Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen - Natalka Sniadanko - E-Book

Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen E-Book

Natalka Sniadanko

4,9

Beschreibung

THELMA UND LOUISE IN BERLIN – FRECH, LEBENDIG, ÜBERRASCHEND. DIE GESCHICHTE ZWEIER FRAUEN VOR DEN AUFREGENDEN KULISSEN LWIWS UND BERLINS Chrystyna und Solomija sind jung, klug und selbstbewusst, nur mit der persönlichen Erfüllung hapert's noch. In ihrem Sinn für Abenteuer stehen sie Thelma und Louise in nichts nach, also beschließen die beiden Freundinnen, aus Lwiw wegzugehen. Sie machen sich auf Richtung Athen, auf halbem Weg aber bleiben sie in Berlin hängen. Zwischen aufwühlenden Affären und eigenwilligen Arbeitgebern schlagen sie sich durchs neue Leben: Es ist anders. Auch besser? SEXUELLE BEFREIUNG STATT DEM ZWANG, ERWARTUNGEN GERECHT ZU WERDEN Ein neuer Ort, neue Eindrücke – neue Fragen: Inspiriert von der neuen Umgebung, werden alte Gewissheiten erschüttert und Chrystyna und Solomija vor große, aber auch ganz persönliche Fragen gestellt. Wie verändern sich die Erwartungen an Liebe und Begehren, an Nähe und Freundschaft? Wie der Blick auf Sex mit Frauen und Männern? Wie gehen sie mit den Erwartungen an Frauen um, die im Patriarchat vorgesehen sind? Welche Lebenswege, in welche Zukunft wollen sie gehen? Und Freiheit – was bedeutet das überhaupt? Mutig, wach und unverblümt erzählt Natalka Sniadanko in ihrem Roman von zwei Frauen, die ausgezogen sind zu leben, und breitet den Duft der beiden Städte Lwiw und Berlin über ihre Geschichte. Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel

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Natalka Sniadanko

Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen

Roman

Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Motto
"Heute früh wurde in der Salzstraße ..."
Natalka Sniadanko
Zur Autorin
Impressum

Ein Flüchtling aus Afrika, der in einem Warencontainer nach Europa gekommen war, erhielt keine Aufenthaltserlaubnis, da sein Bericht „zu monoton und ohne jede Beschreibung der durchreisten Landschaften“ war.

Aus der polnischen Presse

„Heute früh wurde in der Salzstraße neben dem Haus Nummer 5 die Leiche einer Frau gefunden, die sich aus einem Fenster des dritten Stocks gestürzt hat. Zuvor hatte sie die Wohnungsinhaberin, die zweiundneunzigjährige Hanna Kopyryz, vergiftet“, las Chrystyna auf der ersten Seite der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. „Ersten Ermittlungen zufolge handelt es sich bei der Toten höchstwahrscheinlich um eine illegale Migrantin aus der Ukraine, die zweiunddreißigjährige Solomija Krawez. Sie war die Pflegerin des Opfers.“

Solomija Krawez teilte sich mit Chrystyna ein Zimmer. Noch gestern Morgen hatten sie sich beim Frühstück unterhalten.

„Was soll ich denn am besten für den Kleinen mitgeben, ein ferngesteuertes Auto oder Legosteine?“, hatte Solomija sie gefragt.

Chrystyna versuchte, sich ihren schlanken Körper mit den leicht krummen Beinen und dem Muttermal unter dem rechten Knie auf dem Pflaster der Salzstraße liegend vorzustellen. Stattdessen erinnerte sie sich nur an eine grelle Packung preisreduzierter Legosteine, die sie unterwegs in einem Supermarkt gesehen hatte. Sie hatte sogar versucht, Solomija anzurufen, sie aber nicht erreicht.

Chrystyna las die Meldung noch einmal, als hoffte sie, dass sich die Buchstaben abnutzen würden, wenn man sie nur oft genug las, dass sie langsam aufgesogen werden und zwischen den Papierfasern zerfließen, zu großen schwarzen Blumen vor grauem Hintergrund werden, aufblitzen und verdampfen, und dann alles wieder wäre wie früher, ohne die vergiftete alte Frau und die Kreidekonturen eines fremden Körpers auf dem Pflaster.

Fast mechanisch machte sich Chrystyna wieder an die Arbeit, verzichtete auf ihre Pause mit Kaffee und Zeitung, die sie sich immer gestattete, wenn sie das Frühstücksgeschirr der Bewohner der Montagswohnung weggeräumt hatte. Ihre Arbeitgeber waren die ehemaligen Arbeitslosen und jetzigen Inhaber eines angesagten Naturkosmetikladens Bettina und Rudolf. Bettinas Gesicht war trotz der unregelmäßigen Züge schön. Dieses Gesicht musste man einfach ansehen – wie sich seine zu lange Nase, der zu große Mund und die hervorstehenden Augen mit einem Mal zu einem harmonischen Ganzen fügten und ein inneres Selbstbewusstsein ausstrahlten, ohne das jede Schönheit unzulänglich, welk und unecht erscheint. Besonders schön war Bettinas Lächeln, um das sich, wie um einen unsichtbaren Magneten, die Gesichtsmuskeln strafften, sich symmetrisch und ebenmäßig ausrichteten, so wie sich manchmal müde Kassiererinnen im Supermarkt aufrichten, wenn sie den aufmerksamen und interessierten Blick eines Mannes bemerken. Und die Männer ziehen in diesem Augenblick unwillkürlich den Bauch ein und heben ihre Hand zum Kopf, um mit einer theatralischen Geste in der Luft die fließende Linie nachzuziehen, an der attraktiven Dichtern und Schauspielern das Haar in die Stirn fällt. Diese Geste bleibt auch bei jenen gleich, deren Haar seine fließende Linie längst verloren hat, deren Haar nie ausgesehen hat wie das von attraktiven Dichtern und Schauspielern, und sogar bei jenen, die schon längst keine Haare mehr haben.

Rudolf war nicht sehr groß und blond, er hatte ausgeblichene Augenbrauen und ließ schwermütig die Schultern hängen. Auf seinen Wangen breiteten sich fast immer, wie Borschtsch auf einer Tischdecke, unregelmäßige rote Flecken aus. Wenn Rudolf sprach, schaute er irgendwohin zur Seite. Er hatte gelbe Zähne und nahezu farblose grau-blaue Augen. Er kaute auf seinen Nägeln und Lippen herum, versuchte aber, das im Beisein der Kinder zu vermeiden.

Bettina und Rudolf hatten beide an der philosophischen Fakultät einer kleinen Provinzuniversität studiert und ein paar Jahre lang erfolglos versucht, in ihrem Bereich Arbeit zu finden. In der Zwischenzeit hatten sie zwei Kinder bekommen und waren von dem Universitätsstädtchen in Bettinas Heimatstadt umgezogen. Ihre Mutter hatte sich scheiden lassen und war ins Ausland gegangen, sobald die Kinder volljährig waren. Chrystyna hatte sie sogar einmal kennengelernt. Die stille und zugleich aktive Frau mit dem üppigen Busen und festen Hintern hatte sich fünf Fremdsprachen angeeignet, während sie mit ihren drei Kindern zu Hause saß. Sie gehörte zu dem Typ von Frauen, die nie vergessen, wie viel Zucker man in den Kaffee gibt, und die, wenn sie einen zum zweiten Mal treffen, den Kaffee ohne eine weitere Frage so zubereiten, als hätten sie mehrere Jahre mit einem zusammengelebt. Aber aus irgendeinem Grund reagiert man auf diese halbmechanische Fürsorglichkeit, für die sie nicht einmal Dankbarkeit erwarten, eher gereizt als begeistert.

„Weißt du, es ist gar nicht mal so schlecht, Hausfrau zu sein“, sagte sie. „Du machst morgens die Kinder fertig, und wenn sie in der Schule sind, hast du eine Menge Zeit für dich. Ich lese ja gern und lerne Fremdsprachen.“ Und sie lächelte mit einem genauso warmen Lächeln wie Bettina, von dem das Licht, das durch die Scheiben fiel, heller wirkte und sich Chrystyna unwillkürlich aufrichtete.

Bettinas Vater gefiel es offensichtlich auch besser, zu Hause zu sitzen und Bücher zu lesen, als eine Baufirma zu leiten. Also kaufte er sich nach der Scheidung ein Häuschen und ging vorzeitig in Rente. Jetzt saß er die ganze Zeit zu Hause. Zumindest hatte Chrystyna diesen Eindruck, denn während der zwei Jahre, in denen sie an verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Zeiten zum Putzen gekommen war, hatte sie es nie erlebt, dass er irgendwohin gegangen wäre oder zumindest Anstalten gemacht hätte, das Haus zu verlassen. Er war ein kleiner, dürrer Mann mit einer Hakennase. Wenn man sich mit ihm unterhielt, hatte man immer den Eindruck, er würde dabei insgeheim nach einem Loch suchen, in dem er verschwinden und schweigen konnte, sollte es seinem Gesprächspartner plötzlich einfallen, ihm eine Frage zu stellen.

Bettinas Mutter lebte jetzt in ihrer eigenen Villa am Meer und arbeitete als Immobilienmaklerin.

Als sie finanzielle Schwierigkeiten hatten, waren Bettina und ihr Mann zu Bettinas Vater gezogen und dann dort hängen geblieben.

Bettina und Rudolf wirkten wie ein glückliches Paar. Sie verbrachten nicht nur die Arbeitszeit in ihrem Laden gemeinsam, sondern auch die Abende. Einen Fernseher hatten sie nicht, dafür eine Menge Brettspiele, CDs und ein Klavier. Abends unterhielten sie sich, tranken Tee und lasen sich gegenseitig vor. Rudolf spielte gern Klavier, und Bettina häkelte.

Manchmal, wenn sie allein in der Wohnung war, gestattete sich Chrystyna auch ein paar Minuten am Klavier.

Wenn Rudolf und Bettina zu Hause waren, luden sie Chrystyna zum Kaffeetrinken ein, fragten, wie es ihr gehe, boten ihr an, die ausgelesene Tageszeitung mitzunehmen, fragten, ob ihr die Bücher gefallen hätten, die sie sich das letzte Mal ausgeliehen hatte, und empfahlen ihr neue. Sie sahen nie auf die Uhr und bezahlten sie stets für die vereinbarten vier Stunden. Sie kontrollierten auch nicht, wie sorgfältig sie Staub gewischt oder die Fenster geputzt hatte, sie waren mit Chrystynas Arbeit voll und ganz zufrieden und es war ihnen sogar unangenehm, wenn Chrystyna putzte, während sie noch frühstückten. Anfangs hatte sich Chrystyna darüber gewundert, aber dann wurde ihr klar, dass Rudolf und Bettina zu den Leuten gehören, die eine Putzfrau nicht brauchen, um ihre Wohnung in mustergültiger Ordnung zu halten. Nach all den Jahren, die sie sich selbst mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten mussten, brauchten sie die Gewissheit, dass auch sie es sich endlich leisten konnten, jemanden anzustellen. Rudolf hatte sich während seiner Arbeitslosigkeit etwas als Taxifahrer dazuverdient, noch dazu illegal, um sein Arbeitslosengeld nicht zu verlieren, und Bettina hatte genauso illegal abends in dem pakistanischen Restaurant um die Ecke gekellnert. Jetzt schafften sie es irgendwie, ihre postproletarische Solidarität mit dem Stolz frischgebackener Unternehmer zu vereinbaren ebenso wie den Drang, sich etwas zu leisten, was früher unerreichbarer Luxus gewesen war, mit dem Versuch zu vereinen, denen gegenüber loyal zu bleiben, für die jedweder Luxus immer noch unerreichbar war. Das wäre sicher einfacher gewesen, wenn ihre Putzfrau nicht Chrystyna gewesen wäre, die ein Musikstudium absolviert und jahrelang unterrichtet hatte, sondern eine rustikale Frau vom Lande. Denn dann hätten sie sich darüber freuen können, dass die Jahre, die sie mit dem Studium verbracht hatten, nicht umsonst gewesen waren, und die soziale Differenzierung gerechterweise entlang der Grenzlinie von persönlicher Entwicklung und Bildung verläuft. Aber Chrystyna passte nicht in dieses bequeme Ordnungssystem, und deshalb mischten sich in ihrer Beziehung zu ehrlichem Wohlwollen und demokratischer Nachsicht kaum merkliche Schuldgefühle.

Chrystyna schätzte ihre Art, aber wenn sie allein in der Wohnung war, arbeitete es sich deutlich leichter. Denn nachdem sie freundlich miteinander geplaudert, Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hatten, kam früher oder später der Moment, wo die Hausherren auf die Veranda gingen und sich sonnten, oder ein Brettspiel ausbreiteten und mit den Kindern spielten, während sie Eimer und Lappen aus der Kammer holte. Und dann dachte sie, dass es ohne das gemeinsame Kaffeetrinken besser wäre, ehrlicher, brutaler und ohne überflüssige Höflichkeiten.

Obwohl Chrystyna auf all diese Feinheiten mittlerweile längst nicht mehr so empfindlich reagierte wie am Anfang. Vielleicht deshalb, weil sie sich ihre Kunden jetzt aussuchen konnte und nicht mehr jede Arbeit annehmen musste. Außerdem hatte sie gelernt, gleich beim ersten Gespräch die Leute, bei denen man gut arbeiten konnte, von diversen Freaks zu unterscheiden, die sie nur brauchten, um mit ihren eigenen Problemen und Komplexen fertigzuwerden.

Wie zum Beispiel einer ihrer ersten Kunden, der wartete, bis sie mit dem Putzen fertig war, sie dann in die Toilette rief, seine Hose aufknöpfte und auf Wände und Fußboden urinierte. Dann bot er ihr an, entweder alles sauberzumachen und die vereinbarte Summe zu erhalten oder ohne Bezahlung zu gehen.

Oder ein sehr wohlhabendes Juristenpaar, das zu zweit ein dreistöckiges Haus bewohnte und sie einmal im Monat per Banküberweisung bezahlte. Die beiden waren nie zu Hause, wenn Chrystyna putzte, und ein paar Monate arbeitete sie ruhig vor sich hin. Aber dann erhielt sie eines Tages statt der Bezahlung einen Brief, in dem die während des vergangenen Monats festgestellten Mängel aufgelistet waren. Die Liste bestand aus zwanzig Punkten wie „Überprüfungen haben ergeben, dass in der vierten Reihe im Bücherregal des Gästezimmers nicht jedes Mal, sondern lediglich jedes zweite Mal Staub gewischt wurde, und dass die Bilderrahmen überhaupt nur einmal pro Woche abgewischt wurden“, „Das Geschirr wurde nicht ordentlich in die Spülmaschine geräumt – oben gehören nur Tassen und Gläser hin, dort befand sich aber ein Teller“. Oder „In der Gästetoilette müssen sich immer vier Ersatzrollen Toilettenpapier befinden, einmal waren es jedoch nur drei“ und dergleichen mehr. Aufgrund dieser Mängel wurden ihr hundertundfünf Prozent vom Lohn abgezogen, sie schuldete ihren Arbeitgebern also noch fünf Prozent, die ihr jedoch großzügig erlassen wurden. Der Brief endete mit dem Satz: „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen, als sie für angemessen hält.“

In Chrystynas Sammlung aus der Vergangenheit gab es noch ein Ehepaar, das nur auf sie wartete, um sich im Schlafzimmer, das vom Wohnzimmer ihrer Zweiraumwohnung nur durch eine Schiebetür aus Mattglas getrennt war, zu lieben. Außerdem gab es noch ein paar irre Gestalten, die Sex wollten, und einen aggressiven Typen, der sie mit einem Küchenmesser bedrohte. Und natürlich die endlose Reihe von Hausfrauen, denen man nichts recht machen konnte und die ihr auf Schritt und Tritt folgten und ihr jede übersehene Staubflocke und jeden nicht abgewischten Fleck auf einer Glasscheibe oder den Spiegeln zeigten. Manche wollten sich auch einfach nur „unterhalten“ und die nervten Chrystyna am meisten mit ihren endlosen Tiraden: „Also, wissen Sie, die beiden von gegenüber, die sind wirklich so was von dreist. Gestern haben sie um 17 Uhr 15 ihr Auto vor der Garageneinfahrt der Nachbarn geparkt. Ich habe eine Stunde lang am Fenster gesessen, denn wenn die Nachbarn plötzlich zurückgekommen wären, hätte ihnen ja wohl jemand sagen müssen, wer ihnen da die Einfahrt versperrt.“

Chrystyna mochte keine Montage. Kaum jemand mag Montage, und das ärgerte sie nur noch mehr, denn sie musste sich auch noch ihre eigene Durchschnittlichkeit eingestehen und die Unfähigkeit, sich mit ihr abzufinden.

Dieser Montag versprach, besonders lang zu werden. Außer bei Bettina und Rudolf (vier Stunden) musste sie noch oben bei Bettinas Vater putzen (eine Stunde), dann bei dem blinden Musikwissenschaftler Rolf Mikschunesku (vier Stunden), und zum Schluss bei Eva, wo sie dann bleiben oder nach Hause gehen konnte. Aber den Gedanken daran schob sie erst einmal so weit wie möglich von sich weg.

***

Die Treppe zu ihrem Arbeitszimmer war steil und lang. Der dritte Stock eines alten Hauses aus Zeiten der k.u.k. Monarchie. In dem Plattenbau, wo Chrystyna wohnte, wäre das schon mindestens der fünfte Stock gewesen. Sie benutzte nie den Aufzug. Die Treppe war schonungslos ehrlich. Man brauchte sich bloß ein paar Wochen oder manchmal auch nur Tage gehenzulassen, und schon klopfte nach dem Aufstieg das Herz wie wild, blieb einem die Luft weg, und wenn man endlich oben angekommen war, musste man erst einmal ein paar Minuten verschnaufen.

In dem kleinen Zimmer stand ein Klavier, darauf ein Saure-Gurken-Glas und in dem Glas Plastikmohnblumen mit schon leicht ausgeblichenen und eingestaubten Blütenblättern. An einer der Blüten fehlten ein paar Blätter und auf dem Glas ein Teil des Etiketts, das allmählich abging und einen fettig-matten Abglanz hinterließ, wie Raureif an einer Fensterscheibe. Jeden Tag, wenn sie zur Arbeit kam, setzte sich Chrystyna auf den Klavierhocker, verschnaufte und starrte die Mohnblumen an, als wollte sie den Nikotingeschmack, den sie neuerdings nach körperlicher Anstrengung immer im Mund hatte, obwohl sie schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, das Herzrasen, den unangenehmen Schweiß, der ihr den Rücken hinunterrann, und das beängstigende Gefühl, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, in das leere Glas verbannen. Sie mochte keine Kunstblumen, und diese hier mochte sie am allerwenigsten, sie glaubte, dass nach dem Treppensteigen ihr Gesicht aussehen musste wie diese unnatürlich roten, staubigen Blüten, und sie stellte das Glas jedes Mal in die Ecke, wo sie es jedes Mal vergaß, und die gewissenhafte Putzfrau Pani Genja stellte es jeden Tag wieder zurück an seinen Platz. Manchmal, so um Ostern herum, tauschte die Putzfrau die Blumen aus. Chrystyna war es unangenehm, dass sie immer vergaß, die Blumen zurück auf das Klavier zu stellen, Pani Genja gab sich schließlich Mühe, das Zimmer irgendwie zu verschönern, und dass Chrystyna keine Kunstblumen mochte, gab ihr noch lange nicht das Recht, sie zu beleidigen.

Außer dem Klavier befanden sich noch ein Kleiderständer, zwei Hocker und ein Schreibtisch in dem Raum. An der Wand hing ein Porträt des Komponisten Mykola Lysenko, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. In den Nachbarzimmern hingen ebenfalls Lysenko-Porträts, aber das waren formeller wirkende, strenge Brustbilder, auf denen der Schatten den halben Kopf weiß färbte. Und nur das Porträt in Chrystynas Zimmer war ein bisschen anders, die verschränkten Arme verliehen Lysenko etwas nahezu Vertrautes, Privates, als würde er gleich einem ängstlichen Erstklässler zulächeln und ihn für die gerade gespielte G-Dur-Tonleiter loben. Das Zimmer war so klein, dass sich darin maximal drei Personen gleichzeitig aufhalten konnten, die sich dann aber vorsichtig bewegen mussten, damit sie nicht aneinander anstießen. Aber das war Chrystyna ganz recht, war es so doch wesentlich einfacher, allzu fürsorgliche Mütter und Omas, die gern bei den Stunden ihrer Zöglinge dabeigeblieben wären, nach draußen zu bitten. Einige waren allerdings hartnäckiger als sie und blieben auf dem wackligen Hocker beim Tisch sitzen. Zum Beispiel die Mutter von Ostap, einem ihrer begabtesten Schüler. Sie brachte ihn immer zur Musikschule, wartete auf ihn und ging dann gemeinsam mit ihm wieder, selbst als Ostap schon ein Teenager war. Os­tap schien das überhaupt nicht peinlich zu sein, und wenn sich seine Mitschüler über ihn lustig machten, beachtete er sie einfach nicht. Früher oder später wurde es ihnen langweilig und sie hörten auf. Er war ein kleiner, plumper und völlig unsportlicher Junge, trug von klein auf eine Brille und reckte den Kopf immer leicht vor, als würde er seinen kurzsichtigen Augen trotz Brille nicht trauen. Seine Mutter hatte die gleiche Angewohnheit und so ähnelten sie, wenn sie vorsichtig die Straße entlangtrippelten, von weitem zwei Riesenschildkröten. Ostaps Vater hatte Chrystyna noch nie gesehen, vielleicht wohnten er und die Mutter allein. Sie leitete die Kinder- und Jugendbibliothek in der Nähe der Musikschule. Die Bibliothek hatte eine gut sortierte Abteilung mit Musikliteratur, und Chrystyna lieh dort manchmal etwas aus. Ostaps Mutter unterstanden mehrere Frauen, deren Alter irgendwo bei „mittleres“ erstarrt und jetzt längst nicht mehr konkret zu bestimmen war. Diese Frauen schienen von Tag zu Tag mehr darin aufzugehen, die Anordnungen ihrer Chefin und die Wünsche ihrer Leser noch eifriger zu erfüllen, noch weniger aufzufallen und sich selbst noch mehr zurückzunehmen, und darin schienen sie von Tag zu Tag besser zu werden, sie wagten offenbar nicht einmal zu altern, solange es dafür keine Anweisung gab. Sie saßen in ihren Sesseln, lächelten verträumt hinter ihrem Strickzeug und produzierten endlose grün-graue Pullover. Einen Teil dieser Pullover bekam Ostap geschenkt, und er zog sie gehorsam an, sogar in die Schule, wo er schon vor der Eingangstür den Kopf zwischen die Schultern zog und unsichtbaren Schlägen auszuweichen schien. Seltsamerweise konnten die Kinder jeden neuen Pullover sofort erkennen, obwohl es für Chrystyna aussah, als würde ein und derselbe Pullover einfach mit Ostap mitwachsen, so gleich sahen sie aus. Wenn er in einem neuen Pullover auftauchte, hänselten ihn die anderen Kinder, was ihnen aber schnell langweilig wurde. Ostap war einfach ein zu leichtes Opfer, er schwieg zu allem, was sie sagten und taten, und das war natürlich öde und machte keinen Spaß.

Während Ostap spielte, saß seine Mutter die ganze Zeit auf Chrystynas Hocker, wobei sie nie um Erlaubnis gebeten hatte. Er spielte, seine Mutter blickte auf die hängenden Schultern ihres Sohnes, und zwischen ihnen schien sich eine unsichtbare Saite zu spannen, die beinahe physisch spürbar war. Wenn Chrystyna in diesem Moment hinter dem Jungen vorbeiging und die Saite kreuzte, verspielte sich Ostap fast immer. Beim Vorspiel der Musikschule, wenn seine Mutter nicht dabei sein durfte, spielte er selbst die Stücke grauenhaft, die kurz zuvor in Chrystynas Zimmer noch ganz wunderbar geklungen hatten. Ostap nahm auch nie an den Musikwettbewerben teil, wo diejenigen hingeschickt wurden, die das Vorspiel am besten absolviert hatten, denn wie sehr sich Chrystyna auch um eine Sondererlaubnis für seine Mutter bemühte, die Schulleitung war jedes Mal dagegen.

Aus irgendeinem Grund war das Vorspiel in der Schule nicht öffentlich. Manchmal, wenn der Direktor und seine Stellvertreterin nicht zum Konzert kamen, ließen Chrystyna und Solomija heimlich die Eltern der aufgeregten Erstklässler in den Saal, aber das kam selten vor. Meist tauchten der Direktor und seine Stellvertreterin Adelaida Hryhoriwna dann doch auf.

Adelaida Hryhoriwna ähnelte einer großen, wohlgenährten Eidechse. Ihr massiver Körper wogte behäbig und auf seine ganz eigene Art elastisch unter den weiten Kitteln, die sie gewöhnlich trug. Wenn sich Adelaida Hryhoriwna bewegte, war schwer auszumachen, welche Körperteile sich zuerst in Bewegung setzten und welche später dazukamen. Sie schien sich ruckartig abzustoßen, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen, dann für einen Augenblick innezuhalten, als sammelte sie die nötige Energie, um ihr solides Körpergewicht vom Fleck zu kriegen, und dann wieder klar und entschlossen den nächsten Abschnitt zurückzulegen. Zwischen diesen Rucken bewegten sich diverse Körperteile weiter – die einen konnten sich noch nicht bremsen, und die anderen bereiteten sich schon auf den nächsten Ruck vor. Ihre Bewegungen zu beobachten war genauso interessant, wie dem Wellengang zuzusehen, und obwohl es ebenso leicht war, einen Schritt Adelaida Hryhoriwnas vom nächsten zu unterscheiden wie eine Welle von der anderen, blieb der Eindruck eines monolithischen Ganzen. Diese Bewegung schien nie aufzuhören, ganz so wie die des Meeres, sie wurde nur manchmal etwas ruhiger, um sich dann wieder zu verstärken.

Über Adelaida Hryhoriwnas Gesicht zog sich ein großer roter Fleck, ein Ekzem, ein Muttermal oder ein Brandmal, vom rechten Ohr über die ganze Wange bis zum Mund, der dadurch in zwei Hälften geteilt wurde. Und wenn man sich beim Anblick ihres massiven, schwankenden Körpers von hinten noch vorstellen konnte, dass man vielleicht imstande war, mit ihr zu streiten, anderer Meinung als sie zu sein, ihr zu widersprechen, so war jedwede Illusion diesbezüglich ein für alle Mal zerstört, sobald sie sich umdrehte und der Blick ihres Gegenübers unwillkürlich an der helleren Hälfte ihres Mundes hängen blieb.

Meist erschienen Adelaida Hryhoriwna und der Direk­tor gemeinsam. Der Direktor reichte ihr ungefähr bis zur Taille, er war dürr und kahlköpfig, auf den Schultern seines ausgeblichenen, braun gestreiften Anzugs lagen immer Schuppen, und seltsamerweise war stets das rechte Glas seiner Brille gesprungen. Gelegentlich wechselte der Sprung seine Position – dann hatte der Direktor das Glas, die Fassung oder die ganze Brille ausgetauscht, aber er hatte einfach kein Glück und der Sprung war bald wieder da.

Schweigend betraten sie den Saal, schweigend blickten sie die Lehrerin an, die es gewagt hatte, die Eltern zum Vorspiel reinzulassen, die Lehrerin breitete entschuldigend die Arme aus, und die Eltern liefen in trübseliger Reihe zurück auf den Flur. Dort stellten sie sich an der Wand auf und versuchten abwechselnd, einen Blick durch die weit geöffnete Tür zu erhaschen. Dieses Ritual hatte, wie auch andere Rituale in der Musik, seine eigene Logik. Um sich den Geweihten zugehörig fühlen zu dürfen, musste man bestimmte Initiationserniedrigungen über sich ergehen lassen: stundenlanges Üben, die unerreichbare Scholastik des Solfeggio, die Unmöglichkeit, einen einmal gut gespielten Takt zu wiederholen, das Ringen mit dem Rhythmus. Außerdem hatte man das eigene Auserwähltsein natürlich der Allgemeinheit, in diesem Fall den Eltern, zu demonstrieren. Die unbequeme Haltung, in der sie das Konzert verfolgen mussten, machte das ganz deutlich.

Ähnlich verhält es sich zwischen den Angestellten und Besuchern jener Einrichtungen, in denen der Besucher nicht Kunde ist, sondern Bittsteller oder jemand, der ein bestimmtes Prozedere zu durchlaufen hat, wie zum Beispiel die obligatorische Bezahlung der Betriebskosten an einem speziellen Schalter der Wohnraumverwaltung. Niemals wird sich das Schalterfenster auf einer für den Zahlenden bequemen Höhe befinden, sondern immer irgendwo in der Nähe seines Bauchnabels, sodass er die Kassiererin nur sehen kann, wenn er eine tiefe Verbeugung macht. Der Abstand, die Trennwand, die unbequeme Haltung, die Verbeugung oder der gereckte Hals nivellieren als ausdrucksvolle Machtsymbole alle sozialen, Bildungs- und sonstigen feinen Unterschiede. Chrystyna war sich sicher, dass die Eltern, die da im Flur versuchten, über die Köpfe der anderen hinweg in den Saal zu spähen, nichts sahen außer dem bräunlich-dunkelroten Fleck auf Adelaida Hryhoriwnas Wange, der in seiner Form einem angebissenen Hörnchen ähnelte.

Die Treppe war aus Marmor, ausgetreten, gesäumt von einem an manchen Stellen gebrochenen Geländer. Längst nicht alle k.u.k. Gebäude hatten Marmortreppen, die meisten mussten sich mit hölzernen zufriedengeben, aber außer dieser Treppe hatte die Musikschule wenig von dem ehemaligen Glanz des Gebäudes bewahrt. Man brauchte nur die erstbeste Tür zu öffnen, und schon sah man die Ölsockel an den Wänden, die mit Kunstleder überzogenen Türen und Bänke, die ewigen Tradeskantien in ihren Flechtübertöpfen, die Makramees und die ausgeblichenen Plakate mit Hinweisen zum Verhalten im Brandfall. Die Spuren der verschiedenen Epochen vermischten sich hier an den Wänden, fest versiegelt mit einem schmutzig-grauen Sowjetanstrich, unter dem nur hier und da Details farbenfroherer Zeiten zum Vorschein kamen, wie eben diese Treppe.

Als Chrystyna noch klein war und diese Treppe hinauf zu ihrem Vater lief, der in dem Zimmer arbeitete, wo jetzt das Sekretariat war, hatte der Marmor noch weniger Risse, und Chrystyna konnte lange an einem besonders auffälligen Muster hängen bleiben, sich beim Betrachten der Liniengeflechte in ihrem eigenen, inneren Labyrinth verlieren, das aus Bildern und Visionen bestand, halb realen und halb imaginären, halb gesehenen und halb nichtgesehenen. Wenn sie sich darauf konzentrierte und lange und aufmerksam genug die Muster der Marmorwand vor ihren Augen betrachtete, konnte sie spüren, wie ihr Schauer von unten nach oben über den Rücken liefen, wie die Welt ringsum verschwand, das Gewicht ihres Schulranzens und der Tasche mit den Wechselschuhen nicht mehr drückte, die Zeit unmerklich in einer kleinen, schwarzen Vertiefung zwischen zwei Grautönen der Marmorwand verschwand, und da kam auch schon ihr besorgter Vater die Treppe herunter und beendete diese ersten Meditationserfahrungen in ihrem Leben. Sie musste schließlich noch ihr Brot essen, Tee trinken und rechtzeitig zum Solfeggio kommen und danach zu ihrem zweiten Instrument – dem Violoncello.

Violoncello lernte Chrystyna bei Teodosija Borysiwna, einer Kollegin ihres Vaters. Der hielt sie für eine gute Lehrerin, obwohl sie einfach nur eine attraktive Frau war, nett und nicht übermäßig fordernd. Teodosija Borysiwna hatte dichtes und langes rotes Haar, ein intensiver Kupferton, den kein Haarfärbemittel jemals erreichen würde, matt-grüne Augen und einen üppigen Busen. All das in Kombination hätte schon völlig ausgereicht, aber Teodosija Borysiwna verfügte auch noch über einen Blick, der Milch zum Kochen bringen konnte. Ihr Blick war ruhig und passiv, nahezu willenlos, bohrte sich aber brennend tief ein. Die Männer, auf die sie ihren Blick heftete, wollten sich in alle Richtungen gleichzeitig bewegen, sich Teodosija Borysiwna in die Arme werfen und zugleich vor ihr davonlaufen, sich in Sicherheit bringen, die heißen Schauer loswerden, sich von der glühenden Langsamkeit dieses magnetischen Blicks losreißen.

Vielleicht war Chrystynas Vater in Teodosija Borysiwnas Gegenwart von ähnlichen Gefühlen ergriffen, und die Tatsache, dass sie jahrelang seine Schülerin gewesen war, konnte daran kaum etwas ändern. Und wenn unter den widerstreitenden Wünschen auch letzterer dominierte, wagte er es äußerst selten, Teodosija Borysiwna einfach nur in die Augen zu sehen, wenn sie sich über Chrystynas Fortschritte unterhielten, oder ihr nachzuschauen, wenn der betäubende Duft ihrer Haare, den weder Shampoo noch Parfüm übertönen konnten, sich zusammen mit ihrem langen, schwarzen Rock entfernte. Vielleicht hatte er Angst, dass er, würde er Teodosija Borysiwna auch nur einmal ansehen ohne aufzupassen, sich nicht mehr losreißen könnte und erstarren würde, so wie Chrystyna auf der Treppe erstarrt war, vertieft in die verborgenen Landschaften auf den Marmorwänden. Und dann wäre keiner mehr da, der ihr entgegen gehen und den schweren Ranzen abnehmen könnte.

In Chrystyna setzte Teodosija Borysiwna große Hoffnungen. Sie hatte damals gerade erst als Lehrerin angefangen, war entsprechend ambitioniert und davon überzeugt, dass zumindest jede zweite ihrer Schülerinnen wenigstens einen Bezirkswettbewerb gewinnen müsste. Chrystyna hatte zweifellos alle Chancen, noch weiter zu kommen. Und es wäre sicher keine schlechte Idee, das Violoncello zu ihrem ersten Instrument zu machen. Darüber hatte sie schon mehrfach mit Chrystynas Vater gesprochen. Der nickte dazu, wobei er aufmerksam seine Schuhspitzen betrachtete, den Blick von der rechten auf die linke wandern ließ und wieder zustimmend nickte. Er hatte nichts gegen ihre Worte einzuwenden, machte das Violoncello aber trotzdem nicht zu Chrystynas erstem Instrument.

Chrystyna mochte ihre Arbeit. Sie wollte schon hier arbeiten, als sie noch am Konservatorium studierte, und wechselte dafür extra ins Fernstudium. Sie mochte die Triumphgefühle, wenn ihre Schüler bei Wettbewerben erste Plätze belegten oder einfach nur schwierige Stücke sauber spielten, und betrachtete das immer als ihren ganz persönlichen Sieg. Aber selbst wenn es umgekehrt war und zu ihr Kinder kamen, die nicht konnten oder nicht wollten, die nur von ihren Eltern gezwungen wurden, ein Instrument zu lernen, ärgerte sie sich nicht und verzweifelte nicht. Sie arbeitete mit ihnen, so gut es eben ging, und fand es nicht weiter schlimm, dass einige die Musikschule vor dem Abschluss abbrachen. Wenn Chrystyna die gestressten jungen Mütter sah, die ihr enttäuscht erzählten, dass das Kind weder zu überzeugen noch zu zwingen sei, zu Hause zu üben, dann spürte sie besonders stark, wie anders sie die Dinge sah. Diese Mütter mit ihren unbeholfenen Erziehungsversuchen nervten sie deutlich mehr als die Kinder. Sie verstand auch nicht, warum sich Erwachsene beklagten, dass sie Kinderlärm störe, sie sich nicht konzentrieren könnten und manchmal vor ihren eigenen Kindern davonlaufen möchten. Radio- oder Fernsehgedudel, zu laute Musik, auf volle Lautstärke aufgedrehte Popschlager, all diese unvermeidlichen Attribute eines Erwachsenendaseins, mit denen vergnügungssüchtige Erwachsene ganze Tage verbrachten, nervten Chrystyna wesentlich stärker. Es störte sie überhaupt nicht, wenn Kinder herumtobten und lärmten, sie wusste, dass sie das Treiben in dem Moment beenden konnte, wo sie mit dem Unterricht anfangen wollte. Und die Kinder spürten, dass Chrystyna sie ernst nahm wie Erwachsene, dass sie für sie keine kleinen Idioten waren, die erzogen werden mussten. Sie wussten das zu schätzen und machten ihr keine Schwierigkeiten. Manchmal kamen ehemalige Schüler vorbei, die die Schule schon beendet oder auch vorzeitig verlassen hatten, um zu erzählen, wie es ihnen jetzt ging, oder zuzuhören, wie ihre Freunde spielten. Sie konnte selbst nicht sagen, wie ihr das gelang, konnte den enttäuschten Müttern keine pädagogischen Ratschläge mit auf den Weg geben, aber sie wusste immer genau, was sie in welchem Moment zu einem Kind sagen musste und wann es besser war, zu schweigen und auf jeden Kommentar zu verzichten. Diese Fähigkeit hatte sie schon als Kind gehabt, und Chrystyna verspürte immer eine stille Freude, wenn sie merkte, dass sie richtig reagiert und den erhofften Effekt erzielt hatte. Besonders, wenn sie ein Kind vor einem wichtigen Auftritt beruhigen musste oder helfen sollte zu entscheiden, ob jemand mit der Musik weitermachen oder besser aufhören sollte.

Ihr fiel es wesentlich leichter als den Eltern, sich in das Kind hineinzuversetzen und dessen Probleme wirklich zu verstehen und nicht aus der Sicht eines Erwachsenen zu beurteilen, der immer alles besser weiß und alle kindlichen Probleme automatisch für belanglose Launen hält. Die Regeln eines harmonischen Zusammenlebens mit Kindern waren theoretisch einfach, aber in der Praxis gelang es kaum jemandem, sie umzusetzen. Im Prinzip unterschieden sich diese Regeln nicht von denen, die auch für Erwachsene galten, sie wurden den Kindern bloß nicht zugestanden, und dadurch entstanden die Probleme, die unweigerlich auch mit Erwachsenen entstanden wären.

Die Kinder erwarteten von den Erwachsenen meist nicht die Erfüllung all ihrer Wünsche, sondern einfach nur das Recht, sich so zu fühlen, wie sie sich eben fühlten, und nicht so, wie es sich die Erwachsenen für sie vorstellten.

Da inszeniert zum Beispiel ein Kind vor dem Unterricht einen Aufstand und heult: „Ich will nicht mehr zur Musikschule!“

Und schon reagieren die meisten Mütter falsch: „Doch, doch, du willst.“

Oder: „Das hast du dir doch selber ausgesucht, was ist denn jetzt los?“

Oder: „Wir waren doch schon so oft hier, jetzt sei doch mal vernünftig!“

Oder noch schlimmer: „Guck doch mal, Marijka weint auch nicht.“

Und so weiter. Ein ewiges „du bist ganz bestimmt noch nicht müde“, „du hast gerade gegessen, es gibt jetzt kein Bonbon“, „wie oft soll ich das noch sagen – du gehst da jetzt hin“, „wenn sich mal jemand so viel um mich gekümmert hätte, als ich klein war“.

Chrystyna sagte einfach, wenn ein Kind mit hängenden Schultern dasaß: „Du bist bestimmt müde. Hattest du einen schweren Tag?“ Meist genügte das schon. Das Kind lebte auf und erzählte, dass es in der Tat einen schweren Tag gehabt hatte, dass Oksana in der Pause rumgeschrien hat, wofür sie gemeinerweise beide einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen haben, dass sie eine schwere Mathearbeit geschrieben haben, und dass in der Solfeggio-Stunde mal wieder nichts geklappt hat. Der Schluss kam für die Mütter meist überraschend, weil sich ihr Kind auf einmal zusammennahm und ans Klavier setzte, ohne noch einmal zu erwähnen, dass es nicht mehr zur Musikschule wolle. Schließlich ging es ja auch gar nicht darum, alles hinzuschmeißen, sondern darum, auf sich aufmerksam zu machen, sich Gehör zu verschaffen und ein bisschen Mitgefühl zu bekommen.

Nur selten traf Chrystyna Eltern, die sich, wenn sie sich mit ihren Kindern unterhielten, darauf einlassen konnten, dass die Freude an der Unterhaltung, daran, Zeit miteinander zu verbringen, wichtiger war als die Absolvierung eines übergeordneten pädagogischen Programms. Wenn die Eltern mehr auf Freude als auf Erziehung eingestellt waren, verlief auch die Erziehung leichter und ungezwungener, eher ein zusätzliches Ziel als die Hauptaufgabe.

Aber die Eltern, die aus ihren Kindern eine bessere Version ihrer selbst formen wollten, erlitten unweigerlich eine Niederlage nach der anderen, stießen immer wieder auf den Widerstand des Kindes, auf seinen Wunsch, sein eigenes Leben leben zu dürfen und nicht eins, das sich seine Eltern ausgedacht hatten.

Von außen betrachtet war Chrystyna das alles sonnenklar, aber sie wusste nicht, ob sie auch dann Emotionen und Instinkte so klar voneinander hätte trennen können, wenn sie es mit eigenen Kindern zu tun gehabt hätte.

Chrystyna kam gern zu den Nachmittagsstunden. Schon im Eingangsbereich duftete es nach Kaffee, der gegen drei Uhr in allen Zimmern gekocht wurde. Meist wurde noch etwas Kognak in den Kaffee gegossen und dazu eine der Pralinenschachteln aufgemacht, die dankbare Eltern mitgebracht hatten. An Pralinen mangelte es nie. An Kognak auch nicht. Wenn einer der Kollegen Geburtstag hatte, trafen sich alle zum Kaffeetrinken. Sie ließen das Geburtstagskind hochleben und verteilten sich nach einer Weile wieder auf ihre Arbeitszimmer, manch einer blieb auch noch auf ein Gläschen oder zwei. Heute hatte Pani Genja Namenstag, und Chrystyna hatte ihr ein Geschenk mitgebracht, sah aber, als sie sich an der Garderobe in das Schlüsselbuch eintragen wollte, dass die Feier schon vorbei war. Genja, die ganz rote Wangen hatte, erzählte der Garderobenfrau Marija, die vom Kognak ebenfalls Farbe im Gesicht bekommen hatte: „Also, als ich dann zurückgekommen bin, da von den Zigaretten, da hab ich natürlich zuerst mal das Geld versteckt, klar. Und dann denk ich, geh ich mal gucken, was mein Alter macht, ob der nich wieder an der Pulle hängt. Geh also rüber, der schläft. Ich zurück. Dann bin ich hoch auf den Boden, da aufräumen. Komm wieder runter. Der ist inzwischen wach geworden, fragt mich: ‚Wo ist die Pulle?‘ Woher soll ich das denn wissen? Weiß ich doch nich. Er wieder: ‚Wo ist die Pulle?‘

Ich sag gar nichts, mach weiter meinen Kram. ‚Was willst du denn von mir?‘, sag ich dann. ‚Woher soll ich das wissen? Bin doch eben erst zurück.‘ Und da packt er mich am Arm. Ich reiß mich los. Und die Treppe runter, und da merk ich, da stimmt was nich. Dann flieg ich runter. Und denke noch so, ob meine Arme und Beine noch ganz sind. Da lieg ich auch schon unten und fühl so, alles noch ganz. Dann bin ich also nach draußen, als ob nichts gewesen ist. In den Garten. Da musste ich ja noch den Mist breitschaufeln. Das mach ich also, hab schon fast alles verteilt, ein, zwei Haufen noch, da wird mir irgendwie schlecht. Keine Ahnung, was das war.“

Chrystyna beschloss, Pani Genja später zu gratulieren, sah, dass Solomija schon für den Schlüssel unterschrieben hatte, und ging schweigend weiter. Deshalb hörte sie nicht mehr, wie Pani Marija verträumt ihre Liebesgeschichte erzählte: „Ja, da habense ganz recht, so was kommt vor, da klopft das Herz wie wild und es wird einem ganz schwummerig, und dann steht man ne Weile so rum, und dann geht’s so langsam wieder. Ich hatte das auch mal, wissense, da in den Erdbeeren letzten Sommer war das. Da bei unserm Chef, bei dem Leszek. Der is ja wirklich ein guter Mensch, is der, das wissense ja selber. Schreibt immer Einladungen, alles, wie sich’s gehört, hält sich dran, wenn er einem Arbeit verspricht, und mit dem Geld, da gibt’s auch nie Probleme. Also ich fahr da immer hin, wenn der ruft. Und damals, ja, da war ich ja noch jünger, diese Irka, die gab’s da noch nicht, die ihm jetzt Plinsen bäckt. Na, er kommt also nach der Arbeit zu mir, kneift mich so in den Hintern und sagt: ‚Na, Marija, machste mir Piroggen?‘ Bin ich mir vielleicht zu fein? Klar mach ich das. Is ja keine große Sache. Am liebsten hatte er die mit Kartoffeln und Quark. Ich sag so zu ihm: ‚Vielleicht mal mit Erdbeeren, zur Abwechslung?‘ Und er: ‚Nee, die kann ich nicht mehr sehen, diese Erdbeeren.‘ Immer nur mit Kartoffeln und Quark. Und mit Speck natürlich. Und als er dann gegessen hat, da steht er auf, fasst mich an die Brust und dreht mich um und macht sein Ding. Und das macht er so, so, na und fasst an meine Brust, dass mir ganz schwummerig wird. Das hätt ich ja nie gedacht, dass Frauen das auch brauchen. Meiner immer nur schnell, schnell und fertig. Aber der nich, der wartet die ganze Zeit, bis ich anfang zu stöhnen. Zuerst hab ich ja einfach nur so gestöhnt, damit der endlich kommen kann und nich mehr warten muss, und dann dacht ich, vielleicht gefällt mir’s ja auch. Und jetzt träum ich sogar davon, wie der mich mit der Brust ins Mehl, wo ich die Warenyky gemacht hab, und dann dreht er mich um und noch mal von vorn, oder auf den Knien oder bei ihm auf dem Schoß. Und da hab ich mich so dran gewöhnt, dass ich dann auch gekommen bin. Da zittert dann alles und dann werden die Finger ganz schwach. Keine Ahnung, vielleicht is das ja auch schädlich, aber sehr angenehm. Und überhaupt. Ich bin ja auch nich mehr so ganz jung, wer will mich denn noch. Also meiner ganz bestimmt nich mehr.

Na ja, und dann bin ich also irgendwann nach Hause, mir war irgendwie ganz anders, im Kopf, da dreht sich alles und schlecht is mir. Da bin ich also zum Arzt und der sagt: Schwanger. Bloß gut, dass ich ne Woche später im Garten was Schweres schleppen musste, da is das dann alles raus, aber so viel Blut, den Sack hab ich ja kaum bis zum Haus gekriegt. Was hätt ich denn meinem auch sagen sollen? Obwohl der ja eh nur säuft, der hätt vielleicht gar nichts mitgekriegt.

Als ich wieder bei dem Leszek war, da hab ich ihm das alles erzählt. Und der lacht bloß. Und dann is irgendwann diese Irka aufgetaucht, die is ja viel jünger, na und die bäckt ihm jetzt Plinsen.“

In Chrystynas Zimmer ging gerade Solomijas Harfenstunde zu Ende. Das war manchmal so, in der Musikschule gab es stets zu wenig freie Räume, deshalb waren Überschneidungen keine Seltenheit. Harfe unterrichtete nur Solomija. Wenn Chrystyna sie vertrat, mussten die Harfenisten ihre Finger mit Klavier-Tonleitern lockern.

In ein paar Minuten sollte die gestern ­angekündigte Generalversammlung stattfinden. Wie immer verschnaufte Chrystyna und sah dabei auf das Glas mit den künstlichen Mohnblumen auf dem Klavier. Diesmal im Stehen, da der Hocker besetzt war. Sie dachte darüber nach, dass ihr das Treppensteigen heute besonders schwer gefallen war. Und darüber, dass sie nie die Stufen gezählt hatte. Das war ihr unterwegs, im zweiten Stock, eingefallen, und sie beschloss, das am nächsten Tag unbedingt nachzuholen. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Einen nächsten Tag gab es nicht. Alle Lehrer wurden in den großen Saal gebeten, wo die Schließung der Schule verkündet und jedem ein Umschlag mit einer kleinen Abfindung ausgehändigt wurde. Die Neuigkeit verkündete Adelaida Hryhoriwna, neben ihr stand ein kahlköpfiger Mann in schwarzem Anzug, der das Tablett mit den Umschlägen hielt. Er war der Direktor einer teuren Modeboutique, die in Zukunft alle drei Stockwerke der Musikschule belegen würde.

***

Chrystyna half Solomija oft bei irgendwelchen Alltagsproblemen, vertrat sie im Unterricht oder passte auf den Kleinen auf, wenn ihre Freundin ihn mit zur Arbeit bringen musste. Dann rief sie Chrystyna an, und die kam etwas früher oder nahm den Kleinen einfach mit in ihre Stunde. Bei ihr saß er ruhig da und störte nicht, bei Solomija tobte er immer herum. Solomijas Mann war Sportlehrer gewesen, dann wurde er aus irgendeinem Grund entlassen, griff zur Flasche und verschwand aus dem Leben seiner Familie. Solomija blieb mit ihrem kleinen Sohn und ihrer alten Mutter allein zurück.

Wenn es etwas gab, ohne das man sich Solomijas Leben nicht hätte vorstellen können, so waren das Zweifel. Ein Reservoir in ihrem Inneren schien bis unter den Rand mit Zweifeln gefüllt zu sein, und wenn man es nicht ab und zu ein bisschen bewegte und etwas von seinem Inhalt ausschüttete, würde Solomija für immer in diesem wackligen Gleichgewicht hängen bleiben, in dieser trügerischen Illusion einer Bewegung von „ja“ zu „nein“, von „dafür“ zu „dagegen“, von Harmonie zu Depression, von Begeisterung zu Abscheu, von Selbstverliebtheit zu Selbstverachtung.

Solomija konnte sich uneingeschränkt für alles begeistern, was um sie herum passierte, vergeblich versuchte sie, die Dinge, die sie wirklich interessierten, von jenen zu trennen, die nur einen interessanten Eindruck machten. Dieser Selektionsprozess, der in Wirklichkeit nie stattfand, beanspruchte ihre gesamte Zeit und Energie. Sobald sie feststellte, dass das Interesse an einer Sache nachließ, konnte sie diese augenblicklich genauso inbrünstig verachten und sich wundern, dass sie sich für so eine Dummheit hatte begeistern können, und dieses Verachten und sich über sich selbst Wundern beanspruchte sie wieder voll und ganz.

Solomija beklagte sich ständig, dass sie nichts schaffe, dass es so viel Interessantes gebe, und sie ihre Zeit so oft mit irgendwelchen Dummheiten verbringe, wo sie sich doch besser Dingen widmen sollte, die es wirklich wert seien. Sie hasste sich dafür aufrichtig, aber sobald etwas Neues in ihr Blickfeld geriet, stürzte sie sich wieder in den Strudel bekannter und neuer Gefühle und durchlief die Stadien erneut von vorn: von der anfänglichen Begeisterung über eine Abkühlung bis hin zu Enttäuschung und Verachtung.

„Weißt du“, erklärte sie Chrystyna, wobei sie jedes Wort mit einem großen Schluck aus ihrer knallgelben Halbliter-Lieblingstasse hinunterspülte, „das ist so ein Teufelskreis. Oder vielmehr ein Kreis, der aufgerissen ist, und den ich nicht wieder schließen kann. Ich will immer alles und sofort, und dieses Gefühl gibt mir die falsche Gewissheit, dass man etwas nur ganz stark wollen muss, und schon schafft man alles. Dann stürze ich mich in die Arbeit, aber nicht in einer Reihenfolge, die irgendwie logisch wäre, sondern völlig chaotisch. Mir ist schon klar, dass ich nicht richtig plane, und ich will was dagegen machen. Also setze ich mich hin und fange an zu planen, und dafür geht dann der ganze Tag drauf, und dann komme ich nicht mehr dazu, auch nur irgendwas davon in die Tat umzusetzen. Und anstatt dann das, was ich einmal angefangen habe, auch mal zu Ende zu bringen, stürze ich mich auf was Neues und schiebe das dann wieder auf die lange Bank. Bei dir ist das alles ganz anders. Du bist mit allem sogar immer viel früher fertig als geplant. Und auch wenn du ständig mit dir unzufrieden bist – deine Produktivität hätte ich gern!“

Aber, so dachte Chrystyna, die rätselhaftesten Prozesse schienen in Solomijas Kopf dann abzulaufen, wenn sie eine Entscheidung treffen musste. Zuerst formulierte sie für sich sorgfältig die möglichen Varianten. Das gelang ihr blendend. Dann, bevor sie sich für eine davon entschied, überlegte sie lange hin und her und brachte mit detaillierten Beschreibungen aller Pros und Kontras ihre Bekannten zur Verzweiflung. Manchmal war Solomija sogar richtig beleidigt, wenn man ihr nicht noch eine hypothetische Gefahr oder Schwierigkeit nannte, auf die sie selbst noch nicht gekommen war und die von Bedeutung sein könnte, wenn sie zu der einen oder anderen Variante tendierte. Abhängig oder manchmal auch unabhängig vom Gewicht der Entscheidung konnten ihre Überlegungen Wochen oder sogar Monate dauern, und alle Gespräche liefen früher oder später unweigerlich darauf hinaus. Bis plötzlich der Moment kam, in dem sie feststellte, dass sie jetzt sofort eine Entscheidung treffen musste. Und dann genügte es, dass sich irgendjemand für oder gegen eine bestimmte Variante aussprach. Dabei war es egal, was man sagte, ob man eine Autorität darstellte oder sich überhaupt mit dem Problem auskannte, denn Solomijas Entscheidung hing nicht davon ab, was man ihr riet, und war völlig unvorhersehbar, auch für Solomija selbst. Sie brauchte einfach eine fremde Meinung, einen Anstoß von außen, jemandes Anteilnahme oder auch nur Anwesenheit, das holte sie aus ihrer Erstarrung, ihrer Gefühlsverstrickung, einer so tiefen Verstrickung, dass die Außenwelt keine real existierende Größe mehr darstellte, sondern von der eingebildeten Wirklichkeit der Innenwelt durchdrungen wurde. Mit dem Anstoß von außen schien sie aufzuwachen und sofort handeln zu können, gab es diesen Anstoß nicht, setzten sich die Grübeleien fort. Genauso unvorhersehbar war es dabei aber, was von dem Gesagten für Solomija nun der Anstoß war, den sie brauchte.

Solomijas faszinierendes Äußeres zog die Männer scharenweise an. Sie war groß und schlank, hatte dichtes schwarzes Haar, war fröhlich, fand zu den meisten Menschen schnell einen Draht und analysierte nie ihr eigenes oder das Verhalten anderer. Sie und Chrystyna waren so unterschiedlich, wie es zwei Menschen nur sein können. Chrystyna war blond, mittelgroß, mit üppigen Formen und einer schmalen Taille. Ihre braunen Augen sahen ihr Gegenüber aufmerksam an, und schon nach ein paar Minuten wusste sie genau, wo auf ihrer Skala schwarz-weißer Einschätzungen, von eindeutig negativ bis überaus positiv, sie eine neue Bekanntschaft einzuordnen hatte. Später konnte sie ihre intuitiven Gefühle mit konkreten Details belegen, und bei anderen Menschen die Unruhe sehen, die sich hinter nervösen Pupillenbewegungen verbarg, die Unsicherheit zitternder Finger, ein unwillkürliches Rotwerden der Ohren, wenn jemand etwas sagte, was wohl kaum stimmen konnte, die Leichtgläubigkeit weit aufgerissener Augen und noch vieles mehr, was Solomija wohl nie deuten oder auch nur sehen würde.

Chrystyna versuchte, so tief wie möglich unter die Oberfläche des ersten Eindrucks zu dringen, ihr Empfinden zunächst intuitiv und später auch logisch zu begründen. Solomija hingegen schob Chrystynas Beobachtungen stets mit leichter Hand beiseite: „Das glaube ich nicht. Wie kann man denn einen Menschen danach beurteilen, ob ihm die Fingerspitzen zittern? Du hast doch auch Arthritis, und das bedeutet ja schließlich auch nicht gleich, dass du etwas zu verbergen hast.“

„Aber um die Finger geht es doch gar nicht. Spürst du denn nicht, wenn ein Mensch wirklich aufrichtig ist und wenn er dir nur etwas vorspielt?“

Solomija war ein Mensch der Extreme. Entweder glaubte sie fest an etwas und stürzte sich kopfüber in eine Sache, oder sie lehnte etwas genauso kategorisch ab, ohne jede rationale Erklärung, nur aufgrund von Stimmungen. Sie war leicht zu beeinflussen, kämpfte aber, sobald ihr das bewusst wurde, dagegen an, auf ihre ganz eigene und ziemlich unlogische Art, die ihr gesamtes Wesen ausmachte. Wenn Solomija nur von einem Menschen beeinflusst wurde, war sie mit allem einverstanden und versuchte gar nicht, sich zu widersetzen. Aber tauchten in ihrem Leben mehrere Autoritäten auf, die sich noch dazu gegenseitig widersprachen, gab es Probleme. Es fiel ihr nämlich sehr schwer, sich für einen Menschen zu entscheiden und nur auf ihn zu hören. Zum einen deshalb, weil sie schon wieder vor einer Entscheidung stand, und zum anderen, weil sie nicht zwischen Standpunkten und Motivationen wählte, sondern zwischen verschiedenen Menschen, deren Bedeutung in ihrem Leben sie nach nicht nachvollziehbaren Kriterien bestimmte. Wenn sie zum Beispiel einen Rat brauchte und zuerst ihre Mutter und dann Chrystyna fragte, tendierte sie, unabhängig davon, was ihr beide rieten, meist zu Chrystyna. Wenn sie hingegen Chrystyna und einen ihrer aktuellen Männer um einen Rat bat, hörte sie meist auf den Mann, natürlich nur, wenn der seinen Neuheitswert, seine Attraktivität und die damit verbundene Autorität noch nicht eingebüßt hatte. Wenn die Position einer ihrer Liebhaber mit der Zeit schwächer wurde, bekamen Chrystynas Ratschläge wieder mehr Gewicht.

Anfangs nervte Chrystyna diese merkwürdige Priorisierung, dann gewöhnte sie sich daran und ärgerte sich nur noch über die Unbeständigkeit des eigenen Ratings. Nicht, weil sie glaubte, für Solomija eine unangefochtene Autorität darstellen zu können, sondern weil sie sich schlichtweg nicht damit abfinden wollte, dass Solomija ihre sorgfältig und logisch aufgebauten Argumentationsketten überhaupt nicht zu hören schien, sich einfach auf ihre eigene Stimmungslage verließ und auf den Moment wartete, in dem ein spontaner Impuls sie zur einen oder anderen Handlung zwang. Meist zu einer, von der ihr Chrystyna kurz zuvor lange und ausführlich abgeraten hatte.

Solomija brauchte jemanden, den sie bewundern und dem sie sich fügen konnte. Aber zugleich mochte sie passive, unsichere Männer, die auf sie hörten und bei ihr Unterstützung suchten, anstatt sie zu beschützen. So fand sich Solomija ständig in komplizierten Situationen wieder. Sie lernte nicht aus ihren Erfahrungen, und jedes Mal hoffte sie aufs Neue, dass „jetzt alles ganz anders wird“. Chrystyna glaubte, dass Solomija in den Männern ihren Vater suchte, nicht den echten, sondern einen erfundenen, idealen. Ihr Auserwählter sollte sie ewig lieben, romantisch und offen sein, sie auf Händen tragen und vor allem Unheil dieser Welt bewahren, und sie natürlich nie für eine Andere verlassen, wie ihr Vater es getan hatte. Die Angst, verlassen zu werden, überwog, und sie suchte sich unbewusst immer Männer, die sich ihrem Willen unterordneten. Aber sobald das passierte, fehlte ihr ein Objekt, das sie anhimmeln und dem sie sich fügen konnte wie einem idealen Vater. Die Initiativlosigkeit ihrer Auserwählten, ihre fehlende Impulsivität und die Tatsache, dass sie nun für sie beide Entscheidungen treffen musste, belasteten sie und trugen natürlich nicht zur Festigung der Beziehung bei. Und es war für Solomija kein Vorteil, dass die Männer sie nicht richtig verließen, sondern nach einer Trennung noch lange versuchten, die Beziehung wieder zu kitten.

Nach jeder weiteren schmerzhaften Trennung hörte sich Solomija geduldig an, was Chrystyna an Argumenten vortrug, und gab ihr in allem recht, aber sobald sie den nächsten „romantischen und galanten“ Typ kennenlernte, war alles sofort wieder vergessen und sie stürzte sich ins Abenteuer, voller Zweifel, aber unaufhaltsam.

Das betraf sowohl ihre Beziehungen zu anderen Menschen als auch ihre Interessen.

Solomija war ständig auf der „geistigen Suche“, wie sie selbst es nannte. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie schon fast alle existierenden Religionen durchprobiert und Zertifikate zahlreicher „Institute für Selbstverwirklichung“ gesammelt, die zu erschwinglichen Preisen verschiedene Kurse mit nebulösen Titeln wie „Lösung von Identitätsproblemen“, „Stärkung der Selbstidentifikation“, „Auf der Suche nach Selbstverwirklichung“ und dergleichen mehr anboten. In der kurzen Zeit, die sie sich jedem Thema widmete, konnte sie von keiner der Konfessionen und Theorien enttäuscht werden, ja nicht einmal tiefer in die Materie eindringen. Ihre Zweifel zwangen Solomija, sich immer wieder neu zu orientieren. Ständig hatte sie den Eindruck, dass ihr, während sie ihre Zeit mit einer Sache verbrachte, gleich um die Ecke eine andere davonlief, eine authentischere, nützlichere, besser zu ihr passende. Den Großteil ihrer Freizeit verbrachte Solomija mit Zweifeln und Gewissensbissen. Wenn sie nicht bei Ostap war, machte sie sich Vorwürfe, dass sie ihr Kind zu selten sah, und wenn sie bei ihm war, hatte sie Gewissensbisse, dass sie nicht an sich arbeitete oder wenigstens Geld verdiente. Wenn sie sich wieder einmal von einem Liebhaber getrennt hatte, machte sie sich Vorwürfe, dass sie ihn verlassen, ihm keine zweite Chance gegeben hatte, und in dem Hin und Her der Trennung machte sie sich genauso Vorwürfe, dass sie sich überhaupt noch mit diesem hoffnungslosen Fall abgab, wo sie in der Zeit doch viel besser etwas Nützliches oder Angenehmes tun könnte. Wenn sie mit Chrystyna einkaufen ging, konnte Solomija ihre Freundin mit ihren Zweifeln in den Wahnsinn treiben. Wenn Chrystyna sagte, dass ihr etwas nicht stand, dann war sie schnell beleidigt und fand das gemein, und wenn ihr Chrystyna Komplimente machte und meinte, dass sie dieses oder jenes Teil kaufen solle, vermutete Solomija sofort falsche Schmeicheleien. Und wenn sie dann endlich nach langem Überlegen etwas gekauft hatte, waren da wieder die Gewissensbisse, dass sie zu viel gekauft hatte oder nichts, was sie wirklich brauchte, und dass sie nicht weiter nach reduzierten Angeboten gesucht hatte. In solchen Situationen war der einzige Ausweg, mit strenger Stimme zu verkünden: „Wenn du nicht sofort aufhörst, gehe ich!“

Das hatte Solomijas Mutter immer gesagt, als sie noch klein war, und dieser Satz war der einzige, der sie von ihren Zweifeln losreißen konnte. Aber dazu konnte man nur in wirklichen Ausnahmefällen greifen, denn manchmal reagierte Solomija auch mit einem lauten Heul­krampf, und dann war es praktisch unmöglich, sie wieder zu beruhigen.

Zu den zahlreichen Dingen, für die sich Solomija interessierte, gehörten auch kalte Wassergüsse, Nasenspülungen und bewusste Atemübungen. All dies sollte positive Emotionen stärken und negative verdrängen, einen in Einklang mit der Welt bringen, die Bewegungskoordination verbessern und das Immunsystem stärken.

Für die Übungen legte sie sich rücklings auf ein spezielles Atemtischchen, verschränkte die Hände auf dem Bauch und versuchte, zehn Minuten lang so oft und so tief wie möglich ein- und auszuatmen und dabei die Bauchmuskeln zu aktivieren. Nach ein paar Minuten kam ein Glucksen aus ihrem Hals und Tränen liefen ihr über die Wangen. Das bedeutete für Solomija, dass sich die Atemwege langsam reinigten, sich die Lungen besser mit Luft füllten und sich die Muskeln lockerten, die sie meist anspannte, weil sie es von klein auf gewohnt war, so auf Stress zu reagieren. Der Theorie, an die sie glaubte, nach sammelten sich Krankheitserreger zuerst auf den Schleimhäuten von Nase, Mund und Hals und drangen dann tiefer in den Organismus vor, vermehrten sich dort, wenn nicht genügend Sauerstoff im Körper war, und verursachten Krankheiten oder eine allgemeine Schwächung des Organismus. Auch psychische und emotionale Probleme waren demnach auf eine unzureichende Reinigung der Atemwege und falsche Atmung zurückzuführen. Angespannte Muskeln führten zu einem Verlust der Lebensenergie und damit auch des Selbstvertrauens.

Seit Solomija bewusst geworden war, dass sie in Stressmomenten die Luft anhielt und den Kopf nach vorn reckte, womit sie die Luftzufuhr zu den Lungen nur noch weiter blockierte, versuchte sie, das zu vermeiden. Wenn sie jetzt etwas Unangenehmes zu hören bekam, verschränkte sie die Hände hinter dem Kopf, konzentrierte sich auf eine tiefe Atmung und bewegte dabei ihre Bauchmuskeln.

Als Kind hatte sie stets die Luft angehalten, wenn ihr die Tränen kamen. Die unterdrückten Emotionen ließen die Muskeln fest und hart werden, das Empfindungsvermögen und damit auch ein Schmerzempfinden kehrten erst viele Jahre später zurück, als sich durch die Atemübungen die blockierten Emotionen wieder lösten.

Nach den Sitzungen waren ihre Finger kalt und unbeweglich. Das kam für Solomija durch die ungewöhnlich große Menge an Sauerstoff, die dem Organismus auf einmal zugeführt wurde. Manchmal atmete sie sogar in eine Papiertüte, um diesen Effekt zu vermeiden.

Als Chrystyna mal wieder besonders stark unter einer Allergie litt, schlug ihr Solomija vor, es auch einmal mit dieser Therapie zu probieren. Chrystyna studierte irgendein Traktat über Emotionen und Körpergedächtnis und darüber, dass der Verlust der natürlichen kindlichen Flexibilität, die Fähigkeit, sich ungezwungen zu bewegen, tief zu atmen, nur für das Glück des Augenblicks und nicht zur permanenten Selbstbestätigung zu leben, die meisten Krankheiten verursachte. Wenn sie darüber nachdachte, wann und warum sie Hautprobleme bekam, musste sie feststellen, dass diese tatsächlich meist auf Stress und unterdrückte Emotionen zurückzuführen waren. Sie versuchte es mit den Übungen zur Reinigung der Atemwege und zur Tiefenatmung jedes Mal vor und nach einem Treffen mit besonders unangenehmen Menschen. Die Allergieschübe wurden tatsächlich seltener. Im Unterschied zu Solomija glaubte sie jedoch nicht so ganz, dass sie das wirklich der Therapie zu verdanken hatte, eher war sie geneigt, es dem Effekt der Autosuggestion zuzuschreiben. So wie kleine Kinder, denen man sagt, dass Mama jetzt den Finger küsst, den sie sich gestoßen haben, und dass er dann nicht mehr wehtut, gern daran glauben und aufhören zu weinen. Vielleicht tut der Finger auch wirklich nicht mehr weh.

Von dem Moment, als die ersten Gerüchte über die Schließung in der Schule kursierten, bis zur eigentlichen Schließung vergingen mehrere Jahre. Während dieser Zeit hatten sich alle längst an den Gedanken gewöhnt und aufgehört, darin etwas Reales zu sehen. So wie Schwerkranke, denen ihre Diagnose mitgeteilt wird. Zuerst sind sie geschockt, aber dann gewöhnen sie sich allmählich an die Tatsache, und dadurch rückt sie in die Ferne und wird immer kleiner. Zaghaft keimt dann eine Hoffnung, wird zur Illusion und fast zur Gewissheit, dass das alles vorbeigeht. Heute ist doch alles in Ordnung, warum soll es denn nicht morgen auch so sein? Und wenn das Unausweichliche dann eintritt, kommt es noch unerwarteter als in dem Moment, als man es erfahren hat.

So war es auch mit der Musikschule. Sie sollte schon seit Längerem geschlossen werden – für das Gebäude mitten im Stadtzentrum hätte sich mehr als nur eine Verwendung gefunden, die ökonomisch sinnvoller gewesen wäre. Aber dann setzte sich unerwartet ein berühmter Komponist für die Musikschule ein, Träger aller möglichen Preise, Akademiemitglied aller möglichen Akademien, eine unbestrittene Autorität, deren Meinung niemand zu ignorieren wagte. Er hatte die Musikschule einst selbst besucht und wollte, dass sie weiter existierte. Außerdem galt sie unter den wenigen Musikschulen, die es in der Stadt noch gab, als eine der besten.

Die Debatten um eine mögliche Schließung der Schule hörten nicht auf, ständig gab es Kontrollen. Ob denn jeder Lehrer auch genug Schüler habe, ob jeder dieser Schüler auch musikalisch begabt sei, ob auch niemand den Unterricht schwänze – weder Schüler noch Lehrer; ob sich auch entsprechende Erfolge einstellten, ob auch regelmäßig für den Unterricht bezahlt werde und so weiter und so fort. Und obwohl sich viele für die Schließung der Schule starkmachten, für die Schließung aller Musikschulen und die Übernahme der Musikerziehung in den Lehrplan der regulären Schulen oder für die Privatisierung der Schulen, wurde die Schule doch nicht geschlossen. Nicht, solange der Komponist noch am Leben war.

Als endgültig feststand, dass die Musikschule geschlossen wird, kam Solomija als Erste mit der Idee, zum Geldverdienen ins Ausland zu fahren. Aber Chrys­tyna nahm diesen Vorschlag eher skeptisch auf und so beschlossen sie, ihr Glück zunächst einmal mit dem Verkauf von Kosmetika, Nahrungsergänzungsmitteln und Halssprays mit angeblich nur natürlichen Inhaltsstoffen zu versuchen. Auch das war Solomijas Idee gewesen. Sie legten zusammen, kauften das erste Sortiment und boten es ihren Bekannten an.

Chrystynas Beitrag zu diesem gemeinsamen Business war nicht gerade groß, und Solomija hätte sicher mehr verdient, wenn sie allein gearbeitet hätte. Jedes Mal, wenn sie einer neuen potentiellen Kundin erzählte, dass man „mit diesem Vitaminpräparat schon innerhalb eines Monats zehn Kilo abnehmen kann“, senkte Chrystyna verschämt den Blick, anstatt ihrem Gegenüber selbstbewusst und mit einem gewinnenden Lächeln in die Augen zu schauen. Vielleicht scheiterte sie aber auch deshalb, weil sie sich hartnäckig weigerte, die wichtigste Floskel zu sagen, die sie nach den Instruktionen des Herstellers unbedingt hätte sagen müssen: „Ich habe das selbst eingenommen und Sie sehen ja das Ergebnis. Noch vor einem Jahr war ich ganze zwanzig Kilo schwerer.“

Am meisten war es Chrystyna zuwider, mit ihrer Ware die Polikliniken abzuklappern. Aber ganz vermeiden ließ sich das leider nicht, denn dort war der Absatz am größten. Sie betrat den Eingangsbereich und versuchte, nicht in den Flur im Erdgeschoss zu schauen, wo in der Regel die Sprechzimmer der Frauenärzte waren. In einem Wartezimmer voller Schwangerer zu bitten, sie ins Sprechzimmer zu lassen, nur damit sie dem Gynäkologen vom Dienst vorschlagen konnte, die Vitaminpräparate der entsprechenden Firma zu verschreiben, war eines jener Dinge, zu denen sie sich gar nicht durchringen konnte.