Frau Duan feiert ein Fest - Yan Ge - E-Book

Frau Duan feiert ein Fest E-Book

Yan Ge

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Beschreibung

Im Städtchen Pingle in der chinesischen Provinz Sichuan wird so scharf gegessen, dass die Leute mit einem Loch in der Zunge groß werden. Frau Duan genießt als Matriarchin des örtlichen Bohnenpasten-Imperiums höchstes Ansehen. Die Feier zu ihrem achtzigsten Geburtstag soll ein gesellschaftliches Großereignis werden. Doch die von überallher anreisende Verwandtschaft hat nicht nur gute Wünsche im Gepäck ...

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Seitenzahl: 407

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Das Buch

»Vater hatte sein ganzes vierzigjähriges Leben in Pingle im Landkreis Yongfeng verbracht, und die Straßen der Stadt waren ihm besser vertraut als jede Frau, mit der er je geschlafen hatte. Im Lauf des Jahres wurden die Straßen verbreitert und dann wieder verengt, neue Geschäfte eröffneten und schlossen wieder, doch das hielt Vater nicht davon ab, sich nach den Zeiten zurückzusehnen, als er sich mit den Jungs auf der Straße raufte, Skat oder Billard spielte und Bier trinken ging – und nach seinen ersten Liebschaften, gewöhn­liche Mädchen aus den gewöhn­lichen Gassen dieses gewöhn­lichen Städchens.«

Die Autorin

Yan Ge, geboren 1984 in Sichuan, zählt zu den bekanntesten und wichtigsten jungen Autorinnen Chinas. Das People’s Literature Magazine wählte sie in ihre »Top 20 Unter 40«. 2013 erhielt sie den Chinese Media Award als Beste Newcomerin im Bereich Literatur.

Yan Ge

Frau Duan feiert ein Fest

Roman

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Die Originalausgabe Women Jiaerschien 2013 bei Zhejiang Literature and ArtDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Übersetzerin dankt der China Writers Association für die Auszeichnung mit dem Förderpreis für Übersetzungen chinesischer Literatur 2017.

Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2018

Copyright © 2013 by Yan Ge

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Rebecca Ehrenwirth

Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, Münchenunter Verwendung von Motiven von © Bigstock (vasiliybudarin, pikepicture); Shutterstock (WWW, Lisovskaya Natalia)

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-22269-7V001www.heyne.de

»Diese Geschichte ist etwas langsam. Am besten vor dem Einschlafen zu lesen.«

Die handelnden Personen

Familie Xue und Duan:

(In China ist es üblich, dass Verheiratete ihren jeweiligen Familiennamen behalten und die Eltern entscheiden, wessen Namen ihre Kinder tragen sollen. Im Familienklan dieses Romans herrscht die Sitte, den Kindern abwechselnd den Familiennamen Xue oder Duan zu geben.)

VATER, XUE Shengqiang, Direktor des Familienunternehmens (Chunjuan Bohnenpastenfabrik)

MUTTER, CHEN Anqin

ICH-Erzählerin, DUAN Yixing, genannt Xingxing (lebt in einer Heilanstalt)

GROSSMUTTER, XUE Yingjuan (Besitzerin der ­Bohnenpastenfabrik)

GROSSVATER, DUAN Xianjun

ONKEL, DUAN Zhiming, Vaters älterer Bruder

TANTE, XUE Lishan, Vaters ältere Schwester

ONKEL, LIU Jukang, Tante Lishans Ehemann

LIU Xingchen, ihr Sohn, Vaters Neffe

Weitere Personen:

ZHONG Xinyu, Vaters Geliebte

ZHONG Shizhong, alter Zhong, Vaters bester Freund

ZHU Cheng, Vaters Chauffeur

GAO Tao, Zhong Sihzhongs Schwager

ZHOU Xiaoqin, Onkel Duans Jugendfreundin

CHEN Xiuliang, Meister Chen, Vaters Lehrmeister in der Fabrik

CHEN Xiuxiao, Vaters Schwiegervater, ein entfernter Verwandter von Meister Chen

HONG Yaomei, legendäre Prostituierte

Ort der Handlung ist die Kleinstadt Pingle in der Provinz Sichuan, Südwestchina.

Kapitel 1

Im Adressbuch von Vaters Handy hieß Großmutter einfach »Mama«. »Mama« blinkte auf dem Display besonders gerne dann auf, wenn es gerade gar nicht passte.

Bei den morgend­lichen Versammlungen in der Fa­brik zum Beispiel, wenn er die kichernden Mädchen vom Verkauf zur Ordnung rufen wollte. Oder wenn er mit fünf Freunden beim Saufen bei der dritten Flasche Maotai angelangt und die Luft in ihrem Separee vom Tabakqualm schon zum Schneiden war. Oder, und das hasste er immer besonders, wenn Vater gerade mit einer Frau im Bett war, bei der es sich nicht unbedingt um Mutter handelte.

Es war jedes Mal dasselbe. Pünktlich in dem Moment, in dem es so richtig zur Sache ging, ertönte die Melodie von »Die schöne Jasminblüte«, und Vater erschlaffte. Wenn der Blick auf sein Handy ihm dann unbarmherzig bestätigte, dass es Großmutter war, verließ ihn endgültig jede Manneskraft. Einer sanft zur Erde schwebenden Gänsefeder gleich, nahm er sein Telefon, räusperte sich diskret und ging hinaus auf den Korridor: »Ja, Mama?«

Am anderen Ende der Leitung zerrte meine Großmutter hörbar an ihrer Telefonschnur. Vater zerrte es an den Nerven. »Hallo, Shengqiang!«

»Was gibt’s, Mama?« Er lehnte sich gegen die Wand des schmalen Korridors, nur ein paar Straßen von Großmutters Wohnung entfernt. »Ich weiß doch Mama, keine Sorge, Mama, geht in Ordnung, Mama.« Dann legte er auf und ging zurück ins Schlafzimmer.

Diese wenige Minuten dauernden Gespräche genügten, um ihm alles zu verderben. Die Mädchen vom Verkauf schwatzten lautstark über irgendwelchen Mädchenkram, seine Freunde verschickten SMS und steckten sich eine nach der anderen an, die Frau auf seinem Bett war plötzlich eifrig mit den Schwielen an ihren Füßen beschäftigt. Mit einem Hüsteln zog Papa die Tür zu, und sie machten da weiter, wo sie aufgehört hatten.

Außer, wenn es sich bei dieser Frau zufällig um meine Mutter handelte. Dann kam er nicht darum herum, ein paar Worte über Großmutters Anruf zu verlieren. »Was will sie jetzt schon wieder?«, würde Mutter fragen. Und Vater würde zu ihr hinübergehen, seine Pantoffeln ausziehen und unter die Bettdecke kriechen. »Ach, nichts weiter.« Und dann würden sie da weitermachen, wo sie aufgehört hatten.

Mal mehr, mal weniger kurz darauf zog sich mein Vater sein dunkelrotes Streifen-T-Shirt über, ging in den Flur und rief Zhu Cheng an: »Wo bist du gerade? Gut, komm her, und hol mich ab.«

Auf dem Weg ins Erdgeschoss hielt er kurz auf dem Absatz inne, um sich Luft zu machen. »Verdammte Hühnerficker, euch werd ich’s noch mal richtig besorgen, elendes Pack«. So ging es weiter, bis er unten angekommen war. Dort zündete er sich erst einmal eine Zigarette an und rauchte, bis der schwarz glänzende Audi um die Ecke gebogen kam. Er trat die Kippe aus, stieg ein und ließ sich schwer auf den Rücksitz plumpsen. »Qingfeng-Garten«, wies er seinen Fahrer an.

Zhu Cheng riss das Steuer herum, und der Wagen schoss die Weststraße entlang stadtauswärts. An der nächsten Kreuzung streckte Vater seinen Kopf zum Fenster hinaus. Hier herrschten Hauen und Stechen. Seit an dieser Kreuzung das Tian Mei Kaufhaus eröffnet hatte, ging gar nichts mehr. Ein verliebtes Paar lief eng umschlungen auf die Straße, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Eine junge Mutter war so mit Einkaufstüten beladen, dass ihr das Kind aus der Hand glitt und ihnen fast in den Seitenspiegel rannte. Zhu Cheng machte gerade noch rechtzeitig eine Vollbremsung, dann ließ er die Scheibe herunter, um die Ahnen der Frau mit allerhand einfallsreichen Kommentaren zu bedenken.

»Lass es gut sein, Zhu Cheng«, sagte Vater vom Rücksitz.

»Diesen Leuten muss man mal richtig Bescheid sa­­gen, Chef.« Zhu Cheng lenkte den Wagen durch das ­Ge­­dränge. »Die meinen wohl, es würde ohnehin keiner wa­­gen, sie anzufahren!«

»Verkehrte Welt«, meinte Vater. »Wer Schuhe hat, fürchtet die Barfüßigen, und die Autofahrer haben Angst vor den Fußgängern.«

»Genau«, pflichtete der Fahrer ihm bei, »die Chinesen sind einfach Banausen.«

So ungefähr gestaltete sich ihre Unterhaltung bis zur Kreuzung an der Siebenheiligenbrücke. Auf einer stinkenden Müllkippe, die man vor drei Jahren stillgelegt und zugeschüttet hatte, war neben der Brücke ein neuer Park entstanden. Hier tummelten sich die alten Leute, turnten, unterhielten sich, oder saßen einfach schweigend da. Großmutter war sicher nicht darunter. Er zog sein Handy hervor und schaute auf die Uhr.

Am Tor zur Qingfeng-Garten genannten Wohnanlage sagte Vater: »Du brauchst nicht hinein zu fahren, Zhu Cheng. Lass mich einfach hier raus, ich gebe dir für den Rest des Tages frei. Ich gehe später zu Fuß zurück.«

»Ich warte hier auf Sie, das ist zu weit zum Laufen«, sagte Zhu Cheng pflichtschuldig.

»Ach was, das kurze Stück kann ich gut zu Fuß gehen. Fahr das Auto aber nicht zurück zur Fabrik, sondern hol mich morgen früh um acht gleich bei mir zu Hause ab.« Vater stieg aus.

Großvater war vor zwei Jahren gestorben, und im letzten Frühjahr hatte die Haushälterin verkündet, dass ihr Sohn sie zu Hause im Dorf brauche, damit sie sich um ihr Enkelkind kümmere. Daraufhin hatte sie alles stehen und liegen gelassen und war gegangen. Großmutter behauptete, sie fände keinen Ersatz, aber sie versuchte es auch gar nicht. Also lebte sie jetzt allein in der alten Wohnung der Familie mit ihren drei Schlafzimmern und zwei Wohnzimmern. Nicht einmal eine Putzfrau hatte sie. Sie wolle einfach ihre Ruhe haben, sagte sie.

Sie hatte abgenommen seit dem vergangenen Jahr und schrumpelte zusehends ein. Vater nahm die Treppe bis zum dritten Stock und schloss auf. Zuerst konnte er Großmutter gar nicht sehen, was nicht weiter ungewöhnlich war. In der Wohnung stapelten sich Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, und es sah aus, als wohne hier schon seit Monaten niemand mehr. »Mutter!«, rief er. Und noch einmal, diesmal etwas besorgter: »Mama!«

»Ich komme ja schon«, rief Großmutter zurück, während sie irgendwo aus dem Dunkeln hervortrat. »Ah, du bist es, Shengqiang.«

»Jawohl, ich bin’s.« Vater ging hinaus auf den Balkon, um den Aschenbecher zu holen, den Großmutter neben den Topf mit Wasserhanf gestellt hatte. Er trug ihn ins Wohnzimmer, stellte ihn auf den Beistelltisch, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf das Sofa.

»Rauchst du schon wieder?« Großmutter schaukelte auf ihrem Rattansessel und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Bitte, Mutter, lassen wir das jetzt.«

»Wenn ich nichts sage, dann sagt dir doch keiner was«, schimpfte Großmutter.

»Schon gut«, sagte Vater und blies Rauchkringel in die Luft.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Großmutter.

Er musterte sie aufmerksam. Ihr Haar war nun schon seit geraumer Zeit schlohweiß, aber sie ließ sich immer noch eine Dauerwelle machen, sodass es in fein ondulierten Wellen ihren Kopf umschloss. Sie trug eine wattierte hellgrüne Seidenjacke über einem knielangen grauen Seidenrock mit weißem Muster. Darunter lugten ihre blassen, wabbeligen Waden hervor, so schwer, als hingen Gewichte daran.

Vater versuchte sich an den Augenblick zu erinnern, als ihm zum ersten Mal aufgefallen war, dass seine Mutter alt wurde.

1996 war das gewesen, vielleicht auch schon 1995, so um März, April herum, als Großmutter auf die fixe Idee kam, Vater solle sie nach Chongning fahren, um dort im Birnenblütental die Birnenblüte zu bewundern. Als sie ankamen, herrschte ein dichtes Gedränge von Ausflüglern, und Großmutter war stirnrunzelnd im Auto sitzen geblieben. Zhu Cheng hatte damals frisch bei ihnen angefangen, war mit seinem Job noch nicht so gut vertraut und saß steif auf dem Fahrersitz. Es war Vater, der ihr aus dem Wagen half. Er nahm sie an der Hand, und mit seiner anderen Hand auf ihrer Schulter lenkte er ihre Schritte. In diesem Augenblick war sie ihm zum ersten Mal alt vorgekommen. Vater konnte durch ihre Kleidung hindurch ihre schlaffe Haut spüren. Als er bemerkte, dass sie beim Gehen zitterte, war er erschrocken zusammengezuckt. Doch Großmutter meinte nur unwirsch: »Geh mal ein bisschen zur Seite, Shengqiang. Ich kann ja keinen Schritt tun, wenn du mir so im Weg stehst.«

Vater war ein Stück zurückgewichen und hatte zuge­sehen, wie sie in Richtung Birnenblütental ging. »Mutter«, hatte er gerufen.

Sie hatte angehalten und sich zu ihm umgedreht. Sie hatte ganz normal ausgesehen, nicht anders als nur wenige Minuten zuvor, aber Vater hatte Mühe, ihr ins Gesicht zu blicken.

»Jetzt komm schon!«, hatte sie gerufen.

1995 musste das gewesen sein, nicht 1996.

»Lass dich bloß nicht von Anqin scheiden. Was sollen die Leute denken?«, sagte Großmutter. »Schließlich ist sie vor dir in die Knie gegangen. Also Schwamm drüber. Gebt euch eine zweite Chance. Wie würde das aussehen? Wie soll ich ihrer Familie noch ins Gesicht sehen können?«

»Hm«, antwortete Vater geistesabwesend.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Mhm. Schon gut.« Vater drückte seine Zigarette aus, wandte seinen Blick von ihren Waden ab und nickte.

»Geh jetzt mal nach Hause. Ich lese noch ein bisschen und gehe dann ins Bett.«

»Ja, es ist sicher gut für dich, wenn du zeitig schlafen gehst«, sagte Vater schwerfällig.

Vor ihrer Wohnungstür verharrte er einen Augenblick still auf dem Absatz, bevor er langsam in den fünften Stock hinauf schlich. Hier endete die Treppe vor einer zweiflügeligen Tür. Vater zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Nach nur einem Klingeln hob jemand ab.

»Mach auf«, sagte Vater.

Sofort öffnete sich die Tür. Sie musste sich gerade die Haare gemacht haben. Pechschwarz umspielten sie ihr hübsches Gesicht.

Endlich lächelte Vater. Er ging hinein und zog die Tür hinter sich zu.

Zhong Xinyu war in Vaters Handy schon unter einigen Pseudonymen gelistet gewesen, ausschließlich männ­lichen. Zuerst tauchte sie dort als Zhong Zhong auf, dann als Zhong Jun, und vor Kurzem hatte Vater beschlossen, die Sache etwas zu vereinfachen, und nun war sie einfach »Zhong«.

Einmal saß Vater zu Hause beim Abendessen, und auf dem Tisch klingelte sein Handy. Er ging nicht sofort dran, sodass Mutter Zeit genug hatte, sich nach vorn zu beugen und einen Blick darauf zu werfen. »Es ist der alte Zhong«, sagte sie.

»Ach so«, sagte Vater, nahm den Anruf an und sagte: »He, Zhong, ich bin gerade zu Hause beim Abendessen. Eine Runde Mahjong gefällig, wie?«

»Oh«, sagte Zhong Xinyu am anderen Ende.

»Wenn ich mit dem Essen fertig bin«, schauspielerte Vater weiter, »aber erst muss ich noch das Geschirr spülen.« Er legte auf.

»Der alte Zhong hat sich eine ganze Weile nicht gemeldet, nicht wahr?«, meinte Mutter.

»Stimmt«, brummte Vater, nahm mit seinen Stäbchen ein bisschen von den Auberginen in scharfer Fischsoße und stopfte sie sich mit Reis in den Mund. »Wenn ich den Abwasch erledigt habe, gehe ich mal bei ihm vorbei.«

»Geh ruhig gleich nach dem Essen«, sagte Mutter. Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Ich seh’s dir doch an, dass du deine Partie Mahjong kaum erwarten kannst. Ich kümmere mich um den Abwasch.«

Als Vater frohgemut das Haus verließ, beglückwünschte er sich innerlich zu der gött­lichen Eingebung, Xinyu einfach unter »Zhong« abzuspeichern.

»Ich heiße jetzt also ›alter Zhong‹?«, fragte ihn Xinyu wenig später.

»Mhm«, sagte Vater, der gerade mit ihren Brüsten spielte. Sie waren nicht gerade groß, aber sie lagen so angenehm kühl und schwer in der Hand wie alte Jade.

»Dann nenn mich mal so, jetzt gleich«, befahl sie ihm kichernd.

»Alter Zhong!«

»Du alter Schlawiner«, rief sie entzückt, reckte ihr hübsches Hinterteil in die Höhe und schmiegte sich an ihn.

Ehrlich gesagt, war es gerade diese Albernheit, die Vater an ihr so schätzte. Wenn sie Sex hatten, schrie er manchmal: »Du verrückte Kuh!« Xinyu störte das nicht im Geringsten. Schließlich tat sie alles dafür, um sich ihre Titel zu verdienen.

Die Geschichte zwischen den beiden hatte vor fast zwei Jahren begonnen, und das war vor allem Großvaters Verdienst.

Jedenfalls fing es etwa drei Monate vor Großvaters Tod an. Vater erinnerte sich noch genau. Großvater stand kurz vor seinem 85., und Großmutter feierte ihren 78. Geburtstag. Zwei Wochen nach dem Neujahrsfest läutete frühmorgens Vaters Telefon. Er und Mutter schreckten aus dem Schlaf.

Im Halbschlaf warf Vater einen Blick auf das Display. »Mama«. Er unterdrückte seinen Ärger und ging dran. »Ja, Mama?«

Am anderen Ende hörte er seine Mutter wimmern. Er wälzte sich herum und setzte sich auf. »Mama, was ist los?«

»Ich lasse mich von deinem Vater scheiden, jawohl, ich tu’s!«, schluchzte Großmutter ins Telefon.

Schon waren Mutter und Vater angezogen und auf dem Weg zum Qingfeng-Garten. Mutter fuhr. »Deine Mutter will sich scheiden lassen, habe ich das richtig verstanden?«

So sah es aus. Als sie ankamen, sprang Vater aus dem Auto und rannte die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, während Mutter den Wagen parkte. Oma saß mit tränenüberströmtem Gesicht im Wohnzimmer.

»Mama, jetzt wein doch nicht«, sagte Vater. »Sag mir, was los ist.«

»Frag deinen Vater«, schimpfte Großmutter und deutete in Richtung Balkon.

Dort saß Großvater in seinem Korbstuhl, in langen Unterhosen und mit einem Fellmantel gegen die eisige Kälte gewappnet, und zog an seiner Zigarette. Sein Kragen war voller Asche.

»Vater, was hast du angestellt?« Vater trat zu ihm auf den Balkon hinaus.

Großvater schüttelte den Kopf und schwieg.

»Dein Vater hat eine andere!«, ließ sich meine Großmutter von drinnen vernehmen.

Vater wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er zwinkerte seinem Vater zu und sagte: »Du bist mir einer, Vater! Und das in deinem Alter.«

Großvater lachte trocken. Keuchend kam Mutter die Treppe heraufgetrampelt. Großmutter jammerte, als sei sie es, auf der man herumtrampelte.

»Mutter!«, rief meine Mutter. Sie blieb auf der Türschwelle stehen und suchte den Blick meines Vaters.

Vater winkte lässig ab, und Mutter hockte sich neben Großmutters Sessel und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Komm, Mutter«, sagte sie sanft, »erzähl mir alles in Ruhe.«

»So geht es nicht weiter«, sagte Großmutter. »Ich habe es satt, sein Kindermädchen zu sein. Soll er doch zu der anderen gehen und mich in Frieden lassen.«

Nur wenige Tage zuvor hatten sie das Spiel schon einmal. Großvaters und Großmutters Haushälterin war zum Neujahrsfest nach Hause gefahren. Mutter hatte sich deshalb um alles gekümmert, Hühnersuppe aufgewärmt und für meine Großeltern Nudeln und eingelegtes Gemüse zum Frühstück vorbereitet.

»Shengqiang, gleich nach dem Frühstück rufe ich deine Schwester an, damit sie herkommt. Ich lasse mich noch heute von deinem Vater scheiden. Ich war immer eine anständige Frau. Von mir wird er zu nichts gezwungen. Soll er seinen Spaß haben, mit wem er will, aber ich werde nicht länger dabei zusehen.«

Großvater steckte den Kopf in seine Schüssel und sagte kein Wort. Vater wollte etwas sagen, aber Mutter zog ihn am Ärmel.

Großmutter rief nie bei meiner Tante an, und Vater dachte, die Sache sei gegessen.

Drei Monate später hatte Großvater plötzlich sehr hohen Blutdruck und wurde ins Krankenhaus von Pingle eingewiesen. Doch Großmutter weigerte sich bis zu seinem Tod, auch nur ein einziges Mal das Haus zu verlassen, um ihn zu besuchen. Alle versuchten sie umzustimmen, Vater, Mutter, Tante, die Haushälterin. Es war zwecklos.

»Niemals«, sagte sie, »soll doch diese blöde Kuh ihn besuchen gehen, wenn sie will.«

Vater brauchte eine Weile, bis er sich dazu durchrang, das Thema Großvater gegenüber zur Sprache zu bringen. Er setzte sich zu ihm ans Bett und fragte: »Gibt es etwas, das ich für dich tun kann? Ich kümmere mich schon darum.«

Doch Großvater sah ihm nur in die Augen und atmete tief ein. Aus atmete er nicht mehr. Er schüttelte den Kopf, nahm Vaters Hand, und starb.

Dieser Held hatte seine letzte Schlacht geschlagen. Obwohl Vater traurig war und am liebsten geheult hätte, hätte er gleichzeitig durchdrehen können vor Wut. Verdammt noch mal. Jetzt hat sie ihn allein sterben lassen.

Es dauerte keine zwei Monate, bis er mit Zhong Xinyu anbandelte, die in der Longteng Telecom City arbeitete, und sie absichtlich ein paar Stockwerke über Großmutter im selben Wohnkomplex unterbrachte. Lauter Schlampen unter einem Dach, dachte Vater. Irgendwann, irgendwann bin ich fertig mit euch.

Das waren nicht die einzigen Sprüche, die Vater auf Lager hatte. Besonders kreativ war er, wenn er mit einer Frau im Bett war.

Aber mal ganz ehrlich, Vater war kein schlechter Mensch. Keine zwei Monate nach seinem 17. Geburtstag hatte er auf Großmutters Anweisung hin in der Bohnenpasten­fabrik zu arbeiten begonnen. Sein Chef Chen Xiuliang war auch kein schlechter Mensch, nur ein bisschen faul und passionierter Kettenraucher. Jeden Morgen, wenn Vater zur Arbeit ging, wies ihn Großmutter an, unterwegs eine Packung Mudan für Meister Chen zu besorgen. Wenn er seine Zigaretten bekam, strahlte Meister Chen über das ganze Gesicht und schickte Vater an die Arbeit. Bekam er sie nicht, schimpfte er ihn eine verdammte Rotznase. Dann schickte er ihn an die Arbeit.

Mutter erzählte mir einmal, dass Vater in seinem ersten Jahr in der Fabrik, 1984 war das, für die Gärtöpfe zuständig war: Es war Ende Mai, Anfang Juni, am Himmel schwirrten Fliegen, und der Boden war voll von Maulwurfsgrillen und Jiuxiangkäfern. Diese Zeit der Blüten und des jungen Grüns war auch die Zeit, in der die Leute vom Dorf den Bohnenbrei, aus dem einmal scharfe Saubohnenpaste werden sollte, in der Sonne fermentieren ließen. Ein Wink von Großmutters schneeweißer Jadehand genügte, und Vater wurde von Meister Chen zum alten Gärhof am Damm geschleppt, wo er sich den ganzen Tag Däumchen drehend um die Beaufsichtigung der Fermentation kümmern musste.

Für Außenstehende mag es ganz interessant sein, Zeuge der ungewöhn­lichen Dynamik zu werden, mit der der Bohnenbrei in der Sohne gärt. Vater stand es bis obenhin. Es war nichts als eine lange Reihe von mannshohen Tontöpfen von einem solchen Umfang, dass man sie nur mit zwei Armpaaren umspannen konnte. Darin blubberte eine Mixtur aus leicht angeschimmelten Saubohnen, zerstoßenem scharfem Blütenpfeffer und Gewürzen wie Sternanis, Lorbeer und eine Menge Salz. Unter der Sonne veränderte sich die Masse von Tag zu Tag, anfangs verströmte sie noch einen angenehmen Duft, wenig später stank es säuerlich vergoren. Manchmal, wenn die Hitze besonders groß war, begann die ziegelrote Bohnenmasse zu brodeln und Blasen zu werfen. Dann musste Vater einen knüppeldicken Stab zur Hand nehmen, der so lang war wie er selbst, und damit den Inhalt jedes einzelnen Tontopfs umrühren. Dieser Prozess des Umrührens war essenziell. Meister Chen hatte das Vater lang und breit erklärt und ihm zur Sicherheit noch ordentlich die Ohren lang gezogen, damit er begriff, dass es ihm ernst war.

»Langsam, langsam«, rief er immer wieder, wenn er mit der Zigarette im Mundwinkel danebenstand und dabei mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste machte. Also rührte Vater langsamer und versuchte, den Stab wie einen Kochlöffel zu handhaben, aber Meister Chen war nicht zufrieden. »Jetzt schneller«, rief er, »los, mach schon!«

Während er den Stab im Topf kreisen ließ, stieg Vater der scharfe Geruch des verdampfenden Chiliöls in die Nase. Der beißende Dampf schien ihm bis in die Eingeweide zu dringen und sie grellrot zu färben. Irgendwann wurde es Vater zu viel, er schmiss den Stab in den Topf und schrie: »Was denn jetzt? Langsam oder schnell? Mir reicht’s!«

»Dein Vater war sich sicher, dass es jetzt Prügel setzen würde«, erzählte mir Mutter.

Es setzte keine Prügel. Stattdessen rauchte Meister Chen in Ruhe seine Zigarette zu Ende, warf den Stummel auf den Boden, trat ihn aus, und ging dann mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zu Vater, nahm den Stab auf und zeigte ihm, wie man es richtig machte.

»Xue Shengqiang«, sagte er, »sieh genau hin. Du musst den Stab fest im Griff haben, ihn dabei aber locker aus dem Handgelenk von einer Seite auf die andere bewegen. Und dann sag ich dir noch was, und ich sag es nur einmal: Du rührst den Bohnenbrei so, wie du eine Frau fickst, kapiert? Der Topf ist eine Möse, und wenn du sie glücklich machst, machst du es genau richtig.« Vater hatte noch nie etwas mit einer Frau gehabt, er hatte noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie dieser Teil einer Frau beschaffen war. Er glotzte seinen Meister mit aufgerissenem Mund an.

Der rührte rhythmisch den Bohnenbrei um, als rühre er in einem Hexenkessel, langsam, langsam, dann schneller, locker aus dem Handgelenk, wieder langsam, bis der Rührstab dem Brei ein feuchtes Stöhnen abrang, das leuchtend rote Chiliöl austrat und einen betörenden Duft verströmte. Und Vater stand daneben, schaute in den Gärtopf und bekam eine gewaltige Erektion.

Ich brauche nicht zu sagen, dass Vater im Lauf der Zeit zu einem hervorragenden Bohnenbreirührer wurde. Er ging daher selbstverständlich davon aus, dass er ein ebenso hervorragender Liebhaber war.

Nun habe ich immer noch nicht erzählt, warum mein Vater kein schlechter Mensch war. Der Grund ist auch weder so glamourös wie die Geschichte, wie er den scharfen Bohnenbrei umrühren lernte, noch ist es etwas, wovon Mutter mir erzählt hat, aber in Pingle spricht sich früher oder später alles herum.

Vater verlor nie ein Wort darüber, aber es war klar, dass er in jenem Sommer 1984 fast durchdrehte, weil er ständig an Frauen denken musste.

Und schuld daran war einzig und allein der verdammte Meister Chen. Vater lag schweißgebadet auf seiner Bambusmatte, holte sich einen nach dem anderen runter und verfluchte ihn. Zwischendurch dachte er an die Mädchen der Stadt, die ihm gefielen, und malte sich aus, wie sie wohl nackt aussahen. So ging das die ganze Zeit.

Aber Vater hatte noch seinen Verstand beisammen. Wie er die Sache sah, war es ziemlich unwahrscheinlich, sich mit einem dieser Mädchen vergnügen zu können, jedenfalls nicht, ohne dass das ganze Dorf davon erfuhr und am Ende Großmutter. Nach einigen Woche einsamen Onanierens entschloss er sich, in die 15-Yuan-Straße zu gehen und dort einen angemessenen Preis für den nackten Hintern einer Frau zu zahlen.

Die 15-Yuan-Straße gibt es heute nicht mehr. Zumindest sieht es so aus, als ob sie nicht mehr existiere. Wer das richtige Passwort kennt, findet immer noch seinen Weg dorthin. Jeder abgehalfterte Langfinger Chengdus weiß, wo sie ist, und die anderen tun nur so, als ob sie es nicht wüssten. Tatsache ist, dass man nur auf der Weststraße stadtauswärts fahren muss, und kurz vor der Fabrik 372 findet sich eine unverdächtig aussehende kleine Straße, die rechts und links mit Osmanthusbäumen bepflanzt ist, zwischen deren Zweigen Seile gespannt sind, an denen manchmal Handtücher oder nasse Sachen zum Trocknen hängen. Das ist die berüchtigte 15-Yuan-Straße. Genau genommen hieß die Straße, als Vater jung war, gar nicht 15-Yuan-Straße, es gab dort nämlich gar keine Straße, es gab nur ein Mädchen namens Hong Yaomei. Man schloss die Tür hinter sich und wurde sich einig. In der Regel nahm sie fünf Yuan, mit etwas Glück ließ sie sich auf vier fünfzig herunterhandeln. Zehn Jahre später wurde daraus die berühmte 15-Yuan-Straße, denn in Hong Yaomeis Nachbarschaft gab es noch allerhand andere Mädchen, und der Preis lag bei 15 Yuan. Zu dieser Zeit war die Straße schwer angesagt, selbst aus Yong’an nahmen sie den Bus für eins fünfzig, um dort die Mädchen aufzusuchen. Das war die Zeit, in der auch Vater hier seine fünfzehn Yuan auf den Tisch legte. Als er viele Jahre später einmal wiederkam, es wird um 2002 gewesen sein, streckte die Frau ihre Hand aus und sagte: »150 Yuan«. Und da wusste Vater, dass es mit der guten alten Zeit vorbei war.

2002 waren 150 Yuan für Vater Peanuts. Aber zwanzig Jahre zuvor sah das noch anders aus. Damals bereitete ihm die Frage, wie er bloß an fünf Yuan kommen sollte, einiges Kopfzerbrechen. Jeden Morgen ging Vater nach dem Frühstück in die Bohnenpastenfabrik, wo er ein kostenloses Mittag- und Abendessen bekam. Abgesehen von dem Geld, mit dem er für Meister Chen Zigaretten kaufen sollte, hatte er keinen Fen in der Tasche. Also bildete das Zigarettengeld die Grundlage für seine Berechnungen. Ein Päckchen Mudan kostete 53 Fen, ein Päckchen Jiaxiu dagegen nur 24 Fen. In 18 Tagen hätte er so genug für einen Besuch bei Hong Yaomei zusammen. Es ging aber noch ein bisschen dreister: ein Päckchen Yinshan kostete sogar nur 13 Fen, das hieß, er konnte 40 Fen pro Tag sparen und sein Ziel in nur 13 Tagen erreichen.

Dreimal kritzelte Vater seine Berechnungen auf einen Fetzen Papier und wälzte den Gedanken hin und her, während er unschlüssig vor dem Zigarettenladen stand, im Kopf nichts als Frauen. Schließlich fasste er sich ein Herz und sagte: »Ein Päckchen Yinshan, bitte.«

Meister Chen verlor kein Wort darüber, nahm mit zusammengekniffenen Augen die Zigaretten an und gab einen Brummton von sich. Nun gut, Kippe war Kippe. Mit einer halb gerauchten Yinshan im Mundwinkel setzte er sich hemdsärmelig zum Schutz vor der sengenden Hitze unter den Eukalyptusbaum. Die Sonne brannte, der Bohnenbrei blubberte, und Vater machte sich mit gesenktem Kopf auf zu den Tontöpfen, um die Bohnenmasse umzurühren, bis sie stöhnte.

Der Klang der blubbernden Bohnen machte Vater damals völlig fertig, sodass er heute noch, wenn er am alten Gärhof vorbeigeht, einen verstohlenen Blick auf die säuberlich aufgereihten Tontöpfe wirft, die einmal von seiner ersten Liebe überkochten.

Um es kurz zu machen: Vater hielt durch und kaufte Meister Chen dreizehn Tage lang die billigen Yinshan-Zigaretten. Endlich hatte er 5,20 Yuan zusammen und stolzierte noch am selben Tag mit gereckter Brust in die 15-Yuan-Straße, um dort seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Seine Erinnerung an diesen Tag ist etwas verschwommen, aber das Stöhnen und die Schreie der Frau musste man gehört haben, um sie zu glauben, so viel wusste er noch. Vielleicht machte sie nur ihre Arbeit gut, vielleicht war er ein Naturtalent, so genau konnte man das nicht sagen. Als er fertig war, gab er ihr alles Geld, das er hatte.

»Du hast mir zwanzig Fen zu viel gegeben, Kleiner«, sagte sie freundlich.

»Ist für dich«, sagte Vater gönnerhaft.

Großmut zahlt sich aus. Letztendlich hatten die Ma­­ximen, die ihm Großmutter eingebläut hatte, Früchte ge­­tragen, und aus Vater war schön früh ein wahrer Menschenfreund geworden.

Als Vater nun an diesem Abend mit seinem Freund Gao Tao und dem echten alten Zhong beim Essen im Restaurant Piaoxianghui saß, kam die Sprache auf Hong Yaomei. Gao Tao nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und drückte den Stummel auf dem Schnabel der Ente aus, die vor ihnen auf dem Teller lag. Er schüttelte seinen Finger vor Vaters Nase und sagte leicht lallend: »Sagt dir der Name Hong Yaomei etwas, Zhong? Das war Shengqiangs erste Liebe!«

»Ach, halt doch die Klappe«, sagte Vater sauer. Niemals hätte er zugegeben, dass er mit ihr seine Unschuld verloren hatte.

»Na gut, jedenfalls warst du als junger Kerl ständig in der 15-Yuan-Straße unterwegs. Einmal hast du den Huangs sogar ein Kaninchen geklaut und es verkauft, damit du die kleine Hong Yaomei flachlegen konntest, weißt du noch?«

Keine Ahnung, wann genau es angefangen hatte, aber Vater und seine Freunde waren mittlerweile in dem Alter, in dem sie nach dem ersten Schluck Schnaps immer auf die guten alten Zeiten zu sprechen kamen.

»Ich weiß es noch!«, sagte Zhong. »Seine Mutter hat ihm so die Hölle heiß gemacht, dass er zu uns rüber kam und zwei Nächte lang geblieben ist, das arme Würstchen.«

»Ihr Arschlöcher, das ist eine Ewigkeit her! Fällt euch nichts anderes ein, worüber ihr euch das Maul zerreißen könnt?« Vater warf Zhong eine angebrochene Schachtel Zigaretten an den Kopf. Zhong fing die Schachtel im Flug auf, schüttete eine Zigarette heraus und zündete sie sich an. Die Bedienung war peinlich berührt und kicherte verhalten.

»Sei’s drum«, sagte der alte Zhong, nahm ein paar Züge und wechselte das Thema. »Wie geht’s der alten Dame, deiner Mutter?«

»Die ist gesund und munter«, sagte Vater, »vorgestern hat sie mich einbestellt, um über die Feier zu ihrem achtzigsten Geburtstag zu sprechen.«

»Mensch«, Gao Tao klopfte ihm auf die Schulter, »große Sache, so ein achtzigster Geburtstag. Dann halt dich mal ’ran mit der Organisation.«

»Keine Frage.« Vater nahm mit seinen Stäbchen ein Stück Ente und mampfte es knirschend mit Haut und Knochen. »Die alte Dame will die ganze Familie beisammen haben, meine große Schwester, meinen großen Bruder, alle. Dann gibt es in Pingle noch et­liche Verwandte und Freunde, das wird eine Riesenfeier, und ich muss das alles allein auf die Reihe bekommen, während meine ehrenwerte Verwandtschaft, von der man kein Haar zu Gesicht bekommt, sich sonst wo herumtreibt.«

»Mensch«, sagte Gao Tao noch einmal. »Aber das ist doch ein Kinderspiel für dich, Shengqiang, und außerdem wohnst du ganz bei ihr in der Nähe. Wer sonst sollte sich darum kümmern?«

Ein Kinderspiel! Vater fand das gar nicht witzig. »Ein Kinderspiel, was? Als ob ich eine Wahl hätte. Ständig werde ich zu irgendetwas genötigt, vom Staat, von der Gesellschaft …«, er hob sein Glas und sie prosteten sich zu und tranken ihren Maotai auf Ex, »und von meiner Mutter.«

Damit hatte er recht. Wenn er ehrlich war, musste Vater allerdings zugeben, dass er sich nur deshalb nicht mit den Mädchen aus der 15-Yuan-Straße das Hirn aus dem Kopf gevögelt hatte, dass es ihm nur deshalb so gut ging und er in Pingle ein allseits respektierter Mann war, weil Großmutter ihn ständig unter Druck gesetzt hatte.

»Aus einer goldenen Rute wächst ein guter Mensch«, pflegte Großmutter zu sagen, und: »Eine gute Mutter verzieht ihr Kind nicht.« Dieser Satz ging ihm jedes Mal durch den Kopf, wenn sie ihm mit dem Staubwedel den Hintern versohlte. Es war schwer, sich nicht daran zu erinnern, wo ihm doch seine Mutter noch mit Anfang zwanzig, als er schon mit meiner Mutter liiert war, die Hosen runterzog, ihn über den Tisch legte und in seinen Unterhosen verdrosch, weil sie ihn beim Mahjongspiel erwischt hatte. Zugeben würde er das natürlich nie.

Großmutter legte viel Wert auf gute Manieren, und sie war eine gründ­liche Frau. Mit gründ­licher Eleganz stand sie Vater zur Seite, und gründlich ließ sie Hieb um Hieb auf seinen Hintern niedergehen. Dabei deklamierte sie seelenruhig: »Du musst auf mich hören, Shengqiang. Die Verantwortung der gesamten Familie Xue ruht auf dir. Also mach mir keine Vorwürfe, weil ich dich schlage. Eine gute Mutter verzieht ihr Kind nicht.«

Blödsinn! Seine ganze Kindheit hindurch bis zum Er­­wachsenenalter hatte Vater sie innerlich verflucht. Warum immer ich, und meine Schwester und mein Bruder nie?

Laut hat er das nie gesagt, zwanzig Jahre lang nicht. Er musste sich damit abfinden, dass er vom Tag seiner Geburt an für immer der Prellbock der Familie sein würde.

»Noch eine Flasche, Mädchen!«, brüllte Vater und zeigte auf die noch volle Maotaiflasche auf dem Tisch. Geld spielte keine Rolle. War doch bloß Papier. Und wenn es weg war, war es weg. Er verdiente einen Haufen Geld mit der Bohnenpastenfabrik, und er gab es gern mit vollen Händen aus.

Ganz oben im Adressbuch von Vaters Handy stand der Name Duan Zhiming. Es nervte ihn furchtbar, dass ausgerechnet ein Name, den er nicht sehen wollte, ihm ständig als erster ins Auge sprang, weil Duan nun einmal im Alphabet vor den anderen Namen kam. Manchmal schaffte er es, den Namen einfach zu ignorieren, manchmal machte er ihn rasend. Einmal hätte er fast den Familiennamen Duan gelöscht, damit er ihn verdammt noch mal ganz hinten unter Zhiming einordnen konnte, aus den Augen, aus dem Sinn. Aber den Vornamen zu verwenden hätte so ausgesehen, als stünde dieser Mensch ihm nahe. Dann nahm er lieber in Kauf, dass er den Namen dieses Widerlings ständig lesen musste. Duan Zhiming war sein älterer Bruder.

Bei meiner Tante war das anders. Sie hatte er, wie es sich gehört, unter der Bezeichnung »Große Schwester« abgespeichert. Wenn er sie anrief, war er stets bemüht, eine ruhige Ecke zum Telefonieren zu finden, bevor er wählte. Sie hob immer gleich ab und antwortete freundlich: »Ja, Shengqiang?«

Er konnte sich nicht erinnern, dass seine Schwester jemals im Pingle-Dialekt geredet hatte. Sie sprach immer lupenreines Hochchinesisch, und schon deswegen bemühte er sich um eine gepflegte Wortwahl, wenn er mit ihr sprach. Er mochte es, wenn sie mit ihrer Fernsehansagerinnenstimme fragte: »Was gibt es Neues zu Hause, Shengqiang?«

Und Vater würde die zynischen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen, unterdrücken und in einem Ton wie zum Rapport beim Leiter der Produktionsbrigade sagen: »Ach, nichts Besonderes. Es ist nur, dass Mutter nächsten Monat ihren Achtzigsten begeht und sie gerne mit allen zusammen feiern möchte.«

»Ach, natürlich!« Meine Tante klang tatsächlich überrascht. »Fast hätte ich das vergessen. Ich werde auf jeden Fall kommen. Leg du einfach das Datum fest, und ich werde da sein.«

»So«, antwortete Vater, aber auch nur, weil es sich um meine Tante handelte. Bei jedem anderen hätte er geflucht, bei seinem Bruder zum Beispiel: Na klar, Duan Zhiming, ich soll also den Tag festlegen, das Restaurant buchen, und wenn ich alles schön organisiert habe, kommst du einfach vorbei und setzt dich an den gedeckten Tisch.

»Und bei euch ist alles in Ordnung?«, fragte meine Tante. »Wie geht es Anqin? Und was macht die kleine Xingxing?«

»Alles bestens«. Er sagte es herzlich, trotz allem.

»Na, dann ist es ja gut«, sagte meine Tante.

Ihre Frage hatte die Worte, die Vater auf der Zunge lagen, im Keim erstickt.

Niemand, wahrscheinlich nicht einmal Großmutter, ahnte, was Vater nur allzu bewusst war. Ohne meine Tante wären er und Mutter wohl nicht mehr zusammen. Es war meine Tante, und nicht Großmutter, die ihn davon abgehalten hatte, sich scheiden zu lassen.

Es war das erste Mal, dass meine Tante ihn von sich aus angerufen hatte: »Shengqiang, du willst dich doch nicht etwa von Anqin scheiden lassen?«

Vater erwiderte nichts. Am Vorabend hatte er Großmutter fortlaufend Versprechungen machen müssen, aber es war ihm schwergefallen, seine Wut zu bezähmen.

Meine Tante wusste sein Schweigen zu deuten. Mit einem Seufzer fuhr sie fort: »Shengqiang. Ich weiß, wie das ist. Ist so etwas erst einmal passiert und du bist entschlossen, dich scheiden zu lassen, ist es schwer, dich davon abzubringen. Aber ich war es, die euch zusammengebracht hat, und daher möchte ich auch etwas dazu sagen. Wirst du mich anhören und dir die Sache noch einmal überlegen?«

»Gut«, sagte Vater ernst und setzte sich auf das Sofa, die Augen auf die Wohnungstür gerichtet.

»Anqin und ich haben zwei Jahre lang in derselben Firma gearbeitet. Anqin ist in Ordnung, sonst hätte ich sie dir nie vorgestellt. Und nun seid ihr ein Paar und ich kann es nicht ertragen, euch auf diese Weise auseinander­gehen zu sehen. Deshalb will ich jetzt in ihrem Namen mit dir reden, hörst du?«

»Schon gut, fahr fort«, sagte Vater.

»Es geht nicht darum, ob sie im Recht ist oder nicht. Alles, was ich von dir wissen will, ist: Angenommen, du lässt dich von Anqin scheiden, was dann? Was wird aus Xingxing? Mit ihrer Krankheit? Du darfst nicht glauben, dass ein kleines Kind nichts versteht, natürlich leidet sie darunter, wenn du und Anqin zerstritten seid. Denkst du, du findest so leicht eine Ersatzmutter für die Kleine? Es mag für dich in deinem Alter und mit deinen Fähigkeiten kein Problem sein, eine Neue zu finden, aber eine Mutter für Xingxing? Wenn du eine in deinem Alter findest, dann bringt sie ihre Geschichte mit und einen Haufen Probleme. Und eine Jüngere, wie würde das aussehen? Ich bin deine Schwester, ich kenne dich, du machst gute Geschäfte mit deiner Fabrik, du bist beliebt, und die ­jungen Dinger laufen dir nach. Aber mit denen kannst du deinen Spaß haben, mit nach Hause nehmen willst du sie bestimmt nicht. Überleg doch mal, Shengqiang, würdest du eins von diesen Mädchen heiraten?« Ihre Art zu sprechen war ganz so, wie er sie aus dem Fern­sehen kannte, als würde sie ihre Zeilen vom Teleprompter ab­­lesen.

Vater fixierte die Wohnungstür und wusste nichts zu entgegnen. Seine Schwester war eine professionelle Sprecherin, jeder Satz saß. Was sollte er schon antworten? War das wirklich die Frage? Wie er eine neue Mutter für die Kleine finden sollte? Seine Frau, das stand außer Frage, liebte natürlich ihre Tochter, auch wenn sie Mist gebaut hatte.

»Das weiß ich doch alles«, sagte er schließlich.

Sie redeten noch eine Weile miteinander, und Vater hatte eben aufgelegt, als er das Geräusch des Schlüssels in der Eingangstür hörte und Mutter hereinkam, mit einer Einkaufstüte in der Hand. Zögernd blieb sie an der Tür stehen und vermied es, ihn anzusehen. Dann ging sie mit gesenktem Kopf Richtung Küche.

»Anqin.«

»Hm?«, sagte Mutter. Der Klang seiner Stimme ließ sie zittern. Sie drehte sich zu ihm um. Sie war immer noch eine schöne Frau, Vater wusste das, eine charmante Frau mittleren Alters mit einem hellen, ovalen Gesicht, das eine feine Nase und leuchtende Augen zierten.

»Was gibt es zum Abendessen?«, fragte Vater und griff nach der Fernbedienung, als sei es ein Abend wie jeder andere.

Es dauerte einige Jahre, bis Mutter zu alter Form auflief, den Rücken durchdrückte und wieder von der Ertappten zur Ertappenden wurde. Am Ende war es zu Hause wie früher, es war hell und sauber, Familie war Familie und alles war eitel Sonnenschein. Und Vater wusste, wem er das zu verdanken hatte. Deshalb fiel es ihm jetzt so schwer, zu sagen, was er sagen musste.

»Mutter hätte gerne, dass auch Liu Jukang und Xingchen mitkommen.« Jetzt war es heraus, und er konnte es nicht mehr zurücknehmen.

»Das hat sie gesagt?«

»Ja, sie möchte, dass alle dabei sind, ohne Ausnahme«, sagte Vater. »Sie wird achtzig und will eine große Party, sagt sie.«

»Ich verstehe. Gut, dann kümmere du dich so schnell wie möglich um den Termin. Ein Wochenende wäre am besten, Xingchen und Xiaozhao haben eine anstrengende Arbeitswoche, und Diandian geht in den Kindergarten.«

»Gut, morgen oder übermorgen lasse ich es dich wissen«, sagte Vater. Dann fügte er noch rasch hinzu: »Wenn das ein Problem für dich ist, dann rede ich noch mal mit ihr …«

»Lass nur«, unterbrach meine Tante. »Mach dir keine Sorgen, Shengqiang. Familie ist Familie.«

Er hatte zwanzig Jahre seines Lebens mit ihr verbracht und wusste nur zu gut, wie entschieden seine Schwester sein konnte. Darum ließ er es dabei bewenden. Er wollte schon auflegen, als Tante Lishan plötzlich nach ihrem Bruder fragte: »Was ist mit Zhiming? Hast du ihn angerufen?«

»Das erledige ich später«, sagte Vater. »Mach dir keine Gedanken.«

Er legte auf und öffnete noch einmal das Adressbuch seines Handys. Zuoberst Duan Zhiming. Eine Weile starrte er auf den Namen. Fast hätte er angerufen, aber er überlegte es sich anders.

Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, ich rufe ihn morgen an, dachte er.

Er scrollte die Liste hinunter, bis er bei »Alter Zhong« angekommen war. Kaum hatte der abgenommen, fragte er ihn: »He, Alter, wollen wir zusammen essen gehen? … Wie, du isst gerade? Dann leg die Stäbchen hin, und los! … Unsinn! Ich gebe einen aus. Ich rufe Zhu Cheng an und spendiere uns ein paar Flaschen Maotai, wir machen einen drauf!« Er kannte seinen Freund. Zu so einer Einladung würde er nicht Nein sagen, der alte Säufer. Zhong sagte zu, wollte aber auch Gao Tao dabeihaben.

»Okay, okay!« Vater wusste, was Sache war. Gao Tao war scharf darauf, seiner Firma den Werbevertrag für die Bohnenpastenfabrik zu sichern. Er rief ständig bei ihm an und schickte Geschenke. Das ging nun schon seit zwei Wochen so. Zhong war ein guter Freund Gao Taos und gab sich Mühe, ihn und Vater ins Geschäft zu bringen.

»Wir drei haben uns lange nicht gesehen, das wird sicher ein guter Abend«, sagte Vater. Was er dachte, war eher: Gao Tao, diese Niete. Der hat Nerven, seinen Laden eine Werbefirma zu nennen, und noch mehr Nerven, mit mir ins Geschäft kommen zu wollen.

»Heute lass ich mich volllaufen, aber wie«, brummte er, als er zur Tür hinaus ging.

Gerade als Vater, Zhong und Gao an jenem Abend bei der dritten Flasche Maotai angelangt waren, Vater schnaufend am Tisch saß und die Bedienung ihm in seinem Rausch wie eine schöne Fee erschien, klingelte sein Telefon.

Es war schon fast elf. »Deine Alte wartet wohl zu Hause auf dich?«, frotzelte Zhong.

»Die?« Vater stöhnte, griff aber trotzdem zu seinem Handy.

Auf dem Display blinkte »Zhong«. Er warf Zhong einen vielsagenden Blick zu und ging hinaus auf den Gang, bevor er sich meldete. »Es ist mitten in der Nacht«, blaffte er, »ist jemand gestorben, oder was?«

Er war über seine eigenen Worte erschrocken. Vielleicht stimmte etwas nicht mit Großmutter? An die Wand gelehnt, hörte er Xingyu etwas sagen, aber seine eigene spontane Bemerkung hatte ihm die Sprache verschlagen. Wenn Großmutter sterben würde, dann würde diese Familie im Chaos versinken, und wie sollte er sie dann wieder zusammenflicken? Ihm wurde schlecht vor Angst.

Langsam beruhigte er sich. Alles war in Ordnung, nichts war passiert, außer, dass Xingyu einen kindischen Moment hatte und ihn unter Tränen anbettelte, er solle doch zu ihr herüberkommen.

»Ich bin gerade unterwegs, einen Trinken, es geht leider gerade nicht.« Vater versuchte milde und verständnisvoll zu klingen, denn die komische Nudel wurde in letzter Zeit von irgendetwas geritten und war schnell verstimmt.

»Ist mir egal! Du musst herkommen«, tönte es aus dem Telefon.

»Das geht gerade wirklich nicht. Ich komme morgen und wir machen es uns schön, in Ordnung?« Er versuchte es weiter mit der sanften Masche. Irgendwie ist sie eben noch ein Kind, dachte er. Wie sie mit ihm redete, du musst, ist mir egal – wo hatte sie das denn auf einmal her?

»Nein! Du kommst jetzt sofort!«, schrie sie, ohne sein Entgegenkommen zu würdigen.

Vater lehnte sich an und starrte auf die Wand gegenüber, wo sich in einer Ecke ein abgelöstes Stück Tapete aufrollte. Irgendwie kam ihm das bekannt vor. Genauso fühlte er sich jedes Mal, wenn Großmutter anrief.

Als ihm das bewusst wurde, war es mit seiner Sanftmut vorbei. Albernes junges Ding, macht mir eine Szene und geht mir auf den Wecker! Die spinnt wohl. Was war aus der netten Kleinen im lila Kostüm geworden, die er in der Longteng Telecom City kennengelernt hatte, wo sie jeden dahergelaufenen Kunden mit einer tiefen Verbeugung begrüßte!

Er holte gerade Luft, um seinen Ärger auszuspucken, als er sie sagen hörte: »Wenn du nicht sofort herkommst, dann gehe ich runter zu deiner Mutter und klopfe an ihrer Tür. Ich tu’s. Ich hole sie aus dem Bett und erzähle ihr alles über uns. Mal sehen, was sie dazu sagt!«

Sofort war bei ihm die Luft raus. Er fühlte sich wie bei einem Coitus Interruptus. Verdammt. Er wurde alt, kein Wunder, dass er sich manchmal regelrecht entmannt vorkam.

Zurück im Separee, musste er sich das dumme Grinsen der anderen beiden gefallen lassen. »Feueralarm! Der Herr muss nach Hause und die Flammen löschen!«

Vater legte der Bedienung seinen Arm um die Taille: »Ich zahle.«

Das Mädchen stieß ihn spielerisch weg, »Herr Gao hat schon bezahlt.«

Er hatte sich das schon gedacht, tat aber trotzdem überrascht. Da er sie schon einmal im Arm hatte, nutzte er die Gelegenheit, um dem Mädchen in den Hintern zu kneifen, wobei er feststellte, dass sie halterlose Strümpfe trug, über denen sich die Fettpölsterchen wölbten. Er massierte sie dort ein bisschen, was das Mädchen sich ganz gern gefallen ließ.

So in Stimmung gebracht, war Vater bereit für eine lange Nacht und flog förmlich zum Qingfeng-Komplex, um dort auf Xingyus Bett zu landen und mit ihr eine Nummer nach der anderen zu schieben. Das war der einzige Weg, um sich nicht mitten in der Nacht zähneknirschend eingestehen zu müssen, was für ein Waschlappen aus ihm geworden war.

Da er ordentlich getankt hatte, fühlte er sich nicht besonders in Form. Dennoch steigerte sich Xingyu zu so wilden Lustschreien, dass Vater sie beschwichtigte: »He, nicht so laut, es ist mitten in der Nacht.« Sie sah mit halb zugekniffenen Augen zu ihm auf: »Wenn schon. Wer soll uns denn hören?«

Vater versetzte ihr ein paar kräftige Ohrfeigen. Ihm reichte es jetzt. Das Leben war hart, noch härter war es, ein Mann zu sein. Immer der Ochse, der den Karren durch den Dreck zog. Er, Xue Shengqiang, auf ewig dazu verdammt, sich den Arsch aufzureißen, damit seine alte Mutter ihre Ruhe hatte und seine Geliebte zufrieden war. Und diese Heiligen benahmen sich, als seien sie allein auf der Welt und machten für niemanden einen Finger krumm.

Morgen früh, dachte er, als er die letzte Runde mit seinem Fräulein Zhong schob, morgen früh bekomme ich alles geregelt. Ich rufe meinen Bruder an und mache alles klar für den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter. Jetzt wird nicht mehr lange gefackelt.

Kapitel 2

Wann hatte es angefangen?, fragte sich Vater. Er saß mit brennender Zigarette hinter seinem mächtigen Schreibtisch im Direktionszimmer. Er drückte den halb gerauchten Stummel in seinem arschbackengroßen Aschenbecher aus und steckte sich die nächste Zigarette an. Wann?

So genau konnte man das nicht sagen, es musste so um 1997 herum gewesen sein, jedenfalls noch vor den 2000er Jahren. Manchmal hatte er zu viel getrunken oder er konnte nicht schlafen und saß rauchend nachts am Tisch, als ungebeten der Gedanke an Großmutters Tod auftauchte.

Aus unerfind­lichen Gründen hatte er das Gefühl, Großmutter habe nicht mehr lange zu leben. Ständig überlegte er sich, wie es sein würde. Ein Szenario war, dass sein Handy klingelte und »Mama« auf dem Display aufleuchtete, aber der Anrufer ein anderer war. Sofort würde er wissen, dass etwas nicht stimmte, irgendein Nachbar oder ein Freund Großmutters würde sich melden und sagen: »Xue Shenqiang, Ihre Mutter …« Oder es würde eines Abends oder frühmorgens an der Tür klopfen, er würde halbwach zu seiner Frau sagen »Anqin, da ist jemand an der Tür«, Mutter würde die Tür öffnen, während er weiterdöste, bis er durch den Schlaf hindurch die schrille, bebende Stimme seiner Frau hörte und sofort wüsste, dass es vorbei wäre. Dann würde Mutter zurück ins Schlafzimmer kommen, das Gesicht im Schatten verborgen im Türrahmen stehen, und sagen: »Shengqiang, es ist etwas mit deiner Mutter.«

Seitdem er etwas mit Zhong Xinyu hatte, hatte sich das Szenario verändert. Im einem unpassenden Moment würde plötzlich sein Handy klingeln, »Zhong« würde aufleuchten, und ihre Stimme würde sagen: »Shengqiang, mein Schatz, es ist etwas passiert. Komm schnell!«