Französischlernen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten - Sophie Engelen - E-Book

Französischlernen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten E-Book

Sophie Engelen

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Beschreibung

Haben Schüler:innen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS), wirkt sich dies häufig auch auf das Fremdsprachenlernen aus. Dennoch ist wenig darüber bekannt, welchen Schwierigkeiten Lernende mit LRS im Fremdsprachenunterricht konkret begegnen, welche Lern- und Kompensationsstrategien sie anwenden und welche Stärken sie in Auseinandersetzung mit der Fremdsprache entfalten. Die vorliegende Arbeit bietet anhand mehrerer Fallstudien erstmals detaillierte Einblicke in Lernprozesse von Schüler:innen mit LRS im Französischunterricht der Sekundarstufen I und II. Das qualitative Forschungsdesign kombiniert Unterrichtsbeobachtungen, die inhaltliche und sprachliche Analyse schriftlicher Lernendentexte sowie Schülerinterviews. Die Untersuchung leistet damit einen Beitrag zur fremdsprachendidaktischen Grundlagenforschung in den Bereichen LRS und Inklusion.

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Sophie Engelen

Französischlernen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten

Eine qualitative Studie im Unterricht der Sekundarstufen I und II

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823396185

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0175-7776

ISBN 978-3-8233-8618-6 (Print)

ISBN 978-3-8233-0490-6 (ePub)

Inhalt

AbkürzungsverzeichnisVorwort1 EinleitungTheoretische Grundlagen und Forschungsüberblick2 Lesen, Schreiben und Rechtschreiben im Französischunterricht2.1 Lesen im Französischunterricht2.1.1 Lesen – Leseverstehen – Lesekompetenz2.1.2 Didaktisierung von Leseprozessen2.1.3 Formen und Funktionen des Lesens im Französischunterricht2.2 Schreiben im Französischunterricht2.2.1 Auf dem Weg zur Schreibkompetenz in der Fremdsprache2.2.2 Didaktisierung von Schreibprozessen2.2.3 Formen und Funktionen des Schreibens im Französischunterricht2.3 Rechtschreiben im Französischunterricht2.3.1 Sprachwissenschaftliche Perspektiven2.3.2 Didaktische Perspektiven3 Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten im Französischunterricht3.1 Begriffe von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten3.2 Die Diagnose „LRS“3.2.1 Prävention und Früherkennung3.2.2 Ätiologie und Ursachenforschung3.2.3 Medizinische Diagnostik3.2.4 Pädagogisch-didaktische Diagnoseansätze3.2.5 Prävalenz von LRS3.3 LRS in der Erstsprache – LRS in der Fremdsprache?3.3.1 Erklärungsansätze für LRS in den Fremdsprachen3.3.2 Schulpraktische Dimensionen3.4 Symptomatik und Komorbiditäten3.4.1 Symptomatik im Bereich des Lesens3.4.2 Symptomatik im Bereich des (Recht‑)Schreibens3.4.3 Symptomatik in weiteren Kompetenzbereichen und Komorbiditäten3.4.4 Psychosoziale Konsequenzen3.5 Förderkonzepte bei LRS in den Fremdsprachen3.5.1 Unterrichtsbezogene und inklusive Förderansätze3.5.2 Adaptierte Leistungsüberprüfung und ‑bewertung4 Quand deux mondes se rencontrent …4.1 Synthese der theoretischen Perspektiven4.2 Schlussfolgerungen für die empirische StudieKonzeption und Durchführung der Studie5 Von den Forschungsfragen zur Datenerhebung5.1 Zielsetzung und Fragestellungen der empirischen Studie5.2 Methodologische Vorüberlegungen5.3 Forschungsethische Grundsätze für die empirische Arbeit mit beeinträchtigten Lernenden5.3.1 Zugang zum Forschungsfeld und Auswahl von Forschungspartner:innen5.3.2 Informed consent und Freiwilligkeit der Teilnahme5.3.3 Das Prinzip der „Nicht-Schädigung“5.3.4 Datenschutz und Anonymisierung6 Methoden der Datenerhebung6.1 Triangulation als Forschungsstrategie6.2 Teilnehmende Beobachtung des Französischunterrichts6.2.1 Forschungsmethodische Konsequenzen aus der Pilotstudie6.2.2 Vorgehen bei der analogen Unterrichtsbeobachtung6.3 Erfassung von Schreibprodukten der Schüler:innen6.4 Schülerinterviews6.4.1 Spezifika der Interviewsituation6.4.2 Strategien der Gesprächsführung7 Datenanalyse und -auswertung7.1 Begründung der Auswertungsverfahren7.1.1 Unterrichtsbeobachtungen7.1.2 Schülerinterviews7.1.3 Schreibprodukte7.2 Computergestützte Datenauswertung und quantifizierende Verfahren7.3 Übersicht über die erhobenen Daten und das SamplingErgebnisse der empirischen Studie8 Fallanalyse „Franziska“8.1 Kurzporträt und schulische Rahmenbedingungen8.2 „Weil ich nach Paris immer schon fahren wollte“ – Franziskas Weg in den Französischunterricht8.2.1 Das Französische als Positivauswahl8.2.2 Reale Erfolge: Franziska in Frankreich8.3 Franziska als Leserin im Französischunterricht8.3.1 Basale Lesefertigkeiten und instrumentelles Lesen8.3.2 Leseverstehen8.3.3 Lautes Vorlesen8.3.4 Zwischenfazit: Perspektiven für die Leseförderung8.4 Franziska als Schreibende im Französischunterricht8.4.1 Schülerleistungen im Bereich des (Recht‑)Schreibens8.4.2 Basale Schreibfertigkeiten und reproduktives Schreiben8.4.3 Gelenktes und freie(re)s Schreiben8.4.4 Schriftliche Leistungsüberprüfungen8.4.5 Zwischenfazit: Perspektiven für die Schreibförderung8.5 Franziska als Französischlernende zwischen Schule und Zielland8.5.1 Diagnostik und Rolle von LRS in Franziskas Sprachlernbiographie8.5.2 Perspektiven: Franziska als Französischsprecherin8.6 Fazit: Der Fall „Franziska“9 Fallanalyse „Katharina“9.1 Kurzporträt und schulische Rahmenbedingungen9.2 Französischlernen als das geringste Übel? Katharinas Weg in den Französischunterricht9.2.1 Frühe Schwierigkeiten – frühe Diagnostik9.2.2 LRS als Belastung im persönlichen Umfeld9.2.3 Eine Entscheidung gegen Latein … und für das Französische?9.3 Katharina als Leserin im Französischunterricht9.3.1 Basale Lesefertigkeiten und instrumentelles Lesen9.3.2 Leseverstehen9.3.3 Lautes Vorlesen9.3.4 Zwischenfazit: Perspektiven für die Leseförderung9.4 Katharina als Schreibende im Französischunterricht9.4.1 Schülerleistungen im Bereich des (Recht‑)Schreibens9.4.2 Basale Schreibfertigkeiten und reproduktives Schreiben9.4.3 Gelenktes und freie(re)s Schreiben9.4.4 Zwischenfazit: Perspektiven für die (Recht‑)Schreibförderung9.5 Katharina als Kämpferin im Französischunterricht9.5.1 Kompensation durch Mündlichkeit – Krisenfall Lexik?9.5.2 Schriftsprache als Herausforderung innerhalb und außerhalb der Schule9.6 Fazit: Der Fall „Katharina“10 Fallanalyse „Anna“10.1 Kurzporträt und schulische Rahmenbedingungen10.2 Französischlernen als Neuanfang: Annas Weg in den Französischunterricht10.2.1 „Einfach nur so ein Schnupperkurs …“ – Erste Annäherungen zu Beginn der Sek. I10.2.2 „Wir lernen ja jetzt alles neu …“ – (Wieder‑)Entdeckung des Französischen in der Sek. II10.3 Anna als Leserin im Französischunterricht10.3.1 Basale Lesefertigkeiten und instrumentelles Lesen10.3.2 Leseverstehen10.3.3 Lautes Vorlesen10.3.4 Zwischenfazit: Perspektiven für die Leseförderung10.4 Anna als Schreibende im Französischunterricht10.4.1 Schülerleistungen im Bereich des (Recht‑)Schreibens10.4.2 Basale Schreibfertigkeiten und reproduktives Schreiben10.4.3 Gelenktes und freie(re)s Schreiben10.4.4 Zwischenfazit: Perspektiven für die (Recht‑)Schreibförderung10.5 Anna als Akteurin im Französischunterricht10.5.1 Engagement und mündliche Mitarbeit10.5.2 Auseinandersetzung mit der Diagnose „LRS“10.6 Fazit: Der Fall „Anna“Resümee und Ausblick11 Fallübergreifende Ergebnisdarstellung: LRS als Heterogenitätsdimension des Französischunterrichts11.1 Motivationen für die Fremdsprachenwahl Französisch11.2 Stärken und Schwächen im Bereich des Lesens11.3 Stärken und Schwächen im Schreiben und Rechtschreiben11.4 Emotionale Dimensionen der Schwierigkeitsbewältigung und Coping-​Strategien12 Impulse zu einer LRS-Förderung im Französischunterricht12.1 Sprachenwahlberatung als Element der LRS-Förderung12.2 Differenzierung als methodische Reaktion auf LRS im Französischunterricht12.3 Alte und neue Überlegungen zur Förderung orthographischer Kompetenz im Französischunterricht12.4 Perspektiven für Leistungsüberprüfungen12.5 Umgang mit fremdsprachenbezogenen Ängsten13 Kontextualisierung der Studienergebnisse und Ausblick13.1 Status quo: LRS im Französischunterricht zwischen Bagatellisierung und Pathologisierung13.2 Rückblick: Kritische Reflexion des Forschungsprozesses13.3 Ausblick: Potenziale für AnschlussforschungenLiteraturverzeichnisAnhangSchriftlicher Fragebogen der VorstudieLeitfaden für die SchülerinterviewsBeobachtungs- und Kategoriensystem zur Auswertung des FranzösischunterrichtsKategoriensystem zur Auswertung der Schülerinterviews

Für Uli

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

Abbildung

BS

Berufliche Schule

Dt.

Deutsch

FLE

Français Langue Étrangère

FLLD

Foreign Language Learning Disability

Frz.

Französisch

GER

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen

GS

Gesamtschule

Gym.

Gymnasium

HE

Hessen

Herv. im Orig.

Hervorhebung im Original

Herv. der Verf.

Hervorhebung der Verfasserin

HKM

Hessisches Kultusministerium

HSA

Hauptschulabschluss

ICD-10

Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO

IPA

Internationales Phonetisches Alphabet

ISQA

Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse

Jgst.

Jahrgangsstufe

Kap.

Kapitel

KC

Kerncurriculum (Hessen)

KLP

Kernlehrplan (NRW)

LCDH

Linguistic Coding Differences Hypothesis

LRS

Lese-​Rechtschreib-​Schwierigkeiten

MSA

Mittlerer Schulabschluss

NRW

Nordrhein-​Westfalen

Sek. I/II

Sekundarstufe I/II

Tab.

Tabelle

Tur.

Türkisch

UE

Unterrichtseinheit (= eine Unterrichtsstunde)

WHO

World Health Organization

Vorwort

Der vorliegende Band ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Mai 2022 am Fachbereich 05 (Sprache, Literatur, Kultur) der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht habe. Die Studie ist eingebettet in ein Netz von Kooperations- und Gesprächspartner:innen, Kolleg:innen und Unterstützer:innen entstanden. Nicht allen kann hier persönlich gedankt werden – dennoch seien sie gleichermaßen adressiert.

Es braucht Mut, sich seinen Schwächen zu stellen. Deshalb gilt mein erster und größter Dank den Schüler:innen mit Lese-​Rechtschreib-​Schwierigkeiten an den Gesamtschulen und Gymnasien in Hessen und Nordrhein-​Westfalen, die sich bereit erklärt haben, an meiner Studie teilzunehmen und mir damit tiefe Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen, Lernprozesse und Herausforderungen (nicht nur) in Auseinandersetzung mit dem Fremdsprachenlernen ermöglicht haben. Gleiches gilt für die kooperierenden Französischlehrkräfte, Erziehungsberechtigten und Schulleitungen, die – als sie vor der Entscheidung standen, Türen zu öffnen oder zu schließen – mir Zugang zu ihren Lebens- und Arbeitswelten gewährten.

Der Herbert und Ingeborg Christ Stiftung Lehren und Lernen fremder Sprachen verdanke ich, mein Dissertationsprojekt als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Justus-​Liebig-​Universität Gießen durchführen und abschließen zu können. Deshalb gilt ein sehr großer Dank den Stiftungsinhaber:innen Prof. Dr. Herbert Christ (†) und Dr. Ingeborg Christ, die durch ihre Begeisterung, ihre Großzügigkeit und ihr lebenslanges Engagement für die Fremdsprachendidaktik dies erst ermöglichten. Gleichermaßen herzlich danke ich meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Hélène Martinez für ihre fortwährende Unterstützung bei der Erstellung dieser Dissertation, den jederzeit konstruktiven fachlichen Austausch, die Möglichkeit, mich an ihrer Professur weiterzuentwickeln und das ungebrochene Vertrauen, dass mein Projekt eines Tages einen guten Abschluss finden würde.

Meine Zweitbetreuerin Prof. Dr. Eva Burwitz-​Melzer sowie Prof. Dr. David Gerlach unterstützten mein Forschungsvorhaben von Beginn an und während all seiner Phasen, insbesondere durch die Eröffnung neuer fachlicher Perspektiven, zahlreiche Literaturhinweise und die Vermittlung hilfreicher Kontakte. Prof. Dr. Falk Seiler danke ich für den Austausch in linguistischen Fragen sowie seine gesellschaftskritischen Impulse, die mir immer dazu verhalfen, mein Projekt an übergeordnete Diskurse rückzubinden. Prof. Dr. Jürgen Kurtz, Prof. Dr. Michael K. Legutke und allen Teilnehmer:innen des Kolloquiums „Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung“ der Justus-​Liebig-​Universität Gießen gilt mein Dank für den allzeit kritisch-​konstruktiven und ermutigenden Austausch – und die Wahrung lebens- und forschungspragmatischer Perspektiven. Auf kollegialer wie freundschaftlicher Ebene bin ich insbesondere Dr. Julia Fritz, Christina Klempel, Johanna Lea Korell, Dr. Leonhard Krombach, Dr. habil. Dinah K. Leschzyk, Frédérique Moureaux, Dr. Tanja Prokopowicz, Anna Schröder-​Sura, Dr. Nevena Stamenković, Dr. Caroline Schuttkowski, Finn Telschow und Dr. Anna Isabell Wörsdörfer verbunden. Euch danke ich für sorgfältige Korrekturdurchgänge, hilfreiche Fachdiskussionen, den einen oder anderen gemeinsamen Becher Kaffee, Bibliothekssessions und (als Schalke-​Fan nicht immer) aufmunternde Fußballabende.

Schließlich möchte ich mich bei meiner Familie und meinen Freund:innen für ihre Geduld, ihre Ermutigung und ihren unschätzbaren Rückhalt bedanken, auf den ich mich in Hochphasen wie Durststrecken der Arbeit gleichermaßen verlassen konnte. Nicht zuletzt danke ich Dir, Lennart, für Deine bedingungslose Unterstützung bei all meinen Vorhaben, in allen Lebenslagen und an allen Orten. Dein kritischer und immer humorvoller Blick aus fachfremder Perspektive hat meine Arbeit jederzeit weitergebracht. Du hast mir immer das Zutrauen vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein und das Projekt erfolgreich abschließen zu können – nun ist es geschafft!

1Einleitung

Verschiedene fachliche und bildungspolitische Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben innerhalb der Fachdidaktiken zu einer zunehmenden Distanzierung von dem „imaginären Durchschnittsschüler, von den ‚Mittelköpfen‘ hin zu einer differenzierten Sichtweise“ (Helmke 2017: 263) geführt und die Berücksichtigung individueller Lernvoraussetzungen zu einem zentralen Aspekt von Unterrichtsqualität erhoben (vgl. Eisenmann/Grimm 2014). Spätestens infolge der Ratifizierung der UN-​Behindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung im Jahr 2009 haben sich die Fragen nach einem adäquaten Umgang mit heterogenen Lerngruppen und der Umsetzung von Inklusion auch als markante Diskussionslinien in der Fremdsprachendidaktik etabliert. Eine weitere, konkrete bildungspolitische Entscheidung mit unmittelbarem Einfluss auf den Fremdsprachenunterricht besteht beispielsweise in der Einführung des Rechts auf den Besuch allgemeinbildender Schulen für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in NRW (vgl. Springob 2017: 18f.), das die grundsätzliche Tendenz zur Umsetzung von Inklusion qua Abschaffung externer Differenzierung widerspiegelt. Zum anderen befeuern gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie Migrationsbewegungen oder die kurz- und langfristigen Folgen von Lockdowns und Homeschooling infolge der COVID-19-Pandemie die Frage, wie man unterschiedlichen Lernausgangslagen im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten schulischen Unterrichts überhaupt noch gerecht werden kann (vgl. Gamper et al. 2021).

Fachintern verweist der Blick auf zukünftige Herausforderungen zugleich in die Historie der Fremdsprachenforschung: Zahlreiche inklusionsorientierte Unterrichtskonzepte und Ideen sind an frühere bzw. bereits bestehende fremdsprachendidaktische und allgemeinpädagogische Diskurse anschlussfähig. Exemplarisch sei hier die Debatte um den „Englischunterricht für alle“ in den 1960/70er-​Jahren genannt, die sich an der Einführung des Englischen als Pflichtfremdsprache an Hauptschulen entzündete und methodische Ansätze wie Individualisierung oder Differenzierung hervorbrachte, die bis heute in der Diskussion präsent sind (vgl. Hermes 2016). In jüngerer Vergangenheit sind insbesondere die Arbeiten von Claudia Riemer zu individuellen Einflussfaktoren auf das Fremdsprachenlernen zu nennen, die zu einem differenzierten Blick auf individuelle, lernförderliche und -hinderliche Variablen beim Fremdsprachenlernen beigetragen haben (vgl. Riemer 2002). Nicht zuletzt bietet das Paradigma der Lernerorientierung zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung mit Inklusion im Fremdsprachenunterricht: Hier geht es nicht nur um eine Betrachtung und Gestaltung des Unterrichts aus Perspektive der Lernenden bzw. die Schaffung individueller Lehr-​Lern-​Arrangements, sondern vielmehr darum, Schüler:innen jeden Alters als selbstständige Lernende zu verstehen, die aktiv und selbstgesteuert Lernstrategien einsetzen und so Aneignungsprozesse reflektieren und optimieren (vgl. Martinez 2016a).

Die Auseinandersetzung mit Heterogenität und Inklusion ist für die Fremdsprachendidaktik also keineswegs neu. Sie manifestiert sich in dem grundsätzlichen Anspruch, alle Lernenden gemäß ihren individuellen Dispositionen zu fördern. Dies erfordert einen weiten Inklusionsbegriff, der sich auf den sensiblen Umgang mit verschiedenen Dimensionen von Diversität bzw. Heterogenität, wie z.B. Begabungen, Beeinträchtigungen, Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt sowie die Herstellung von Chancengleichheit im Bildungssystem insgesamt bezieht (vgl. DGFF 2020: 3; Rohde 2014: 9). Dieser Begriff wird in der Regel von einem engen Inklusionsbegriff abgegrenzt, der vorrangig auf die Umsetzung einer gemeinsamen Beschulung von Schüler:innen mit und ohne Beeinträchtigungen bzw. spezifischen Förderschwerpunkten abzielt (z.B. Werning 2014: 602f.).

Mit dem Themenfeld der Lese-​Rechtschreib-​Schwierigkeiten (im Folgenden: LRS1) knüpft die vorliegende Arbeit an einen weiten Inklusionsbegriff an, rückt dabei jedoch einen spezifischen Aspekt von Inklusion in den Fokus: Die Forschungspartner:innen2 der vorliegenden Studie sind Schüler:innen der Sekundarstufen I und II, die das Französische als zweite Schulfremdsprache erlernen und von umschriebenen Beeinträchtigungen im Lesen und (Recht‑)Schreiben betroffen sind. So bestand die wesentliche Zugangsvoraussetzung zu der Studie darin, eine aktuelle und offizielle Diagnose der „Lese- und Rechtschreibstörung“ nach ICD-10 (vgl. Dilling et al. 2018) nachweisen zu können. Diese kann beispielsweise von Kinder- und Jugendmediziner:innen oder Schulpsycholog:innen ausgestellt werden. Damit bildet die Arbeit die schwerste Verlaufsform eines breit gefächerten Spektrums von LRS ab.

LRS können als Teilleistungsschwäche grundsätzlich bei Lernenden jeden Alters und Geschlechts an allen Schulformen auftreten. Dabei schwanken Angaben zur Prävalenz, also der Auftretenshäufigkeit der LRS, je nach Diagnosekriterien sehr stark: Eine als zuverlässig geltende Metaanalyse von Strehlow und Haffner (2002) beziffert hier 6–9 % aller Schüler:innen in Deutschland. Demzufolge sind Schüler:innen mit LRS natürlich auch Teil des Französischunterrichts – und sollten damit aus (fremdsprachen-)didaktischer Perspektive Beachtung erfahren. Aufgrund der Bildungsgänge, in deren Rahmen Französisch als Fremdsprache traditionell angeboten wird, ergeben sich jedoch gewisse Einschränkungen, die auch für die vorliegende Studie relevant sind: Zum einen wird das Französische als klassische Sekundärfremdsprache auch von den Forschungspartner:innen der vorliegenden Studie als zweite Fremdsprache (nach Englisch) belegt, was einen vergleichsweise späten Beginn (in der Regel frühestens ab der 6. Klasse) und damit ein höheres Lebensalter der Lernenden mit sich bringt. Zum anderen wirken bei dem Zugang zum Fach Französisch insofern bildungssystematische Selektionseffekte, als die zweiten Fremdsprachen in Deutschland vorrangig an Schulformen angeboten werden, die perspektivisch zur Allgemeinen Hochschulreife hinführen (vgl. Caspari 2021: 38f.; Fritz 2018: 17; Reinhardt/Mensching 2022: 161ff.). So besuchen auch alle Forschungspartner:innen der Studie Gymnasien und Gesamtschulen in den Bundesländern Hessen und Nordrhein-​Westfalen (NRW).

Problemaufriss und Erkenntnisinteresse

So wie Lernen in den Erst-, Zweit- und Fremdsprachen als vernetzte Aktivität verstanden wird (z.B. Hufeisen 2010), wirken sich auch Verzögerungen und Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs auf die Entwicklung der Lese- und Schreibkompetenz in den Fremdsprachen aus. Einige Studien haben dies mit Bezug zu dem spezifischen Phänomen der LRS nachgewiesen: Für die Ausgangssprache Deutsch sind insbesondere die Arbeiten von Romonath und Wahn (2006) sowie Romonath et al. (2005) an der Schnittstelle von Linguistik und Psychologie zu nennen. Diese knüpfen an die Linguistic Coding Differences Hypothesis an, die bereits Anfang der 1990er-​Jahre von Ganschow und Sparks (1989) bzw. Sparks (1995) in die Diskussion eingebracht wurde. Sie liefern weitere Evidenz für den hohen Stellenwert phonologischer und orthographischer Verarbeitungsmechanismen beim Sprachenlernen und verweisen damit auf das Konzept der Sprachlerneignung (vgl. Schlak 2008), das auch für die Erklärung von LRS in den Fremdsprachen herangezogen werden kann. Im Umkehrschluss ist es beispielsweise Gerlach (2013) gelungen, positive Effekte eines systematischen Trainingsprogramms zur Lese- und Rechtschreibförderung in der Fremdsprache Englisch auf ebendiese Kompetenzen im Deutschen nachzuweisen.

Die sprachenübergreifenden Auswirkungen von LRS sind jedoch nicht nur in der Forschungsliteratur thematisiert worden, sondern bereits seit einigen Jahren auch vermehrt Gegenstand allgemeiner Ratgeberliteratur sowie unterrichtspraktischer Publikationen (z.B. Sellin 2008; Zander 2002). Letztere liegen mittlerweile zu allen großen Schulfremdsprachen vor und präsentieren erfahrungsbasierte Empfehlungen zur Unterrichtsgestaltung, häufig in Form von Good Practices: Exemplarisch seien für das Französische hier die Beiträge von Braun (2015, 2017), Mendez (2013), Plötner (2017) und Reimann (2014) genannt. Die zunehmende Dringlichkeit der Frage nach einem angemessenen Umgang mit LRS und umsetzbaren Förderkonzepten im Fremdsprachenunterricht spiegelt sich nicht nur in dem erheblichen Anstieg praxisorientierter Publikationen wider, sondern wird durch erste explorative Beiträge zur Lehrersicht bestätigt (vgl. Engelen 2019). So formuliert Mendez (2013: 4) für den Französischunterricht: „Immer noch viele Lehrkräfte wissen nicht, wie sie mit Schülerinnen und Schülern, die mit Legasthenie oder LRS diagnostiziert werden, umgehen sollen. Ein gezieltes Training findet in der Schule eher nicht statt.“

Was als mögliche Unsicherheit in der Schulpraxis benannt wird, verweist ebenso auf eine Leerstelle der Fremdsprachenforschung: Denn bislang liegen keine empirischen Studien vor, die an den stattfindenden Unterricht anknüpfen und erheben, welche Überlegungen und Auswahlentscheidungen Schüler:innen mit LRS in den Französischunterricht führen, welchen Schwierigkeiten die Lernenden beim Französischlernen konkret begegnen, in welchen Kompetenzbereichen sie demgegenüber Stärken entfalten, wo sich Kompensationsmöglichkeiten ergeben und welche Förder- und Differenzierungsmaßnahmen im Unterricht wirksam werden. Überdies zeigt sich – gerade mit Blick auf Konzepte partizipativer Forschung (vgl. Hauser 2020) – ein Mangel an Studien, die „das lernende Subjekt im Mittelpunkt haben“ (Königs 2017b: 130) und der Sicht beeinträchtigter Lernender im Heterogenitätsdiskurs einen angemessenen Platz einräumen. Dieses Zusammenspiel verschiedener Perspektiven sowie individueller Aneignungsprozesse kann nur unter Rückbindung an konkrete Lehr-​Lern-​Situationen einer angemessenen Betrachtung unterzogen werden. Somit ergibt sich in der Fremdsprachendidaktik ein Desiderat für qualitativ-​explorative Forschungsarbeiten, die – in Abgrenzung zum quantitativen Forschungsparadigma – keinen Anspruch auf Generalisierungen erheben, sondern eine ganzheitliche und dichte Durchdringung des jeweiligen Falls anstreben (vgl. Flick et al. 2017: 22ff.).

Die vorliegende Dissertationsstudie hat zum Ziel, in diese Lücke zu treten und die skizzierten Fragestellungen für das Französische als Fremdsprache zu verfolgen. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit richtet sich somit sowohl auf Aspekte unterrichtlichen Lernens wie die Performanz der Lernenden mit LRS im Lesen und (Recht-)Schreiben und ihre Unterrichtsbeteiligung als auch auf die Schülersicht auf das Französische als zweite Fremdsprache unter den Bedingungen von LRS. Damit versteht sich diese empirische Studie als Beitrag zu einer unterrichtsbezogenen Grundlagenforschung, die zu einem tiefergehenden Verständnis der Heterogenitätsdimension LRS im Französischunterricht führen und die Basis für die Ableitung evidenzbasierter Fördermaßnahmen sowie weiterführender fachdidaktischer und inklusionsbezogener Diskussionspunkte bilden könnte.

Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit („Theoretische Grundlagen und Forschungsüberblick“) werden grundlegende Aspekte, der theoretische Bezugsrahmen sowie relevante Forschungsergebnisse zum Themenfeld des Fremdsprachenlernens mit LRS dargestellt. Dies erfolgt in zwei wesentlichen Schritten: In Kap. 2 werden die Teilkompetenzen des Lesens und (Recht‑)Schreibens im Französischunterricht zunächst unabhängig von LRS betrachtet. Dabei stehen grundlegende Aspekte der Kompetenzentwicklung, die Rolle verschiedener Teilfertigkeiten und spezifische Merkmale des Fremdsprachenlernens im Fokus. Zudem werden Möglichkeiten der Didaktisierung von Lese- und Schreibprozessen sowie Prozessebenen bzw. Formen und Funktionen des Lesens und (Recht‑)Schreibens im Französischunterricht diskutiert. Der Rechtschreibung, die als „sprachliche[s] Mittel“ lediglich in „dienende[r] Funktion“ (KMK 2004a: 14) Teil des fremdsprachlichen Kompetenzverbunds ist, kommt dabei ein eigenes Unterkapitel zu, in dessen Rahmen linguistische und didaktische Dimensionen orthographischer Fertigkeiten im Französischunterricht beleuchtet werden. Vor dem Hintergrund dieser breiten Ausgangslage wird in Kap. 3 das spezifische Phänomen der LRS im Französischunterricht in den Mittelpunkt gerückt. Wesentliche Herausforderungen für die Lehrkräfte liegen in dem Umgang mit der LRS-​Diagnostik, die in der Regel nicht im Kontext der Fremdsprachen selbst erfolgt, dem Verständnis von Ursachen sowie der Identifikation einer potenziell LRS-​spezifischen Symptomatik, die der Ableitung adäquater Fördermaßnahmen dienen kann. Darüber hinaus werden Aspekte der Fremdsprachenwahl, etablierte Förderkonzepte in den Fremdsprachen sowie spezifische Maßnahmen wie Nachteilsausgleich und Notenschutz diskutiert.

Der zweite Teil der Arbeit („Konzeption und Durchführung der Studie“) legt das methodische Konzept und das Forschungsdesign der vorliegenden Studie dar. Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausgangslage werden konkrete Forschungsfragen abgeleitet, die die Auswahl spezifischer Instrumente der Datenerhebung nahelegen. Ein Schwerpunkt des Methodikkapitels besteht in den forschungsethischen Grundsätzen, die die empirische Studie leiten und die bei der Zusammenarbeit mit lernbeeinträchtigten Schüler:innen einer besonderen Elaboration bedurften (Kap. 5). Anschließend werden die verschiedenen Datenerhebungsmethoden vorgestellt und begründet, die im Sinne der Between-​Method-​Triangulation (Flick 2017: 313ff.) mit dem Ziel der Erkenntniserweiterung kombiniert werden (Kap. 6). Eine wesentliche Herausforderung bestand darin, eine differenzsensible Forschungsmethodik auszuwählen, die für das Erkenntnisinteresse der Studie aussagekräftige Daten liefert, ohne Schüler:innen mit LRS gegenüber ihrer Lerngruppe zu exponieren. Folglich erschienen analoge Beobachtungen des Französischunterrichts, die Erfassung der Schreibprodukte aller Schüler:innen der jeweiligen Lerngruppe und abschließende, leitfadengestützte Interviews mit den von LRS betroffenen Schüler:innen gegenstandsangemessen. Abschließend werden Sampling-​Strategien, d.h. Kriterien für die Auswahl der präziser zu untersuchenden Fälle, sowie Verfahren der Datenanalyse und ‑auswertung präsentiert (Kap. 7).

Die empirischen Ergebnisse werden in Form von drei Fallanalysen im dritten Teil der Arbeit („Ergebnisse der empirischen Studie“) dargestellt. Die Ergebnispräsentationen (Kap. 8–10) orientieren sich an den formulierten Forschungsfragen und stellen die von LRS betroffenen Schülerinnen Franziska (8. Klasse), Katharina (9. Klasse) und Anna (12. Klasse) in den Mittelpunkt. Die Analyse verschiedener bildungsbiographischer Wege in den Französischunterricht und individueller Motivationen für die Fremdsprachenwahl bildet jeweils den Auftakt der Präsentationen der Fallstudien. Anschließend werden Stärken und Schwächen der Schülerinnen beim Französischlernen insbesondere in den Bereichen des Lesens und (Recht‑)Schreibens unter Rückgriff auf die drei erhobenen Datentypen genauer betrachtet. Die Fallanalysen schließen mit Darstellungen der individuellen Wege und Strategien, LRS im Französischunterricht zu begegnen und in die Sprachlernbiographie zu integrieren.

Im vierten Teil der Arbeit („Resümee und Ausblick“) erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse der empirischen Studie (Kap. 11), die als Basis für die Ableitung unterrichtspraktischer Implikationen dient (Kap. 12). Die Arbeit endet mit einer Reflexion des Forschungsprozesses und der Skizzierung wesentlicher Desiderate im Bereich des Französisch- bzw. Fremdsprachenlernens mit LRS (Kap. 13).

Theoretische Grundlagen und Forschungsüberblick

Im Rahmen der folgenden Kapitel wird der aktuelle Stand der Diskussion um das Lehren und Lernen des Französischen als Fremdsprache bei LRS aufgearbeitet. Die Thematik kann nur unter Einbezug relevanter Beiträge aus verschiedenen Disziplinen wie Psychologie, Förderpädagogik, Linguistik und Deutsch- bzw. Fremdsprachendidaktik angemessen betrachtet werden, die sich vor dem Hintergrund individueller fachlicher Traditionen, aus verschiedenen Blickwinkeln und nicht zuletzt mit divergierenden Zielsetzungen dem Thema des Fremdsprachen- bzw. Französischlernens3 mit LRS zuwenden. Daraus resultiert die Notwendigkeit, diese verschiedenen Perspektiven in Relation zueinander zu setzen und mit Blick auf den Französischunterricht zu synthetisieren.

Der Umgang mit LRS im Französischunterricht ist in ein didaktisches und unterrichtsmethodisches Gesamtverständnis von Lesen und (Recht‑)Schreiben eingebettet. Folglich werden in einem ersten Schritt zentrale Aspekte aufgearbeitet, die auf einer Makroebene die Rahmung bilden, innerhalb derer sich Schüler:innen mit LRS und ihre Französischlehrkräfte bewegen (Kap. 2). In diesem Kontext sind fremdsprachendidaktische Konzepte maßgeblich, die auch unabhängig von Lernschwierigkeiten Bestand haben. In einem zweiten Schritt erfolgt auf einer Mesoebene die Darstellung und Diskussion von LRS, mit besonderem Fokus auf für den Französischunterricht relevanten Aspekten (Kap. 3). In diesem Kontext dominieren meist Fragen nach einer beobachtbaren Symptomatik in den Fremdsprachen, einer zielführenden Diagnostik und einer angemessenen Förderung der Schüler:innen mit LRS. Die Synthese dieser beiden Perspektiven und die Zuspitzung auf die individuelle, lernerseitige Auseinandersetzung mit dem Französischen als zweite Fremdsprache führt auf die Mikroebene konkreter Lehr-​Lern-​Kontexte des Französischen als zweite Fremdsprache und bildet den Übergang zu der empirischen Studie, die in verschiedenen Unterrichtssettings der Sek. I und II verortet ist (Kap. 4).

2Lesen, Schreiben und Rechtschreiben im Französischunterricht

In den folgenden Teilkapiteln werden zunächst grundsätzliche Aspekte des Lesens und (Recht‑)Schreibens im Französischunterricht diskutiert. Darunter fallen Überlegungen zu Entwicklung und Förderung einer Lese- und Schreibkompetenz, Lese- und Schreibprozessen und deren Didaktisierung sowie Formen und Funktionen des Lesens und (Recht‑)Schreibens im Französischunterricht.

2.1Lesen im Französischunterricht

Lesen, stilles Lesen, sinnentnehmendes Lesen, lautes Lesen, Leseverstehen, Lesekompetenz – begibt man sich auf die Suche nach Publikationen zu fremdsprachlichem Lesen, eröffnet sich allein für die Bezeichnung anvisierter Zielkompetenzen eine Vielfalt an Termini. Im Folgenden soll ein Weg durch das Labyrinth der Begrifflichkeiten gebahnt werden, der zu wesentlichen Teilfertigkeiten bzw. Prozessebenen (Kap. 2.1.1), didaktischen Konzepten zur Förderung der Lesekompetenz (Kap. 2.1.2) sowie Formen und Funktionen des Lesens (Kap. 2.1.3) im Französischunterricht führt.

2.1.1Lesen – Leseverstehen – Lesekompetenz

Ob erst- oder fremdsprachliche Lesedidaktik:1 In der Forschungsliteratur besteht Einigkeit, dass das Lesen ein sehr komplexer Prozess ist, der unter Rückgriff auf verschiedene physiologische und psychologische Ressourcen erfolgt. Er ist in mehrere Teilprozesse gegliedert und führt von der Buchstaben- und Worterkennung über semantische und syntaktische Analysen auf Satzebene zum Textverstehen und zu einer Interpretation und Elaboration über den Text hinaus (vgl. Christmann 2015: 23ff.; Richter/Christmann 2009: 34ff.). Lesekompetenz kann in einem jahrelangen Prozess nur durch eine ausgiebige Auseinandersetzung mit Schriftsprache und Übung erworben werden; relevante Faktoren für den einen erfolgreichen Erwerb von Lesekompetenz werden u.a. von der Lesesoziologie herausgearbeitet und sowohl in persönlichkeitsbezogenen als auch schulischen und insbesondere familiären Bedingungen gesehen (vgl. Bartnitzky 2006: 21ff.).

Während der Begriff „Lesefertigkeiten“ eher auf basale Dekodierprozesse auf Buchstaben- und Wortebene bezogen ist, referiert „Leseverstehen“ bzw. „Leseverständnis“ in der Regel auf übergeordnete Prozesse der Sinnkonstruktion auf Satz- und Textebene (vgl. Kap. 2.1.1.1). Der Begriff der Lesekompetenz ist die wohl globalste und zugleich flexibelste Bezeichnung didaktischer Zielsetzungen im Bereich des Lesens, denn je nach Kontext werden unterschiedliche Teilaspekte umfasst: Während die PISA- und IGLU-​Studien in Anlehnung an den englischen Literacy-​Begriff ein kognitionspsychologisches Verständnis des Lesens fokussieren, beziehen didaktische Ansätze auch emotionale, motivationale und interaktive Dimensionen des Lesens ein (vgl. Hurrelmann 2002). Außerdem werden Fähigkeit und Bereitschaft, Lesevorgänge in außerschulischen Kontexten routiniert und funktional umzusetzen, berücksichtigt (vgl. Rosebrock/Nix 2017: 23ff.). Das Leseverstehen wird jedoch meist „als Kern der Lesekompetenz“ (Philipp 2012: 38) verstanden. Im Folgenden wird ein detaillierterer Blick auf Teilfertigkeiten der Lesekompetenz, Modellierungen des Schriftspracherwerbs, Leseprozesse sowie den Zusammenhang von erst- und fremdsprachlichem Lesen geworfen.

2.1.1.1Von der Schrift- zur Textkompetenz

Grundlegend werden im Kontext der Lesekompetenz zwei Dimensionen von Fertigkeiten unterschieden: Zum einen werden basale Fertigkeiten benannt, die primär in der Dekodierung geschriebener Sprache bestehen und – im Idealfall – automatisiert ablaufen (vgl. Lutjeharms 2006: 20f.; Schneider 2006). Sie führen zu einer zügigen und korrekten Identifikation und Entschlüsselung von Einzelwörtern bis hin zu übergeordneten syntaktischen Zusammenhängen, verbleiben jedoch vergleichsweise auf einer Ebene der Sprachoberfläche, weshalb sie auch als „hierarchieniedrig“ (Christmann 2015: 23) bezeichnet werden. Hudson (2010: 81ff.) fasst diese Fertigkeiten unter den „lower level skills“ zusammen und grenzt sie von den „higher level skills“ ab, die in der Verarbeitung, Kombination und Interpretation von Informationen bestehen und damit das eigentliche Verstehen auf der Textebene darstellen. Letztere werden folglich auch als „hierarchiehohe Fertigkeiten“ (Christmann 2015: 23) bezeichnet und in der Regel mit einem höheren Grad an Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Steuerung assoziiert (vgl. Lutjeharms 2006: 20f.). Richter und Christmann (2009: 43) heben in diesem Zusammenhang den Begriff „globale Kohärenzbildung“ hervor, mit dem sie „alle hierarchiehöheren Prozesse […], die zu einem integrativen Verständnis des Textsinns im Ganzen führen“, zusammenfassen. Sowohl das inhaltsbezogene Vorwissen der Leser:innen als auch die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses spielen für diese Etappe des Leseverstehens entscheidende Rollen (vgl. ebd.: 42ff.).

Die Differenzierung der Teilprozesse des Lesens auf hierarchieniederer und ‑höherer Ebene entspricht begrifflich der in frankophonen Publikationen üblichen Unterscheidung eines „niveau de la forme ou de la surface, appelé déchiffrement“ und eines „niveau du message ou du contenu, appelé compréhension“ (ebd.: 20, Herv. der Verf.). Im Kontext der Deutschdidaktik wählen Bachmann und Becker-​Mrotzek (2017: 26ff.) die Begriffe „Schrift(kompetenz)“ bzw. „Text(kompetenz)“, um die Anforderungen einer produktiven wie rezeptiven Auseinandersetzung mit Schriftsprache zu präzisieren:

Abb. 1:

Literale Kompetenzen nach Bachmann und Becker-​Mrotzek (2017: 28)

Das entworfene Schema ist für die fremdsprachliche Lese- und Schreibdidaktik ebenso aussagekräftig: Bei Prozessen des Lesens und Leseverstehens ist die Ebene der „Schriftrezeption“, die in der „Fähigkeit, graphische Zeichenfolgen sprachlich zu interpretieren“ besteht, von der Ebene der „Textrezeption“ zu unterscheiden, die „die Fähigkeit [bezeichnet], Texte zu verstehen.“ (ebd.: 28) Bei der „Schriftrezeption“ sowie der „Schriftproduktion“ (ebd.) können für Fremdsprachenlernende besondere Herausforderungen in der Aneignung spezifischer Aspekte des französischen Schriftsystems bestehen: Die diakritischen Zeichen bzw. Akzente sowie die Ligaturen ‹æ› und ‹œ› sind hier charakteristisch (vgl. Kap. 2.3). Daran knüpft an, dass die Akzentsetzung immer wieder als zentrale Herausforderung für Fremdsprachenlernende bei der Auseinandersetzung mit der französischen (Schrift‑)Sprache genannt wird (vgl. Luzzati 2010: 43ff.; Visser 2019: 30).

Noch wichtiger erscheint mit Vorausschau auf potenzielle Schwierigkeiten im Bereich des Lesens, dass eine Automatisierung des déchiffrement bzw. der Schriftkompetenzen unabdingbar erscheint, wenn höhere Leseprozesse erfolgreich realisiert und ein Leseverständnis erreicht werden soll:

Geübte Lesende sind imstande, sprachliche Informationen sehr schnell automatisch zu dekodieren. Automatische Verarbeitung belastet das Arbeitsgedächtnis nicht […]; daher kann die Aufmerksamkeit der inhaltlichen Verarbeitung gewidmet werden. Sobald das Dekodieren Aufmerksamkeit erfordert, wird der Leseprozess gestört. (Lutjeharms 2016: 98)

Lutjeharms benennt hier – auch wenn der Begriff nicht explizit genannt wird – einige für die Dimension der Leseflüssigkeit wesentliche Aspekte: Laut Rosebrock und Nix (2017: 36ff.) kennzeichnet sich diese durch eine Genauigkeit des Dekodierens, eine Automatisierung der Dekodierfähigkeit, eine hinreichende Lesegeschwindigkeit und die Fähigkeit zum ausdrucksstarken Vorlesen. Damit ist sie primär auf der Ebene der hierarchieniedrigen Fertigkeiten verortet und bildet eine zentrale Komponente der Lesekompetenz. Während die Aspekte der genauen und automatisierten Dekodierung bereits unter dem Begriff der Schriftkompetenz bzw. des déchiffrement gefasst wurden, ist insbesondere das Merkmal der Lesegeschwindigkeit eng mit der Leseflüssigkeit verknüpft. Erst wenn eine gewisse Mindestgeschwindigkeit des Lesevorgangs erreicht wird, können relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis zusammengeführt und die angestrebte Bedeutungsentnahme erreicht werden (z.B. Rosebrock et al. 2011: 12ff.). Voraussetzung hierfür sind eine Automatisierung der Dekodierfähigkeiten und ausreichende Wortschatz-, aber auch Grammatikkenntnisse in der Fremdsprache (vgl. Ehlers 2006: 32). Die Konstituente des „ausdrucksstarken Vorlesen[s]“ (Rosebrock/Nix 2017: 39) bezieht sich explizit auf Kontexte des lauten Lesens und umfasst die Fähigkeit, Abschnitte des Lesetexts durch angemessene Intonation, Pausen und Leserhythmus zu verbinden bzw. voneinander abzugrenzen. Damit repräsentiert sie bereits (Teil-)Ergebnisse eines Verstehensprozesses, ohne diesen in direkter Form abzufragen.

Den basalen Lesefertigkeiten und insbesondere dem Merkmal der Leseflüssigkeit ist in jüngerer Vergangenheit in der Fremdsprachenforschung eine größere Relevanz zugeschrieben worden (vgl. Gerlach/Lüke 2020: 7f.; Nassaji 2014) – Konzepte für eine explizite Förderung gerade im Unterricht der zweiten Fremdsprachen bedürfen jedoch einer weiterführenden Elaboration (vgl. Kap. 2.1.2). Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass gerade die Leseflüssigkeit auch für höhere Leseprozesse im Französischen als Fremdsprache eine bedeutende Rolle spielt, bildet sie doch das Scharnier zwischen Dekodier- und Verstehensprozessen.

Für den Unterricht der zweiten Fremdsprachen werden ein routinierter Umgang mit Schriftsprache und entsprechende Entschlüsselungsfertigkeiten des lateinischen Alphabets von Beginn an vorausgesetzt. Dies bestätigt insbesondere der Blick in bildungspolitische Rahmendokumente des Französischunterrichts wie die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache: Diese setzen auf der Ebene der hierarchiehöheren Prozesse, also dem Leseverstehen bzw. der Textkompetenz an (vgl. KMK 2004a; 2012) und gehen somit von bereits entwickelten, basalen Lesefertigkeiten der Schüler:innen aus. Doch gerade in diesen Bereichen weisen Schüler:innen mit LRS oftmals Defizite auf (vgl. Kap. 3.4). Aus kognitionspsychologischer Perspektive erscheint bemerkenswert, dass „Defizite in der Bewältigung hierarchieniedriger Prozesse durch effiziente globale Kohärenzbildungsprozesse zumindest teilweise ausgeglichen werden können.“ (Richter/Christmann 2009: 45)

2.1.1.2Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs

Mögliche Abläufe des Schriftspracherwerbs werden meist in Form von Stufen- oder Phasenmodellen konzeptualisiert. Ein häufig zitiertes Modell wurde von Frith (1986) vorgelegt und nimmt eine integrative Betrachtung des Lese- und Rechtschreiberwerbs vor. Ursprünglich wurde es entwickelt, um entwicklungsbezogene Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs (developmental dyslexia) besser erklären zu können, und eignet sich deshalb für die vorliegende Studie in besonderer Weise. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung weiterführender Modellierungen des Schriftspracherwerbs (vgl. Gerlach 2013: 22ff. als Überblick) soll es exemplarisch diskutiert werden.

In Friths Modell werden drei Hauptphasen des Schriftspracherwerbs unterschieden: Die erste, logographische Phase besteht darin, Wortformen anhand graphisch besonders hervorstechender Merkmale visuell zu erkennen bzw. wiederzuerkennen, also z.B. prominente Schriftzüge im öffentlichen Raum wie Werbelogos oder Schilder (Frith 1986: 72). In Bezug auf das Schreiben werden erste feinmotorische Versuche unternommen, Buchstaben oder Wörter zu Papier zu bringen. Im Rahmen der zweiten, alphabetischen Phase wird schriftlicher Input nun nuanciert wahrgenommen und Wörter buchstabenweise entschlüsselt. Dazu wird die indirekte Lesestrategie genutzt, die darin besteht, Laut-​Buchstaben-​Zuordnungen systematisch zur Entschlüsselung von Wörtern einzusetzen. Hier ist die phonologische Bewusstheit von entscheidender Bedeutung. Diese kann mit Schründer-​Lenzen (2013: 88) wie folgt definiert werden, wobei in der pädagogischen Diskussion zwei Facetten des Begriffs deutlich werden:

Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne wird in der Fähigkeit gesehen, Reime zu erkennen, Silben zu segmentieren und zusammenzusetzen. Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne ist die Fähigkeit, nicht nur Anfangs- und Endlaute in einem gesprochenen Wort identifizieren zu können, sondern das gesamte Wort auf seine lautlichen Bestandteile hin abhören zu können.

Die phonologische Bewusstheit im weiten Sinn gilt als wichtige Voraussetzung für den Schriftspracherwerb (vgl. ebd.) und wird für das Schreiben produktiv genutzt: Während der alphabetischen Phase erfolgt lautgetreues Schreiben ohne Rücksichtnahme auf orthographische Regeln, z.B. *Fase für dt. Phase2 (vgl. Brügelmann 2015 für die Debatte um das sogenannte Schreiben nach Gehör).

Im Rahmen der dritten, orthographischen Phase werden Rechtschreibregeln, die von spontanen Laut-​Buchstaben-​Zuordnungen abweichen können und im Fall des Französischen verschiedene Prinzipien umfassen, erworben (vgl. Kap. 2.3.1). Im Bereich des Lesens wird die Verarbeitung auf der Wortebene erreicht und ganze Wörter oder Syntagmen können „auf einen Blick“ gelesen werden („Wortüberlegenheitseffekt“, vgl. Kap. 2.1.1.3). Dazu erfolgen eine Abspeicherung im orthographischen Lexikon und eine Verknüpfung mit dem jeweiligen Lautbild, was zu einer „Automatisierung des phonologischen Rekodierens und einer Erhöhung der Lesegeschwindigkeit“ (vgl. Klicpera et al. 2017: 27) führt.

Mittlerweile hat sich ein flexibles Verständnis der Entwicklungsmodelle des Schriftspracherwerbs etabliert, das Übergänge und auch temporäre Verschlechterungen zwischen den Phasen explizit vorsieht (z.B. Karg 2015: 180ff.): Nicht umsonst nennt Frith (1986: 72, Herv. der Verf.) in seinem Ausgangstext „strategies for dealing with the written word“, die ebenfalls Kompensationsstrategien umfassen (vgl. ebd.: 73). Der Schriftspracherwerb wird somit als nicht linearer Prozess verstanden, der zudem gegenläufige Tendenzen zwischen Lese- und (Recht‑)Schreibentwicklung aufweisen kann: „The hypothesis is that reading and writing strategies do not actually develop in unison, but on the contrary, out of step with each other.“ (ebd.: 76) Während beim Lesen Prozesse erreicht werden müssen, die sich von der Buchstabenebene entfernen, ist beim (Recht‑)Schreiben zwar auch eine Automatisierung erwünscht, dennoch muss eine buchstabenweise Exaktheit beibehalten werden. Im Hinblick auf fehleranalytische Zugänge können Erwerbsmodelle dazu beitragen, Lese- und Rechtschreibleistungen von Schüler:innen einzuschätzen und einem Entwicklungsstand zuzuordnen (vgl. Karg 2015: 140). Für den Französischunterricht stellt sich die Frage, inwieweit beim Fremdsprachenlernen vergleichbare Abläufe und Phasen der Auseinandersetzung mit Schriftsprache zu durchlaufen sind und welche Fertigkeiten auf Basis bestehender (Fremd‑)Sprachenkenntnisse übertragen werden können.

2.1.1.3Leseprozesse und ihre Modellierung

Die Frage nach einer adäquaten Modellierung von Leseprozessen in der Erst- und den Fremdsprachen wird meist von der Psycholinguistik und der Kognitionspsychologie bearbeitet. In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Leseprozessmodelle entstanden, die den Weg hin zu dem Verstehen eines Lesetextes detailliert aufzeigen (vgl. als Übersicht für die Erstsprache: Christmann 2015; für die Zweit- und Fremdsprachen: Nassaji 2003: 262ff.; für eine Gegenüberstellung: Lutjeharms 2010). Im Folgenden werden übergeordnete Aspekte von Leseprozessmodellen fokussiert, die nicht nur für die Fremdsprachendidaktik, sondern mit Vorausschau auf defizitäre Lesekompetenzen besonders relevant sind.

Die Kognitionspsychologie hat mithilfe von Eye-​Tracking-​Studien herausgearbeitet, dass erfolgreiche Leser:innen Schriftsprache in Sakkaden verarbeiten, d.h., sie erkennen Wörter spontan, ohne dass jeder Buchstabe einzeln entschlüsselt wird (vgl. Christmann 2015: 34f.). Dabei werden in der Regel nur die jeweils ersten Buchstaben eines Worts fokussiert und die Augen springen dann zu einem nächsten Fixpunkt, weshalb Rechtschreibfehler bei einem inhaltsorientierten Lesen auch kaum bemerkt werden (vgl. Lutjeharms 2010: 16f.). Die Bereiche zwischen beiden Fixpunkten werden als Muster erkannt bzw. inhaltlich geschlussfolgert; eine hohe Dauer der jeweiligen Fixationen und regressive Blickbewegungen werden als Indikatoren für Verstehensprobleme interpretiert (vgl. ebd.). Dies wird auch als „Wortüberlegenheitseffekt“ (Christmann 2015: 24) bzw. „Wortsuperioritätseffekt“ (Lutjeharms 2010: 17) bezeichnet: „Wörter werden schneller gelesen als eine Reihe einzelner Buchstaben […]. Bekannte Rechtschreibmuster und Morpheme werden als Einheit verarbeitet.“ (ebd.)3

Folglich vereinfachen und beschleunigen eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit und damit einhergehend eine größere Vertrautheit der Lernenden mit bestimmten Wörtern nicht nur in fremdsprachlichen Lesetexten die basalen Dekodierprozesse und in weiterer Folge das Leseverstehen (vgl. Leloup 2018: 212ff.; Lutjeharms 2006: 22): Dies wird auch unter dem Begriff „Sichtwortschatz“ (Bremerich-​Vos et al. 2017: 284; Schneider 2006: 12) konzeptualisiert. Folgt man Zwei-​Wege-​Modellen der Worterkennung (ursprünglich nach Coltheart 19784), werden im Fall des Sichtwortschatzes den Wörtern auf direktem Weg über das orthographische Lexikon Bedeutungen zugewiesen. Somit muss nicht der indirekte Weg über eine phonologische Rekodierung, d.h. eine Zuordnung des Lautbilds zum Schriftbild, gegangen werden, der noch unterhalb der Wortebene ansetzt (vgl. Bremerich-​Vos et al. 2017: 284). Dieser Ansatz beansprucht mehr zeitliche und kognitive Ressourcen und belastet das Arbeitsgedächtnis stärker, sodass mehr Aufmerksamkeit nötig ist, was wiederum Lesegeschwindigkeit und ‑flüssigkeit herabsetzt. Folglich wird angenommen, dass der Umweg über ein lautierendes Lesen eher von ungeübten Leser:innen gewählt wird bzw. im Fall von Leseschwierigkeiten zu beobachten ist (vgl. Christmann 2015: 26; Nassaji 2003: 270). Nassaji (2014: 18f.) bringt dies auch mit der orthographischen Tiefe einer Sprache in Verbindung: Eine eher inkonsistente Orthographie trägt dazu bei, dass eher nicht der Umweg über eine Graphem-​Phonem-​Zuordnung gewählt wird, sondern ein direkter Abruf der Wortbedeutungen über das orthographische Lexikon erfolgt.

Während Zwei-​Wege-​Modelle der Worterkennung auf Buchstaben- bzw. Wortebene verortet sind, existieren zahlreiche weitere Modelle, die bestimmte Teilprozesse des Lesens auf Satz- und Textebene fokussieren (vgl. Christmann 2015: 28ff.)5 und den konzeptuellen Übergang zu den hierarchiehöheren Leseprozessen vollziehen. Teilprozessmodelle, die die Satzebene fokussieren, stellen dar, wie Lesende unter Nutzung semantischer und syntaktischer Analysen und impliziten grammatischen Wissens von einer Einzelwortidentifikation zu einer Herstellung partieller Sinnzusammenhänge kommen (vgl. ebd.). Auf der Textebene wird dann relevant, wie Leser:innen einzelne Textteile in Relation setzen und dabei „in Form von Inferenzen und Elaborationen über den gegebenen Text hinausgegangen wird“ (ebd.: 31).

Alle Leseverstehensmodelle können gleichermaßen danach unterschieden werden, inwieweit sie den Leseprozess eher als erwartungs- bzw. wissensgeleitet (top-​down), als datengeleitet (bottom-​up) oder als interaktiv modellieren. Erwartungs- bzw. wissensgeleitete Ansätze betonen, dass die Leser:innen „(oft unbewusst) allgemeines Weltwissen oder spezielles thematisches Vorwissen“ (Hermes 2017: 228) in den Leseprozess einbringen. Sie begegnen einem Lesetext beispielsweise mit textsorten- oder adressatenbezogenen Vorerwartungen und gleichen diese in einem Prozess des „Hypothesentestes“ (Christmann 2015: 23) mit den vorliegenden Informationen ab. Ursprünglich sind erwartungs- bzw. wissensgeleitete Modelle auf Beobachtungen der erstsprachlichen Leseforschung zurückzuführen, die für schwache Lesende herausgearbeitet hat, dass diese verstärkt auf Ratestrategien zurückgreifen, wenn Dekodierungsprozesse unzureichend automatisiert sind (vgl. Lutjeharms 2010: 12). Die Fremdsprachendidaktik greift vor dem Hintergrund der Differenzen zwischen erst- und fremdsprachlichem Lesen auf die Ansätze zurück und entwickelt hieraus die Idee eines inferierenden Lesens (vgl. ebd.; Kap. 2.1.2.1). Datengeleitete Modelle begreifen Lesen demgegenüber als linearen Prozess, der auf den hierarchieniedrigen Ebenen beginnt und ausschließlich von den Informationen auf der Textoberfläche ausgeht. Diese sollten möglichst zügig und automatisiert durchlaufen werden, um Raum für die eigentlichen Verstehensprozesse zu schaffen (vgl. Christmann 2015: 23). Das leserseitige Vorwissen spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Aktuelle Forschung begrüßt meist interaktive Leseprozessmodelle (z.B. Henseler/Surkamp 2019: 87), da diese zentrale Aspekte der Top-​down- und der Bottom-​up-​Modelle integrieren und damit den flexiblen „Bedingungen der jeweiligen Lesesituation und Leseaufgabe sowie den individuellen leserseitigen Voraussetzungen“ (Christmann 2015: 23) am ehesten gerecht werden. Konsens besteht in der Regel darüber, dass Lesen ein flexibler Vorgang sei, der in hohem Maße in der individuellen Sinnkonstruktion in Auseinandersetzung mit dem Lesetext bestehe (ebd.: 32) – ein Lesen ohne Vorerfahrungen, -wissen und ‑erwartungen scheint ohnehin unmöglich. Daran knüpft der didaktische Anspruch an, Leseprozesse nicht auf der Ebene einer individuellen Auseinandersetzung mit dem Lesetext enden zu lassen, sondern „Anschluss-​Kommunikationen“ (Hurrelmann 2002: 13) bzw. eine „Lese-​Kommunikation“ (Bartnitzky 2006: 19) zu etablieren, die dem schülerseitigen Austausch zu zentralen Inhalten der Lesetexte oder der Klärung offener Fragen dienen kann und so die reale lebensweltliche Relevanz des Lesens untermauert.

2.1.1.4Erst- und fremdsprachliches Lesen

Lernende greifen beim Lesen in der Fremdsprache in der Regel auf Lesefertigkeiten zurück, die sie bereits im Kontext des Schriftspracherwerbs in ihren Erst- und Zweitsprachen erworben haben. Dabei sind einige Differenzen zwischen erstsprachlichem Lesen und dem Lesen in einer Fremdsprache bemerkenswert, die meist anhand von zwei Hypothesen diskutiert werden: Erstens postuliert die Schwellenhypothese (threshold hypothesis), dass Lernende über ein Minimum an Fremdsprachenkenntnissen verfügen müssen, um erstsprachlich erworbene Lesekompetenzen in fremdsprachliche Leseprozesse transferieren zu können (vgl. Hermes 2017: 228). Denn in Abgrenzung zu Leseprozessen in der Erstsprache bestehen für fremdsprachliches Lesen vermehrte Herausforderungen im lexiko-​semantischen und grammatischen Bereich: Die Fremdsprache selbst muss noch erlernt werden, viele Wortbedeutungen sind noch nicht abrufbar und es fehlt die Basis des bereits mündlich erworbenen Wortschatzes bzw. der syntaktischen Struktur. Lesende in der Fremdsprache müssen folglich eine ausreichende Ambiguitäts- bzw. Frustrationstoleranz an den Tag legen, denn die Leseflüssigkeit – und damit auch die in der Erstsprache bereits erreichte Lesegeschwindigkeit – verringert sich beim fremdsprachlichen Lesen zunächst (vgl. Ehlers 2006: 32). Auch starke bzw. geübte Leser:innen setzen zu Beginn der Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache Lesestrategien ein, die meist eher mit schwachen bzw. ungeübten Leser:innen in Verbindung gebracht werden (vgl. Lutjeharms 2010: 21). Doch diese Strategien, wie beispielsweise das inferierende Lesen, werden im Fall fremdsprachlichen Lesens insofern zu einer Stärke, als Letzteres sich häufig „eng an der sprachlichen Basis orientiert und […] zu wenig Inferenzen [erzeugt], um sich ein Bild von der beschriebenen Situation machen zu können.“ (Ehlers 2006: 33) Somit besteht in dem Wechsel der Aufmerksamkeit von der Sprach- hin zu der Inhaltsebene des Texts eine wesentliche Leistung fremdsprachlichen Lesens.

Zweitens wird im Rahmen der Interdependenzhypothese (interdependence hypothesis) ein enger Zusammenhang zwischen Lesekompetenzen in der Erst- bzw. Zweit- und der Fremdsprache angenommen (vgl. Hermes 2017: 228).6 Dies kann Lernenden im positiven Sinn ermöglichen, auf bereits erworbene, basale Lesefertigkeiten und Strategien zurückzugreifen; didaktische Ansätze wie Mehrsprachencurricula machen dies explizit nutzbar. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch auch, dass sich schwache Leseleistungen in der Erstsprache auch auf das fremdsprachliche Lesen auswirken, da eine „mangelhafte muttersprachliche Dekodierfähigkeit auch den Erwerb der zielsprachlichen Kompetenz beeinträchtigen wird“ (Lutjeharms 2010: 21). Führt man diesen Gedanken weiter, stößt man auf das Konzept der Sprachlerneignung, das mit der zentralen Rolle übergeordneter Sprachverarbeitungsmechanismen argumentiert (vgl. Schlak 2008) und in Kap. 3.3.1 weiterführend diskutiert wird. Aus sprachstruktureller Sicht, aber auch im Hinblick auf Einstellungen und Lesemotivation ist „die (empfundene) Distanz oder Nähe von Ausgangs- und Zielsprache, die bedingt, ob Transferprozesse einsetzen“ (Lutjeharms 2010: 21), bedeutsam für mögliche Wechselwirkungen zwischen zwei oder mehr Sprachen. Beispielsweise können hierarchieniedrige Fertigkeiten wie die visuelle Mustererkennung nur übertragen werden, wenn Ausgangs- und Zielsprache über dasselbe Schriftsystem und syntaktisch über eine ähnliche Wortfolge verfügen (vgl. Kap. 2.1.1.2).

Wie bereits Bernhardt und Kamil (1995) herausgearbeitet haben, kann sowohl die Schwellen- als auch die Interdependenzhypothese einen wichtigen Beitrag zum Verständnis fremdsprachlicher Leseprozesse leisten, da diese ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren und Teilprozesse bilden. Beide Hypothesen verweisen auf Diskussionspunkte, die die Fremdsprachendidaktik auch heute noch beschäftigen: Zum einen stellt sich die Frage, wie Fremdsprachenlehrkräfte reagieren können, wenn basale Lesefertigkeiten in der Erstsprache nur unzureichend erworben wurden. Zum anderen führt die Schwellenhypothese auf die Frage zurück, welchen Stellenwert Schriftsprache im Fremdsprachenunterricht überhaupt haben sollte bzw. wann ein „günstiger“ Zeitpunkt wäre, diese zu einem impliziten oder expliziten Lerngegenstand zu machen. Dies wird insbesondere für das frühe Fremdsprachenlernen bzw. den Primarbereich diskutiert (z.B. Mertens 2002, vgl. Kap. 2.2.3.4), ist aber gleichermaßen für die zweiten und dritten Fremdsprachen relevant – gerade, wenn es zu schülerseitigen Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs kommt.

2.1.2Didaktisierung von Leseprozessen

Die hohe Komplexität von Leseprozessen stellt umfassende Anforderungen an die lesende Person – aber auch an Lehrkräfte, die mit der Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz betraut sind. Aus didaktischer Sicht ist es daher nötig, einzelne Teilprozesse des Lesens zu differenzieren, um diese methodisch zugänglich und evaluierbar zu machen. Im Folgenden werden Lesestile, -techniken und -strategien sowie die Modellierung verschiedener Lesephasen als Möglichkeiten der Didaktisierung von Leseprozessen vorgestellt.

2.1.2.1Lesestile

Ein prominenter Ansatz besteht in der Differenzierung verschiedener Lesestile, die bei Ehlers (2006: 35) auch „Leseformen“ genannt werden. Sie bezeichnen „ein durch die Leseintention bestimmtes Leseverhalten“ (Schmidt 2007: 123), d.h., die lesende Person richtet ihren kognitiven Fokus bei der Lektüre eines Texts an einem bestimmten Leseinteresse aus. So kann ein Lesevorgang möglichst ressourcenschonend bzw. zielgerichtet erfolgen. Es stehen verschiedene Kategorisierungen von Lesestilen zur Verfügung – folgende, in Anlehnung an Lutjeharms (2010: 11) und Schmidt (2007: 123) zusammengestellte Unterscheidungen sind die gängigsten:

das suchende, selegierende oder selektive Lesen, auch Scanning genannt: Leser:innen suchen gezielt nach Informationen im Text;

das detaillierte, totale, intensive oder gründliche Lesen: Leser:innen möchten den Text möglichst umfassend und in all seinen Nuancen verstehen; wenn betont wird, dass der Text gänzlich gelesen wird, wird auch die Bezeichnung des statarischen Lesens relevant;

das orientierende, überfliegende oder globale Lesen, auch Skimming genannt: Leser:innen verschaffen sich eine grobe Übersicht über den Gesamttext; oft mit dem Ziel, zu entscheiden, ob sich der Text für eine bestimmte Leseabsicht eignet und gründlicher konsultiert werden soll;

das kursorische Lesen: Leser:innen extrahieren wesentliche Inhalte des Texts;

das elaborierende oder argumentative Lesen: Leser:innen vollziehen einzelne Argumente nach, setzen sich unter Einbezug der eigenen Perspektive intensiv mit dem Inhalt auseinander und gehen dabei inferierend über den Text hinaus.

Leseintention und Lesestil sind in der Regel an die jeweilige Textsorte sowie die Kommunikationssituation rückgebunden: Als klassische Beispiele dienen die selektive Lektüre eines Fahrplans oder das detaillierte Lesen eines wissenschaftlichen Artikels (vgl. Schmidt 2007: 123). Auch während der Lektüre eines (einzelnen) Texts kann es sinnvoll sein, Lesestile zu kombinieren (vgl. Lutjeharms 2016: 99); dies gilt insbesondere für diskontinuierliche Texte.

2.1.2.2Lesetechniken und Lesestrategien

Die obige Auflistung beinhaltet einige Aspekte, deren Klassifikation immer wieder Gegenstand fachlicher Diskussionen ist: So werden das Skimming und das Scanning auch den Lesetechniken zugeordnet (vgl. Hermes 2017: 229; Meißner 2013: 44). Diese werden „im Unterschied zu Lesestrategien als konkrete Handlungen der Lernenden zur Unterstützung des Leseverstehens definiert“ und können beispielsweise in dem „Anfertigen von Notizen, [dem] Unterstreichen wichtiger Textstellen oder Wörter [oder dem] Nachschlagen unbekannter Wörter“ (Schmidt 2007: 123) bestehen. Damit gelten Lerntechniken als „Teilhandlungen von Strategien“ bzw. als „Fertigkeiten“ (Martinez 2016b: 372), die den Lernstrategien hierarchisch nachgeordnet sind (vgl. ebd.).1

Lesestrategien sind eingebettet in die Forschung und Diskussion um Lernstrategien, die bereits seit den 1970er-​Jahren auch in der Fremdsprachendidaktik präsent sind und als wesentliches Element eines lerner- und kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts gelten (vgl. als Überblick Martinez 2016b). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass durch eine bewusste Steuerung des Lern- bzw. Leseprozesses individuelle Ressourcen genutzt und Schwächen kompensiert werden können. Verschiedene Studien weisen auf einen direkten Zusammenhang von Strategieverwendung und Lernerfolg im Bereich des Lesens (nicht nur) bei auftretenden Lernschwierigkeiten hin (vgl. die Metaanalyse von Souvignier und Antoniou 2007). Es existieren verschiedene Strategiebegriffe, die nicht immer klar definiert bzw. abgrenzbar sind: Wie Schmidt (2007: 122) herausarbeitet, ist allen Konzepten gemein, dass sie eine „Problemorientierung, Zielgerichtetheit/Intentionalität und Bewusstheit“ von Strategien annehmen. Für ein erfolgreiches Fremdsprachenlernen gilt zudem, dass Planung, Reflexion und Evaluation des individuellen Strategiegebrauchs nötig sind, damit diese auch in Kommunikationssituationen außerhalb des Fremdsprachenunterrichts genutzt werden können (vgl. Bimmel 2002; Martinez 2016b: 373f.). Folgt man O’Malley und Chamot (1990: 98ff.), zeichnen sich effektive Strategien dadurch aus, dass die für die Lösung des jeweiligen Problems geeignet sind und ihr Einsatz in angemessener Weise bewusst gemacht bzw. metakognitiv gesteuert wird.

Insbesondere Lesestrategien haben infolge der PISA-​Studie eine neue Relevanz erfahren, denn sie gelten als zentral für die Entwicklung der Lesekompetenz von Schüler:innen (vgl. Bartnitzky 2006: 18). In der Sekundärliteratur werden folgende Kategorisierungen vorgeschlagen: Globale Lesestrategien beziehen sich auf den gesamten Text und bestehen z.B. in einem „Erkennen der Textstruktur [oder der] Aktivierung von Vorwissen zum Thema“ (Schmidt 2007: 124). Lokale Lesestrategien werden auf bestimmte Passagen eines Texts angewendet, z.B. durch „nochmaliges Lesen einer Textstelle [oder] Raten eines unbekannten Wortes“ (ebd.).

Eine weitaus bekanntere Dichotomie besteht in der Differenzierung kognitiver und metakognitiver Strategien (z.B. Bimmel 2002: 118ff.). Kognitive Lesestrategien dienen dazu, Leseprozesse optimal zu bewältigen und damit Leseaufträge zu erfüllen. Sie können auf alle Ebenen von Leseprozessen abzielen, die von der basalen Dekodierung des Geschrieben bis hin zu einem Textverständnis reichen (vgl. Kap. 2.1.1.1). Als kognitive Lesestrategien gelten beispielsweise die Selektion wichtiger und nebensächlicher Informationen und die damit verbundene Aufmerksamkeitslenkung, das Erraten von Wortbedeutungen anhand des Kontexts, der Rückgriff auf andere (Fremd‑)Sprachenkenntnisse oder die Anwendung von Regeln (vgl. Schmidt 2007: 124f.).

Metakognitive Lesestrategien zielen demgegenüber nicht auf die direkte Arbeit am Lesetext ab, sondern dienen der Steuerung und Regulierung des eigenen Leseprozesses, z.B. indem dieser geplant wird, um die erworbenen kognitiven Strategien zielführend einsetzen zu können. Zum einen werden dafür eine Reflexionsfähigkeit und ein gewisses deklaratives Wissen über Leseprozesse und deren optimalen Ablauf benötigt; zum anderen muss dieses Wissen in eine Performanz, d.h. konkrete Handlungen überführt werden, die z.B. in der Setzung von Lesezielen oder der Auswahl eines Lesestils bestehen können (vgl. Meißner/Schröder 2017: 126ff.). Als Großkategorien metakognitiver Lesestrategien gelten das Planen, Kontrollieren, Steuern und Bewerten der ablaufenden Prozesse. Konkrete Strategien können beispielsweise in der Bestimmung eines Leseziels (z.B. einen Text global verstehen), der Planung der konkreten Schritte zwecks Erreichung dieses Ziels (z.B. auf Schlüsselwörter achten) oder der Identifikation von Verständnisproblemen liegen (z.B. Ehlers 2006: 37).

Hinsichtlich der methodisch-​didaktischen Planung von Leseprozessen wird der möglichst effiziente Einsatz von Lesestrategien oftmals an verschiedene Lesephasen rückgebunden. In der Regel wird der klassische Dreischritt von activitésavant – pendant – après la lecture angenommen (z.B. ebd.: 35).2 Während sich kognitive Strategien vorrangig in Phasen direkter Textarbeit (pendant la lecture) finden, werden metakognitive Strategien eher der Vorentlastung (avant la lecture), Nachbereitung und Reflexion (après la lecture) von Leseprozessen zugeschrieben. Neben kognitiven und metakognitiven bilden soziale bzw. affektive Strategien eine dritte wichtige Gruppe bei O’Malley und Chamot (1990: 46). Sie unterscheiden drei Arten von Strategien:

Cooperation: Working with peers to solve a problem, pool information, check notes, or get feedback on a learning activity; Questioning for clarification: Eliciting from a teacher or peer additional explanation, rephrasing, or examples; Self-​talk: Using mental redirection of thinking to assure oneself that a learning activity will be successful or to reduce anxiety about a task.

Bei der Sichtung relevanter Publikationen fällt auf, dass die Gruppe der sozialen bzw. affektiven Strategien im Kontext der fremdsprachlichen Lesedidaktik den kognitiven und metakognitiven Strategien nachgeordnet scheint. Dies könnte darin begründet sein, dass soziale bzw. affektive Strategien den Leseprozess eher indirekt unterstützen und sich damit nur mittelbar auf die direkte Textarbeit und deren didaktische Vermittlung beziehen.3 Doch gerade wenn „Selbstregulation“ (Meißner/Schröder 2017: 126) als Merkmal erfolgreicher Leseprozesse angenommen wird, sollte ein konsequenter Transfer dieser Strategien auch auf das Lesen erfolgen – dies entspricht auch dem didaktisch etablierten Begriff von Lesekompetenz, der emotionale, soziale und motivationale Faktoren umfasst (vgl. Rosebrock/Nix 2017: 17ff.).

Soziale und affektive Strategien werden in der Lesedidaktik meist durch das Konzept der „Stützstrategien“ (vgl. Philipp 2015b: 214f.) repräsentiert: Diese können den Leseprozess indirekt unterstützen bzw. entlasten und werden in interne und externe Strategien eingeteilt. Erstere beziehen sich auf Motivation und Verhalten der lesenden Person selbst und können beispielsweise darin bestehen, die persönliche Anstrengung im Laufe des Leseprozesses zu überwachen, entsprechende Pausen und Belohnungen einzuplanen und so ein angemessenes Zeitmanagement zu erreichen. Externe Stützstrategien zielen auf den Lesekontext bzw. das Leseumfeld und können z.B. durch eine günstige Einrichtung des Leseorts (z.B. Schaffung einer ruhigen Umgebung, passende Lichtverhältnisse) und den Einbezug externer Ressourcen (z.B. Lesepartner:innen, Hilfsmittel) umgesetzt werden (vgl. Philipp 2012: 43ff.). Infolge der Inklusionsdebatte erfahren psychosoziale Aspekte des Fremdsprachenlernens und damit auch Stützstrategien des Leseverstehens neue Aufmerksamkeit, z.B. indem Peer Tutoring oder kooperative Lesemethoden auch für die Entwicklung basaler Lesefertigkeiten eingesetzt werden (vgl. Kap. 2.1.2.3).

Kompensationsstrategien verlaufen insofern transversal zu der vorgestellten Kategorisierung der Lern- bzw. Lesestrategien, als sie aus den kognitiven, metakognitiven wie affektiven bzw. sozialen Strategiegruppen bezogen werden können. Üblicherweise werden Kompensationsstrategien „zum Ausgleichen sprachlicher Defizite eingesetzt“ (Martinez 2016b: 374), denen jede:r Lernende in Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache begegnet. Typischerweise zählen die „Kommunikations- bzw. Sprachgebrauchsstrategien“ zu den Kompensationsstrategien, die „nicht in erster Linie dem Erwerb einer Fremdsprache, sondern der Sicherung der Kommunikation“ (ebd.: 373f.) dienen. Mit Bezug zum Leseverstehen bestehen Kompensationsstrategien darin, „unverstandene Textelemente [zu] erschließen oder [zu] kompensieren“ (Henseler/Surkamp 2019: 89), beispielsweise indem weniger relevante Textteile überlesen, unbekanntes Vokabular erraten bzw. unter Rückgriff auf andere Sprachkenntnisse erschlossen oder auf Hilfsmittel wie Wörterbücher zurückgegriffen wird (vgl. ebd.). Die Anwendung von – auch kompensatorischen – Lesestrategien ist also nicht nur jedem Leseprozess inhärent, sondern kennzeichnet insbesondere ein erfolgreiches Lesen in der Fremdsprache: „Kompetente Lesende beherrschen das Inferieren als Problemlösestrategie besser als schwache Lesende.“ (Lutjeharms 2016: 98)

Die bisherigen Ausführungen haben veranschaulicht, dass Lesen (und Schreiben) nur erfolgreich sein können, wenn automatisierte Fertigkeiten und potenziell bewusst steuerbare4 Lesestrategien effizient ineinandergreifen (vgl. Hudson 2010: 105ff.; Philipp 2015b: 212ff.). Im Folgenden werden Ansätze zur Leseförderung im Fremdsprachenunterricht vorgestellt, die auf diese beiden Komponenten zurückgreifen.

2.1.2.3Ansätze zur Leseförderung im Fremdsprachenunterricht

Eine direkte Leseförderung, wie sie im anglophonen Raum unter Einbezug empirischer Ergebnisse der Leseforschung und -didaktik stattfindet, findet im Fremdsprachenunterricht in Deutschland nach wie vor wenig Beachtung (vgl. Henseler/Surkamp 2019: 88).5 Während sich die Deutschdidaktik auch basalen Lesefertigkeiten wie der Leseflüssigkeit zuwendet (z.B. Rosebrock/Nix 2017: 40ff.), ist zu beobachten, dass die Fremdsprachenforschung meist die hierarchiehöheren Prozesse der Lesekompetenz fokussiert, wie auch Gerlach und Lüke (2020: 4) festhalten. Daraus folgt, dass die große Mehrheit der Ansätze und Methoden zur Leseförderung im Fremdsprachenunterricht primär auf die Textkompetenz bzw. die higher level skills abzielt und stark an den Unterricht selbst bzw. dort eingesetzte Textsorten und Leseaufträge rückgebunden ist (vgl. Fritsch 2014: 93ff.) Im Folgenden werden exemplarisch einige Ansätze zur Leseförderung vorgestellt, die für den Französischunterricht und bei auftretenden Leseschwierigkeiten besonders relevant sind.

Mit Fokus auf den higher level skills zielen einige Ansätze unter Einbezug von Textsortenspezifika auf die konkrete Anwendung und Reflexion von Lesestrategien ab (vgl. Kap. 2.1.2.1). Beispielsweise schlägt Bürgel (2010: 171) mit Fokus auf Sach- und Informationstexten die „Textdechiffrierungsmethode“ vor, die über die Identifikation der Textstruktur als „lesestrategischer Zwischenschritt“ vor einer detaillierteren Lektüre angewandt werden kann. Insbesondere anhand der Identifikation von Textmarkern und kohäsiven Elementen soll die Funktion von Textpassagen im Gesamtgefüge des Texts bestimmt werden. Über den Aufbau einer konkreten Erwartungshaltung wird so der Zugang zu inhaltlichen Aspekten erleichtert und eine gezielte Informationsentnahme vorbereitet. Die Methode zielt explizit auf die Erhöhung der Lesegeschwindigkeit ab (vgl. ebd.: 176), wobei diese über einen zielgerichteten und damit zeitökonomischen Zugang zu Sachtexten gesteigert werden soll und nicht über die Förderung basaler Lesefertigkeiten, mit denen die Lesegeschwindigkeit eigentlich assoziiert wird (vgl. Kap. 2.1.1.1). Außerdem wird angestrebt, dass Schüler:innen so alle Textteile in ihr Leseverstehen einbeziehen und nicht aufgrund einer „linear-​additive[n] Wort-​für-​Wort-​Dekodierung“ (ebd.: 171) auf den Eingangspassagen des jeweiligen Texts verharren. Ehlers (2006: 33ff.) resümiert mit Fokus auf literarischen Texten insbesondere die Schulung selektiver Fertigkeiten (z.B. die Erfassung des Hauptgedankens eines Texts über Zusammenfassungen oder die Schlüsselwortmethode) und des systematischen Schlussfolgerns (z.B. Fragen an den Text stellen, Themen ableiten). Damit zielt sie primär auf hierarchiehöhere Fertigkeiten und eine Verbesserung des Leseverstehens ab.6

Unter Einbezug einer Förderung der lower level skills legen Gerlach und Lüke (2020) eine Interventionsstudie vor, die in einem integrierten Ansatz sowohl auf die Förderung der hierarchieniedrigen Leseflüssigkeit als auch des übergeordneten Leseverstehens im Englischunterricht abzielt. Das ursprünglich unterrichtsextern konzipierte Interventionsprogramm greift auf – in der Deutschdidaktik bereits gängige – Verfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit zurück, wie z.B. das interaktive Partnerlesen oder das wiederholte und begleitete Lautlesen; Lesekompetenz wird insbesondere über eine Vermittlung von Lesestrategien gefördert (vgl. ebd.: 14f.). Indem „leseanimierende Verfahren (Buchvorstellungen und Lesepässe)“ (ebd.: 15) eingesetzt werden, soll zudem eine höhere Lesemotivation angebahnt werden. Die Autor:innen weisen im Rahmen der Evaluation der Studie (vgl. ebd., 16f.) nach, dass die Intervention die Leseflüssigkeit mehr als die übergeordnete Lesekompetenz steigert und sich vorrangig für leseschwächere Schüler:innen eignet; Effekte auf die Lesemotivation könnten in einer Folgestudie miterhoben werden. Die Studie zeigt, wie auf Basis empirischer Evidenz aus der Leseforschung entwickelte Fördermaterialien in den Englischunterricht auch auf höheren Niveaustufen integriert werden können.

Infolge der Inklusionsdebatte erleben Unterrichtssettings, die eine Interaktion zwischen Lernenden vorsehen, eine Renaissance (vgl. Büttner et al. 2012). Dies gilt auch für Ansätze zur Leseförderung: Methoden, die auf kooperatives Lernen oder Peer Tutoring setzen, erfahren wieder eine stärkere Beachtung. Diesen wird der Vorteil zugeschrieben, zugleich mehrere Lernziele auf kognitiver wie psychosozialer Ebene zu adressieren, da neben der inhaltlichen Bearbeitung einer Aufgabe auch Kooperations- und Aushandlungsprozesse im Rahmen der Partner- bzw. Gruppenarbeit geschult werden. Hoch (2013) stellt mit Bezug zum Italienischunterricht die Methoden des paired reading and thinking (wechselseitiges Lesen und Erklären) und des reciprocal reading (reziprokes Lesen) vor. Im Fall des paired reading arbeiten in der Regel gute mit schwächeren Leser:innen in Lese-​Tandems zusammen. Es handelt sich um ein Laut-​Lese-​Verfahren, das der Steigerung der Leseflüssigkeit dient und auch zu einem besseren Leseverstehen führen soll, indem ein Austausch über den Textinhalt erfolgt. Das reziproke Lesen dient demgegenüber primär der Schulung von Lesestrategien. In Gruppenarbeit wird ein bislang unbekannter Text gelesen und arbeitsteilig erschlossen, wobei jedes Gruppenmitglied eine bestimmte von mehreren Teilaufgaben übernimmt, die abschließend zu einem „Gesamtwerk“ zusammengeführt werden. Mit Obermeier (2022) liegt eine empirische Studie für den Englischunterricht der 8. Jahrgangsstufe vor, die sich dem reziproken Lesen als Methode für einen differenzierenden Umgang mit Texten in heterogenen Lerngruppen widmet. Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass im Kontext fremdsprachlichen Lesens insbesondere Klärungsprozesse zu unbekanntem Vokabular und inhaltlichen Unsicherheiten im Fokus stehen. Dabei ist jedoch entscheidend, dass im Sinne der Schwellenhypothese zunächst ein gewisses Niveau in den Fremdsprachen erreicht wird, um flüssig genug für eine sinnentnehmende Rezeption lesen zu können. Dies weist darauf hin, dass sich die Methode im Fremdsprachenunterricht womöglich nicht für alle Lernenden gleichermaßen eignet, sondern gerade im Fall von Leseschwierigkeiten in frühen Lernjahren einer kritischen Betrachtung unterzogen werden muss.

2.1.3Formen und Funktionen des Lesens im Französischunterricht

Hinsichtlich der Funktionen, die Lesen im Französischunterricht einnehmen kann, werden hauptsächlich Leseaufträge als Mittel des Spracherwerbs und solche mit dem Ziel der Erfassung von übermitteltem Inhalt unterschieden (vgl. Meißner 2013: 32ff.). Im Kontext institutionalisierten Fremdsprachenlernens dominiert dabei erstere Funktion, wie auch Lutjeharms (2006: 23) formuliert: „Dans l’enseignement, les textes sont utilisés principalement comme input pour l’apprentissage de la langue.“ Dies ist u.a. damit zu erklären, dass beim Lesen der fremdsprachliche Input in irgendeiner Form enkodiert werden muss, d.h. mental gespeichert und damit langfristig abrufbar gemacht wird (vgl. Lutjeharms 2010: 20). Analog zu der prominenten Unterscheidung zwischen writing to learn und learning to write im Bereich des Schreibens (vgl. Manchón 2011a; Kap. 2.2.3.1) kann differenziert werden, inwieweit Lesen als Teilkompetenz selbst im Fokus steht (Lesenlernen, learning to read) oder als Werkzeug zur Erreichung von Lernzielen genutzt wird, die nicht primär im Bereich des Lesens bzw. Leseverstehens liegen (Lernen durch Lesen, reading to learn; vgl. Delaney 2008: 141).

2.1.3.1Zirkuläre Bezüge: Reading to write – writing to read

Gerade die Funktion des instrumentellen Lesens verdeutlicht, wie eng Lese- und Schreibprozesse (nicht nur) im Französischunterricht miteinander verbunden sein können. So beschreibt Feilke (2017: 160):

Im Stoffwechsel einer literalen Gesellschaft wie auch in Schreib- und Leseprozessen selbst sind Lesen und Schreiben eng aufeinander bezogen. So wie das Lesen (Verstehen und Aneignung) vom Umfang der eigenen Produktion zum Gelesenen profitiert (von Unterstreichungen über Glossen bis zu Zusammenfassungen und Textvergleichen) […], profitiert das Schreibenlernen vom Lesen: Schrifttexte und die in ihnen herausgebildeten Strukturen können als Modelle der eigenen Produktion und Aneignung dienen […]. Das gilt für literarische, journalistische oder wissenschaftliche Textmodelle ebenso wie für Schülertexte, aus deren Lektüre gelernt werden kann.

Typische Unterrichtssituationen, in deren Rahmen Lesefertigkeiten für die Realisierung von Arbeitsaufträgen und damit die Teilhabe am Unterricht unabdingbar sind, bestehen beispielsweise dann, wenn Schüler:innen einer Aufgabenstellung Informationen zu dem geforderten Vorgehen entnehmen oder schriftliche Notizen zur Vorbereitung mündlicher Performanz anfertigen. Sind Lesefertigkeiten gefordert, um Schreibaufträge vorzubereiten bzw. zu realisieren, wird auch das Konzept des reading to write (Lesen, um zu schreiben, Delaney 2008: 141) genutzt:

Perhaps reading-​to-​write should be conceptualized as a reciprocal interaction between literacy skills, in which the basic processes and strategies used for reading and writing are modified by an individual’s goals and abilities, and also by external factors. Reading-​to-​write certainly involves the interplay of reading and writing processes […] (ebd.)

Dies betrifft beispielsweise Tafelabschriften oder die Formulierung von Resümees, Sprachmittlungsaufgaben, die von Lesetexten ausgehen, kreative Formen der dramapädagogischen Weiterarbeit mit literarischen Texten oder die Überarbeitung eigener Schreibprodukte durch die Lernenden. Diese Beispiele für einen integrierten und sprachübergreifenden Rückgriff auf Lese- und Schreibkompetenzen lassen erahnen, wie mangelnde schriftsprachliche Kompetenzen weiterführende Schwierigkeiten in anderen Kompetenzbereichen bedingen können (vgl. Sasse 2009: 299).

2.1.3.2Der Sonderfall: lautes Lesen