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Tödliche Selbstjustiz In Koblenz werden zwei durch Rechtsanwalt Angelo Rossi vor der Haft bewahrte Straftäter an zwei aufeinanderfolgenden Tagen von einem Präzisionsschützen aus großer Entfernung erschossen. Das Team der Mordkommission um Ulf Auer ermittelt, diesmal mit Unterstützung einer Mitarbeiterin der Sitte und unter der Aufsicht des neuen Oberstaatsanwaltes Leo Rossi, einem Großcousin des Verteidigers. Gelten die Taten speziell den Mandanten des Rechtsanwaltes oder übt ein vom Rechtssystem enttäuschter Rächer Selbstjustiz? Aufgrund der besonderen Fähigkeiten des Mörders kommen nicht viele Menschen als Täter infrage, dennoch hat die Mordkommission keine Verdächtigen … und das Töten geht weiter. Ulf Auer und seine Mordkommission sehen sich mit einem der kompliziertesten Fälle ihrer Karriere konfrontiert.
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Seitenzahl: 385
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Ich möchte dieses Buch all den Menschen widmen, die sich redlich bemühen, die in uns allen immer noch vorhandenen Vorurteile zu überwinden.Sei es aufgrund der Herkunft oder der sexuellen Orientierung von Menschen, aber auch der vorschnellen Verurteilung von Handlungen der Menschen in unserem Umfeld.Ich selbst versuche es immer wieder – mit unterschiedlichem Erfolg – und meine Hochachtung giltallen Menschen, die es ebenfalls wenigstens versuchen.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9765-8
Dieter AurassRECHTundGERÄCHT
Koblenz-Karthause, Sonntag, 13.08.2023, 11:30 Uhr
„Gut gemacht, Rossi, danke, dass Sie mich so prompt hier rausgeholt haben.“
Der untersetzte Mittvierziger schlug seinem Anwalt mit der flachen Hand auf den Rücken.
„Keine große Sache“, entgegnete Dr. Angelo Rossi und wand sich durch Wegdrehen aus der immer noch auf seinem Rücken liegenden Hand, „das war nicht wirklich ein Problem, da die Beweise gegen Sie auf dem Computer ... nun, sagen wir mal, zumindest auf äußerst fragwürdige Weise erlangt wurden.“
„Und ich bin natürlich unschuldig“, ergänzte der Mann mit einem Grinsen, während sie den Weg zum Parkplatz der U-Haftanstalt im Koblenzer Stadtteil Karthause zurücklegten, „ich habe keine Ahnung, wie diese Sachen auf meinen Computer gekommen sind. Sicher hat mir da irgend so ein Arschloch einen Trakehner oder so was aufgespielt.“
„Trojaner“, korrigierte Rossi gedankenverloren und fragte sich gleichzeitig, ob sein Mandant tatsächlich so dumm war, wie er sich stellte. Diesem Mann war nicht zu trauen, also würde er extrem vorsichtig vorgehen müssen, da die Verteidigung eines solchen Mannes die große Gefahr in sich barg, seinem Ruf als Staranwalt nachhaltig zu schaden – einem Anwalt, der dazu in der Lage war, sogar an einem Sonntag schuldige Mandanten aus dem Gefängnis zu holen.
***
Koblenz-Arenberg, 14.08.2022, 20:15 Uhr
Das Projektil war klein, aber extrem schnell. Es hatte noch immer Überschallgeschwindigkeit, als es in den Hinterkopf des Mannes eindrang, der gerade auf der Terrasse des italienischen Restaurants „Roter Hahn“ in Koblenz-Arenberg einen Valpolicella aus einem großen Glas trank.
Auf dem Weg durch den Kopf nahm es einen nicht unerheblichen, aber extrem wichtigen Teil des Gehirns mit, als es sich zusammen mit einem Auge und einem Teil der Nase auf den Weg aus dem Kopf heraus machte. Danach durchschlug es das Glas mit dem Rotwein und die Hand, die es hielt. Bevor es endgültig in die Dunkelheit des hochsommerlichen Abendhimmels verschwand, raste es durch die Glühbirne eines der über den Tischen hängenden Lampions, die mit einem lauten Knall explodierte und die gesamte Lichterkette zum Erlöschen brachte.
Eine gnädige Dunkelheit senkte sich über die gut besuchte Terrasse des Restaurants; gnädig, weil ansonsten viele der Besucher beim Anblick des Opfers nie mehr in ihrem Leben das Gericht würden essen können, das sie gerade vor sich stehen hatten.
Tag 1 – Sonntag, 13.08.2023
Koblenz-Arenberg, 22:30 Uhr
„Na, das nenn ich mal eine Schweinerei“, stellte Kriminalhauptkommissar Gerd Duben trocken fest, als er zusammen mit Kriminalkommissarin Corinna Crott und ihrem gemeinsamen Chef Kriminalhauptkommissar Ulf Auer auf der Terrasse des „Roter Hahn“ das Opfer betrachteten.
Die auf hohen Gestellen an den Ecken der Terrasse aufgestellten Scheinwerfer erleuchteten die Szenerie so hell wie im grellsten Sonnenschein. Die bei der Tat anwesenden Gäste befanden sich im Innenraum, wo einige von ihnen von den inzwischen drei Notärzten versorgt wurden, die wegen der kollabierten Gäste herbeigerufen worden waren.
„Was ist hier passiert?“, fragte Auer mehr sich selbst als seine Kollegen.
Corinna, die von allen nur Coco genannt wurde, warf einem der Spurensicherungsbeamten einen fragenden Blick zu und deutete auf die Leiche, die noch immer mit dem Kopf auf dem Salatteller lag.
Mit dem, was von dem Kopf noch übrig ist, korrigierte sich Coco in Gedanken.
„Du kannst ran, ich habe Fotos von allen Seiten gemacht“, sagte der Spurensicherer grinsend. „Viel Spaß mit dem.“
Coco schüttelte verständnislos den Kopf. Auch sie hatte wie ihr Chef Ulf Auer ein Problem mit den Beamten, die an Tatorten lachten oder flapsige Sprüche oder abfällige Bemerkungen über Opfer oder Zeugen machten.
Sie schob diese Gedanken beiseite und widmete sich dem Opfer. Sie ging näher heran und besah sich den Hinterkopf. Das Einschussloch war klein, aber dennoch kaum zu übersehen. Um so erstaunlicher war, was das Projektil beim Austritt angerichtet hatte. Die Kriminaltechnik würde sicherlich aufgrund der Größe der Eintrittswunde etwas zu dem Kaliber oder der Art des Projektils sagen können. Aus den ersten Zeugenaussagen wusste Coco, dass bei dem Schuss auch eine Lampe getroffen worden war. Also blickte sie auf die kläglichen Überreste des Lampions und versuchte, etwas über den möglichen Schusswinkel herauszufinden.
Dazu stellte sie sich mit dem Rücken zur Leiche hinter den Stuhl des Opfers und sah über das kleine Geländer am Rand der Terrasse auf die dahinterliegende Straße. Gedanklich zog sie eine Linie von dem zerstörten Lampion über den geschätzten Ort des Kopfes des zu Lebzeiten noch sitzenden Opfers und kam zu dem Schluss, dass der Schütze eventuell aus einem Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite geschossen haben könnte.
Aber das würden andere noch ganz genau ermitteln.
Sie wandte sich wieder der Leiche zu und befühlte die Taschen der Lederweste des Mannes, wo sich vermutlich seine Geldbörse befand, wenn er sie nicht in der Gesäßtasche trug. In der linken Innentasche wurde sie fündig.
Also dürfte er Rechtshänder gewesen sein, schloss sie aus diesem Umstand.
Sie öffnete die lederne Geldbörse und fand neben etwa zweitausend Euro darin auch den Personalausweis und einen Führerschein. Mit beidem begab sie sich zu Ulf, der sich gerade etwas abseits mit dem Betreiber des Lokals unterhielt.
„Das ist eine Katastrophe“, hörte sie den Mann jammern, „jetzt haben wir gerade die Corona-Lockdowns halbwegs überstanden, und dann so was. Wer kommt denn jetzt noch in mein Ristorante?“
„Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken“, beruhigte Ulf ihn in seiner ruhigen Art, die Coco immer wieder bewundernswert fand, „die Menschen vergessen schneller, als Sie es sich vorstellen können.“
Der Wirt sah ihn zweifelnd an.
„Ich habe hier den Ausweis des Opfers, es handelt sich um einen ...“, begann Coco.
„Signore Mattuschek, Walter Mattuschek“, fiel ihr der Wirt ins Wort. „Walter ist … äh … war Stammkunde bei uns. Er hat regelmäßig hier bei uns gegessen, und der Platz direkt am Rand der Terrasse war sein Stammplatz.“
Ihm kamen die Tränen, und er wandte sich schnell ab. Coco war sich nicht sicher, ob er um den Kunden trauerte oder ihm vielmehr die befürchteten finanziellen Verluste die Tränen in die Augen trieben.
Sie übergab Ulf die Papiere, der einen kurzen Blick darauf warf und dann sagte: „Ich gebe die kompletten Daten an Fisch durch, dann kann er schon mal einen Backgroundcheck machen, was über unser Opfer so in den Datenbanken oder im Netz zu finden ist.“
Fisch war das vierte Mitglied der Mordkommission, ihr Computerexperte und mehr der Mann für den Innendienst. Seinen Spitznamen hatte er vermutlich seinem Nachnamen zu verdanken: Saibling. Klaus Saibling selbst behauptete immer gerne, dass er sich den Spitznamen dadurch verdient habe, dass er sich bisher aus allen Schwierigkeiten wie ein glitschiger Fisch habe herauswinden können, aber Coco vermutete eher, dass er seinen Spitznamen schon als Jugendlicher bekommen hatte, als er sich noch nicht in Schwierigkeiten manövriert hatte.
Und von diesen Schwierigkeiten hatte es in den vergangenen Jahren eine Menge gegeben. Fisch nahm es nicht sehr genau mit Vorschriften und verstieß auch schon mal gegen Gesetze, wenn es der Sache diente und er nicht lange auf Genehmigungen oder Beschlüsse warten wollte, sondern sich durch das Hacken von Banken, Firmen und Behörden die Informationen einfach auf dem „kurzen Dienstweg“ besorgte.
Mehrfach waren gegen ihn Disziplinarverfahren eingeleitet worden, aber alle waren ins Leere gelaufen, weil er es wie kein Zweiter verstand, keine Spuren zu hinterlassen oder sie zumindest geschickt zu verwischen.
Wenn jemand alles Interessante über diesen Mattuschek herausfinden würde, dann Klaus Saibling.
Coco sah den Wagen eines Bestattungsunternehmens vorfahren und sprach Ulf an: „Können wir den Leichnam schon abtransportieren lassen?“
„Sprich bitte noch mit der Spurensicherung, und wenn die nichts dagegen haben, dann kann er nach Mainz in die Gerichtsmedizin überführt werden.“
Coco wandte sich ab und machte sich auf die Suche nach dem Leiter der Spurensicherung, um die Freigabe für den Abtransport einzuholen. Sollte die Leiche noch heute Abend nach Mainz gehen, dann war Coco sich sicher, dass sie schon am Vormittag des kommenden Tages erste Erkenntnisse vom Leiter der Mainzer Gerichtsmedizin, der ein Freund von Ulf Auer war, erhalten würden.
Polizeipräsidium Koblenz,
Büro der Mordkommission, 23:15 Uhr
Duben, Coco und Ulf waren zusammen in einem Fahrzeug unterwegs gewesen, weshalb sie auch gemeinsam eintrafen und Klaus Saibling an der Kaffeemaschine vorfanden, wo er sich gerade einen Cappuccino zubereitete.
„Ah, die Herrschaften sind von ihrem kleinen Ausflug zurück. Schön, dann steht ja einem Feierabend noch am heutigen Tag kaum etwas im Weg. Ich habe einige Infos für euch, über die könnt ihr dann eine Nacht schlafen, damit wir morgen mit frischem Elan an die Arbeit gehen können.“
Ulf war sich nicht sicher, ob er diese Aussage so stehen lassen sollte, aber letztendlich kam es auf die Informationen an. Also begab er sich selbst zur Kaffeemaschine, machte sich eine Tasse und setzte sich dann an den kleinen Besprechungstisch.
Der Kellerraum, in den die Mordkommission schon vor Jahren verbannt worden war, weil Ulf sein loses Mundwerk nicht hatte halten können und grundsätzlich auch Vorgesetzten sagte, was er von ihnen hielt, war geräumig und inzwischen sehr funktional ausgestattet. Dank der Erfolge der letzten drei Jahre hatte der Polizeipräsident Ulf und seiner Mordkommission zwar schon mehrfach angeboten, wieder in eine höhere Etage umzuziehen, aber sein Team war sich einig gewesen, in diesem Großraumbüro bleiben zu wollen.
Bis vor sechs Wochen hatten sie noch zu fünft hier gesessen, aber dann war der Kollege Harry Kruse mit achtundfünfzig Jahren aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand gegangen, und bis jetzt hatte Ulf sich noch nicht entscheiden können, wen er als Ersatz in seine Mordkommission holen wollte. Er schob die Entscheidung vor sich her, denn die Mitarbeiter, die sein unmittelbarer Vorgesetzter, Kriminaloberrat Wasgau, ihm hatte aufdrücken wollen, hatte er zum Glück bisher noch alle ablehnen können. Aber er befürchtete, dass er das nicht bis in alle Ewigkeit würde fortsetzen können. Und letztendlich fehlte auch die zusätzliche Arbeitskraft, gerade nun, wenn es vielleicht umfangreiche Ermittlungen zu tätigen galt.
„Also“, begann Fisch gerade und lenkte damit Ulfs Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt, „unser Opfer ist kein Unbekannter, weder in Koblenz noch im Polizeipräsidium.“
Spätestens ab dieser Aussage hörten alle aufmerksam zu.
„Mattuschek ist, respektive war, ein recht gut verdienender Spediteur, dessen Spedition etwa fünfundzwanzig Kleintransporter und zwölf Lkw für sich fahren lässt. Er war schon eine große Nummer, zumindest in seinem Stadtteil, zu Gast auf allen großen Events und öfter auch mal in der Zeitung als Sponsor verschiedener Sportvereine. Aber so richtig bekannt, vor allem in den polizeilichen Datenbanken und Akten, ist er erst seit einer Woche, denn gestern wurde er festgenommen und kam dann heute aus der U-Haft wieder in Freiheit.“
Ulf konnte sich nicht zurückhalten. Er hatte sich nach vorne gelehnt und sah Fisch direkt an.
„Weshalb? Und bitte kein langes Drumherum-Gerede“, forderte er seinen Mitarbeiter auf, der dazu neigte, es über die Gebühr spannend zu machen.
„Ich sag’s ja schon“, erwiderte Fisch mit einem leicht beleidigten Unterton, „er wurde gestern wegen des Verdachts des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie festgenommen. Sein Haus wurde durchsucht, alle Computer sichergestellt, und ich denke mal, bei ihm zu Hause brauchen wir auf keinen Fall sehr dringlich vorbeizuschauen. Wir müssen uns nur bei den Kollegen von der Sonderkommission ‚Pädo‘ der Sitte die Akten besorgen.“
„Wow“, sagte Coco, bevor Ulf reagieren konnte, „da tun sich natürlich sofort zahllose Verdächtige auf, die ein Motiv haben könnten.“
Diesbezüglich musste Ulf ihr recht geben. Mutmaßliche Täter im Bereich des Kindesmissbrauchs waren nicht nur beliebte Opfer der Presse, sondern erst recht bei diesen „Law and Order“-Typen, die schon seit Jahren härtere Strafen für Täter in diesem speziellen Deliktbereich forderten.
„Nun gut“, stellte Ulf schließlich fest, „das schränkt das, was wir überhaupt noch heute Nacht tun könnten, natürlich erheblich ein. Hat er Angehörige?“
Fisch schüttelte den Kopf.
„Eine geschiedene Frau, die mit der achtzehnjährigen Tochter seit zwei Jahren in Hamburg lebt. Ansonsten gibt es niemanden mehr. Die Eltern sind vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben.“
Bei dieser Ausgangslage musste Ulf nicht lange nachdenken. Man sollte die Arbeitszeit nicht endlos ausdehnen, wenn es keine dringlichen Ermittlungsschritte gab.
„Dann war’s das für heute. Lasst uns Schluss machen und morgen früh mit frischer Kraft an die erforderlichen Ermittlungen gehen.“
Alle nickten zustimmend und machten sich auf den Heimweg.
Tag 2 – Montag, 14.08.2023
Büro der Mordkommission, 07:45 Uhr
Coco war wie fast jeden Morgen die Erste im Büro. Sie mochte es, wenn der Tag ruhig begann, sie ihren ersten Kaffee vor der morgendlichen Besprechung trinken und sich dann gewappnet fühlen konnte, für alles, was der Tag an Überraschungen bereithalten mochte.
Sie saß mit ihrem Kaffee an ihrem Schreibtisch und genoss die Zeit, vermutlich noch eine Viertelstunde, bis gegen acht Uhr die anderen auftauchen würden. Doch da ging die Tür nach einem kurzen Anklopfen auf.
Coco drehte sich zur Tür und stellte überrascht ihre Tasse ab. Dort stand eine junge, ihr unbekannte Frau.
„Entschuldigung“, sprach sie die Frau, die sie auf Mitte zwanzig schätzte, an, „wie kommen Sie hierher? Ich habe keine Anmeldung von der Wache bekommen, und diese Räume sind für unangemeldete Besucher nicht zugänglich.“
„Oh, entschuldige“, lachte die junge Frau auf und zeigte ein nicht unsympathisches Lächeln. „Ich dachte, ich wäre eine bekannte Größe im Polizeipräsidium. Aber wir haben uns ja noch nie getroffen.“
Coco war aufgestanden und kam der Frau, bei der es sich anscheinend um eine Kollegin handelte, entgegen.
„Ich ... äh ...“, sie war sich einen Moment unschlüssig, ob sie das Offensichtliche sagen sollte.
„Ach ja, nochmals Entschuldigung“, lachte die Frau wieder auf und zog einen Dienstausweis aus der Tasche, den sie Coco entgegenhielt.
„Selma Lakatos, Kriminaloberkommissarin Lakatos, aber die meisten nennen mich Sally, zumindest bei uns in der Sitte. Nett, dich mal kennenzulernen, ich habe ja schon viel über dich gehört.“
Sie streckte Coco eine Hand entgegen, die diese ergriff und drückte. Während Coco den festen Händedruck erwiderte, sah sie sich die Kollegin genauer an.
Wenn sie bereits Oberkommissarin war, musste sie älter sein, als sie aussah. Nicht nur der Name, sondern auch der etwas dunklere Teint, die langen, kastanienbraunen Locken und die fast schwarzen Augen legten eine südländische Abstammung nahe. Sie war einige Zentimeter größer als Coco, also etwa eins achtzig, und hatte eine wesentlich weiblichere Figur als sie selbst.
Aber Coco wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen und die Kollegin zu Privatem ausfragen. Vielmehr interessierte sie, warum die Kollegin von der „Sitte“ die Räumlichkeiten der Mordkommission zu so früher Morgenstunde aufgesucht hatte.
„Was führt dich zu uns oder besser gesagt, was kann ich für dich tun?“, fragte sie stattdessen und wies auf die kleine Sitzgruppe.
„Oh“, Selma sah sie mit großen Augen an, was Coco dazu veranlasste, selbst stehen zu bleiben.
„Ich dachte“, fuhr Selma fort, „die Nachricht wäre im Auftrag von KHK Auer erfolgt, und die Mitglieder der MK wüssten Bescheid, dass ich heute hier aufschlage.“
Sie hat eine wirklich dunkle, rauchige, aber sehr angenehme Stimme, dachte Coco, noch bevor ihr die Bedeutung dessen, was ihre Kollegin gesagt hatte, richtig bewusst wurde. Sie sah die junge Frau etwas ratlos an.
„Nun“, fuhr Selma, nun etwas verunsichert klingend, fort, „ich habe heute Morgen um sieben Uhr dreißig eine Mail vom Kollegen Saibling vorgefunden, dass ihr die Leiche von Walter Mattuschek gefunden habt, und die Anfrage, ob ich vielleicht mit Informationen behilflich sein könnte. Ist euer Chef so eine Art Geheimniskrämer, der seine Leute über seine Pläne und Vorhaben im Unklaren lässt?“
Sie hatte sich inzwischen an den kleinen Besprechungstisch gesetzt und sah mit deutlichem Interesse auf die dort platzierten Tassen, Zuckerdosen und Süßstoffbehälter.
„Oh ... äh … sorry, wie unhöflich von mir, aber möchtest du einen Kaffee?“, beeilte Coco sich zu fragen.
Selma nickte, und noch während Coco ihr eine Tasse Kaffee machte, beantwortete sie die Frage nach Ulf.
„Nein, Ulf ist normalerweise nicht so geheimnisvoll, und ich denke, er wird von deinem Besuch genauso überrascht werden wie ich. Das ist so ein typischer Alleingang von Fisch, der hat vermutlich mal wieder, in vorauseilendem Gehorsam und ohne zu fragen auf eigene Faust gehandelt.“
Als sie den fragenden Blick bemerkte, war sie einen Moment verwirrt, bis ihr dämmerte, was ihn verursacht hatte.
„Ach so, ja, also Fisch, äh, das ist der Spitzname unseres Computergenies Klaus Saibling, also des Typen, der dir so voreilig die Nachricht gesendet hat.“
Noch bevor Selma darauf reagieren konnte, öffnete sich die Tür, und wie auf ein Stichwort traten Gerd Duben, Fisch und Ulf Auer ein, die sich vermutlich schon auf dem Flur getroffen hatten.
Büro der Mordkommission, 08:10 Uhr
Sie saßen nun seit fünfzehn Minuten kaffeetrinkend an dem Besprechungstisch und tauschten Informationen aus.
Ulf war anfänglich ein wenig sauer gewesen, dass Fisch, ohne es vorher mit ihm abzusprechen, Kontakt zur Sonderkommission des Sittendezernats aufgenommen hatte, aber schon nach wenigen Minuten war er ihm dankbar. Sally, wie Selma auf ihren Wunsch hin genannt werden wollte, war ein fast unerschöpflicher Quell von Informationen, was das Mordopfer im Speziellen und die Szene und das Umfeld der Pädophilen im Besonderen anging.
Sie berichtete von der Durchsuchung bei Mattuschek, die aufgrund von Kenntnissen, die ein Hacker in Mattuscheks Computer gefunden hatte, durchgeführt worden war. Sie schilderte ihre Überzeugung, dass ihr Mordopfer nach bisherigen Erkenntnissen nicht nur ein Händler mit diesen unsäglichen Bildern und Videos in den verschiedenen Tauschbörsen des Darknets, sondern auch ein aktiver Pädophiler gewesen sei.
Fisch wollte sofort Näheres zu dem Hacker wissen, aber Ulf gebot ihm mit einer Handbewegung zu warten, denn er hatte andere und seines Erachtens vordringlichere Fragen.
„Wie kam es dazu, dass Mattuschek schon einen Tag nach seiner Festnahme wieder auf freiem Fuß war?“
Sally verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Das ist diesem Staranwalt Rossi zu verdanken, dem natürlich sofort nach Erhalt von Akteneinsicht aufgefallen ist, dass der ursprüngliche Hinweis eben auf nicht ganz legale Weise erlangt worden war. Da noch nicht geklärt war, ob die bei der Durchsuchung aufgefundenen Beweise überhaupt verwertet werden können, musste Mattuschek aus der U-Haft entlassen werden.“
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt, nachdem er ja ermordet wurde, weitergehen wird.“
Das war der Moment, in dem Ulf seine bereits festgelegte Marschroute darlegen wollte.
„Ich werde gleich mit der Staatsanwaltschaft telefonieren, damit wir einen rechtssicheren Beschlagnahmebeschluss für alles bekommen, was jetzt noch bei euch in der Soko lagert. Es ist ja als Möglichkeit nicht auszuschließen, dass die Tat etwas mit seiner Vorgeschichte als Pädophiler zu tun hat. Also werden wir die Sachen“, er blickte zu Sally und zwinkerte ihr zu, „vorausgesetzt, die Soko-Leitung ist einverstanden, zu uns verlagern oder Fisch wird sie bei euch untersuchen. Das wäre dann auch meine Bitte an dich, dass du mit der Leitung der Soko sprichst, wie man es dort sieht.“
„Ich komm auch gerne mit“, mischte Fisch sich ein, und man merkte ihm an, dass er begeistert war von der Aussicht, die gut aussehende Kollegin dorthin zu begleiten, „dann kann ich mir ja schon mal ansehen, was da auf uns zukommt.“
Ulf konnte ihm ansehen, dass die Begutachtung der sichergestellten Computer nicht der einzige Grund war, die Kollegin zu begleiten.
Eigentlich wäre es ja mal an der Zeit, dass Fisch auch eine Freundin abbekommt.
Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Die Kollegin Lakatos machte auf ihn bereits nach den wenigen Worten, die er von ihr gehört hatte, einen wirklich kompetenten und intelligenten Eindruck. Hinzu kam, dass sich die Mordkommission in der Pädophilenszene nicht auskannte, viele Hintergründe unbekannt waren und seiner Truppe sowieso eine Person fehlte. Er musste nicht lange überlegen und machte sofort Nägel mit Köpfen.
„Sally, das mag jetzt vielleicht ein wenig überraschend kommen, aber könntest du dir vorstellen, uns bei diesem Fall zu unterstützen, quasi als zeitlich befristetes Mitglied der Mordkommission? Ich würde das, dein Einverständnis vorausgesetzt, selbstverständlich mit der Soko-Leitung abklären.“
Er blickte Sally abwartend an, die überrascht die Augen aufgerissen hatte. Es dauerte nicht lange, bis ein Strahlen ihr Gesicht erhellte.
„Aber klar doch, selbstverständlich, nur zu gerne“, stieß sie lachend hervor. „Dann gehe ich jetzt mit Fisch rauf, und wir schauen mal, wie wir das mit den Computern machen, wenn das für euch okay ist?“
Sie blickte fragend in die Runde, Fisch nickte heftig, und Ulf bestätigte ihr grinsend: „Ja klar, aber eines noch ... haltet euch nicht zu lange auf, ich möchte in einer halben Stunde oder Stunde mit Coco nach Mainz in die Gerichtsmedizin fahren und das wäre doch eine gute Gelegenheit, dass wir uns besser kennenlernen. Wenn du also nichts dagegen hast, wäre es vielleicht eine gute Idee, wenn du, Sally, uns auf der Fahrt begleiten könntest. Wie siehst du das?“
Obwohl sie bei dem Wort Gerichtsmedizin ein wenig zusammengezuckt war, erkannte Ulf sofort, dass sie sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen wollte. „Natürlich, nur zu gerne.“
Das bezweifelte Ulf zwar, angesichts der Aussicht, die Ergebnisse einer Obduktion mit eigenen Augen sehen zu müssen, aber er ließ sich nichts anmerken.
„Gut“, fuhr sie fort, „dann gehe ich mal mit Fisch zu unseren Leuten.“
Sie stand auf und machte sich eilig auf den Weg. Fisch sprang ebenfalls auf und beeilte sich, ihr zu folgen.
Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Gerd Duben, der Ulf schon die ganze Zeit sehr schweigsam vorgekommen war, das Wort an ihn richtete.
„Du weißt aber schon, wer sie ist, oder?“
Ulf sah ihn überrascht an, denn er hatte keine Ahnung, was sein Freund Gerd andeuten wollte. Sie kannten sich schon so lange, und er war glücklich darüber, dass Gerd vor zwei Monaten seinen alten Dienstgrad als Kriminalhauptkommissar zurückerhalten hatte, der ihm vor Jahren wegen eines Alkoholexzesses und eines in dessen Verlauf zerstörten Dienstwagens entzogen worden war. Es war nicht zuletzt Dubens guter Arbeit der letzten Jahre, aber auch seiner, Ulfs, Intervention bei der Leitungsebene des Polizeipräsidiums zu verdanken, dass er wieder in den alten Stand erhoben worden war.
Gerade nun hatte Ulf aber tatsächlich nicht die geringste Ahnung, welche Vorbehalte Gerd gegen die Kollegin haben könnte.
„Nein, das weiß ich nicht, Gerd. Aber ich denke, du wirst mir gleich erzählen, was es über die Kollegin zu wissen gibt. Täusche ich mich oder hast du Vorbehalte gegen sie? Wenn ich damit richtigliege, dann würde ich die gerne hören.“
Diese Ansage war Duben nun sichtlich peinlich. Er hatte selbst eine sehr lange Zeit mit Vorbehalten gegen seine Person zu kämpfen gehabt, denn viele Kolleginnen und Kollegen waren der Ansicht, dass ein Alkoholiker, selbst ein trockener Alkoholiker, nichts bei der Polizei und schon gar nichts bei der Mordkommission verloren hatte. Umso gespannter war Ulf, was er über Sally zu erzählen hatte.
„Nun ja“, begann Gerd nun ein wenig zögerlich, „äh, ... nicht, dass es mir etwas ausmacht, also, versteht mich nicht falsch, ich persönlich sehe das wirklich völlig anders, aber ...“
Ulf war extrem neugierig darauf, was es da so Interessantes zu berichten gab, was seinen Freund Gerd dazu veranlasste, so um den heißen Brei herumzureden, und auch Coco hatte sich interessiert nach vorne gebeugt.
Autobahn 61, 10:20 Uhr
Da Ulf bereits im Vorfeld der Fahrt angekündigt hatte, sich auf dem Weg nach Mainz mit Sally unterhalten zu wollen, hatte Coco sich freiwillig auf den Rücksitz gesetzt, um Ulf die „Befragung“ der Kollegin zu erleichtern.
Sie war sehr gespannt, wie sensibel Ulf die überraschenden Erkenntnisse von Gerd Duben ansprechen würde, aber auch, wie Sally auf diese Ansprache reagierte. Da sie sich hinter Ulf gesetzt hatte, konnte sie zumindest teilweise Sallys Gesicht sehen, wenn diese sich beim Sprechen ein wenig Ulf zuwandte.
Sie hatten noch keine zehn Kilometer der gerade mal hundert Kilometer langen Strecke zurückgelegt, als Ulf das „Interview“ einleitete.
„So, Sally, jetzt wo wir so nett unterwegs sind, wäre es vielleicht an der Zeit, ein wenig mehr über dich zu erfahren. Wenn ich dich richtig einsetzen soll bei den kommenden Ermittlungen, wäre es vorteilhaft, wenn ich etwas mehr über dich, deinen Werdegang, deine bisherigen Einsatzgebiete und vielleicht auch ein paar Informationen über deine Vorlieben, Fähigkeiten, Stärken, aber auch Schwächen erfahren würde.“
Ulf blickte kurz von der Straße weg zu der rechts neben ihm sitzenden Sally. „Und, wie sieht es aus? Erzähl uns ein wenig über dich.“
Die Reaktion der Kollegin war völlig anders, als Coco es erwartet hatte. Sie lachte laut und herzlich auf, als amüsierte sie sich königlich über Ulfs Frage. Aber sie beruhigte sich auch sehr schnell wieder und antwortete: „Das ist so ziemlich die netteste und unauffälligste Art, mich zu fragen, ob das denn alles so stimmt, was im Präsidium über mich erzählt wird, die ich bisher gehört habe.“
Sie drehte sich halb nach hinten, sodass sie Coco grinsend ins Gesicht sehen konnte, als sie fortfuhr: „Glaubt nicht, ich hätte Dubens Blicke nicht bemerkt, als ich in eurem Büro saß. Mir war schon klar, dass er die Gerüchte über mich gehört und sie euch brühwarm weitergegeben hat, während ich mit Fisch zur Sitte unterwegs war. Aber ich habe damit kein Problem und erzähle euch gerne, was es mit mir auf sich hat.“
Alle Achtung, die geht aber locker damit um, dachte Coco und war gespannt, wie viel von dem, was Gerd erzählt hatte, der Wahrheit entsprach und was vom Flurfunk ausschmückend hinzugefügt worden war.
„Ja, es stimmt“, fuhr Sally noch immer lächelnd fort, „ich bin eine Romni, aber ich lebe weder in einem Wohnwagen noch habe ich Verwandte beim Zirkus, und ich reagiere auch nicht extrem empfindlich auf das Wort Zigeuner. Ich habe auch zu keiner Zeit meiner mir angedichteten kriminellen Sippe irgendwelche Dienstinterna weitergegeben. Ich bin in Koblenz geboren, aufgewachsen, habe mein Abitur auf dem Max-von-Laue-Gymnasium gemacht und bin direkt danach in die Ausbildung bei der Polizei gegangen. Mit einundzwanzig habe ich die Ausbildung abgeschlossen, war dann zunächst ein paar Jahre bei der Schutzpolizei und bin schließlich mit fünfundzwanzig zur Kripo gewechselt. Nach einem kurzen Gastspiel im Drogendezernat habe ich auf eigenen Wunsch vor drei Jahren zur Sitte gewechselt. Aber es ist kein großes Geheimnis – ich habe es Fisch übrigens auch schon gestanden –, dass ich mich im letzten halben Jahr in der ‚Soko Pädo‘ nicht mehr wohlgefühlt habe und mich nach einem anderen Arbeitsbereich umsehen wollte.“
Ihr Gesicht hatte einen deutlich härteren Zug angenommen, als sie ergänzte: „Die Belastung durch diese unsäglichen Bilder und noch viel schrecklicheren Filme von missbrauchten Kindern werde ich nicht viel länger aushalten können.“
Sie schüttelte sich kurz, als wollte sie die Gedanken verscheuchen.
„Aber das ist nicht das, was euch wirklich interessiert, oder? Was wisst ihr über die Volksgruppe der Sinti und Roma?“
Bei dieser Frage hatte sie die Augenbrauen nach oben gezogen und blickte abwechselnd von Ulf an ihrer Seite zu Coco nach schräg hinten.
Coco musste sich zusammenreißen, um nicht unverschämt zu grinsen. Das Erste, was sie nach Gerds Erzählungen der vielen Gerüchte über KOKin Lakatos gemacht hatte, war, mit ihrem Smartphone die Begriffe „Sinti“ und „Roma“ zu googeln.
„Na ja“, begann sie wie beiläufig, „als Sinti oder Roma bezeichnet man die Mitglieder einer in Mitteleuropa lebenden und fast immer auch dort geborenen Volksgruppe, die hier seit über sechshundert Jahren angesiedelt ist, von der es aber auch Mitglieder in der östlichen und weiter westlichen Welt gibt. Sie haben keine eigene Religion, sondern gehören meist den Religionen der jeweiligen Länder an, in denen sie geboren werden. Die in Deutschland geborenen Sinti oder Roma sind überwiegend Christen, haben teilweise deutsche oder wenigstens europäische Namen und sind ... na ja, sie sind Deutsche mit unterschiedlich lang zurückliegendem Migrationshintergrund. So weit alles richtig?“
Bei den letzten Worten hatte Coco grinsen müssen, da ihr der offen stehende Mund der Kollegin aufgefallen war.
„Das ... das hast du gegoogelt, oder?“, brachte Sally mühsam hervor.
Coco lachte kurz auf. „Schuldig im Sinne der Anklage. Sorry, aber ich war einfach zu neugierig. Was ich allerdings nicht habe herausfinden können, ist, woher dein Nachname stammt. Die Zeit hat nicht gereicht, das auch noch herauszufinden. Kommen deine Vorfahren aus Griechenland?“
„Nein“, lachte Sally auf, „ich bin eine entfernte Nachfahrin des ungarischen Schriftstellers Menyhért Lakatos, aber ich weiß nicht, wo dessen Vorfahren herkamen, vielleicht sogar aus Griechenland. Ich muss tatsächlich gestehen, dass ich nie wirklich an der noch weiter zurückliegenden Geschichte meiner Leute interessiert war. Was ich immer noch ganz lustig finde, ist, dass unter den etwa siebzigtausend Sinti und Roma in Deutschland einige sehr bekannt sind, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung weiß, welcher Volksgruppe sie angehören.“
Das überraschte Coco, aber sie hatte auch nicht ausreichend Zeit gehabt, alle Aspekte dieses ihr bisher eher unbekannten Themas zu recherchieren. „Das ist interessant. Wer zum Beispiel?“
Sally grinste. „Um nur zwei zu nennen, die du mit Sicherheit kennst, sind da Marianne Rosenberg oder Drafi Deutscher, also der, der ‚Marmor, Stein und Eisen bricht‘ komponiert und gesungen hat. Der hat übrigens auch ungarische Vorfahren, wie ich. Und wenn du außerhalb von Deutschland schaust, dann wird dich sicherlich überraschen, dass sowohl Elvis als auch Charlie Chaplin Sinti waren beziehungsweise von ihnen abstammten.“
Coco war ehrlich überrascht. „DER Elvis? Also, Elvis Presley? Ehrlich?“
„Ihr wisst schon“, schaltete sich Ulf in die Unterhaltung ein, „dass ich nicht nur der Chauffeur bin, sondern gleichzeitig euer Chef. Also tut nicht so, als gäbe es mich nicht.“
Sein Grinsen hatte seiner Bemerkung die Schärfe genommen, und Coco konnte ihm ansehen, dass er sich königlich amüsierte.
Hat er das alles schon gewusst?
Es wäre nicht ungewöhnlich für Ulf, wenn er diese Informationen nicht das erste Mal gehört hätte.
Gerichtsmedizinisches Institut der
Universität Mainz, 11:30 Uhr
Ulf hatte Sally ein wenig vorbereitet, da sie angesichts ihrer Körpergröße von eins achtzig vielleicht ein wenig zu heftig reagiert hätte, wenn sie das erste Mal seinem Freund, Professor Werner Mangel, der nur eine Körpergröße von eins fünfundvierzig aufwies, begegnete.
Der Leiter der Gerichtsmedizin litt nicht im Mindesten unter dieser körperlichen Eigenschaft, sondern hatte im Gegenteil ein so großes Ego, dass es ihm nichts ausgemacht hatte, seinen ursprünglichen Familiennamen trotz der körperlichen Kleinheit in „Mangel“ zu ändern. Was nur wenige Menschen wussten, war der Umstand, dass der Professor als Werner Mengele, ein Enkel des berüchtigten KZ-Arztes Dr. Josef Mengele, geboren worden war.
Noch kurz vor dem Erhalt seines Doktortitels hatte er seinen Familiennamen geändert, weil er nach eigenem Bekunden verhindern wollte, „dass es noch einmal einen Dr. Mengele gibt“. Aber das war ein Geheimnis zwischen seinem Freund Ulf und ihm, und selbst im Institut wusste nach Ulfs Kenntnis niemand von Mangels wirklichem Geburtsnamen.
Als sie Professor Mangels Büro nach einem lauten „Herein!“ betraten, sprang Mangel von seinem Bürostuhl hinter dem Schreibtisch „herunter“ und eilte auf Ulf und die beiden jungen Damen zu. Er würdigte Ulf keines Blickes und ergriff als Erstes Cocos Hand.
„Liebste Coco“, rief er erfreut, während er ihr einen angedeuteten Kuss auf den Handrücken hauchte, „was freue ich mich, dass Sie es wieder mal geschafft haben, mich in diesen traurigen Hallen zu besuchen, selbst wenn der Anlass wie meist kein schöner ist.“
Dann wandte er sich Sally zu, musterte sie unauffällig von oben bis unten und richtete die Frage an Ulf: „Und wen hast du mir da noch mitgebracht? Eine neue Kollegin, wie ich vermute. Ich muss sagen, du hast einen leichten Hang, dich mit hübschen jungen Damen zu umgeben.“ Bei dieser Bemerkung umspielte ein leicht spöttisches Lächeln seine Lippen.
An Sally gerichtet fragte er mit seiner beeindruckenden Bassstimme: „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Kriminaloberkommissarin Selma Lakatos, aber Sie dürfen mich Sally nennen, Herr Professor“, antwortete sie lächelnd, und Ulf konnte erkennen, dass sein Freund auf Anhieb sehr angetan war.
Mangel blickte sie kurz mit prüfendem Blick an, bevor seine Augenbrauen überrascht nach oben wanderten.
„Oh, ich bin überrascht. So viel Größe hätte ich dem Polizeipräsidium Koblenz gar nicht zugetraut.“
Als er Sallys überraschten und unsicheren Blick in Richtung Ulf bemerkte, beeilte er sich zu ergänzen: „Ich meine selbstverständlich nicht Ihre beachtliche Körpergröße, sondern die Tatsache, dass es in den Reihen der vielen cleveren Polizeibeamtinnen nun auch eine Romni gibt. Sie müssen wirklich gut sein, wenn Sie es mit dieser Vorgeschichte und in Ihrem Alter schon zur Oberkommissarin geschafft haben.“
Er lachte auf, als er Sallys völlig verblüfften Blick sah. Ulf musste ebenfalls lachen, als sie sich zu ihm umdrehte und fragte: „Habt ihr ihn ... ich meine ... habt ihr den Professor vorgewarnt?“
Ulf hob abwehrend beide Hände.
„Nein, ganz gewiss nicht, aber mein Freund Werner liebt es, junge Damen mit seinem Wissen oder zumindest mit Vermutungen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit aufweisen, zu verblüffen. Stimmt’s, Werner?“
Mangel kicherte leise.
„Na ja, ich gestehe, es war etwas mehr als nur ein Schuss ins Blaue, aber ich sah die Wahrscheinlichkeit als doch groß genug an, dass ich es einfach versuchen musste.“
„Aber ... wie ...?“, fragte Sally noch immer völlig verunsichert.
„Nun ja, junge Dame, ganz so schwer war das ja nun wirklich nicht. Zum einen ist mir der ungarische Schriftsteller Menyhért Lakatos natürlich ein Begriff, und nimmt man dann noch Ihre Physiognomie, dem Teint Ihrer Haut, die dunklen Augen und so ein paar Kleinigkeiten dazu, dann lag die Schlussfolgerung wirklich sehr nahe.“
Sally nickte anerkennend.
„Alle Achtung, Herr Professor, ich bin beeindruckt. Wenn Ihre Fähigkeiten als Gerichtsmediziner vergleichbar überragend sind, dann wundert es mich nicht, dass Sie der Leiter dieses Instituts sind.“
„Ulf“, richtete Mangel wieder das Wort an ihn, „ich bin immer wieder angetan von deinem glücklichen Händchen bei der Auswahl deiner Mitarbeiterinnen. Du bist wahrlich ein Meister, wenn es darum geht, sich mit den richtigen Menschen zu umgeben. Aber ...“, er wurde wieder ernst, „... das ist ja nicht der Grund, warum ihr mich besucht. Der eigentliche Grund liegt nun inzwischen in meinem Sektionsraum und wartet darauf, dass ich ihn euch zeige und ein paar Erläuterungen zu seiner so unrühmlichen Verabschiedung aus dem Leben gebe. Folgt mir!“
Sofort nach diesen Worten drehte er sich um und eilte in einer Geschwindigkeit voran, die man dem Mann nicht zugetraut hätte. Er verließ sich ganz offensichtlich darauf, dass die anderen ihm folgten, denn er drehte sich nicht einmal mehr um.
Sektionsraum, 11:45 Uhr
„Nun“, kommentierte Mangel, während er das hellgrüne Leinentuch, das den Leichnam vollständig bedeckte, vom Kopf bis zum Bauchnabel nach unten zog, „wie Sie sehen, sehen Sie ... nicht mehr viel.“
Coco war inzwischen ziemlich abgehärtet, was das Betrachten von schrecklich zugerichteten Leichen anging. Zudem hatte sie ja die zweifelhafte Ehre gehabt, das Opfer schon am Tatort betrachten zu dürfen. Allerdings sah eine gewaschene und gesäuberte Leiche oft wesentlich schlimmer aus als ein Opfer am Tatort, wo Blut meist noch viele der grausamen Details überdeckte.
Aber sie beobachtete zuallererst Sally, um ihre Reaktion auf die entstellte Leiche mitzubekommen.
Und tatsächlich: Trotz ihres dunkleren Teints wurde sie merklich blasser, als sie das zerstörte Gesicht des Opfers zum ersten Mal live und in Farbe sah. Darauf hatten sie die Fotos vom Tatort, die sie selbstverständlich in der Zentrale der MK bereits betrachtet hatte, nicht vorbereiten können.
Aber sie hält sich gut, das muss man ihr lassen.
Coco kannte ihre Vorgeschichte nicht und wusste deshalb auch nicht, was Sally schon an Schrecklichem hatte sehen müssen, vielleicht Unfälle mit schrecklich verstümmelten Opfern während der Zeit bei der Schutzpolizei, aber vielleicht auch schon die Opfer von Verbrechen.
Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die Erklärungen des Professors gelenkt, der nach dem Abdecken der Leiche zu reden begonnen hatte.
„Ich denke, ich hätte ihn gar nicht so weit aufdecken müssen, denn der Körper weist keinerlei Verletzungen auf, außer einem fehlenden Finger an der rechten Hand, der aber nicht todesursächlich war. Also konzentrieren wir uns auf den Kopf, der zugegebenermaßen ziemlich gelitten hat. Damit kommen wir auch schon zur Todesursache, die allerdings auch wirklich jeder medizinische Laie hätte feststellen können.“
Er lachte kurz und trocken auf.
„Ohne Gehirn lebt es sich einfach schlecht, obwohl da draußen in unserer immer verrückter werdenden Welt genügend Menschen herumlaufen, die das Gegenteil zu beweisen versuchen.“
Coco war sein teilweise skurriler Humor nicht unbekannt und auch nicht die Tatsache, dass er bei der Darstellung seiner Ergebnisse immer einen ihm lustig erscheinenden Kommentar abgab. Diesmal musste sogar sie schmunzeln, und sie sah, dass es Ulf nicht anders erging.
Lediglich Sally hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und kämpfte deutlich sichtbar noch immer mit der aufkommenden Übelkeit.
„Ich darf“, fuhr der Professor fort, „eure Aufmerksamkeit auf den Hinterkopf lenken.“
Er stellte sich auf einen kleinen Schemel, um sich mit dem Oberkörper halb über den Tisch legen zu können. Dann packte er die Leiche an einer Schulter und drehte sie auf die Seite, sodass man den inzwischen rasierten Hinterkopf sehen konnte.
„Dieses kleine Einschussloch zeigt recht deutlich, dass es sich bei dem Projektil um ein relativ kleines Kaliber gehandelt hat. Klein allerdings nur, was den Durchmesser angeht. Betrachtet man dagegen das recht desaströse Ergebnis auf der Vorderseite des Kopfes, kommt man zu dem Schluss, dass die benutzte Patrone im Gegensatz dazu ziemlich groß gewesen sein muss. Es hat sich also bei der verwendeten Waffe auf keinen Fall um ein Kleinkalibergewehr gehandelt, wie es von Sportschützen verwendet wird. Ich tippe eher ...“
„... auf ein Präzisionsschützengewehr vom Kaliber 8,6 x 70 mm, also etwas kleiner als unsere 9-mm-Pistolenmunition“, ergänzte Sally seinen angefangenen Satz.
Alle Augen richteten sich überrascht auf sie.
Während Mangel lediglich nickte, stellte Ulf die offensichtliche Frage: „Du kennst dich aus? Woher?“
Die neue Aufmerksamkeit schien Sally ein wenig peinlich zu sein, und sie war offensichtlich der Meinung, sich entschuldigen zu müssen, bevor sie antwortete.
„Es tut mir leid, wenn ich ein wenig vorlaut war, aber ich hatte mich mal für ein SEK beworben und sogar den Aufnahmetest gemacht. Leider war ich dann doch nicht ... na, sagen wir mal, sportlich genug. Aber im Vorfeld habe ich mich intensiv mit den Aufgaben solcher Einheiten beschäftigt. Dazu zählen eben auch die PSK, also Präzisionsschützenkommandos, die zum Beispiel auch den finalen Rettungsschuss bei Geiselnahmen abgeben. Da bleibt es dann nicht aus, dass man sich mit den dort benutzten Waffen und der Munition beschäftigt. Dabei habe ich auch Bilder gesehen, was die in diesen Präzisionsgewehren eingesetzte Munition so anrichten kann. Ich denke mal, dass diese tödliche Verletzung bei unserem Opfer typisch ist für genau solche Munition.“
Nach dieser ausführlichen Erläuterung standen zumindest Ulf und Coco sprachlos da und starrten die Kollegin an.
Professor Mangel hingegen hatte ein breites Grinsen aufgesetzt und klatschte langsam in die Hände.
„Bravo. Eine absolut zutreffende Beobachtung. Ich habe vergleichbare Verletzungen bisher ebenfalls lediglich bei Opfern gesehen, die mit dieser speziellen Munition erschossen worden waren. Man muss bedenken, dass diese Munition mit mehr als zweifacher Schallgeschwindigkeit den Lauf des Gewehrs verlässt. Dann fällt es nicht schwer zu glauben, dass ein so kleines Projektil einen solchen Schaden anrichten kann.“
Coco hatte schon von diesen Hochgeschwindigkeitsgeschossen gehört, aber bis zu diesem Fall noch nie ein Opfer dieser Munition gesehen. Aber eine Aussage war ihr in Erinnerung geblieben, und sie musste nachfragen.
„Ist es wahr, dass bei diesen Hochgeschwindigkeitsgeschossen bereits ein Streifschuss tödlich ist? Das hab ich mal irgendwo gelesen.“
Mangel grinste wieder.
„Sehr schön, dass Sie nachfragen, liebste Coco. Viele hätten so eine Aussage einfach für wahr gehalten, denn sie klingt ja so glaubhaft. In der Realität ist es tatsächlich so, dass der in diesen fragwürdigen Publikationen sogenannte ‚Gewebeschock‘, der angeblich selbst bei einem Streifschuss zum Tod führt, eine moderne Sage ist. Es gibt keine bekannten Fälle und keinen Beweis dafür.“
Er wandte sich an Ulf. „Es wurde kein Projektil gefunden, ist das richtig?“
Ulf nickte.
„Dann“, fuhr Mangel fort, „kommen leider zahlreiche Waffen infrage, und es wird sicherlich nicht einfach für euch.“
Büro der Mordkommission, 14:00 Uhr
„Tja, leider ist das ja nun wirklich nicht gerade viel und bietet noch keinen echten Ermittlungsansatz“, musste Ulf eingestehen, als er am Ende seines Berichtes über den Besuch in der Gerichtsmedizin angekommen war. „Das Ganze wirkt wie eine Hinrichtung, und ich denke mal, solange wir keine Erkenntnisse zur Waffe haben, müssen wir uns wohl auf das Opfer und mögliche Motive konzentrieren. Hatte Mattuschek irgendwelche Feinde, wer profitiert von seinem Tod und so weiter.“
Er sah fragend in die Runde. „Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise? Wer übernimmt was?“
Für Ulf überraschend war Fisch der Erste, der das Wort ergriff.
„Ich denke mal, dass seine Vergangenheit als Pädophiler und seine diesbezüglichen Aktivitäten ein Erfolg versprechender Ansatz sein könnten. Gibt es Angehörige von Opfern, die durch die Festnahme auf ihn aufmerksam geworden sein könnten und sich rächen wollen? Das wäre angesichts der Annahme, dass Mattuschek auch ein aktiver Pädophiler gewesen war, nicht ganz von der Hand zu weisen. Mein Vorschlag wäre, dass ich mich mit Sally, die sich ja in dieser Szene besser auskennt, an die Auswertung der Daten auf Mattuscheks Rechner mache und wir so vielleicht auf Hinweise stoßen. Was meint ihr?“
Ulf sah, dass sowohl Sally als auch Coco und Gerd Duben nickten.
„Okay, macht euch an die Auswertung, aber schaut mehr in Richtung mögliches Mordmotiv als zu versuchen, ihm noch irgendwas nachzuweisen. Das hat sich ja eh erledigt.“
„Ich“, meldete sich Duben zu Wort, „würde mich mal auf die Erkenntnisse der Kriminaltechnik konzentrieren. Von wo genau muss der Schuss gekommen sein, was können sie ansonsten zum Tathergang sagen und so weiter.“
Ulf nickte nachdenklich und überlegte, ob ihm noch darüber hinausgehende Ermittlungsansätze einfallen würden, als Coco ihre Meinung kundtat.
„Ich habe ja, vorbehaltlich der Ergebnisse der Kriminaltechnik, schon die Vermutung gehabt, dass der Schuss eventuell aus einem Wagen von der gegenüberliegenden Straßenseite aus abgegeben worden sein könnte. Ich wollte mich auf die Suche nach Videokameras in der Gegend machen, vielleicht bringt uns das auf die Spur eines möglichen Fahrzeugs. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass jemand mit einem Präzisionsschützengewehr aus einem normalen Pkw heraus geschossen hat und schon gar nicht, dass jemand zu Fuß mit einem solchen Gewehr unterwegs war. Bei einem normalen Pkw würde der Lauf so weit aus dem Fenster ragen, dass es jedem vorbeilaufenden Passanten auffallen würde. Also kommen wohl eher ein Van, Kleinbus oder Lkw infrage, wo man eine solche Waffe im Inneren aufbaut und dann eine Seitentür öffnet oder eine Plane zur Seite nimmt. Vielleicht gibt es ja irgendwo in der Nähe des Tatorts Überwachungskameras, die vor oder nach der Tatzeit entsprechende Fahrzeuge aufgenommen haben.“
„Sehr gute Idee“, lobte Ulf, „und ein vernünftiger Ansatz, wie die Tat abgelaufen sein könnte. Schau mal, was du finden kannst. Wenn uns ansonsten nichts mehr einfällt, dann ...“
Er wurde unterbrochen, als die Tür zur Zentrale aufging und ein junger Mann den Raum betrat.
Ulf runzelte die Stirn, als er den etwa dreißigjährigen Mann einer ersten optischen Inspektion unterzog, noch bevor dieser ein Wort gesagt hatte. Er schätzte ihn auf mindestens eins neunzig. Er war schlank, sah sportlich aus und trug die schwarzen, leicht gelockten Haare in einem sehr modernen Haarschnitt, also an den Seiten sehr kurz gehalten. Seine auffällige rote Hornbrille betonte das hervorstechendste Merkmal: die strahlend blauen Augen. Er trug einen stylischen, seidig glänzenden Anzug mit passender Weste und eine leuchtend rote Krawatte.
„Guten Tag, die Damen, die Herren“, sagte er mit einer angenehmen Baritonstimme und nickte dabei in Richtung der Anwesenden, „ich bin auf der Suche nach Kriminalhauptkommissar Auer, mein Name ist Rossi, und ich ...“
Weiter kam er nicht, denn Duben war bei der Nennung des Namens Rossi so heftig von seinem Stuhl aufgesprungen, dass dieser mit lautem Poltern umfiel.
„Na, Sie haben ja Nerven, Sie elender Rechtsverdreher. Erst die Straftäter wegen irgendwelcher Formalien aus dem Knast holen und dann bei uns aufschlagen und ... was? ... sich beschweren, dass Ihr Klient ermordet wurde? Akteneinsicht konnten Sie nach der Festnahme von Mattuschek bekommen, aber nicht nach seiner Tötung, machen Sie sich da mal keine falschen Hoffnungen.“
Gerd Duben war während seines Ausbruchs immer näher an den Mann herangetreten, der unwillkürlich ein paar Schritte vor ihm zurückgewichen war.
Ulf war zwar selbst von Gerds heftiger Reaktion überrascht, aber er blickte auch kurz zu den anderen. Deshalb sah er, was Gerd nicht sehen konnte: Sally machte mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen mit der flachen Hand heftige, wedelnde Bewegungen vor ihrer Kehle ... das verbreitete Zeichen für jemanden, den Mund zu halten oder etwas abzubrechen.
Coco grinste breit, und es war offensichtlich, dass sie etwas wusste, was ihm, Ulf, noch nicht ganz klar war.
Fisch schaute genauso verwirrt, wie Ulf es war. Also konzentrierte er sich wieder auf Gerd und Rossi, die einander nun fast Nase an Nase gegenüberstanden.
Es war der Neuankömmling, der plötzlich ein leichtes Grinsen aufsetzte, bevor er auf Gerds Vorwürfe reagierte.
„Sie kennen mich nicht, so viel habe ich bemerkt, aber Sie kennen ganz offensichtlich auch Rechtsanwalt Angelo Rossi nicht, sonst hätten Sie mich nicht mit ihm verwechselt. Zu Ihrer Information: Angelo Rossi ist zwanzig Jahre älter als ich, und wir sehen uns nicht mal ähnlich.“
Bei diesen Aussagen war der mindestens fünf Zentimeter kleinere und im Vergleich zu Rossi fast dürr wirkende Duben bereits zwei Schritte zurückgewichen, und ihm entfuhr ein kleinlautes „Oh“.
„Ja, oh, so kann man das sagen. Wie Ihnen übrigens Ihre Kollegin verzweifelt versucht hat zu signalisieren, denn sie weiß, wer ich bin.“
Er deutete auf Sally und sagte: „Würden Sie mich bitte vorstellen, Frau Lakatos?“
Duben hatte sich zu Sally umgedreht, die mit den Schultern zuckte.
„Darf ich vorstellen, Oberstaatsanwalt Leonardo Rossi, der für die Ermittlungen gegen Mattuschek zuständig war. Er ist erst seit einigen Tagen bei der Staatsanwaltschaft Koblenz und hat den Fall von einem erkrankten Kollegen geerbt.“
Ulf erachtete es für richtig, nun die Initiative zu übernehmen. Während Duben mehrfach: „Oh, das tut mir leid“, murmelnd zu seinem Platz zurückgewichen war, ging er auf Rossi zu, streckte ihm die rechte Hand entgegen und begrüßte ihn.
„Herzlich willkommen, Herr Oberstaatsanwalt. Bitte entschuldigen Sie die kleine Verwechslung, aber werten Sie es bitte als dem großen Engagement meiner Mitarbeiter geschuldet. Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“
Coco hing an Rossis Lippen und war fasziniert von diesem Mann, der ihnen in einer gemütlichen Kaffeerunde teilweise sehr persönliche Dinge über sich erzählt hatte.