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Im ansonsten eher ruhigen Koblenz am Rhein wird ein Mann an den Füßen aufgehängt und vollständig ausgeblutet aufgefunden. Ein skurriler Einzelfall? Die Mordkommission um Hauptkommissar Auer ermittelt. Als eine weitere Leiche entdeckt wird, offenbart sich eine Gemeinsamkeit: Beide Opfer litten an einer Zwangsstörung und waren bei demselben Psychotherapeuten in Behandlung. Droht weiteren Patienten Gefahr? Wer bringt diese Leidens-genossen um und ... warum? Die dritte Leiche bestätigt den Verdacht, dass es tatsächlich jemand auf die Mitglieder einer Gesprächstherapie-Gruppe abgesehen hat. Der Fall entwickelt sich zu einem Albtraum für Auer, da er bei den Ermittlungen mit der Erinnerung an ein traumatisches Ereignis aus seiner Vergangenheit konfrontiert wird.
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Seitenzahl: 339
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All den Menschen, die unter psychischen Problemen oder Erkrankungen leiden und leider so oft von ihrer Umgebung nicht ernst genommen oder gar verlacht werden.
Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8404-7
Dieter AurassZwang zu tötenUlf Auers zweiter Fall
„Es gibt eine Geschichte hinter jeder Person. Es gibt einen Grund, warum sie so ist, wie sie ist. Sie ist nicht so, weil sie so sein will. Etwas in der Vergangenheit hat sie zu dem gemacht, und manchmal ist es unmöglich, sie zu ändern.“Sigmund Freud, 1856–1939Begründer der Psychoanalyse
Prolog
Koblenz-Innenstadt, 09:30 Uhr
1 – 2 – 3 – 4 – 5 ...
Er verfluchte sich, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wie viele Stufen diese verdammte Treppe hatte, obwohl er sie schon zigmal hinauf- oder hinabgegangen war.
26 – 27 – 28 – 29 ...
Ich meine, es waren zweiundvierzig, aber warum kann ich mich nicht erinnern?
Die Frage war absolut fehl am Platze, denn er wusste grundsätzlich genau, warum er sich nicht erinnern konnte. Weil er nicht nur diese Treppenstufen zählte, sondern alle Treppenstufen, die er jemals betreten hatte. Und er zählte nicht nur Stufen, nein, er zählte alles, was man im Vorbeigehen zählen konnte: Parkuhren am Straßenrand, Parkplätze in einer langen Parkbucht, die senkrechten Streben eines Brückengeländers oder die Laternenmasten in seiner Straße.
Dr. Rossbacher hatte ihm erzählt, woher dieser Zwang kam, aber das war nicht wirklich nützlich gewesen, seine Zwangsneurose zu lindern.
„Scheiß auf die Kindheit! Ich will, dass das aufhört und nicht wissen, warum und wodurch der Grundstein für diesen manischen Zählzwang in meiner Kindheit gelegt wurde.“
Dr. Rossbacher hatte nicht gerade freundlich reagiert, als er ihn während einer der vielen Einzelsitzungen angeschrien und ihm wiederholt sehr barsch versichert hatte, dass es ihn einen Scheißdreck interessiere, wie man diese Erkrankung nannte: Arithmomanie. Wie sollte ihm das helfen?
„Und diese Gesprächssitzungen in der Gruppe kotzen mich auch an! Ich habe keine Lust, mich mit lauter Bekloppten zusammenzusetzen und denen von meinen Problemen zu erzählen. Lassen Sie sich gefälligst eine bessere Therapie einfallen!“
Raimund Kellermann war nicht der Typ, der sich auf lange Diskussionen einließ, und er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Mit fünfundvierzig war er bereits einer der Stars in der deutschen Werbebranche und führte eine eigene Werbeagentur in Koblenz. Keiner seiner Mitarbeiter durfte ihm widersprechen, das war eine seiner eisernen Grundregeln. Allerdings war in letzter Zeit vermutlich einigen seiner Angestellten aufgefallen, dass er sich nicht immer völlig „normal“ verhielt.
Er hatte es nicht verhindern können, dass seine ständige Zählerei bemerkt worden war. Vor allem bei Besprechungen hatte er es nicht unterlassen können, auf einem Zettel Strichlisten zu führen: wie oft Wegner sich an die Nase fasste, wie viele Male Haschke: „Wenn Sie wissen, was ich meine?“, sagte oder wie oft die Müller auf die Uhr sah. Leider hatte er seinen Zettel liegen lassen, und die Überschriften über den Strichen mit den jeweiligen Namen und Handlungen sprachen Bände. Aber auf keinen Fall durfte einer seiner Leute mitbekommen, dass er bei so einem Psychoheini in Behandlung war. Gott bewahre, wenn das jemand rausbekam, konnte er in der Branche einpacken.
41 – 42 – 43.
Also doch, er hatte sich fast richtig erinnert. Er verließ das Schängel-Center auf der Clemensstraße, in dem er im Obergeschoss sein tägliches Fitnesstraining absolviert hatte, und hastete über den Zentralplatz in das Parkhaus des Forum Mittelrhein. Die bösen Blicke einiger Passanten, als er einfach über die Straße lief, anstatt sich an der Fußgängerampel anzustellen, ignorierte er. Wahrscheinlich galten sie sowieso eher seinem stylischen Kleidungsstil und seinem jugendlichen und sportlichen Aussehen, auf das er in seinem Beruf angewiesen war. Sein langer blonder Pferdeschwanz wippte, und der warme Septemberwind ließ sein weites Baumwollhemd flattern.
Im Parkhaus angelangt und auf dem Weg zu seinem Porsche, in dem er die Sporttasche abstellen wollte, kam er nicht umhin, die in der langen Reihe parkenden Autos zu zählen: 7 – 8 – 9 – 10 – 11.
Er warf die Tasche in den Kofferraum und machte sich umgehend auf den Weg zurück, damit er den Termin mit dem potenziellen Kunden noch schaffen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch fast zehn Minuten Zeit hatte, was für ihn bei einer Entfernung von geschätzten hundertfünfzig Metern bis zum Treffpunkt kein Problem darstellen sollte. Also verließ er das Shoppingcenter am nordwestlichen Ausgang und wechselte über die Görgenstraße ins Altlöhrtor in Richtung Löhrstraße. Schon beim Verlassen des Gebäudes begann er die Schritte zu zählen, um seine Entfernungsschätzung zu bestätigen. 56 – 57 – 58 – 59.
Beim Café Höfer angekommen, fand er nach einer überschlägigen Rechnung seine Schätzung bestätigt. Ziemlich genau hundertfünfunddreißig Meter bis zum Eingang des Cafés. Die acht, nein, neun Tische vor dem Café waren bis auf zwei alle besetzt, und er blickte sich suchend nach einem einzelnen Herrn um, der nach seinem Aussehen als Auftraggeber für eine Werbekampagne für ein neues, revolutionäres Produkt infrage kommen könnte. Aus dem eigentlichen Produkt hatte der Anrufer ein Geheimnis gemacht, und auch zur Branche hatte er sich noch nicht äußern wollen. Das sei auch der Grund für den ungewöhnlichen Treffpunkt, anstatt in die Agentur in der Koblenzer Innenstadt zu kommen.
Egal ... Hauptsache, ein Abschluss war zu tätigen. Das Produkt war Kellermann ziemlich egal. Die Erfahrung in seiner Branche hatte gezeigt, dass man mit der richtigen Werbekampagne jeden Scheiß an den Mann oder die Frau bringen konnte.
„Herr Kellermann?“
Er fuhr herum und sah sich einem unscheinbaren Mann mittleren Alters gegenüber, den er unter anderen Umständen eher für einen Büroangestellten gehalten hätte. Allerdings kam ihm der Mann entfernt bekannt vor. Wo hatte er ihn schon mal gesehen?
„Herr Paschke?“
„Ja, genau. Wir sind verabredet.“
Kellermann streckte die Hand aus und schüttelte die seines Gegenübers. Ihm fiel auf, dass sie schweißnass war, und obwohl der September einer der wärmsten seit Jahrzehnten war, hatte diese unappetitliche Feuchte nichts mit der Witterung zu tun. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse.
„Okay, Herr Paschke, wollen wir uns setzen? Ich habe noch weitere Termine, und es wäre mir lieb, wenn wir möglichst schnell zur Sache kämen.“
Der Mann wand sich ein wenig, als wäre ihm etwas peinlich. „Wäre es sehr schlimm, wenn wir zuerst zu meinem Wagen gehen, damit ich Ihnen das Produkt zeigen kann? Ich habe es im Kofferraum meines Wagens und möchte es nicht durch die Stadt tragen.“
Diese Geheimniskrämerei begann Kellermann auf die Nerven zu gehen, aber er wollte einen potenziellen Kunden nicht zu einem so frühen Zeitpunkt verprellen.
Der Mann schien zu merken, dass Kellermann ein wenig ungehalten wurde, und beeilte sich zu versichern: „Es dauert nicht lange, mein Wagen steht direkt hier im Altlöhr-Parkhaus, keine fünfzig Meter von hier. Es geht wirklich schnell, aber Sie müssen einen Blick auf das Produkt werfen, unbedingt. Dann können wir eine der größten Werbekampagnen planen, die Sie je hatten. Sie werden begeistert sein, versprochen.“
Dessen war sich Kellermann nicht so sicher, aber er gab klein bei. „Okay, gehen Sie voran und zeigen Sie mir dieses geheimnisvolle Produkt. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun auch nicht an.“
Gemeinsam gingen sie zum Parkhaus und fuhren dort mit dem Fahrstuhl auf das oberste Parkdeck. Der Mann roch unangenehm nach Schweiß, was Kellermann dazu veranlasste, sich so weit wie möglich von ihm weg in eine Ecke des Fahrstuhls zu drücken. Endlich öffnete sich die Tür, und sein zukünftiger Klient eilte voraus. Kellermann folgte ihm langsam, um auch den Abstand zu ihm nicht zu klein werden zu lassen. Zielsicher steuerte der Mann auf einen kleinen Toyota zu, der neben einem dunklen Kleintransporter stand.
Was soll das denn? Wenn der so einen Kleinwagen fährt, wie will der dann die Werbekampagne bezahlen?
Kellermann begann zu befürchten, dass bei diesem Treffen nichts als verlorene Zeit herauskommen würde. Aber einen Blick auf das ominöse Produkt wollte er nun ja doch riskieren. Der Mann hatte gerade den Kofferraum aufgeschlossen und nach oben geklappt. Dann war er einen Schritt zur Seite getreten und wies mit einer Hand auf den geöffneten Kofferraum. „Voilà, sehen Sie und seien Sie beeindruckt!“
Kellermann steuerte auf den Wagen zu und blickte in den dunklen Kofferraum, dessen Beleuchtung offensichtlich kaputt war. Das passte zu dem überhaupt schäbigen Eindruck, den das Fahrzeug machte. Er trat näher heran, blickte hinein und sah ... nichts.
„Was ...?“, wollte er aufbegehren, als sich von hinten eine Hand mit einem Lappen auf seinen Mund presste. Der beißende Geruch nahm ihm den Atem, und als er erschrocken tief Luft holte, bemerkte er noch, wie ihm ganz schwummrig wurde. Im nächsten Moment gingen alle Lichter im Parkhaus aus ... und tiefe Dunkelheit umfing ihn.
***
Langsam kehrte sein Bewusstsein zurück, und die erste Sinnesempfindung, die er verspürte, waren die hämmernden Kopfschmerzen.
Was? Wo?
Er spürte eine schaukelnde Bewegung, und als er versuchte, sich irgendwo abzustützen, bemerkte er mit Entsetzen, dass seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren. Der plötzliche Adrenalinschub holte ihn gänzlich ins Hier und Jetzt und ließ ihn die Augen aufreißen, die mit einer klebrigen Substanz bedeckt zu sein schienen. Trotz der bohrenden Kopfschmerzen schüttelte er heftig den Kopf, und es gelang ihm tatsächlich, die zähe Flüssigkeit von seinen Augen wegzuschütteln. Was er erblickte, ließ ihn entsetzt aufschreien. Er hing kopfüber über einer Pfütze, und ein erschrockener Blick in Richtung seiner Füße offenbarte ihm gleich mehrere schockierende Dinge:
Seine Füße waren mit einer Art Kette zusammengebunden, die über einen Ring in der Decke an eine etwa einen Meter entfernte Wand führte.
Sein Blick blieb auch an seiner ehemals hellbeigen Designerhose hängen, bei welcher der Gürtel geöffnet war und die nicht mehr hell, sondern nun dunkelrot war – zumindest oberhalb seiner Oberschenkel in Richtung des Gürtels.
Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass sich sein Kopf etwa einen Meter über einer großen Pfütze befand. Ein süßlicher Geruch stieg von der Pfütze zu ihm auf, und es dauerte eine Weile, bis er ihn als Blutgeruch erkannte. Erst als ein Tropfen von seinem Kopf in die Pfütze tropfte und kurz darauf der nächste, dämmerte ihm, was die dunkle Verfärbung seiner ehemals hellen Hose zu bedeuten hatte.
Es war SEIN Blut, das da heruntertropfte, und die Pfütze war bereits riesig. Er spürte keine Schmerzen, aber der Verdacht war naheliegend, dass er aus einer Wunde am Oberschenkel blutete.
Was soll das? Warum hänge ich hier und blute? Was kann ich tun?
Seine lauten Hilferufe und sein heftiges Schütteln und Schaukeln blieben ohne jede Wirkung ... außer, dass sich die Frequenz der in die Pfütze fallenden Tropfen etwas erhöhte.
Er kam nicht umhin, von den stetig fallenden Tropfen so eingenommen zu werden, dass er begann, sie zu zählen. Auch die Frage, wie lange er diesen Blutverlust wohl würde überleben können, änderte nichts daran, dass er ohne Unterlass weiterzählte.
35 – 36 – 37 ...
Er merkte, wie ihm schummrig wurde und er sich immer schlechter konzentrieren konnte.
51 – 52 – – 53 – – – 54 – – – – 55 ...
Kapitel 1
Tag 1Polizeipräsidium Koblenz, 09:15 Uhr
Der Morgen hatte so friedlich begonnen, dass Kriminalhauptkommissar Ulf Auer sich nicht hätte vorstellen können, dass an diesem Frieden recht plötzlich etwas zerbrechen könnte.
Er und sein Team von der Mordkommission des Polizeipräsidiums Koblenz hatten in Ruhe und gemeinsam Kaffee getrunken und sich dann an die Erledigung von Routinearbeiten gemacht: alte Akten aufarbeiten, Überstundenzettel ausfüllen, Reisekosten beantragen oder noch fällige Berichte zu Ende schreiben. Es gab immer etwas zu tun, auch wenn gerade kein aktuelles Tötungsdelikt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte.
Er lehnte sich bequem in seinem Bürostuhl zurück und ließ seinen Blick durch das Großraumbüro „seiner“ Mordkommission gleiten. Die anderen Mitglieder seiner Truppe saßen an ihren Schreibtischen und waren in ihre jeweilige Arbeit vertieft.
Kriminaloberkommissar Gerd Duben, der niemals wirklich darunter gelitten hatte, dass er vom Hauptkommissar zum Oberkommissar degradiert worden war, weil er in volltrunkenem Zustand einen Dienstwagen gegen eine Wand gesetzt hatte. Der Siebenunddreißigjährige und inzwischen trockene Alkoholiker war Ulfs bester Freund, ein sehr zuverlässiger Ermittler und eine große Unterstützung.
Kriminaloberkommissar Klaus Saibling, den alle nur „Fisch“ nannten, wobei keiner mehr wusste, ob er den Spitznamen seinem Nachnamen oder seiner Fähigkeit, sich aus allen Schwierigkeiten wie ein Aal herauszuwinden, zu verdanken hatte. Fisch war ein Computergenie und hatte sich schon mehrfach Disziplinarverfahren eingefangen, die aber alle ins Leere gelaufen waren, weil man ihm nie etwas bezüglich seiner teilweise illegalen Aktivitäten im Internet hatte nachweisen können. Der Zweiunddreißigjährige nahm es mit den gängigen Vorschriften, was den juristisch einwandfreien Zugriff auf das Internet anging, nicht wirklich genau, war aber immer so schlau gewesen, sich nicht erwischen zu lassen.
Das älteste Mitglied der Truppe, der siebenundfünfzigjährige Harald „Harry“ Kruse, war im Grunde harmlos, aber dennoch Ulfs größtes Sorgenkind. Harry war der typische Dandy, gab und kleidete sich trotz seines Alters wie ein dreißig Jahre jüngerer Mann und kaschierte seine mangelnde Körpergröße mit hochhackigen Stiefeletten. Das Problem mit ihm war, dass er die Finger nicht von jüngeren Frauen lassen konnte, unabhängig davon, ob sie verheiratet oder vielleicht sogar Zeuginnen in Ermittlungsverfahren waren. Das hatte ihm schon sehr viele Schwierigkeiten und in einem Fall sogar ein Disziplinarverfahren eingebracht und war auch der Grund gewesen, warum man ihn zu Ulf Auer versetzt hatte – in die sogenannte „Loser-Truppe“.
Ulf Auer selbst war zwar ein anerkannter und aufgrund seiner Erfolge geachteter Ermittler, hatte aber sein Mundwerk nicht im Griff und war deshalb immer wieder mit den Personen seines beruflichen Umfeldes, vor allem mit seinen Vorgesetzten, aneinandergeraten. Er war deshalb in Ungnade gefallen, und das war auch der Grund gewesen, warum seine Mordkommission in einen Kellerraum verbannt worden war, der nun als Großraumbüro eingerichtet die Heimat seiner Truppe darstellte. Aber inzwischen fühlten sie sich hier so heimisch, dass sie nicht wieder in eine bessere Unterbringung wechseln wollten.
Nach dem spektakulären Erfolg im vergangenen Jahr, als sie einen psychopathischen Serienkiller zur Strecke gebracht hatten, hatte der Polizeipräsident sie belohnen wollen und eine Rückkehr in die oberen Etagen des Polizeipräsidiums angeboten, aber Auer hatte nach Rücksprache mit seinen Leuten dankend abgelehnt.
Sein umherschweifender Blick blieb an ihrem „Neuzugang“ hängen, der, oder besser gesagt, die erst vor drei Monaten ihren ersten festen Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei bei ihnen eingenommen hatte.
Corinna Crott, die von allen nur Coco genannt wurde, hatte vor drei Monaten ihre Ausbildung zur Kriminalkommissarin mit Auszeichnung abgeschlossen und war danach durch Auers Fürsprache und auch als Anerkennung ihrer Rolle bei der Lösung des letzten großen Falles sofort der Mordkommission Koblenz zugeordnet worden.
Alles in allem hätte Auer wohl mehr als zufrieden sein können, wenn ... ja, wenn da nicht noch immer der ungeliebte direkte Vorgesetzte, Kriminaloberrat Wasgau, der Leiter des K 11, gewesen wäre.
Ulf schüttelte missmutig den Kopf, als er an den Schwiegersohn des Polizeipräsidenten dachte, der ihm und seiner Mannschaft immer wieder Schwierigkeiten machte, wenn es um Entscheidungen über die Vorgehensweise oder den Umgang mit den Medien ging. Aber ihm war klar, dass es eben nicht immer nur Licht, sondern auch Schatten gab und er sich wohl mit dem Umstand abfinden musste, dass er einen schwierigen und häufig wenig kompetenten Vorgesetzten ertragen musste.
Er dachte an die vielen Streitgespräche, die er mit Wasgau in den vergangenen Monaten geführt hatte, und musste lächeln. Sein Chef war ihm weder in Diskussionen noch in Fragen des Sachverstandes gewachsen, weshalb Wasgau oft mit eingezogenem Schwanz von dannen hatte ziehen müssen.
Sein Telefon klingelte aufdringlich, und noch immer lächelnd nahm er den Hörer auf.
„Auer?“
Sein Lächeln erstarb, als der Anrufer ihm mitteilte, dass man eine Leiche gefunden habe und die Auffindesituation keinen Zweifel daran ließe, dass es sich um einen Fall für die MK handele. Nachdem er sich alle Informationen hatte geben lassen und diese notiert hatte, legte er auf.
„Alle Mann, Achtung“, rief er in den Raum und hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden. „Wir haben einen neuen Fall, und nach allem was ich bisher weiß, könnte das wirklich interessant sein.“
Kapitel 2
Koblenz-Wallersheim, Industriegebiet, 09:45 Uhr
Der Parkplatz des „Lasertag-Zentrums“ im Industriegebiet von Koblenz-Wallersheim wäre leer gewesen, wenn nicht drei Streifenwagen und das Fahrzeug eines Bestattungsunternehmens in unmittelbarer Nähe des Einganges geparkt gewesen wären.
„Was ist das denn für ein Laden?“, fragte Harry Kruse erstaunt, als Auer den Dienstwagen direkt neben einem Streifenwagen parkte.
„Lasertag, kennst du das nicht?“, fragte Auer überrascht zurück.
„Lesen kann ich selbst, aber was ist das für eine Firma? Stellen die Laser her, oder was?“
Auer musste kurz auflachen, denn wieder einmal zeigte sich, dass Harry mit seinen siebenundfünfzig Jahren und als ältestes Mitglied der MK nicht wirklich auf die neuen Trends der Zeit stand. Er hatte wenig mit Computern zu tun und nutzte sie lediglich im Rahmen der dienstlichen Aufgaben, wobei er aber auch regelmäßig auf die Unterstützung durch Klaus Saibling angewiesen war. Lange hatte er sich gegen ein Smartphone gewehrt und es lediglich als dienstliches Hilfsmittel akzeptiert, weil inzwischen über dieses Medium auch Bilder von Tatorten oder Beschlüsse der Staatsanwaltschaft an die Beamten übermittelt wurden.
„Das, mein lieber lebensälterer Kollege, ist nach Auslegung der heutigen Jugend eine Sportstätte, in der junge Leute mit Laserwaffen aufeinander schießen, so ähnlich wie Paintball, wo sie sich in der freien Natur mit Farbkugeln beschießen.“
Harry sah ihn ungläubig an. „Du verarschst mich, oder?“
Nun musste Ulf Auer tatsächlich laut auflachen.
„Nein, ehrlich nicht. Ich habe mir das interessehalber mal angesehen, und ich muss sagen ... es hat was. Ist gar nicht so uninteressant, ganz spannend und tatsächlich auch anstrengend, wenn man nicht zu früh wegen zu vieler Treffer ausscheiden will.“
Harry Kruse schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte, während sie ausstiegen und sich zum Eingang des Gebäudes begaben, irgendetwas vor sich hin. Auer konnte lediglich etwas wie: „Ich versteh die Welt nicht mehr“, verstehen. Noch während sie durch den Eingang das Gebäude betraten, sah er aus den Augenwinkeln, dass der Dienstwagen mit Gerd Duben und Coco gerade auf das Gelände einfuhr.
Ein Uniformierter, der direkt hinter der Eingangstür stand, sprach Auer an: „Einmal ganz durch und dann hinten rechts, in einem Lagerraum ... da hängt er. Die Spurensicherung ist schon da.“
Ulf und Harry folgten seiner Richtungsangabe und bewegten sich zwischen eingezogenen Wänden und Hindernissen durch eine Art Labyrinth, das jedoch aufgrund der eingeschalteten Deckenbeleuchtung nicht schwierig zu durchschreiten war. Auer bemerkte, dass Harry sich die ganze Zeit verwundert umblickte, immer wieder den Kopf schüttelte und vor sich hin murmelte. Auf der einen Seite fragte er sich, ob Harry in seinem Alter dem Wandel der Zeit und der Gebräuche noch lange gewachsen sein würde, andererseits hatte das Alter auch etwas für sich. Harry erinnerte sich an Vorgänge, die schon viele Jahre zurück lagen, und zog Rückschlüsse aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in verschiedenen Bereichen der Kriminalpolizei.
„Und was machen die jungen Leute in diesem Labyrinth nun ganz genau?“, fragte er gerade, während sie zwischen den etwa zwei Meter hohen Wänden durch diesen künstlichen Irrgarten gingen.
„Sie kämpfen sich in Teams zwischen diesen Wänden und Deckungen durch und schießen mit Lasergewehren auf die Mitglieder des anderen Teams. Dabei tragen sie Westen, die einen Treffer mit dem Lasergewehr registrieren und irgendwann anzeigen, dass ein Gegner ausgeschaltet ist“, entgegnete Ulf geduldig. „Ich habe allerdings irgendwo gelesen, dass es inzwischen Westen gäbe, die leichte elektrische Stromstöße an den Träger weitergeben, damit auch ein Streifschuss wenigstens ein wenig Schmerzen verursacht. Ich glaube, das ist aber bisher nur in den USA erlaubt.“
Belustigt stellte Ulf fest, dass Harry immer noch fast ununterbrochen den Kopf schüttelte.
Er wurde von weiteren Erläuterungen erlöst, als sie das Ende der Halle erreichten, wo ein anderer Uniformierter stand, der einem Spurensicherungsbeamten im weißen Overall die Tür zu einem Raum aufhielt, aus dem er mit seinem Alukoffer und einer großen Plastiktüte gerade heraustrat. Der Beamte erkannte Ulf und Harry sofort.
„Ihr kommt ein wenig zu spät, sie haben ihn soeben abgehangen. Da müsst ihr euch dann schon die Fotos ansehen. War übrigens ein interessanter Anblick, wie der da so hing. Hat mich ein bisschen an ein Schlachthaus erinnert ... nur nicht so kalt.“
Ulf nickte lediglich schweigend und würdigte ihn keiner Antwort. Sie wäre vermutlich etwas barsch ausgefallen, da ihn die lockere Art, mit der viele Beamte der Spurensicherung, die ja an fast jeden Tatort gerufen wurden, schon immer gestört hatte. Es mangelte vielen von ihnen an Empathie und Pietät.
Grundsätzlich hatte er Verständnis dafür, dass diese Arbeit zu einer Verrohung oder Abstumpfung führte, denn anders wäre diese Tätigkeit langfristig wohl nicht zu ertragen gewesen. Aber dennoch störte es ihn, wenn an Fundorten von Leichen Witze gerissen wurden oder gelacht wurde.
Er und Harry betraten den Raum, bei dem es sich um ein Lager handeln sollte, was sie an zwei Regalwänden bestätigt sahen, in denen Bekleidung und technische Gerätschaften abgelegt waren. Zwei weitere Wände bestanden aus unbehandeltem Beton, in dem Haken und Ösen eingelassen waren, deren Zweckbestimmungen nicht sofort ersichtlich waren.
Eine schwere Eisenkette war an einem Haken in der Wand befestigt und führte über eine Öse in der Decke wieder nach unten. In der Verlängerung darunter befand sich eine riesige Pfütze, bei der Ulf Auer davon ausging, dass es sich um Blut handelte. Bei der Größe der Pfütze ging er ebenfalls davon aus, dass die Person, die noch vor Kurzem an der Kette gehangen haben musste, komplett ausgeblutet war.
Die Leiche lag etwas abseits außerhalb der Blutlache auf einer Plastikfolie, um Verunreinigungen vom Hallenboden an der Kleidung zu vermeiden. Ulf und Harry näherten sich langsam dem Körper, über den einer der Spurensicherungsbeamten gebeugt stand und mit behandschuhten Händen gerade die Gesäßtasche der blutdurchtränkten Hose durchsuchte. Ein weiterer Beamter machte Fotografien aus allen möglichen Blickwinkeln.
„Und, was könnt ihr uns denn schon sagen?“, fragte Harry den Kollegen, der gerade eine Brieftasche herausgezogen hatte und diese aufklappte.
„Mit etwas Glück gleich noch mehr, als dass wir hier eine männliche Leiche haben, die offensichtlich ausgeblutet ist. Also gedulde dich noch ein paar Sekunden.“
Ulf grinste in sich hinein. Es war typisch für Harry, die Initiative zu ergreifen und sofort zu fragen, anstatt darauf zu warten, dass der Kollege ihnen die Informationen von sich aus gegeben hätte. Geduld war noch nie Harrys Stärke gewesen.
Zum Glück wurde seine mangelnde Geduld nicht auf eine große Probe gestellt, denn bereits nach wenigen Augenblicken richtete sich der Beamte ächzend auf und entnahm der Brieftasche mehrere mit Blut beschmierte Karten.
„Ihr habt Glück, Freunde. Der Personalausweis lag zwischen Führerschein und irgendwas anderem und ist gut lesbar. Wenn ich es richtig entziffern kann, heißt euer Opfer Raimund Kellermann, ist, beziehungsweise war ... Moment ...“, er richtete die Augen gegen die Decke und bewegte lautlos die Lippen, „ ... wenn ich richtig rechne, fünfundvierzig Jahre alt. Als Wohnort ist hier Koblenz, Simmerner Straße 74, angegeben.“
Ulf hob überrascht die Augenbrauen an. Diese Gegend war jedem Kriminalbeamten in Koblenz nur zu gut bekannt, denn in dieser Straße befand sich unter der Hausnummer 14A die Justizvollzugsanstalt Koblenz im Stadtteil Karthause. Die Adressen mit den höheren Hausnummern lagen oberhalb der JVA und hatten oft einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt.
„Was kannst du uns denn zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Ulf, nachdem er sich die Daten notiert hatte.
Der Spurensicherer wiegte den Kopf hin und her, bevor er antwortete.
„Angesichts der hohen Temperatur in diesem Raum“, er wischte sich mit dem Ärmel seines weißen Overalls den Schweiß von der Stirn, „bin ich so kühn, mal zu behaupten, dass euer Opfer seit mindestens sechs Stunden tot ist. Soweit ich mitbekommen habe, war ein Mitarbeiter dieses Tempels der Schießwütigen gestern um vierundzwanzig Uhr das letzte Mal in diesem Raum.“
Er grinste breit. „Ich geh mal davon aus, dass das Opfer da noch nicht hier hing. Da er vermutlich hier ausgeblutet ist, können wir den Todeszeitpunkt wohl auf irgendwann zwischen null und zwei Uhr festlegen, da der Tote heute Morgen um neun Uhr entdeckt wurde. Aber da müsst ihr sicherlich noch ein wenig ermitteln, und da gibt es ja auch noch die Rechtsmedizin.“
Zwischenzeitlich waren auch Gerd Duben und Coco Crott hinzugekommen und hatten die letzten Ausführungen mitgehört. Beide waren so umsichtig, keine Fragen zu stellen, die Ulf oder Harry vielleicht schon längst gestellt hatten.
„Okay“, meinte Ulf nachdenklich. „Dann schlage ich vor, dass Harry und ich wieder ins Präsidium zurückkehren und ihr ...“, er blickte Duben und Coco an, „... seid bitte so gut und klärt hier die noch offenen Fragen. Also, wer hat Zugang, wer sind die Beschäftigten ...? Ach was, das brauch ich euch ja nicht zu sagen.“
Er hatte den vorwurfsvollen Blick von Duben bemerkt, der sehr genau wusste, welche Ermittlungen an einem Tatort durchzuführen waren. Und selbst Coco, die ja gerade erst ihre Prüfung abgelegt hatte, war mit Sicherheit in der Lage, an alle wichtigen Ermittlungen zu denken. Aber Ulf konnte seine Angst, irgendetwas könnte in Vergessenheit geraten oder übersehen werden, einfach nicht unterdrücken.
„Sorry, Leute. Wir machen uns jetzt auf den Weg, und wir können uns ja jederzeit telefonisch austauschen. Ich sende Fisch gleich die Personalien des Opfers, und dann schauen wir mal, was er im Internet über ihn herausfinden kann.“
Noch im Hinausgehen drehte er sich ein letztes Mal um und rief dem Spurensicherer zu: „Und ihr stellt so schnell wie möglich alle Informationen in unsere Datenbank, ja?“
„Aber natürlich, großer Meister“, antwortete ihm der Kollege, „gut, dass du es erwähnt hast. Ich hätte sicherlich nicht dran gedacht.“
Ulf Auer sah zu, so schnell wie möglich wieder zum Auto zu kommen, konnte aber nicht verhindern, dass ihn das Gelächter der Kollegen verfolgte.
Kapitel 3
Polizeipräsidium, Büro der MK, 10:30 Uhr
„Also, was wollt ihr denn so wissen?“, begrüßte Fisch seine Kollegen Auer und Harry, als sie den Kellerraum betraten, in dem die Mordkommission angesiedelt war.
Das Großraumbüro, in das die Truppe vor mehr als einem Jahr verbannt worden war, stellte inzwischen eine gut ausgestattete Zentrale für das fünfköpfige Team dar, in der es an nichts fehlte: Eine moderne Kaffeemaschine war ebenso unverzichtbar wie die Besprechungsecke, und die locker auf den etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum verteilten Schreibtische boten ausreichend Platz. Des Weiteren verfügte der Raum über eine kleine Teeküche und eine eigene Toilette mit Waschgelegenheit. Als einziges Manko empfand Auer lediglich die auf einer Seite des Raums gelegenen mickrigen Oberlichter, die nur sehr wenig Tageslicht in den Raum gelangen ließen.
„Du hast also schon ein wenig das Internet gequält“, bemerkte er jetzt mit einem anzüglichen Grinsen. „Was hast du denn so über unser Opfer herausfinden können?“
„Eine ganze Menge. Der war schon ein recht erfolgreicher Geschäftsmann. Seine Werbe- und Marketingfirma ist wohl ziemlich renommiert, hat die Geschäftsräume im Zentrum von Koblenz, und seine Villa auf der Karthause ist, wenn man den Luftaufnahmen bei Google Earth glauben darf, auch nicht ohne.“
„Familienstand?“, warf Harry in die Unterhaltung ein.
„Geschieden, wobei ...“, Klaus Saibling machte eine bedeutungsschwere Pause, „... ich mit dem Scheidungsurteil nicht so ganz klarkomme.“ Er hielt inne, als er die hochgezogenen Augenbrauen von Auer sah.
„Mensch, Ulf, mach dir nicht ins Hemd. Die Datenbank des Familiengerichtes ist jetzt wirklich keine große Sache. Also keine Angst, da merkt schon keiner, dass ich da mal nachgesehen habe. Wir müssen die Unterlagen halt nachträglich noch offiziell anfordern, aber zumindest wissen wir schon mal, dass es sich vermutlich lohnt.“
Auer stöhnte vernehmlich auf, und Harry grinste still in sich hinein. „Eines Tages fällst du wirklich mal auf, und eigentlich würde ich dich ungern verlieren. Aber du musst es ja wissen, was du da so auf eigene Gefahr treibst. Also ...“, fragte Ulf schließlich, „... was ist da so ungewöhnlich oder schwer zu verstehen?“
Fisch ließ sich Zeit, und sein zufriedener Gesichtsausdruck zeigte, dass er es genoss, wieder einmal aufgrund seiner illegalen Aktivitäten mehr zu wissen als alle anderen. Schließlich ließ er sich dazu herab, zu berichten. Auer und Harry hatten sich Stühle herangezogen und lauschten ihm aufmerksam.
„Also ... es gibt da Andeutungen, nichts wirklich Genaues leider, dass er seine Frau – oder besser Ex-Frau – in den Wahnsinn getrieben haben muss aufgrund bestimmter psychischer Defizite, die sie nicht mehr aushalten konnte. Vermutlich“, er lachte laut auf, „hatte das Gericht wohl Angst vor genialen Hackern, die diese Unterlagen einsehen könnten, weshalb da keine genauen Erkenntnisse drinstehen.“
Als das wohl erwartete Lob seiner Genialität ausblieb, fuhr er etwas frustriert fort: „Na ja, wie dem auch sei, er musste auf jeden Fall einen nicht unerheblichen Betrag an Unterhalt zahlen, weshalb ich die Ex-Frau mal von der Liste der Verdächtigen streichen würde, denn die hat jetzt auf jeden Fall die A-Karte gezogen, wenn die Zahlungen ausbleiben.“
Harry Kruse hatte die Stirn gerunzelt, und seine Augenbrauen hatten sich zusammengezogen.
„Das ist alles? Ich fass es nicht. Und über solche Kleinigkeiten machst du so einen Aufriss? Pah!“
Er hatte sich erhoben und war in Richtung der Kaffeemaschine aufgebrochen. Dabei grummelte er vor sich hin und brachte so sein Missfallen zum Ausdruck.
„Was hast du denn bisher in der Sache geleistet, hä?“, rief Fisch ihm hinterher, und Auer sah sich genötigt, einzugreifen.
„Jetzt mal langsam, Jungs. Das ist doch für den Anfang schon mal was. Ich halte das für einen guten ersten Ansatzpunkt, und vielleicht bekommen wir ja bei den Ermittlungen am Arbeitsplatz oder der Vernehmung der Ex-Frau genauere Hinweise darauf, wo ein mögliches Motiv liegen könnte und um was für ein Problem es sich handelt, an dem die Ehe gescheitert ist. Zumindest“, rief er etwas lauter in Richtung Kaffeemaschine, „wissen wir ja schon mal, auf was wir achten müssen!“
„Pah“, schallte es wenig überzeugt von der Kaffeemaschine herüber.
„Mach dir nichts draus“, beruhigte er Fisch, der schon zu einer weiteren Entgegnung ansetzte, „er ist bloß frustriert. Keine große Sache.“
Manchmal, dachte er leicht genervt, komme ich mir vor wie im Kindergarten, wo man ständig zwischen den sich streitenden Kleinen vermitteln muss. Hoffentlich haben Duben und Coco noch was Positives am Tatort herausbekommen können.
Als hätten sie seine Gedanken hören können, öffnete sich in diesem Moment die Tür und Gerd Duben ließ Coco an sich vorbei in den Raum treten, was Auer ihm nicht zugetraut hätte, da Gerd normalerweise nicht wirklich ein Gentleman der alten Schule war. Als allerdings hinter Coco eine weitere Frau durch die Tür hereinkam, wurde ihm klar, woher die besondere Höflichkeit kam.
Dicht hinter Coco Crott trat Sandra Hartung ein, die Oberstaatsanwältin, von der lediglich die Mitglieder der Mordkommission wussten, dass sie das feste Liebesverhältnis von Ulf Auer war. Wobei das mit dem „fest“ so eine Sache war, von deren fehlender Beständigkeit die Kollegen zum Glück selten etwas mitbekamen. Leider viel zu oft gerieten Ulf und Sandra aneinander, wobei es meistens um die mögliche Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft ging. Momentan befanden sie sich in einer der „Friedensphasen“, in der das Thema eben gerade mal kein Thema war.
Der Blick der Neununddreißigjährigen erhellte sich, als sie Ulf sah, und sie ging mit einem kurzen Nicken in Richtung der anderen geradewegs auf ihn zu.
„So, ihr habt also wieder einen neuen Mordfall, und wenn die Informationen, die mir bisher vorliegen, richtig sind, dann handelt es sich mal wieder um etwas Spektakuläres, richtig?“
„Ja, leider“, seufzte Ulf, während er um ihre Taille griff, sie zu sich heranzog und ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen gab. „Der Tatort lässt darauf schließen, dass es sich nicht um ein spontanes Verbrechen gehandelt hat, sondern von langer Hand geplant und vorbereitet war. Aber diesbezüglich stehen wir wirklich noch ganz am Anfang.“
Sandra Hartung schüttelt ihre lange schwarze Mähne, die ihr helles Gesicht mit den rot geschminkten Lippen so kontrastreich einrahmte.
„Ich will doch hoffen, dass es sich nicht wieder um den Auftakt einer Serie handelt. Sollten wir eine Sonderkommission bilden, damit ihr Unterstützung bei den Ermittlungen habt?“
„Gott bewahre“, beeilte sich Auer zu entgegnen. „Mal den Teufel nicht an die Wand. Bisher kommen wir sicherlich noch alleine zurecht, und an einen neuerlichen Serientäter will ich gar nicht denken. Aber da fällt mir ein, dass ich Coco und Gerd noch über den Ermittlungsstand informieren wollte, und dabei kannst du gleich zuhören.“
Er winkte Coco und Gerd zu sich heran, und sie setzten sich gemeinsam an den kleinen Besprechungstisch.
„Auch einen Kaffee, Frau Oberstaatsanwältin?“, fragte Coco noch stehend. Sandra Hartung bejahte, und Coco beeilte sich, zwei Tassen Kaffee zu holen und an den Tisch zu bringen. „Okay“, fragte Coco, nachdem sie sich gesetzt hatte, „was gibt es, was wir noch nicht wissen? Ich kann jetzt schon sagen, dass es auf jeden Fall mehr ist, als wir am Tatort herausfinden konnten, aber dazu gleich mehr. Du zuerst“, sagte sie in Richtung Auer und nippte an ihrem Kaffee.
Auer erzählte von den Erkenntnissen bezüglich der Ex-Frau, wobei er es vermied, die Quelle der Informationen zu nennen.
Aus den zusammengekniffenen Augen und dem misstrauischen Seitenblick in Richtung Fisch durch Sandra Hartung konnte er allerdings schließen, dass sie sich denken konnte, dass diese Informationen auf bestenfalls halb legalen Wegen an die MK gelangt waren.
„Und was habt ihr vom Tatort zu berichten?“, lenkte Auer mit seiner Frage an Duben die Aufmerksamkeit der Oberstaatsanwältin von Fisch ab.
„Berichte du, Coco, es frustriert mich zu sehr“, antwortete Duben genervt.
Coco nahm sofort den Faden auf. „Nun ja, es ist wirklich nicht sehr erfreulich. Das ist der denkbar schlechteste Tatort, den man sich vorstellen kann, zumindest aus unserer Sicht. Für den oder die Täter war es ein Segen. Keine Alarmanlage, keine Videoüberwachung, Unmengen von Schlüsseln, über die es keine Nachweise gibt, zahlreiche Angestellte, überwiegend Teilzeitkräfte, und vor allem keine Kundendatei, aus der wir eruieren könnten, wer alles die Anlage ausgespäht haben könnte. Wir haben selbstverständlich eine Liste aller Beschäftigten, und Fisch kann ja mal in den einschlägigen Systemen checken, ob jemand Bekanntes dabei ist, aber ich verspreche mir nicht wirklich viel davon. Da jede Menge junger Leute einfach so vorbeikommen und sich stundenlang zum Spielen dort aufhalten können, kann es Hunderte von Leuten geben, die sich dort in aller Ruhe umgesehen haben und dabei feststellen konnten, wie einfach es ist, da reinzukommen und wie lange die Anlage zwischen den Öffnungszeiten in der Nacht verwaist und unbewacht ist. Tut mir leid.“
Auer winkte ab. „Das ist dann halt nicht zu ändern. Also ermitteln wir erst mal mit dem Wenigen, was wir bisher haben. Ich schlage deshalb vor“, fuhr er nach kurzer Überlegung fort, „dass ein Team sich schnellstmöglich in diese Werbeagentur begibt und dort die Ermittlungen aufnimmt. Ein weiteres Team sollte versuchen, die Ex-Frau ausfindig zu machen und zu befragen. Wer macht was?“
Er sah, wie Sandra Hartung die Augen verdrehte. Er wusste, dass sie es nicht verstand, wie viel Entscheidungsfreiheit er seinen Mitarbeitern ließ. Sie an seiner Stelle hätte eine Einteilung vorgenommen, egal, ob die ihren Mitarbeitern gefallen hätte oder nicht.
Kapitel 4
Werbeagentur Kellermann, 11:30 Uhr
„Das ist jetzt ein Scherz, oder? Ist das ‚Versteckte Kamera‘?“
Duben sah den Mitarbeiter der Werbefirma entgeistert an. Man erlebte ja eine Menge an unterschiedlichen Reaktionen, wenn man Todesnachrichten überbrachte, aber ein grinsender Mitarbeiter, der an einen Scherz zu glauben schien, war ihm bisher noch nicht untergekommen.
„Nein“, antwortete er barscher, als es vielleicht angebracht war, aber der Typ kam ihm übermäßig gut gelaunt vor, und an seinem amüsierten Gesichtsausdruck änderte sich auch dadurch nichts, dass Duben ihm den Dienstausweis vor die Nase hielt.
„Echt jetzt? Ohne Quatsch? Wow, das ist ja mal eine gute Nachricht.“
Sowohl Harry als auch Duben sahen den etwas zu flippig angezogenen Mittvierziger verständnislos an und wussten beide nicht, wie sie reagieren sollten. Gerd Duben öffnete mehrmals den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber sofort wieder, weil ihm nicht die richtige Entgegnung einfallen wollte. Zum Glück erlöste der Mann sie aus ihrer Unsicherheit, indem er die Tür weit aufriss und sie gut gelaunt einlud: „Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Sie müssen uns alles genau erzählen. Nur einen kleinen Moment, ich ruf mal die Kolleginnen und Kollegen zusammen.“
Duben sah Harry mit offenem Mund an und schüttelte nur den Kopf. Harry zuckte schweigend mit den Schultern und folgte dem Mann in die Räume der Werbeagentur. Der Kollege, der sie an der Tür empfangen hatte, gab ihnen nicht die Chance, die Nachricht selbst zu überbringen, denn gerade als sie in das Großraumbüro eintraten, in dem drei weitere Männer und drei Frauen an ihren Computern saßen, verkündete er: „Leute, aufgepasst, hier sind zwei von der Kripo, die uns die frohe Botschaft überbringen, dass unser geliebter Chef tot ist. Angeblich ist es kein Scherz, aber das werden sie uns sicherlich noch genauer erklären.“
Obwohl Duben von dieser Ankündigung schockiert war, beobachtete er dennoch sehr genau die Reaktionen der Anwesenden.
Zwei der Frauen schienen geschockt, eine machte einen sichtlich erleichterten Eindruck, und die drei Männer grinsten.
Was ist das denn für ein Laden? Haben die keine Angst davor, dass die Firma jetzt den Bach runtergeht und sie ihre Jobs verlieren?
Duben hatte wirklich schon viel erlebt, aber so etwas noch nie. Er musste sich zusammenreißen, um sich auf die übliche Vorgehensweise zu konzentrieren.
„Harry, du die Männer, ich die Frauen.“
Harry verdrehte die Augen, fügte sich aber in sein Schicksal. Er schien genau zu wissen, dass Duben ihn andernfalls auf seine zahlreichen Verfehlungen im Zusammenhang mit Zeuginnen hingewiesen hätte.
Gerd deutete mit dem Finger auf den flippigen Mitarbeiter. „Sie gehen mit dem Kollegen, die anderen Herren warten hier, bis sie an der Reihe sind. Ich möchte zuerst mit Ihnen reden ...“, er deutete auf die Dame, die einen so auffällig erleichterten Eindruck gemacht hatte, „... und mit den anderen Damen unterhalte ich mich im Anschluss.“
Er wandte sich der etwa fünfundzwanzigjährigen und ausgesprochen hübschen Brünetten zu.
„Wo können wir uns denn mal in Ruhe unterhalten?“
Kapitel 5
Mülheim-Kärlich, 11:40 Uhr
Auer und sie waren schon auf der Fahrt übereingekommen, dass Coco die Gesprächsführung übernehmen sollte, quasi „von Frau zu Frau“. Damit hatte Coco kein Problem. Sie wusste nur zu gut, dass es bei einer solchen Nachricht von Vorteil sein konnte, wenn sie von einer Frau überbracht wurde. Eventuell brach die Empfängerin der Nachricht zusammen und musste in den Arm genommen werden. Da war es besser, wenn das eine Beamtin machte, um alle möglichen Missverständnisse zu vermeiden.
Es war kein Problem gewesen, Verena Kellermann, die Ex-Frau des getöteten Raimund Kellermann, als inzwischen in der kleinen Stadt Mülheim-Kärlich, nur zehn Kilometer westlich von Koblenz, wohnhaft auszumachen. Sie hatte sich ordentlich umgemeldet, und bereits in den Scheidungsunterlagen war ihre noch immer gültige Adresse angegeben gewesen. Sie bewohnte laut Meldeunterlagen das kleine Einfamilienhäuschen alleine, ging keiner Beschäftigung nach, und sie hatten auch insofern Glück, dass ihnen bereits wenige Sekunden nach ihrem Läuten geöffnet wurde.
Bereits aus dem Scheidungsurteil war ersichtlich gewesen, dass Verena Kellermann ganze zehn Jahre jünger war als ihr nun verstorbener Ex-Mann. Die gepflegte Blondine, die ihnen die Tür öffnete und sie fragend ansah, machte auf Coco sofort einen Eindruck, zu dem ihr lediglich der Ausdruck „Luxus-Weibchen“ einfiel.
„Ja, bitte?“, fragte sie, sah ihnen direkt ins Gesicht und strich sich mit überlangen und grellrot lackierten Fingernägeln die langen blonden Haare zurück. Wäre sie nicht dabei gewesen, hätte Coco ihr gesamtes Auftreten als sofortigen Flirtversuch mit Auer ausgelegt.
Sie beeilte sich, ihr Anliegen so schnell wie möglich vorzutragen, damit kein falsches Bild entstand.
„Guten Tag, Frau Kellermann, mein Name ist Crott, und das ist mein Kollege Auer. Wir kommen vom Polizeipräsidium Koblenz und haben leider schlechte Nachrichten für Sie. Dürfen wir hineinkommen?“
Sowohl sie als auch Auer hatten ihre Ausweise gezückt und hochgehalten. Ihre Reaktion zeigte Coco, dass sie vermutlich weder Kinder noch Geschwister hatte, um die sie sich hätte Sorgen machen können. Ansonsten wäre die wahrscheinlichste Reaktion auf eine solche Ankündigung ein erschrockenes: „Oh Gott, ist was mit ...?“, gewesen.
Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah sie misstrauisch an. „Da ich vor fünf Minuten mit meiner Mutter in Frankfurt telefoniert habe, kann da eigentlich nichts vorgefallen sein, also bin ich mal gespannt, was Sie mir Schlimmes erzählen wollen.“
Na, das kann ja heiter werden, dachte Coco überrascht.
Laut Scheidungsurteil waren Frau Kellermann und ihr Ex-Mann erst seit vierzehn Monaten getrennt und seit drei Wochen geschieden, aber sie schien keine Sekunde an ihren Ex-Mann zu denken.
Sie folgten der schnellen Schrittes vorausgehenden Frau ins Haus, bis sie in ein edel eingerichtetes Wohnzimmer gelangten, wo sie auf eine große Ledercouch wies.
„Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Wasser?“
„Ein Kaffee wäre sehr nett“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Auer, und Coco musste sich ein Grinsen verkneifen, offensichtlich hatte er Angst, sie würde ablehnen.
Verena Kellermann ließ sich Zeit, man hörte sie in der Küche rumoren, und kurz darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem sie drei dampfende Tassen, Milch, Zucker, Süßstoff und einige Plätzchen ins Wohnzimmer trug. Sie platzierte die Tassen vor Coco und Auer auf dem Couchtisch, nahm sich selbst eine Tasse und ließ sich schließlich in einem Sessel nieder.