Gott, wenn mich jetzt jemand hören würde. Bestimmt kämen innerhalb der nächsten Viertelstunde die Jungs mit den weißen Jacken, bei denen man die Ärmel auf dem Rücken zusammenbinden kann.

Ach, Scheiße, mach es einfach.

»Also Kameraden ... klare Ansage: Wenn ihr nicht euer Futter riskieren wollt ... nun ja ... ihr seid da ja ein wenig auf mich angewiesen ... also ...« Ohne es zu wollen wurde er lauter, vermutlich, um seiner Stimme mehr Kraft und Selbst­sicherheit zu geben. »Also, ich erwarte von euch jetzt absolute Ehrlichkeit und Kooperation, ist das klar?«

Die drei Fellknäule saßen jede in der Mitte ihres Käfigs und starrten ihn weiterhin ohne jede Regung oder eine Bewe­gung unverwandt an.

Verdammt ... was erwarte ich denn eigentlich?

Laut sagte er nach kurzer Überlegung: »Also ich möchte jetzt wissen, ob ihr mich versteht oder nicht!«

Oh Gott, was für eine bescheuerte Frage - »Ich meine, versteht ihr mich???«

Sein Tonfall war fast flehend und vielleicht etwas weinerlich geworden. Dies mochte zum einen an seiner panischen Angst liegen, sich absolut lächerlich zu machen oder aber auch an seiner verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch ein Funken Wahrheit an seiner abenteuerlichen Vermutung war.

Landläufig wird oft die Redewendung verwandt, ‚jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht‘, aber rein biologisch ist es wirklich eine Tatsache, dass unter gewissen Voraussetzungen die Körperfunktionen auf extreme Situationen reagieren und damit eine be­stimmte Wirkung erzielen. Wenn das vegetative Nerven­system auf überraschende oder vor allem beängsti­gende Situationen reagiert, kommt es bis­weilen zur soge­nannten ‚orthostatischen Synkope‘ oder auch ‚kreislauf­bedingten Ohnmacht‘, die durch eine Unterversorgung des Gehirns mit Blut verursacht wird. Mit anderen Worten – jemand ver­liert die Durchblutung im Kopfbereich, wird also durch die Blutleere extrem blass und ... fällt an­schließend in Ohnmacht.

Genau das passierte mit Sädele, als er sah, was in den Käfigen passierte. Zuerst wandte sich Maunzi A im mittleren Käfig nach rechts und sah Maunzi C im linken Käfig an. Kurz darauf machten beide eine nickende Kopfbewegung. Dann wandte sich Maunzi A nach links, tauschte Blicke mit Maunzi B aus und wiederum machten beide eine nickende Kopfbe­wegung. Danach wandten sich alle drei Katzen wieder Sädele zu, blickten ihn kurz an. Und dann nickte Maunzi A deutlich sichtbar mehrere Male auf und ab. Die beiden anderen stimmten in die Bewegung ein.

Alles Blut wich aus Sädeles Gesicht – er wurde weiß wie eine gekalkte Wand. Der Blutverlust in seinem Kopf erreichte schließlich den Grad, der ausreicht, eine Ohnmacht zu verursachen. Für einen Beobachter hätte es so ausgesehen, als ob der junge Mann einem Betäubungsgasangriff zum Opfer ge­fallen sei. Er sackte in sich zusammen und schlug, ohne einen Laut von sich zu geben, auf dem harten Laborboden auf.

Am darauffolgenden Tag begann Prof. Dr. Dr. Heffeller sich intensiv um seine Versuchstiere zu kümmern.

3 - Vorstandssitzung

Frankfurt am Main 14. Juli 2027 10:00 Uhr

Der Firmenchef und Vorstandsvorsitzender der Geno­ForLab AG oder auch kurz GFL, Dr. Heiner Lautenschläger, sah sich im Kreis seines Vorstandes um.

Die Sitzung war noch nicht offiziell eröffnet und es herrschte ein halblautes Stimmengemurmel, wie es entsteht, wenn sich zwölf Menschen in einem Raum befinden und leise mehrere unabhängige Gespräche geführt werden.

»Meine Herren«, erhob Lautenschläger die Stimme. »Ich möchte die heutige Vorstandssitzung eröffnen und darf sie bitten, einen Blick in die vor ihnen liegenden Unterlagen zu werfen.« Er räusperte sich. »Wie sie unschwer erkennen können, hat sich unsere Kapitalsituation extrem vorteilhaft verändert. Dank der Bemühungen unseres geschätzten Kollegen Schmitt«, er nickte kurz zu dem rechts von ihm sitzenden Leiter des Bereichs »Akquisition und neue Technologien«, Gregorius Schmitt, »hat die GenoForLab AG derzeit einen Nominalwert von 450 Milliarden €, was bedeutet, dass sich der Wert unserer Aktien seit dem letzten Quartal wiederum um weitere 4,8% gesteigert hat.«

Hätte jemand ein begeisterndes Murmeln oder vielleicht sogar ein Klatschen oder mit dem Knöchel auf den Tisch klopfen erwartet, er wäre herb enttäuscht worden. Die anwesenden Herren saßen weiterhin mit stoischer Miene an ihren Plätzen und lediglich der eine oder andere blätterte scheinbar gelangweilt in den vor ihm liegenden Unterlagen.

»Diese positive Entwicklung«, fuhr Lauten­schläger fort, »ist zu einem nicht gerade kleinen Anteil unserem SitterCat-Projekt zu verdanken. Deshalb will ich auch sofort zum Hauptpunkt unserer heuti­gen Sitzung kommen. Diese außerordentliche Sitz­ung wurde einberufen, um einen Antrag vorzu­stellen, dessen Inhalt sogar mir bisher noch nicht bekannt ist.« Er wandte er sich ruckartig nach rechts. »Gregor, wären sie bitte so freundlich und stellen ihren Antrag dar.«

Schmitt ließ sich mit keinem Muskelzucken an­merken, dass er die plump-vertrauliche Anrede ‚Gregor‘ auf den Tod nicht ausstehen konnte. Bei seinem Allerwelts-Familien­namen hatten sich seine Eltern etwas dabei gedacht, ihn Gregorius zu nennen. Dabei war ihm die Unwissenheit der Masse immer zuwider gewesen, die seinen Namensgeber für Papst Gregor XIII. hielten, den Begründer des grego­ri­a­nischen Kalenders. In Wahrheit hatten seine Eltern ihn nach Gregorius Anicii benannt, dem Spross einer römischen Kaiserfamilie, der fast 1.000 Jahre vor Gregor XIII. als Papst Gregor I. in die Kirchen­ge­schichte einging. Vermutlich war es aber eher Gre­gorius‘ Tätigkeit als Präfekt von Rom gewesen, dem höchsten Senatorenamt unterhalb des Kaisers, welche seinen ge­schichts­besessenen Vater dazu ver­an­lasst hatte, seinem einzigen Sohn diesen Namen zu geben. »Macht ... Macht und Einfluss ... das ist es, was einen wahrhaft großen Menschen auszeichnet«, hatte sein Vater nie aufgehört zu sagen.

Und das war es, wonach Gregorius Schmitt strebte: Macht! Mit einem angedeuteten Lächeln und Kopfnicken übernahm Schmitt den weiteren Verlauf der Vorstands­sitzung: »Werte Kollegen, ich sage ihnen nichts Neues, wenn ich den Erfolg des SitterCat-Projektes als den Motor unseres Unter­neh­mens bezeichne. Die Wertsteigerung der Firma, die Entwicklung unserer Aktie, aber auch das inter­na­tionale Ansehen unserer Firma haben sich in einem Maße gesteigert, das in den spekulativsten Hoch­rechnungen nicht zu erwarten war.

Dies ist auch der Grund, dass das SitterCat-Projekt die Aufmerksamkeit ...«, er machte bewusst eine Sprechpause, um seine Zuhörer vom Durch­sehen der Unterlagen wegzu­bewegen, »nun ... sagen wir mal ... einiger internationaler Organisationen erregt hat, die sich an dem Projekt dahingehend beteiligen möchten, dass wir ihnen SitterCats in einer noch zu definierenden Menge liefern sollen. Bisher haben wir unseren größten Geschäftserfolg lediglich im häuslichen Bereich und lediglich in Europa eingesetzt – ich denke es ist an der Zeit, unser Ge­schäfts­modell zu überdenken und auch eine Aus­wei­tung und einen alternativen Einsatz in Erwägung zu ziehen.«

Es entging Schmitt nicht, dass sich bei einigen der Vorstandsmitglieder inklusive beim Vorstands­vorsitzenden ein Stirnrunzeln zeigte, welches nicht unbedingt auf Begeisterung schließen ließ. Dr. Markus Kowalski, Bio­chemiker und enger Freund von Professor Heffeller, ein Mann der ersten Stunde bei GenoForLab und seit Anbeginn des Börsenganges eines der einflussreichsten Vorstands­mit­glieder, war der Erste, der sich zu Wort meldete: »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren«,, begann der rüstige 72-Jährige mit seiner tiefen Bassstimme, »dass hier von einem staatlichen Einsatz – wenn nicht sogar von einem militär­ischen Einsatz unserer Tiere die Rede ist, oder liege ich da falsch?«

Schmitz musste seine ganze Selbstbeherrschung auf­wenden, um seinen Kollegen nicht anzuschreien.

Du seniler Idiot, fang nur nicht wieder mit deinen ‚Rechten der Tiere‘ oder so einem Schwachsinn an.

Laut sagte er: »Geschätzter Kollege, ich darf ihnen ver­sichern, dass mir das Wohlergehen unserer SitterCats sehr am Herzen liegt.« Er musste sich zusammennehmen, damit man ihm nicht anmerkte, wie ‚scheißegal‘ ihm die ‚Mistviecher‘, wie er sie für sich bezeichnete, waren.

»Selbstverständlich würde ich niemals zulassen, dass unsere wertvollen Tiere in irgendeiner Weise missbraucht oder gefährdet würden«, äußerte er so entrüstet, wie es ihm möglich war.

»Die Tiere sind allein für den internen ‚Ge­brauch‘ inner­halb von Ministerien oder anderen Behörden vorgesehen.« Die Lüge ging ihm leicht von den Lippen, da er wusste, dass sein Plan keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn er die Wahrheit gesagt hätte. »Aus Gründen der Vertrau­lichkeit kann ich allerdings derzeit noch keine näheren Angaben über die Identität der Interessenten machen.« Er sah das Stirnrunzeln bei einigen der Vorstandsmitglieder und warf etwas zu hastig ein:

»Das erfolgt selbstverständlich, sobald ich die Zu­stimmung zu weiteren Verhandlungen bekommen habe, und auf jeden Fall vor einem möglichen Ver­trags­abschluss.«

Lautenschläger hob die Hand. »Meine Herren, keine voreiligen Feststellungen.« Wer den fitten 63-jährigen kannte, der wesentlich jünger aussah, stellte die leichte Zornesfalte auf seiner Stirn fest und hätte daraus leicht ersehen können, dass ihm der Verlauf der Diskussion nicht gefiel. »Ich muss gestehen, dass ich selbst nicht begeistert bin, wenn wir das SitterCat-Projekt aus der Hand geben, sei es die Technologie oder auch nur Tiere aus unseren Labors. Ich denke, wir sollten die grundsätzliche Frage klären, ob wir das verantworten können. Im Positiv­fall können wir dann noch darüber diskutieren, welche Optionen bezüglich der Zielländer in Frage kommen.« Er sah sich fragend im Kreis seiner Kollegen um: »Ich darf doch davon ausgehen, dass wir uns darüber einig sind, dass lediglich einige wenige vertrauenswürdige demokratische Länder in Frage kämen?«

Schmitt stellte mit Verärgerung fest, dass ein paar Vorstandskollegen abschätzend aber bedächtig mit dem Kopf nickten – ein paar zu viel, wie er mit Entsetzen feststellte.

»Meine Herren,« warf Schmitt ein und versuchte, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben, »bedenken Sie bei ihren Überlegungen bitte, dass wir unsere Tiere ständig ‚aus der Hand‘ geben, wenn wir sie in Familien unterbringen. Auch dort haben wir keinerlei Garantie, was im weiteren Verlauf mit den Tieren passiert, nicht wahr?« Er hob fragend die Augen­brauen. Zu seinem Leidwesen war es wiederum Kowalski, der sich als Erster zu Wort meldete.

»Es freut mich, dass Sie dieses Thema ansprechen, werter Kollege.«

Warum nur habe ich den Eindruck, dass das mit dem ‚werten Kollegen‘ nicht so richtig ernst gemeint ist, dachte Schmitt und versuchte seine Gesichtszüge im Zaum zu halten.

»Mir ist in letzter Zeit mehrfach durch den Kopf ge­gangen«, fuhr Kowalski fort, »dass es noch einiger zusätzlicher Absicherungen in unseren Verträgen bedarf, um sicher­zustellen, dass unsere Tiere weder missbraucht noch miss­bräuchlich verwendet wer­den.«

Zu Schmitts Erleichterung meldete sich nun erstmals Marius Werking zu Wort. Der 46-jährige technische Leiter der Labors und Forschungs­einrichtungen war nicht nur be­sonders ambitioniert, es im Kreis der Wissenschaftler im Vorstand zu etwas zu bringen, er war vor allem ein Befür­worter von Schmitts Plänen zur Expansion. Schmitt wusste, dass der noch recht junge Werking in der Runde der anderen Vorstandsmitglieder sehr darunter litt, dass er »nur« Diplomingenieur war, während die anderen Vorstands­mitglieder akademische Grade in Berei­chen wie Medizin, Biologie und anderen natur­wissenschaftlichen Fächern auf­wiesen.

»Ich möchte zu Protokoll geben«, begann Werking, wobei seine näselnde und unangenehm hohe Stimme einen krassen Kontrast zu Kowalski darstellte, »dass es hier in erster Linie um die grundsätzliche Frage des Kollegen Schmitt geht, ob wir eine Ausdehnung unseres Geschäftes auf das ‚befreundete Ausland‘ grundsätzlich in Erwägung ziehen.«

An dieser Stelle warf er einen Beifall heischenden Blick zu Schmitt. »Ich rate dringend davon ab, zu diesem Zeitpunkt der Diskussion das Thema des allgemeinen Vertragswesens ins Spiel zu bringen.«

»Selbstverständlich«, warf Kowalski mit beißen­dem Spott ein, «können wir uns gerne auf ein einzel­nes Thema kon­zentrieren, wenn Sie durch eine multi­ple Herangehensweise überfordert sind.«

Bevor Werking seiner Entrüstung Luft machen konnte, schaltete sich Lautenschläger in die Dis­kussion ein. »Meine Herren, meine Herren. Ich darf doch sehr bitten. Lassen Sie uns die Diskussion zivilisiert fortführen. Mein Vorschlag ist, zunächst über die grundsätzliche Frage abzustimmen, ob wir zum jetzigen Zeitpunkt eine Expansion ins Ausland in Erwägung ziehen wollen oder nicht. Nein«, er hob abwehrend die Hand in Richtung Schmitt, der sich halb aus seinem Sessel erhoben hatte und etwas sagen wollte, »nein, ich möchte genau jetzt eine Abstimmung durchführen und keine zusätz­lichen Argumente mehr hören. Je nach Ausgang der Ab­stimmung können wir im Anschluss gerne noch weiter diskutieren.«

Schmitt setzte sich wieder hin und wartete den weiteren Verlauf ab.

»Also«, meinte Lautenschläger mit einem fragen­den Unterton, »wer gegen die Ausweitung unserer Geschäfts­beziehung ist, den möchte ich bitten, die Hand zu heben".

Es hätte seines eigenen Handzeichens nicht bedurft, um bereits im Vorfeld seine eigene Stellung zu diesem Thema zu zeigen – allein die Art der Frage­stellung, nämlich nach den Befürwortern einer Ablehnung zeigte seine Meinung deutlich. Mit erho­bener Hand sah sich Lautenschläger um.

Zwei Hände gingen sofort und ohne zu zögern nach oben, darunter Kowalskis. Vier weitere kamen unmittelbar danach, davon zwei ein wenig zögerlich. Da der Vorstandsvorsitzende unter den insgesamt 12 Vorstandsmitglieder immer 2 Stimm­anteile bean­spruchen durfte, damit es nicht zu Patt-Situationen bei Abstimmungen kommen konnte, war die Ent­scheidung damit bereits zu einem frühen Zeit­punkt gefallen.

»Gegenstimmen?«, fragte Lautenschläger, ohne sich auch nur im Geringsten so etwas wie Befrie­digung anmerken zu lassen.

Schmitt und Werking hoben langsam die Hand und sahen die Vorstandsmitglieder an, die sich noch nicht geäußert hatten. Es kam keine weitere Hand nach oben.

»Enthaltungen?« – die restlichen vier Hände gingen nach oben.

»Ich darf somit fürs Protokoll festhalten, dass der Antrag mit 7 Gegenstimmen zu 2 bei 4 Enthaltungen abgelehnt wurde.« Bevor Lautenschläger fortfahren konnte, war Schmitt bereits aufgesprungen und stürmte wutschnaubend aus dem Konferenzraum. Hätte er die Möglichkeit gehabt, die auto­matisch bei Annäherung aufgehende Glas-Schiebetür hinter sich zuzuknallen ... er hätte sie wahrgenommen.

Buch 3

1 - Kaufvertrag

Frankfurt am Main 20. Juli 2027 16:30 Uhr