Frankfurter Kaddisch - Dieter Aurass - E-Book

Frankfurter Kaddisch E-Book

Dieter Aurass

4,9

Beschreibung

Drei ebenso mysteriöse wie spektakuläre Selbstmorde älterer jüdischer Mitbürger geben der Frankfurter Mordkommission Rätsel auf. Der junge Hauptkommissar Gregor Mandelbaum wird aufgrund seiner jüdischen Abstammung mit den Ermittlungen beauftragt. Der an einer leichten Form von Autismus leidende, aber hochintelligente Ermittler erkennt schnell die Handschrift eines Serienkillers. Ein Tatmotiv ist für ihn und sein Team jedoch noch weit entfernt - fast ein ganzes Menschenleben.

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Dieter Aurass

Frankfurter Kaddisch

Kriminalroman

Impressum

Die Personen und die Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind –

mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte in den Rückblicken

in die Vergangenheit – rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © christophe papke / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5174-4

Widmung

Für meine Mutter.

Sie hat mir die Freude am Lesen und am Schreiben in die Wiege gelegt.

Prolog

Der Mann zog in aller Ruhe und ohne Hast sein Jackett aus und legte es neben sich auf den Boden. Dann visierte er sein Ziel an und schätzte die Entfernung ab.

Ungefähr zehn Meter. Das muss dieses eine Mal einfach Anlauf genug sein.

Er stellte den linken Fuß einen halben Schritt vor den rechten und begann, mit dem Oberkörper vor- und zurückzuwippen. Schließlich startete er seinen Sprint auf das 1,30 Meter hohe Hindernis und lief einen leichten Bogen, sodass er fast parallel dazu ankam. Dann sprang er mit beiden Beinen in einem mächtigen Satz ab, drehte sich mit dem Rücken zu der rot-weiß gestreiften Latte, riss das Becken nach oben und segelte in einem gelungenen Fosbury-Flop darüber hinweg, ohne sie zu berühren.

Geschafft! Na also, das Sportabzeichen ist noch einmal gesichert!

Er wartete auf den Aufprall auf der Sprungmatte – der aber ausblieb. Sein Blick glitt nach oben, und er sah nicht nur den sonnigen Sommerhimmel, sondern auch die Außenwand eines Gebäudes über sich in die Höhe wachsen.

Was ist das für ein Gebäude? Wo bin ich?

Der menschliche Körper wird – wie jeder andere Körper auch – durch die Erdanziehungskraft beschleunigt. Dies erfolgt so lange, bis der Luftwiderstand eine weitere Beschleunigung verhindert. In den ersten drei Sekunden legt ein Mensch im freien Fall circa 60 Meter zurück. Erst nach etwa sieben Sekunden erreicht er seine Endgeschwindigkeit von 55 Metern pro Sekunde. Dies entspricht einer Geschwindigkeit von fast 200 Kilometern pro Stunde. Bis dahin hat er eine Entfernung von ungefähr 260 bis 270 Metern zurückgelegt.

Da das Hochhaus, über dessen Dachumrandung der Mann soeben gesprungen war, lediglich eine Höhe von 150 Metern vorzuweisen hatte, blieben ihm nicht die vollen sieben Sekunden. Er hatte seinen letzten Gedanken gerade zu Ende gedacht, als er auf dem Boden direkt vor dem Haupteingang des Gebäudes aufschlug. Das geschah mit der bis dahin erreichten Geschwindigkeit von deutlich über 120 Stundenkilometern. Seit dem Absprung waren fünf Sekunden vergangen.

Der Anblick eines menschlichen Körpers, der mit dieser Geschwindigkeit auf Beton geprallt ist, ist selbst für hartgesottene Zeitgenossen, darunter Leichenbestatter, Polizeibeamte oder Unfallsanitäter, kaum zu ertragen. Nicht selten müssen sich die Herbeigerufenen abwenden und geben in angemessener Entfernung, wenn sie es denn so weit schaffen, ihre letzte Mahlzeit von sich. Ein aufgeplatzter Schädel, bis zur Unkenntlichkeit zusammengestauchte Gliedmaßen oder die Verteilung der vollen sechs Liter Blut eines durchschnittlichen Erwachsenen auf mehrere Meter im Umkreis – das kann einem auf Tage den Schlaf rauben.

Glücklicherweise traf der Körper des Mannes keine der Personen, die auf dem Weg in das oder aus dem Gebäude heraus waren. So blieb es dabei, dass die unmittelbar in der Nähe gehenden oder stehenden Passanten durch ein Geräusch überrascht wurden. Ein Geräusch, das sie in ihrem restlichen Leben nie wieder vergessen würden.

Eine Frau in einem weißen Sommerkleid starrte entgeistert auf die Hunderte von kleinen roten Flecken auf dem zuvor makellosen Stoff. Erst einen Moment später richtete sie den Blick auf das, was wenige Meter vor ihr auf dem Boden lag. Dann begann sie zu schreien. Noch Minuten später, als helfende Hände sie beiseitegenommen hatten, schrie sie in voller Lautstärke hysterisch weiter und war nicht zu beruhigen.

*

In ihrer Jugend war sie eine exzellente Turmspringerin gewesen. Bei zahlreichen Turnieren hatte sie Medaillen gewonnen und erst im Alter von 35 Jahren mit dem aktiven Sport aufgehört. Ihr inzwischen 70 Jahre alter Körper war allerdings noch immer sportlich, straff und – von leichter Arthrose abgesehen – fit.

Jetzt stand sie am Rand des Sprungturms in zehn Metern Höhe und blickte in das azurblaue Becken hinab. Sie konzentrierte sich und ließ sich auch durch die aufmunternden Zurufe des Publikums nicht stören. Noch einmal einen so perfekten Sprung wie in ihrer Jugend ausführen – noch einmal den frenetischen Beifall der Menge beim Auftauchen aus der Tiefe des Beckens hören. Das war jetzt alles, was zählte.

Sie warf einen letzten Blick in die Tiefe, dann drehte sie sich mit dem Rücken zu ihrem Sprungziel und setzte langsam die Zehen ihrer nackten Füße auf den Rand des Sprungturms, sodass ihre Fersen in der Luft hingen. Ihr eng anliegender einfacher schwarzer Badeanzug betonte ihre noch immer sportliche Figur. Mit dem Rücken zum Becken stand sie leicht wippend auf den Zehen. Eine letzte Phase der Konzentration, dann beugte sie die Knie, streckte sich ruckartig und riss zum Absprung beide Arme nach oben.

Mit einer Präzision, die nur in jahrelangem Training erlernt werden kann – und selten je verloren geht –, vollführte sie einen eineinhalbfachen Salto mit einer eineinhalbfachen Schraube. Der Sprung war so abgestimmt, dass sie nach Abschluss der letzten Drehung, die Arme vor dem Kopf gestreckt, nur noch wenige Meter in gerader Linie durch die Luft gleiten würde, um dann elegant ins Wasser einzutauchen.

Sie öffnete die Augen, die sie während der Drehungen geschlossen hatte – und wunderte sich, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht hatte. Viel weiter unter sich, als sie es für möglich gehalten hatte, sah sie das Blau des Beckens auf sich zurasen.

Glücklich über den gelungenen Sprung, spannte sie ihren Körper an, um das Eintauchen so glatt wie möglich und ohne Spritzer zu vollziehen.

Der Fahrer des blauen Minivans hatte gerade angehalten, um zwei bestellte Hochzeitstorten am Hintereingang des Hotels abzuliefern. Kurz sah er durch die Windschutzscheibe nach oben und bewunderte die beeindruckende Fassade des Westend-Gate-Hochhauses, des Sitzes des Hotels Marriott. Mit seinen 160 Metern Höhe war es zwar nur das elfthöchste Gebäude von Frankfurt, aber durch seine spiegelnde Glasfront dennoch beeindruckend.

Er hatte gerade die Tür aufgestoßen, um das Fahrzeug zu verlassen, als es einen ohrenbetäubenden Schlag gab. Das Fahrzeug schwankte kurz, wie bei einem Erdbeben, und alle Scheiben zersprangen mit lautem Krachen.

Der Fahrer hatte bereits einen Fuß nach draußen geschwungen, als der Wagen ins Wanken geriet. Ohne zu überlegen oder zu bedenken, dass er noch keine Berührung mit den geriffelten Betonplatten des Vorplatzes hatte, schwang er den Oberkörper nach vorne und stieß sich vom Lenkrad ab. Da das rechte Bein sich noch im Fahrzeug befand, folgte der Körper des 60-Jährigen den Gesetzen der Physik und schlug der Länge nach auf den Boden vor dem Van.

»Verdammte Scheiße! Was war das denn?« Er lag auf kleinen, pikenden und sich in die Haut eindrückenden Glassplittern und hatte Angst, sich daran zu schneiden. Vorsichtig inspizierte er seine Handflächen und unbekleideten Unterarme. Als er feststellte, dass er bis auf ein paar oberflächliche Kratzer unverletzt geblieben war, erhob er sich langsam und ächzend. Dann trat er näher an seinen Lieferwagen heran.

Die seitliche Schiebetür war oben eingeknickt und so verzogen, dass sie sich nicht öffnen ließ.

Meine Fresse. Da muss ja was richtig Schweres draufgefallen sein.

So etwas hatte er in den fast 40 Jahren seiner Karriere als Kraftfahrer weder erlebt noch jemals von anderen Fahrern gehört.

Langsam ging er um das Fahrzeug herum, um die hinteren Flügeltüren zu begutachten. Als er das Fahrzeugheck erreichte, sah er, dass eine der beiden Türen aufgesprungen war. Viel Hoffnung für die beiden zu liefernden Hochzeitstorten hatte er nicht, als er in das Wageninnere hineinspähte. Durch ein gezacktes Loch im Dach des Vans schien helles Sonnenlicht und beleuchtete wie ein Filmscheinwerfer den Innenraum.

Was er sah, ließ sein Herz, das durch die überwiegend sitzende Tätigkeit, Sportmangel und leichtes Übergewicht belastet war, aussetzen. Das Grauen aus hellen Fleischfetzen, jeder Menge Blut, Knochensplittern und wie Wurstketten aussehenden Därmen ließ sich mit einem Blick nicht vollständig erfassen. Dazwischen hingen lange, silberne Haare wie Lametta, auf denen kleinste rote Tröpfchen wie Rubine im Sonnenlicht funkelten.

Lediglich ein an der scharfen Kante des eingerissenen Daches hängendes abgetrenntes Bein ließ erkennen, dass es sich um die Überreste eines menschlichen Körpers handeln musste.

Der stechende Schmerz in seiner Brust wurde übermächtig. Er griff mit einer Hand an die Stelle, unter der das schwer geschädigte Organ die lebensnotwendige Tätigkeit eingestellt hatte. Den Blick immer noch auf die bluttriefenden menschlichen Überreste und die Hochzeitstorten gerichtet, öffnete er den Mund in dem Versuch, zu schreien – aber es kam kein Laut über seine Lippen. Seine Beine knickten ein, und er schlug mit den Kniescheiben hart auf den Boden. Den damit verbundenen Schmerz spürte er kaum noch, und als er wenige Sekunden später vornüber wie ein nasser Sack aufs Gesicht fiel, war er bereits tot.

*

Dem Mann lief der Schweiß in Strömen über das faltige alte Gesicht.

Ich krieg den Schatz. Ja, ich krieg den Schatz! Nur noch diese Tür zur Kammer aufschrauben, und ich hab den Schatz!

Mit einem riesigen Schraubenschlüssel ausgerüstet kniete er auf einer leicht schräg stehenden Metallplatte mit den Abmessungen zwei mal zwei Meter. Um ihn herum wies die Metallplatte auf jeder der vier Seiten jeweils vier Muttern von der Größe eines Hühnereis auf.

Acht der 16 Muttern hatte er bereits in einer schweißtreibenden Aktion gelöst. Der obere Rand der Platte hatte sich schon gelöst und ließ ein helles, strahlendes Licht durchscheinen.

Das ist das Strahlen der Juwelen und des Goldes. Gleich hab ich meinen Schatz!

Er kniete in der Mitte der Platte. Deren oberer Teil senkte sich durch sein Gewicht etwas ab und stand nicht mehr so schräg. Sein nächstes Ziel war es, nun auch die Muttern an der unteren Kante zu lösen. Keine Sekunde verschwendete er für den Gedanken, dass er buchstäblich auf dem Ast saß, an dem er sägte.

Als er die zwölfte von 16 Muttern gelöst hatte, war ein leichtes Knirschen zu hören, und die Platte senkte sich weiter ab.

Euphorisch angesichts des kurz bevorstehenden Erfolgs seiner Schatzsuche, begann er die nächste Mutter zu lösen. In diesem Augenblick wurde die Belastung durch die 1.500 Kilogramm schwere Platte, zusätzlich um die 90 Kilo Körpergewicht des auf ihr knienden Mannes erhöht, zu groß für die verbliebenen vier Schrauben.

Mit einem deutlich vernehmbaren »Ping« brach die erste der Schrauben und nur Millisekunden später auch die übrigen drei.

Die Platte mit dem darauf befindlichen Mann fiel.

Der Frankfurter Fernsehturm galt lange Jahre als das höchste Gebäude Deutschlands mit einer Höhe von 337 Metern. Die sechsstöckige Kanzel mit Aussichtsrestaurant und Versorgungseinrichtungen befand sich immerhin noch in einer Höhe von 227 Metern. An der Unterseite der mit fast 60 Metern Durchmesser weltweit breitesten drehbaren Kanzel waren Fluchtausgänge vorhanden, durch die hindurch im Falle eines Brandes Besucher abgeseilt werden konnten.

Die Platte eines solchen Fluchtweges stürzte nun in die Tiefe. Trotz ihres enormen Eigengewichts wirkte der Luftwiderstand dergestalt auf die Platte, dass sie anfing, sich zu überschlagen. Durch die Bremswirkung der Luft auf ihre große Fläche kam sie fast eine halbe Sekunde später am Boden an als der ebenfalls herabstürzende Mann.

Kaum einer der rund um den Fernsehturm stehenden Besucher erkannte, dass es nicht nur die Platte war, die in der weichen Grasfläche aufschlug, welche den Turm umgab. Sie waren damit beschäftigt, eifrig mit Kameras und Handys Aufnahmen des Geschehens zu machen.

Als die Platte einschlug, richteten sich mehrere Dutzend Aufnahmegeräte auf die Stelle, und einige Mutige wagten sich alsbald näher heran.

Das Schicksal war insofern gnädig mit dem Herabgestürzten gewesen, als dass er tot gewesen war, bevor die Platte über ihm auf den Boden prallte.

Den nun näher herantretenden Schaulustigen gegenüber war das Schicksal weniger zimperlich. Die Platte war mit einer Kante voran aufgeschlagen und hatte sich volle vier Meter in den weichen Boden gebohrt. Dabei hatte sie den Körper des Herabgestürzten in Höhe der Brust glatt durchtrennt, sodass nun zwei unterschiedlich große Teile auf dem Rasen lagen.

Als die ersten Neugierigen näher herantraten, fing das allgemeine Übergeben an – und hörte für lange Zeit nicht auf.

1. Kapitel

Kriminaldirektor Karl Lohmeyer – Leiter des Dezernates eins – betrat das Büro im sechsten Stock des Polizeipräsidiums Frankfurt nach einem kurzen Klopfen und ohne auf ein »Herein« zu warten.

An seinem Schreibtisch sah Gregor Mandelbaum von der Akte auf, die er gerade studiert hatte. Er zog eine Augenbraue nach oben. »Herr Kriminaldirektor? Ich müsste mich sehr irren, wenn wir einen Termin hätten, und ich irre mich bekanntlich selten. Was veranlasst Sie also zu diesem überraschenden Besuch?«

Ich hasse dieses arrogante Arschloch, dachte Lohmeyer und musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszubrüllen. Er hatte sich vorgenommen, sich von dem Schnösel nicht provozieren zu lassen, und ließ sich in den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch fallen. Dann begann er ohne Umschweife: »Gregor, wir brauchen Sie. Sie und Ihre Truppe. Die Kacke ist richtig am Dampfen.«

Mit der »Truppe« meinte er die zweite Mordkommission – im Allgemeinen auch MK2 genannt, deren Leiter Gregor Mandelbaum war. Das Polizeipräsidium Frankfurt verfügte über insgesamt drei Mordkommissionen, die sich gegenseitig vertraten oder einsprangen, wenn eine Kommission gerade ausgelastet war.

»Mir ist bekannt, dass die MK1 derzeit keinen aktuellen Fall hat«, warf Gregor völlig emotionslos ein, »und da ich weiß, dass Sie mich nicht mögen, ist die Frage angebracht: weshalb ausgerechnet wir?«

Warum kann ich diesen reichen Heini mit seinem vorlauten Mundwerk nicht einfach rauswerfen? Was hat sich der Polizeipräsident dabei gedacht, mich so zu strafen?, fragte sich Lohmeyer im Stillen. »Nun«, druckste er herum und überlegte, wie er die Peinlichkeit, den ungeliebten Leiter der MK2 zu brauchen, überspielen konnte, »ich weiß, Sie sind eigentlich noch viel zu jung und unerfahren, und es stimmt, die Einser sind derzeit frei, aber …«, nur mit Mühe rang er sich durch, den wahren Grund für die Beauftragung zur Sprache zu bringen, »… aber Sie haben als Mitglied der jüdischen Gemeinde von Frankfurt als Einziger das erforderliche Hintergrundwissen, das allen anderen fehlt.«

Lohmeyer hatte den Eindruck, dass Gregor Mandelbaum von dieser Entwicklung überrascht war, denn er erhob sich aus seinem Stuhl, streckte sich zu seiner vollen Größe von 1,90 und drehte sich zu seinem Bürofenster um. Dort blieb er stehen und blickte scheinbar geistesabwesend in den seit fast zwei Wochen wolkenlosen Himmel über Frankfurt. Lediglich ein leichter Schleier verriet, dass sie sich inmitten einer Metropole mit Unmengen von Autos und ihren Smog verursachenden Abgasen befanden.

Lohmeyer wartete ungeduldig, und als sich die Sekunden zu einer Minute dehnten, dann anderthalb Minuten, wurde er nicht nur unruhig, sondern auch ärgerlich. Nach zwei Minuten hatte er genug. »Ihnen ist schon klar, dass ich noch da bin, oder?«

Gregor drehte sich um und sah Lohmeyer überrascht an. »Ach ja, wo waren wir stehen geblieben?« Kein Wort der Entschuldigung, keine Erklärung, nichts.

Eines Tages vergess ich mich, und dann hat er nichts zu lachen! Lohmeyer musste sich zusammenreißen.

Mit seinen 29 Jahren war Gregor der jüngste Leiter einer Mordkommission aller Zeiten, aber das hatte auch seine Gründe. Er war schon als Kind das gewesen, was man im Allgemeinen als »hochbegabt« bezeichnete. Ein IQ jenseits der 140 hatte ihn befähigt, mit 15 sein Abitur zu machen und mit 18 sein Studium der Psychologie mit Prädikatsexamen zu beenden, um sofort nach Erreichen der Volljährigkeit in den gehobenen Polizeidienst einzutreten. Neben seiner Grundausbildung – die ihn nicht ausgelastet zu haben schien – hatte er Jura studiert und gleichzeitig mit der Polizeiausbildung auch das zweite juristische Staatsexamen abgeschlossen. Er war schneller die Karriereleiter hinaufgeklettert als jemals jemand zuvor und stand inzwischen im Range eines Hauptkommissars. Die Leitung der MK2 hatte er nun seit knapp zwei Monaten. Dabei handelte es sich um den einzig logischen Schritt, der den hohen Herren eingefallen war, um ein Superhirn wie Gregor in Frankfurt zu halten. Und dieser Schritt kam natürlich fast 20 Jahre zu früh.

Gregors kometenhafter Aufstieg und seine mehr als ungewöhnlichen Verhaltensweisen ließen ihn keinen Beliebtheitspreis gewinnen. Die Neider waren zahlreich, und auch in den Kreisen der Vorgesetzten, wie bei Kriminaldirektor Lohmeyer, genoss er keinen guten Ruf. Aber Gregors bisherigen Erfolge hatten dem Polizeipräsidenten keine andere Wahl gelassen, als den außergewöhnlichen Kriminalisten in diese Position zu bringen.

Lohmeyer musste an zahlreiche Diskussionen denken, in denen Mandelbaum durch seine arrogante und rechthaberische Art immer wieder angeeckt war. Selbst beim Polizeipräsidenten hatte er in einem Gespräch nicht davor Halt gemacht, den falschen Gebrauch von »scheinbar« anstatt »anscheinend« zu korrigieren, und einmal hatte er ihn sogar in einer Pressekonferenz verbessert und für alle Anwesenden hörbar angemerkt: »Sie meinen effektiv, nicht effizient.«

Lohmeyer wurde aus diesen Überlegungen gerissen, als Gregor sich wieder hinsetzte und das Wort an ihn richtete: »Nun gut, Herr Kriminaldirektor – es ist der Sache sicher dienlich, wenn Sie mir nun die Fakten nennen und den Sachverhalt schildern, ansonsten kann ich mir kein Bild machen.«

Ohne Umschweife und ohne jegliche Wertung begann Lohmeyer, die bekannten Tatsachen aufzuzählen: »In den vergangenen sechs Tagen hat es drei mutmaßliche Selbsttötungen gegeben. Von dem Kollateralschaden eines Herzinfarktes, durch den der Fahrer eines Kleinbusses gestorben ist, auf den eines der Opfer gefallen ist, will ich an dieser Stelle nicht reden. Der erste Fall wies keinerlei Grund für Zweifel an einem Suizid auf. Bei dem zweiten Fall, drei Tage später, hätten die Übereinstimmungen noch Zufall sein können, aber spätestens seit dem dritten Fall gestern steht für mich außer Zweifel, dass hierbei Fremdeinfluss vorliegt. Ich will die Gründe dafür auch nennen«, unterbrach er schnell, bevor Gregor eine Zwischenfrage stellen konnte. »Erstens, alle drei Personen sind durch einen Sturz von einem hohen Gebäude umgekommen. Zweitens, alle drei Personen haben keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Drittens, bei allen drei Personen schließt das persönliche Umfeld einen Suizid grundsätzlich aus. Keine Krankheiten, keine Schulden, kein gar nichts. Viertens, bei allen drei Personen sind die Umstände der Tat sehr seltsam und passen nicht zu gewöhnlichen Selbsttötungen. Fünftens und letztens, alle drei Personen sind bekannte Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde der Stadt Frankfurt.«

Schon nach dem dritten Punkt der Gemeinsamkeiten hatte Lohmeyer bemerkt, dass er Gregors ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, der konzentriert den Ausführungen seines Vorgesetzten lauschte.

Dann meldete er sich zu Wort: »Selbstverständlich habe ich von den ersten beiden Todesfällen gehört, aber ich habe den Tod von Salomon Kleinstein – dem Chefredakteur der jüdischen Gemeindezeitung – und von Ella Löwenstin – der Leiterin des Altenzentrums der jüdischen Gemeinde – als bedauerliche Selbsttötungen hingenommen. Aber nur deshalb, weil es niemand für nötig gehalten hat, mich über die besonderen Umstände zu informieren. Ich muss allerdings erwähnen, dass ich beide nur dem Namen nach gekannt habe. Wer ist das dritte Opfer?«, fragte er in einem Ton, der mehr fordernd als neugierig klang.

»Samuel Itzigman, der …«

»Ich weiß, wer Samuel Itzigman ist«, fiel Gregor seinem Chef ins Wort. »Als Leiter des Verwaltungsrates und Verwalter der jährlichen Zuschüsse der Stadt Frankfurt in Höhe von fast drei Millionen Euro hatte er viel mit meinem Onkel zu tun. Unsere Bank ist die Hausbank der jüdischen Gemeinde, und Herrn Itzigman habe ich persönlich gekannt.«

Lohmeyer musste sich nicht in Erinnerung rufen, dass die Familie Mandelbaum Eigentümer der renommierten Privatbank Mandelbaum & Söhne war. Genaueres, etwa welcher Art die Verbindungen zur jüdischen Gemeinde waren, wusste er allerdings nicht. Wie alle anderen im Polizeipräsidium, die jemals mit Gregor Mandelbaum zu tun hatten, führte er dessen spleenige Verhaltensweisen und insgesamt seltsame Art darauf zurück, dass es sich eben um ein verwöhntes Söhnchen aus reichem Hause handelte, das eher aus Zeitvertreib als aus Berufung Polizist geworden war.

Er hatte auch keine Lust mehr, diesen Besserwisser noch weiter zu informieren. Er räusperte sich und war entschlossen, dem Ganzen mit einer Schlussbemerkung ein Ende zu machen. »Ich sehe, ich habe genau den Richtigen eingebunden. Schnappen Sie sich Ihr Team, sichten Sie die Unterlagen und finden Sie raus, was da vorgeht.«

Er erhob sich und ging aus dem Raum. Kurz vor der Tür besann er sich noch einmal, gab sich einen Ruck und drehte sich um. »Viel Glück, Gregor … und passen Sie auf Ihre Leute auf. Das ist eine total abgefahrene Sache.«

Dieses Team ist auch so eine Sache, dachte Lohmeyer beim Verlassen des Raums. Wie kann jemand nur auf eine so seltsame Zusammenstellung kommen?

*

Jenny Jung hatte gerade die kurze und kommentarlose SMS ihres Chefs mit der Aufforderung zum Erscheinen bekommen und war nun auf dem Weg in die Zentrale der MK2. Mit ihren 22 Jahren war sie das Küken des Teams. Mit elastischen federnden Sprüngen legte sie die fünf Stockwerke im Treppenhaus zurück, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, anstatt mit dem Fahrstuhl zu fahren. Sie war stolz auf ihren sportlichen und durchtrainierten Körper, auf ihre Jugend und darauf, dass sie es in diesem Alter schon bis in die Mordkommission geschafft hatte.

Sie erreichte als Erste die Zentrale, einen mit modernster Technik ausgestatteten und nur für ihre Teamkollegen und sie verfügbaren Besprechungsraum. In der Mitte stand eine U-Formation von Tischen, an deren Seiten die vier Teammitglieder und an deren Kopfende ihr Chef Platz nehmen konnten. Dem offenen Ende des U gegenüber befand sich die Medienwand, auf die man jede Art von Unterlagen, Landkarten, Überwachungsvideos, Bilder und viele weitere Dinge projizieren konnte.

Noch nicht einmal außer Atem setzte sie sich nach einem kurzen »Hi, Chef!« auf ihren Platz. In dem Wissen, dass es sinnlos war, Fragen zu stellen, bevor die anderen erschienen, übte sie sich in Geduld und beobachtete stattdessen ihren Chef, der wie üblich ihren Gruß nicht erwidert hatte.

Gregor Mandelbaum saß wie versteinert auf seinem Platz, hatte die Ellenbogen vor sich auf den Tisch gestützt, die Fingerspitzen beider Hände aufeinanderliegend, die Finger gespreizt und die beiden Zeigefinger auf den Lippen. Er schien ins Nirgendwo zu blicken, und Jenny fragte sich, wo­rüber er wohl nachdachte. Seltsam ist er schon, aber irgendwie doch interessant, ging es ihr nicht zum ersten Mal durch den Kopf.

Sein Erscheinungsbild wurde durch seine hagere, fast dürre Gestalt, die stets leicht gebückte Haltung – als wolle er seine Größe von 1,90 verbergen – und den mehr als seltsamen Kleidungsstil fast ins Absurde geführt. Niemals hatte ihn jemand in anderer Aufmachung als einer makellosen schwarzen Hose und einem nachtschwarzen Seidenhemd erlebt. Die Ähnlichkeit mit einem Leichenbestatter war nicht zu übersehen und hatte schnell die Runde gemacht.

Aber Jenny kam nicht umhin, sein traurig wirkendes Gesicht mit den kurzen schwarzen gelockten Haaren und den faszinierenden blauen Augen als geheimnisvoll und anziehend zu empfinden. Die leicht eingefallenen Wangen waren mal glatt, mal bedeckte sie, je nach Wochentag, ein Ein- bis Fünftagebart und dann ein tiefschwarzer dichter Bartwuchs. Jenny hatte inzwischen mitbekommen, dass Gregor sich lediglich einmal die Woche rasierte, wie man an seinem glatten Gesicht an diesem Morgen erkennen konnte, offensichtlich montags. Er hatte die Marotte, sie alle mit Vornamen anzusprechen und gleichzeitig zu siezen. Andererseits machte es ihm nichts aus, dass alle ihn duzten. Darüber hatte sie sich nur anfänglich gewundert. Sie vermutete, dass er eine gewisse Distanz zwischen sich und seinen Leuten wahren wollte – auch wenn seine Art, dies zu tun, mehr als befremdlich war.

Bei dem Nächsten, der den Raum betrat, handelte es sich um Dieter Alsmann, Kriminalhauptkommissar wie Gregor, aber mit fast 35 Jahren Berufserfahrung. Er war der Senior des Teams und ein erfahrener Mordermittler, der schon fast alles gesehen hatte. Jenny wunderte sich, dass er so pünktlich erschienen war, denn sie hatte mehrfach den Eindruck gehabt, dass er Aufforderungen zu Treffen bewusst missachtete oder absichtlich zu spät kam. Es war offensichtlich, dass er den sonderlichen Leiter der Mordkommission nicht wirklich als Vorgesetzten akzeptierte.

Die beiden letzten Mitglieder der Ermittlungsgruppe mussten sich auf dem Gang getroffen haben, denn sie erreichten den Raum gemeinsam. Ganz ungewohnt gentlemanlike ließ Klaus Braake, der junge Technik-Freak und Zyniker, seiner älteren Kollegin Jutta Beltermann den Vortritt.

In der für ihn typischen Art der Belehrung aller seines Erachtens Unwissenden hatte Gregor einmal dem Team offenbart, wie er auf die seltsame Zusammenstellung gekommen war. Die Auswahl habe er absolut bewusst vorgenommen und dabei sein Wissen aus dem Studium der Psychologie eingesetzt. Es sei seine Absicht gewesen, das Team aus zwei Männern und zwei Frauen zu bilden. Genauso sei es Absicht gewesen, dass das Altersspektrum vom jungen Neuling bis zum älteren Fast-Pensionär reichte. Er habe gelernt, dass ein gutes Team aus unterschiedlichen Charakteren bestehen müsse: einem Visionär, einem Realisten und einem Pessimisten.

Der Visionär hatte die absurdesten, aber oft auch die innovativsten Ideen, der Realist wies ihn auf die praktische Umsetzbarkeit hin, und der Pessimist sah überall Gefahren und Probleme. Jeder hatte immer wenigstens in Teilen recht, man ergänzte sich, und in der Summe beziehungsweise in der Abwägung der unterschiedlichen Meinungen konnte man sehr schnell herausfinden, was den meisten Erfolg versprach. Er hatte nicht erläutert, wen im Team er als was ansah, aber Jenny war für sich der Meinung, dass sie selbst in keine der drei Kategorien so richtig hineinpasste. Es hatte sie eine Zeit lang verunsichert, da sie sich fragte, was ihr Chef wohl von ihr erwarten mochte.

In einem Anflug von Aufmüpfigkeit hatte Dieter Alsmann vor einigen Tagen gemeint, wie absurd es sei, dass jemand, der absolut unfähig war, in einem Team zu arbeiten, ein Team nach psychologischen Aspekten zusammenstellte. Er könne diesen angeblich so intelligenten Supermann nicht akzeptieren. Der habe weder die erforderliche Erfahrung, um ein Team zu leiten, noch die erforderliche menschliche Qualifikation. Alsmann hatte es nicht ausgesprochen, aber seinen Ausführungen war zu entnehmen, dass er es für möglich hielt, dass der Reichtum des Bankhauses Mandelbaum Gregor auf diese Position gebracht hatte. Jenny war anderer Meinung gewesen, aber der Konfrontation ausgewichen.

Als jeder auf seinem angestammten Platz saß, erhob sich Gregor und begann unvermittelt mit der Einweisung in den Sachverhalt. Wie immer trug er im Stehen vor und zog keine Unterlagen zurate, da er alle Informationen im Kopf zu haben schien. »Wir haben einen neuen Fall, den ich Ihnen kurz näherbringen will«, begann Gregor ohne Einleitung. »In den letzten Tagen haben sich drei ältere Mitglieder der jüdischen Gemeinde von hohen Gebäuden in Frankfurt gestürzt. Obwohl es drei Tote sind, rede ich bewusst von einem einzigen Fall, denn die Zusammenhänge sind unübersehbar.«

Jenny blickte sich in der Runde um und stellte fest, dass alle aufmerksam zuhörten, wenn auch Dieter Alsmann einen skeptischen Gesichtsausdruck sehen ließ. Doch sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Ausführungen ihres Chefs.

»Mir liegen noch nicht alle erforderlichen Informationen vor, die bisher erstellten Akten sind angefordert und müssen von uns ausgewertet werden. Es bieten sich einige Ermittlungsansätze, die wir verfolgen müssen. Zumindest die Tatortbilder liegen uns schon vor«, mit diesen Worten ergriff er eine vor ihm liegende Fernbedienung und startete den Zugriff auf die im Computer abgespeicherten Daten, zu denen auch die Tatortbilder gehörten. Jeweils unter Nennung eines Namens, des Todeszeitpunktes und des genauen Ortes ließ er die Fotografien auf der Projektionswand erscheinen.

Mehrfach war ein schweres Schlucken von Jutta Beltermann zu hören. Die 40-Jährige war mit Abstand die sensibelste der Anwesenden. Ihre fürsorgliche und einfühlsame Art hatte ihr bereits vor vielen Jahren in allen Einheiten der Polizei, in denen sie tätig gewesen war, den Spitznamen »Mutti« eingebracht. Jenny war sich sicher, dass Mutti auf diesen Namen stolz war, auch wenn sie es niemals offen zugegeben hatte.

Aber die gezeigten Bilder waren selbst für die anderen nicht leicht zu ertragen. Als Nahaufnahmen der Leiche von Ella Löwenstin in dem blauen Lieferwagen erschienen, meldete sich Jenny unvermittelt zu Wort: »Musste das sein, Gregor? Hätten wir uns die Bilder nicht im Kleinformat und nach einer Vorwarnung ansehen können?«

»Mir war nicht bewusst, dass Sie so sensibel sind, Jenny. Ich werde versuchen, das nächste Mal daran zu denken«, sagte Gregor in einem Tonfall, der absolut nichts von seinem Gemütszustand verriet.

Jenny war sich nicht sicher, wie ernst er es meinte oder ob es ihm überhaupt leidtat. Ich werde einfach nicht schlau aus dem Kerl, dachte sie mit einem Anflug von Bedauern. Rein optisch wäre er genau ihre Kragenweite.

Lediglich Klaus Braake konnte nicht umhin, einen Spruch abzugeben: »Ach was, halb so schlimm. Da hab ich schon Schlimmeres gesehen.«

Jenny bezweifelte das und verbuchte die Bemerkung als das, was sie vermutlich war: der krampfhafte Versuch, die eigene Betroffenheit durch lässige Kommentare zu übertünchen.

Dieter Alsmann enthielt sich jeder Anmerkung und studierte stattdessen die Bilder aufmerksam.

»Nach den ersten Untersuchungen der Überreste durch die Gerichtsmedizin vermutet man, dass sie mit dem Kopf voran durch das Dach des Vans gebrochen ist«, fügte Gregor ergänzend zu den Fotos hinzu.

»Ist das schwarze Kleidungsstück ein Badeanzug?«, erkundigte sich Alsmann bedächtig.

»Ja, wieso fragen Sie, Dieter?«

»Nur so … interessehalber.«

»Sie haben eine Vermutung«, stellte Gregor fest, und alle blickten fragend zu Alsmann.

»Ich möchte zu einem so frühen Zeitpunkt noch keine Vermutungen anstellen. Lasst uns erst das restliche Material ansehen.«

Gregor zog die Augenbrauen zusammen, und an seiner gerunzelten Stirn war für Jenny deutlich erkennbar, dass er mit dieser Auskunft nicht zufrieden war. Dennoch folgte keine weitere Frage. Alsmann machte eifrig Notizen, sagte jedoch nichts mehr. Er fuhr fort, als sei nichts passiert: »Nun denn – dann zum letzten Toten von gestern. Samuel Itzigman. Dank der vielen Besucher am Fernsehturm, die fast alle Fotos und Filmaufnahmen gemacht haben, sind wir ausnahmsweise im Besitz eines Videos, das den genauen Ablauf zeigt.« Er drückte eine Taste, und auf der Videowand lief ein leicht zittriger Amateurfilm ab.

Zunächst sah man eine dicke Frau, die leicht dümmlich grinsend in die Kamera winkte. Dann erfolgte ein viel zu schneller Schwenk, und die Kamera richtete sich auf den Fernsehturm, um nun glücklicherweise langsam von unten nach oben zu schwenken. Bei der Aussichtskanzel angekommen bediente der unbekannte Hobbyfilmer den Zoom und fuhr näher heran. Genau in dem Moment, als die Kanzel formatfüllend zu sehen war, fiel aus dem unteren schrägen Bereich eine Platte, auf der ein Mann zu sitzen schien, und beide verschwanden gleich da­rauf aus dem Bildausschnitt.

Gregor unterbrach die Aufnahme und sah Klaus Braake an. »Können Sie da noch etwas mehr herausholen, Schmuddel?«

Jenny empfand es immer wieder als erheiternd, dass Gregor Klaus Braake zwar siezte, ihn aber dabei mit seinem Spitznamen ansprach. Diesen hatte sich der 30-jährige Computerspezialist redlich verdient. Er war sogar stolz darauf, dass er es sich aufgrund seiner Spezialkenntnisse und besonderen technischen Fähigkeiten leisten konnte, in einem Aufzug zu erscheinen, den kein anderer gewagt hätte, im Polizeipräsidium zu tragen. In den letzten zwei Monaten hatten sowohl Jenny als auch Mutti ihn mehrfach gebeten, sein Hemd öfter als einmal pro Woche zu wechseln oder sich vielleicht täglich die Haare zu waschen – allerdings bisher vergeblich. Selbst das Deo, das Dieter Alsmann ihm anlässlich seines Geburtstages geschenkt hatte, schien er nie zu benutzen.

Grinsend stand Braake auf, begab sich zu einem Computertisch an einer Seitenwand des Raumes. Dort begann er eifrig, die Tastatur zu bearbeiten. »Kein Problem. Wofür hat man mich denn sonst?«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Der Schmuddel wird’s schon richten.« Es dauerte keine 15 Sekunden, in denen alle Anwesenden ihn neugierig beobachteten, dann lehnte er sich zufrieden zurück. »Voilà, meine Damen und Herren, hier die Fassung für den Kurzfilm-Oscar!«

Auf der Monitorwand erschien die Ausschnittsvergrößerung eines Bereiches der Kanzel. Was im ersten Moment wie ein Standbild wirkte, war die Verlangsamung des Films bis auf Einzelbilder, die im Abstand von zwei Sekunden aufeinanderfolgten. Die Qualität war zwar etwas grobkörniger als in der Totalen, aber man konnte den Spalt erkennen, der sich an einer der Platten an der Unterseite der Kanzel bildete. Im nächsten Bild war die Platte an einer Seite bereits einen halben Meter herabgesunken, auf dem dritten Bild fast zur Gänze, und auf dem vierten sah man auf ihr einen Schatten. Das nächste Bild zeigte die völlig von der Kanzel losgelöste Platte mit einem darauf hockenden Mann.

»Stopp!«, rief Dieter Alsmann an Schmuddel gewandt. »Was hält er da in der rechten Hand?«

»Einen Moment.« Schmuddel zoomte auf dem eingefrorenen Bild näher an den Mann heran, die Schärfe nahm ab. Nach einer erneuten Manipulation durch Braake baute sich das Bild neu auf und wurde dabei etwas schärfer.

Jenny versuchte, sich auf das Bild zu konzentrieren, und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ist das ein silberner Regenschirm, den er da in der Hand hält?«

»Nein«, merkte Mutti mit gerunzelter Stirn an, »es sieht eher so aus wie ein verchromter Haltegriff von einer Badewanne, oder?«

»Ich denke, es handelt sich um einen sehr großen Schraubenschlüssel«, sagte Alsmann unterkühlt.

Gregor bestätigte die Vermutung: »Es ist ein Schraubenschlüssel, und er wurde in der Nähe der Leiche gefunden. Die Fingerabdrücke darauf bestätigen, dass Itzigman ihn in der Hand hatte.«

»Eine seltsame Art, Selbstmord zu begehen«, meinte Jenny. »Da hockt einer auf einer Notausgangsplatte und schraubt so lange daran herum, bis sie mit ihm herausfällt. Das hätte er doch wesentlich einfacher haben können, oder? Warum ist er nicht einfach gesprungen? Was hat er sich dabei gedacht?«

Keiner wusste eine Antwort auf diese offensichtliche Frage. Nur Alsmann machte sich weiterhin eifrig Notizen, blieb aber stumm.

2. Kapitel

Nach einer mehrere Stunden dauernden Sichtung von Unterlagen, etwa über die Familienverhältnisse der Opfer, ihre berufliche Tätigkeit und die bisherigen Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchungen, nahm Gregor die Aufteilung in zwei Zweier-Teams vor. Jenny und Alsmann sowie Mutti und Schmuddel sollten am nächsten Tag noch einmal die Angehörigen befragen. Danach verabschiedete er sich und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

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