Fränkischer Krimisommer (eBook) - Tommie Goerz - E-Book

Fränkischer Krimisommer (eBook) E-Book

Tommie Goerz

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Beschreibung

Die steilen Abhänge der Fränkischen Schweiz, die unergründlichen Tiefen des Fränkischen Seenlands, die dunklen Pfade des Frankenwalds ... Die heimischen Urlaubsregionen liefern keine reinen Postkartenidyllen, ihre Schönheit kann auch schnell ins Gegenteil umschlagen. Zehn Autorinnen und Autoren haben sich einen sengenden Sommer lang auf die Schattenlinien des Verbrechens begeben und auf die Schattenlinien des Verbrechens begeben und auf die Schattenlinien des Verbrechens begeben und präsentieren eiskalte Krimikurzgeschichten aus dem Altmühltal, dem Nürnberger Land, Weinfranken, dem Fränkischen Seenland, der Fränkischen Schweiz, dem Fichtelgebirge, Erlangen, dem Frankenwald, dem Taubertal und dem Romantischen Franken.

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FRÄNKISCHER

KRIMISOMMER

 

10 GLUTHEISSE KURZKRIMIS

 

 

 

ARS VIVENDI

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Mai 2018)

 

© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © lkpro / Photocase

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-912-8

 

Inhalt

Theobald Fuchs – Kumpels über den Tod hinaus

Tessa Korber – Weinfreie Insel

Helwig Arenz – Das Venedigermandl

Horst Prosch – Conni kommt später

Susanne Reiche – Fehlschuss

Killen McNeill – Schneeballenparadies

Johannes Wilkes – Summer in the city

Tommie Goerz – Umkleide 36

Roland Ballwieser & Petra Rinkes – Die eiserne Jungfrau

Elmar Tannert – Grenzfall

Die Autorinnen und Autoren

 

Theobald Fuchs – Kumpels über den Tod hinaus

Eigentlich war der Plan perfekt gewesen: Zack!, den Bonzen schnappen, rauf zum Hahnenkamm in die Waldhütte, warten, bis das Lösegeld rübergewachsen kommt, und ab auf die Insel, Griechenland, Spanien – egal: irgendwo im Süden mit nichts als Sonne und Strand. Aber der Teufel selbst schuf dieses Altmühltal mit seinen krassen Kurven, und er schickte uns das Kind über den Weg, die Typen mit der Waschmaschine, die Mülltonnen und natürlich noch die Daggie, aber gut, die Daggie freilich nur mir … doch stopp! Bevor ich alles von hinten her erzähle und keiner was versteht, fange ich noch mal von vorne an.

Also: Schon ganz am Anfang entschieden sich die Dinge, anders zu laufen, als wir geplant hatten. Wir sind: ich, mein alter Schulfreund, der Mäx aus Eichstätt, und sein Vetter, der Roland, den aber alle immer nur »Eimer« nannten, weiß der Kuckuck, warum. Ich hatte den Mäx ja noch gefragt, ob der Roland das alles auch aushalten würde, weil der im Prinzip nur ein Strich in der Landschaft war, immer blass im Gesicht und mit seinen dünnen, schlaffen roten Haaren doch recht erbarmungswürdig. Aber Mäx hatte gesagt: »Ja, klar doch, kein Problem.«

Wir hatten früh um sieben unseren Hinterhalt eingerichtet, an der Staatsstraße zwischen Altendorf, wo Dr. Bebel wohnte, und Dollnstein, wo er Direktor der Raiffeisenbank war. Mäx hatte vorne an der Kreuzung, wo die Straße ins Dorf abzweigt, im Gebüsch gelauert, um uns Bescheid zu sagen, wenn der Direktor auftaucht. Wir dachten, dass wir alles längst erledigt haben würden, bis der große Schwung Wanderer und Kanufahrer aufkreuzen und das Altmühltal bevölkern würde. Aber der Direktor ließ sich endlos Zeit. Wir warteten und warteten, immer mehr Autos gondelten durchs Tal, es ging zügig auf zehn zu, und gerade als mich Mäx auf dem Handy anrief und vorschlug, dass wir aufgeben sollten, da kam der feine Herr Dr. Bebel angefahren.

»Eimer« stellte sich in die Mitte der Straße und winkte wie wild mit den Armen. Der Direktor hielt dann auch brav an und stieg aus seinem dicken SUV, mit dem er locker über den Roland drüberfahren hätte können wie über eine Briefmarke. Ich sprang aus dem Graben, stülpte Dr. Bebel die Tüte über den Kopf, warf ihn zu Boden und fesselte ihn mit Kabelbindern an Händen und Füßen. Das war wirklich alles, was ich tat. Bebel wehrte sich aber trotzdem völlig übertrieben, er strampelte und blubberte in der Tüte, die wir ihm erst herunterzogen, als er im Kofferraum lag. Mäx, der dafür extra schöne, schwarze Lederhandschuhe anzog, stieg in den SUV und parkte ihn auf einem Waldweg, der gleich nach der Kurve abzweigte. Dort stand das Monstrum gut, niemand würde sich daran stören und das Auto bei der Polizei melden, sodass wir mehr als genug Zeit haben würden, um mit der Ehefrau die Sache mit dem Lösegeld zu regeln – jedenfalls dachten wir uns das!

Eine gute Idee war das schon vom Roland gewesen, den Direktor in Oberbayern zu entführen und sich nach Mittelfranken abzusetzen, einfach das Altmühltal hoch Richtung Treuchtlingen. Weil es, so rechneten wir uns aus, für die Polizei immer schwieriger war, wenn zwei Dienststellen in verschiedenen Bezirken, die jeweils von einem machtgeilen Kommissar regiert wurde, plötzlich bei einem Fall zusammenarbeiten mussten.

»Die sollen sich einfach gegenseitig im Weg stehen«, hatte Roland gelacht, und wir hatten mitgelacht.

Bloß dass dem Roland dann das Lachen verging, als wir das Altmühltal entlangbretterten, mit unserem Volvo. Es stimmt schon, dass der Mäx fuhr wie eine gesengte Sau, sodass auch mir auf dem Beifahrersitz bisweilen mulmig wurde, wie wir direkt unter den zwölf Aposteln noch ein Wohnmobil überholten, Solnhofen links unten liegen ließen, mit einem Affenzahn in den Kreisverkehr bei Zimmern rauschten, wo die Altmühl um eine Haarnadelkurve fließt, links hoch mit Vollgas durch den Tunnel rasten, genauso an Pappenheim vorbei, bis es schließlich mit quietschenden Reifen kurz vor Dietfurt in diese Ziehkurve ging. Aber es wird schon auch ganz allgemein viel Aufregung dabei gewesen sein beim »Eimer«, weshalb er von einem Augenblick auf den nächsten unbedingt kotzen musste.

So plötzlich, dass es zu spät zum Anhalten war, weil da schon die ganze Brühe hinten auf die Fußmatte plätscherte. Womit wiederum der Mäx nicht gerechnet hatte und zu lange den Kopf nach hinten drehte, weswegen wir beinahe von der Straße abgekommen und rechter Hand im Wiesengrund der Altmühl gelandet wären. Wirklich arschknapp war das, aber er schaffte es, das Auto, das schlingerte wie eine Papierschlange im Fasching und sich sogar einmal komplett herumdrehte, zum Stehen zu bringen.

Wir hingen in unseren Gurten, sagten kein Wort und bliesen ganz langsam die verbrauchte Luft aus unseren Lungen. Wie auf Befehl hatten wir alle für eine Minute den Atem angehalten.

»Ich brauch jetzt eine Zigarette«, sagte ich schließlich als Erster in die Totenstille hinein.

Mäx startete den Motor, der ihm abgesoffen war, und bog ein paar Hundert Meter weiter in eine der Zufahrten zum Marmorwerk ein. Als man uns von der Straße aus nicht mehr sehen konnte, hielt er an. Im Wald zwitscherten die Vögel, es roch nach nassem Laub und nach Pilzen, denn es hatte zwei Tage zuvor ordentlich geregnet, ehe es noch mal so richtig warm geworden war, und ich wäre auf einen Schlag wahnsinnig gerne Pilze suchen gegangen, aber das war jetzt gerade echt nicht unbedingt der günstigste Augenblick dafür.

Mäx und ich stiegen aus, er gab mir Feuer, und seine riesige Faust, mit der er schon so manchem Feind die Zähne in den Hals gestoßen hatte, zitterte dabei. Dann beugte er sich in die geöffnete hintere Tür und blies eine Rauchwolke ins Innere des Wagens.

»Hat das jetzt sein müssen? Die Sauerei kriegen wir nie wieder raus!«, tadelte er seinen Cousin.

Doch Roland hatte schnell die Fassung wiedergewonnen: »Wenn wir die drei Millionen haben, kaufst du dir doch eh was Neues, so einen Maserati wie in der Serie mit dem Tatortreiniger.«

»Leute, seid doch mal still!«, unterbrach ich sie. »Hört ihr was?«

Die beiden schlossen den Mund und lauschten angestrengt in den Wald.

»Nee, ich hör nix«, sagte Roland nach ein paar Sekunden.

»Ich auch nicht«, bestätigte Mäx.

»Scheiße!«, rief ich, schmiss die Zigarette weg und sprang zum Kofferraum.

Mir war die Stille sofort verdächtig gewesen, und jetzt sahen wir alle drei, dass ich mit meinem Verdacht exakt richtiggelegen hatte: Dass Dr. Bebel bei unserem Beinahe-Crash etwas abbekommen hatte, was ihn daran hinderte zu zappeln und zu quäken. Nur: Dass er komplett tot war, das hatte auch ich nicht erwartet. Seine wasserblauen Augen waren weit aufgerissen und glotzten uns bewegungslos an, seine Anzughose war schwarz gefärbt, weil er sich im Tod praktisch vollständig eingeschifft hatte. Genickbruch. Er war ja auch unvernünftigerweise nicht angeschnallt gewesen.

»Und jetzt?«, fragte Roland. Seine Stimme zitterte fast nicht wahrnehmbar.

»Keine Ahnung!«, sagte ich wütend. »Jedenfalls übernehme jetzt ich das Steuer.«

Mäx war danach erst einmal richtig kleinlaut. Zu Recht, fand ich, denn unser Vorhaben, den Direktor gegen Geld einzutauschen, war durch dessen unsanftes Ableben nicht gerade einfacher geworden. Mäx ließ seinen viereckigen Kopf hängen, der genauso wie seine Hände überhaupt nicht zu seinem schwächlichen Körper passte, und grübelte über sein Missgeschick.

Nach Treuchtlingen rein kamen wir an der Siedlung vorbei, wo die Daggie herkommt, in dem Winkel zwischen der Augsburger und der Ingolstädter Bahnstrecke, die sich weiter vorne treffen. Davon wusste ich damals aber nichts, weil ich die Daggie überhaupt noch nicht kannte. Die Gelegenheit, bei der wir uns begegneten, brauchte noch eine kurze Weile, bis sie sich schlussendlich ergab. Die Daggie war schon fast fünfunddreißig Jahre alt und immer noch nicht verheiratet. Ihr Vater hatte ein Geschäft für Baumaterial, und er bemmste die Daggie pausenlos, dass sie endlich einen Schwiegersohn nach Hause bringen solle, und dass sie so dünn sei und niemand ein solches Knochengestell zur Frau haben wolle. Was die Daggie natürlich jedes Mal fürchterlich erboste und dazu führte, dass sie nur noch mehr auf stur machte und das Konzept von Ehe, Familie und regelmäßiger Ernährung lautstark ablehnte.

Wie sie mir später verriet, hätte es da freilich ein paar Kerle gegeben, die großzügig über ihre magere Gestalt und ihre herrische Art hinweggesehen hätten, weil ja im Hintergrund ein Firmenerbe winkte – bloß dass die Daggie halt keinen von diesen, wie sie sagte, »schafsnasigen Langweilern« hatte haben wollen. Und dass sie dann, als sie mich kennenlernte, auf Anhieb erkannte, für welche Art Mann sie sich all die Jahre aufgespart hatte.

An der großen Kreuzung in der Ortsmitte bog ich rechts ab Richtung Weißenburg und parkte dann den Wagen vor dieser Pension an der Brücke. Dort würde das Nürnberger Kennzeichen überhaupt nicht auffallen, schon wegen des Thermalbads auf der anderen Flussseite.

Es war mit dem ganzen Hin und Her halb zwölf geworden. Unsere Lage war ernst, das hatten wir schon geschnallt, sehr ernst sogar. Aber wenn wir uns einen vernünftigen Plan ausdenken wollten, mit dem wir wieder heil aus der Nummer herauskommen konnten, dann musste das in Ruhe geschehen und im Vollbesitz aller körperlichen und geistigen Kräfte. Und es gibt nichts, was für körperliche und geistige Kräfte so förderlich ist wie ein Schnitzel und eine Halbe Bier.

Dass uns das der Richter später als »Kaltschnäuzigkeit« und »brutale Kälte« ankreidete, kann ich ihm nicht verübeln. Der Mann hatte ja wahrscheinlich noch nie selbst in so einer Situation gesteckt, das hatte der nie nötig gehabt, mit seinen reichen Eltern, die ihm fünfundzwanzig Semester Jurastudium bezahlt hatten, wo er die Puppen tanzen ließ, ehe ihm ein Kumpel von seinem Politiker-Vater den legeren Posten am Landgericht in Ansbach besorgt hatte. So jedenfalls stelle ich mir das vor, und ich bin dem Typen echt nicht böse deswegen. Ehrlich gesagt bin ich niemandem böse, weil ja jede Medaille eine Kehrseite hat – oder wie auch immer das heißt. Was den toten Dr. Bebel anbelangt, habe ich auch ein völlig reines Gewissen: Dem ging es, während wir essen waren, im Kofferraum so gut wie irgendwo sonst.

Viel geredet hatten wir nicht, seitdem wir wieder losgefahren waren, jeder hatte unabhängig von den anderen angefangen, sich einen Ausweg aus der Bredouille zu überlegen, und dann saßen wir an einem Tisch vor dem Restaurant in der Stadthalle und schwiegen immer noch intensiv vor uns hin, während wir auf unsere Schnitzel warteten. In unseren Köpfen kreisten die Gedanken wie in einem Küchenmixer. Unmöglich, da einen Fitzel zu schnappen und festzuhalten, um ihn in Ruhe zu betrachten; höchste Verletzungsgefahr!

»Lassen wir ihn denn jetzt im Kofferraum liegen?«, fragte Roland.

»Willst du zurück und ihn fragen, ob er Hunger hat?«, ätzte Mäx.

»Ich denke schon. Das Auto steht im Schatten, es wird Tage dauern, bis man was riecht«, überlegte ich laut, eher für mich selbst, aber plötzlich standen die Schnitzel auf dem Tisch und wir verfielen wieder in brütende Stille.

Und dann tauchte dieses Kind auf! Das heißt: Sein Gesicht tauchte über dem niedrigen Zierstrauch im Blumen­kübel auf, der eine Art Zaun zum Großparkplatz bildete.

»Schau mal, Mama, die Männer essen Schnitzel«, sagte das Kind.

»Hau ab«, knurrte Mäx.

»Schmeckt dir das Schnitzel?«, wollte das Kind wissen.

»Hau ab«, zischte Mäx und begann sich nervös in alle Richtungen umzusehen. Er zog seine pechschwarzen Augenbrauen bedrohlich zusammen, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er jeden Moment die Beherrschung verlieren würde.

Die Mutter hielt den Augenblick für gekommen, in dem sie eingreifen musste.

»Komm, lass die Männer in Ruhe essen«, sagte sie und zog den Buben am Arm fort. Doch im letzten Moment, ehe sie sich wegdrehte, streifte ihr Blick meine Hand, die linke, in der ich die Gabel hielt, mit der ich gerade ein schönes Stück Schnitzel aufgespießt hatte, und sie erstarrte förmlich in der Bewegung. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Verwirrung zu Überraschung zu Furcht.

»Jetzt schnell, wir müssen gehen!«, befahl sie ihrem Kind und hastete davon, den Kleinen am Ärmel unsanft hinter sich herziehend. Da erinnerte ich mich ebenfalls. An den Überfall auf den Supermarkt vor zwei Monaten, als ich in Nürnberg das Geld beschafft hatte, mit dem wir den Volvo gekauft hatten. Ich hatte so eine Sturmhaube getragen, wie es auch die linksextremen Steineschmeißer tun, wenn sie sich mit der Polizei zoffen. Und ich hatte die Aktion blitzschnell über die Bühne gebracht, praktisch wie aus dem Lehrbuch. Doch hinterher war mir aufgefallen, dass ich vergessen hatte, vor dem Überfall meinen roten Siegelring abzulegen, und dass eine der Kundinnen völlig verängstigt mit riesigen Augen und einer zitternden Hand vor dem Mund unentwegt auf die Mündung meiner (im Übrigen nicht geladenen) Pistole gestarrt hatte. Die Frau mit dem Kind soeben, die hatte denselben Laserblick gehabt – aus denselben panisch aufgerissenen Augen auf denselben auffälligen Ring.

»Leute, Leute«, verkündete ich, »die Idee mit dem Schnitzel war wohl leider ein Hirnfurz. Wirt! Wir zahlen, aber pronto!«

Die anderen zwei spürten sofort die Drohung, die in meinem Tonfall mitschwang. Das hat mir die Daggie dann irgendwann erklärt, weil sie das einmal hatte lernen müssen, in Verhaltenspsychologie. Dass nämlich Angst – genauso wie Gier und Neid – ansteckend ist, sie überträgt sich von einem Menschen zum nächsten, weil das irgendwann, vor der Steinzeit noch, nützlich gewesen war, dass wenn einer den Säbelzahntiger sieht und erschrickt, die anderen das sofort merken.

»Eimer« ließ das Besteck fallen, richtete sich kerzengerade auf und musterte hektisch die Umgebung.

Mäx blieb gelassener. »Das is’n Grieche«, sagte er, »mit ›pronto‹ kommst hier nicht weiter.«

»Schätze, ich bin erkannt worden«, erklärte ich. »Aber jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, eine Viertelstunde dürften wir noch haben.«

Doch es war bereits geschehen: »Eimer« schoss in die Höhe, schwang sich mit einer Geschicklichkeit, die er bisher sehr erfolgreich vor uns verborgen hatte, über das Gebüsch und rannte los. Ich nahm alle Willenskräfte zusammen, um nicht kopflos hinterherzustürmen, und ich sah an Mäx’ malmenden Kiefern, dass auch er sich schwer zusammenreißen musste, um nicht durchzugehen wie ein Pferd, das von einer Wespe gestochen wurde.

Die Bedienung, die mich eine Minute zuvor noch ignoriert hatte, bekam es wohl mit der Angst, wir könnten die Zeche prellen, stand im Handumdrehen an unserem Tisch und fragte, ob wir zufrieden seien. »Ja, ja«, beeilte ich mich zu sagen, »alles prima und hervorragend, aber bitte die Rechnung, wir haben es eilig.« In diesem Moment sprang auf der anderen Seite des Flusses, aus Richtung der Therme, ein Martinshorn an.

Roland war um die Ecke gerannt, vermutlich zum Fußweg, der am Ufer entlang zu der Brücke führte, wo wir den Volvo ausgesetzt hatten. Ich sagte Mäx, dass er schon mal zahlen solle, ich sei gleich wieder zurück.

Ich musste tatsächlich einen Moment nachdenken, weshalb mir nach zehn Schritten Richtung Altmühl ein rennender Roland entgegenkam. Dann hatte ich’s: Ihm war auf halbem Wege zurück zum Auto eingefallen, dass da eine Leiche drin lag. Er kannte Treuchtlingen nicht, das Auto war im gesamten Ort sein einziger Anhaltspunkt gewesen. Und dann sah er mich und fühlte sich wahrscheinlich in die Zange genommen, zudem es inzwischen mehr als ein Martinshorn war: Auch aus Richtung der oberen Stadt näherte sich das markerschütternde Heulen.

Roland verlor buchstäblich den Kopf, keine Ahnung, was da in ihm vorging. Er wandte sich von mir ab, hastete zur hölzernen Fußgängerbrücke hinter der Stadthalle, stieg aufs Geländer – und sprang. Irgendwie muss er sich ausgerechnet haben, dass er schwimmend eine größere Chance hätte zu entkommen. Zwanzig oder dreißig Meter oberhalb erklangen die Schreckensschreie einer Gruppe Kanufahrer, die mit zugesehen hatten. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass es auch diese Leute waren, die ihn aus dem Wasser zogen. Später, während des Prozesses, erfuhr ich nur, dass er unglücklich auf Steine am Grund des Flusses gestoßen, ohnmächtig geworden und ertrunken war.

»Ich bin so froh, dass du es nicht warst!«, sagt Daggie heute noch ab und zu, und ich gebe ihr natürlich immer recht, wenngleich ich mir insgeheim schon denke, dass ich niemals so blöd sein würde, in einen Bach wie die Altmühl zu köpfen, die nur drei Schritt vor der Mündung in die Donau geringfügig tiefer als eine Pfütze ist.

Es dauerte nicht lange, da mischten sich dann natürlich auch noch die Martinshörner der Sankas in den Sirenenlärm, aber ehe es so weit war, hatte ich mir Mäx geschnappt und zog ihn hinter mir her, am Feuerwehrhaus vorbei Richtung Stadtmitte, zum Bahnhof, denn ich wollte den nächstbesten Zug nehmen, der uns möglichst weit weg von dem ganzen Kladderadatsch bringen sollte. Wir entfernten uns, so schnell wir konnten, ohne in Trab zu verfallen, was uns endgültig verdächtig gemacht hätte. Es wäre zu viel gesagt, dass ich mich in Treuchtlingen auskannte wie in meiner Westentasche, aber da ich rechter Hand am Ende einer Straße die in einem fürchterlich kitschigen Sonnenuntergangsrosarot gestrichene Kirche erspähte, steuerte ich darauf zu, weil ich mir dachte: Wo eine Kirche ist, da gibt’s auch einen Platz und eine Hauptstraße und einen Wegweiser.

Hinter uns lärmten die Einsatzfahrzeuge, aber dass zu diesem Zeitpunkt schon die Hunde bellten, bildete sich Mäx wahrscheinlich nur ein. Dafür hatte ich links vorne den Rathausturm erspäht und wusste nun, wo wir waren. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir, dass uns niemand folgte, aber natürlich fühlten wir uns auf dem großen, völlig offenen Kirchplatz überhaupt nicht wohl. Bei einer Trattoria bog ich daher rasch in eine enge Gasse ab, die, so empfand ich es in diesem Augenblick, der Himmel dort hatte anlegen lassen, damit man bei Bedarf hineinschlüpfen konnte.

Wir rannten los. Jedenfalls für etwa zehn Meter, ehe wir hinter einer Biegung auf die Waschmaschine stießen. Zwei asiatisch aussehende Männer hatten es geschafft, zusammen mit dem ungewöhnlich großen Gerät ein Knäuel zu bilden, das die ganze Gasse verstopfte. Wie sie das Monstrum überhaupt bis dorthin gebracht hatten, war mir rätselhaft, aber offensichtlich war, dass die Chinesen einen schmalen Hauseingang ansteuerten, in dessen Halbdunkel ich eine steile Holztreppe erspähte. Hinter uns wurde das Plärren eines Martinshorns lauter, also ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf:

»Los, wir helfen beim Tragen«, sagte ich und schubste Mäx zum Hauseingang.

Die beiden Typen ließen sich nicht zweimal fragen, ob sie zwei Paar zusätzliche Arme brauchen konnten. Im selben Moment, als Mäx und ich, während wir die entsetzlich schwere Kiste hochstemmten, auf die erste Stufe traten, schwappte mir aus dem hin und her wackelnden Schlauch ein Schwall Wasser über die Hose. Daggie sagte später, ich sei herumgelaufen, als hätte ich mich soeben vollgeschifft. Denn nur ein paar Minuten später sahen wir uns zum ersten Mal – das werde ich nie vergessen, auch wenn sich unsere Begegnung gar nicht hätte vermeiden lassen, weil ich sie voll über den Haufen rannte.

Aber vorerst keuchten und fluchten wir noch auf der Treppe und hievten eine tonnenschwere Waschmaschine, die garantiert vor hundert Jahren in irgendeiner sowjetischen Panzerfabrik zusammengeschweißt worden war, das enge Stiegenhaus eines Altbaus hoch.

»Boah! Das stinkt«, nölte Mäx, und er hatte recht: Da waren verfaulte Eier in der Brühe gewesen oder mindestens verfaulte Socken. Aber ehrlich: interessierte mich keinen feuchten Furz in diesem Moment. Denn hinter uns in der Haustür tauchten zwei Polizisten auf und fragten uns, ob wir jemanden gesehen hätten, der hier durchgekommen sei. Und insbesondere jemanden, der in auffälliger Weise in Eile gewesen sei. Anders gesagt: zwei flüchtige Männer.

Die Chinesen keuchten, hätten aber wohl kaum etwas anderes geantwortet, wenn sie mehr Luft gehabt hätten. Ihre Gesichter verrieten, dass sie kein Wort verstanden hatten.

»Nee, sorry, wir haben nix gesehen«, rief ich über die Schulter. »Wir sind momentan aber auch schwer beschäftigt!«

Die Bullen bedankten sich nicht einmal und rannten weiter, und ich wusste, dass uns nur ein paar Minuten blieben, weshalb ich die anderen antrieb: »Hopp etz! Bringen wir das Schätzchen heim ins Nest!«

Wir wuchteten das Trumm dann auch in Windeseile nach oben, und alles wäre gut gewesen, wenn nicht beim Abstellen einer dieser Schraubfüße, die an den Ecken der Maschine unten herausstanden, voll auf dem Fuß vom Mäx gelandet wäre.

»Aua, aua! Anheben!«, schrie er, und wir machten, so schnell wir konnten.

»Los! Komm!«, befahl ich ihm, nachdem wir ihn befreit hatten. »Wir müssen weg!«

Ehe die verdutzten Chinesen, die uns auf die Schultern klopften und etwas von »Snaps! Snaps!« redeten, reagieren konnten, hasteten wir die Treppe hinunter und stürmten hinaus auf die Straße. Dabei rammte ich dann die Daggie, die um die Ecke gebogen kam, weil sie, wie ich später erfuhr, rein aus Neugierde den Polizisten hinterhergeeilt war.

»Hey, tut mir leid!«, rief ich und war schon davon. Das muss man sich mal geben: Ich war voll im Stress in diesem Moment, die vollzählige bayerische Polizei, die Bundeswehr, Hubschrauber, U-Boote, Hunde, das FBI – praktisch alles war gerade hinter uns her. Aber trotzdem flatterte da wie ein Schmetterling über eine Kohlenhalde ein zarter Gedanke durch mein gehetztes Gehirn. Die Daggie, die hatte mir damals auf Anhieb gefallen – ohne Scheiß!

Aber gut. Wir schafften es über die Hauptstraße bis zum Parkplatz, wo dieses Schloss für die Touristen ist und dahinter das Volkskundemuseum mit den endemischen Tontöpfen und wo mir klar wurde, dass ich mich doch nicht so gut auskannte, weil es zum Bahnhof links raufgegangen wäre, auf der anderen Seite der Mineralwasserfabrik. Mäx freute sich nicht so richtig darüber, dass ich nun endlich wirklich wusste, wohin, denn er konnte einfach nicht mehr. Sein Fuß drohte zu explodieren, er brauchte unbedingt eine Mitfahrgelegenheit oder zumindest eine Pause. Oder beides.

Ich bin weiß Gott kein Minuskumpel, das sagte ich auch später dem Richter, und ich hätte Mäx niemals in diesem Müllcontainer sitzen lassen – im Gegenteil: Ich hätte alles getan, um ihn da rechtzeitig wieder rauszuholen, denn inzwischen hörte auch ich das Gebell der Hunde, und die Anzahl der plärrenden Martinshörner, an die ich mich irgendwie schon gewöhnt hatte, musste inzwischen die Hundert überschritten haben.

Aber mir kam ganz unerwartet etwas dazwischen, nämlich die Frau aus der Bäckerei, die drei große Kuchenbleche in den Kofferraum des VW Kombi stellen wollte, nur eine Minute zu früh, weil sonst hätte ich ihn geknackt gehabt und wäre mit Karacho losgefahren, um Mäx zu befreien.