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Haben Sie sich schon mal gefragt, was es mit dem 21.12.2012 wirklich auf sich hatte? Die Bewohnerin eines Altenheimes erzählt einer Studentin eine sonderbare Lebensgeschichte: Eine junge Frau aus der Keltenzeit begleitet ihren Mann nach Nordeuropa. Haithabu, eine bedeutende Handelsmetropole, wird ihr neues Zuhause. Von hier aus führen Handelswege über ganz Europa bis in den Vorderen Orient. Vom großen Reichtum der Stadt angelockt ziehen Räuber plündernd und mordend durch die Straßen. Wie viele andere Frauen wird sie als Sklavin verkauft und verschleppt. In einem heftigen Sturm in der Nordsee kentert das Schiff. Alle werden über Board gespült. Sie hat bereits mit dem Leben abgeschlossen, als ein geheimnisvoller Retter sie aus dem Wasser zieht. Sein Ziel ist eine Insel. Dort ist es den Menschen möglich, an jeden Platz und zu jeder beliebigen Zeitepoche der Erde zu reisen. Es hat den Anschein, als ob in diesem kleinen Paradies alle Probleme der Menschheit bereits gelöst wären. Sie wird liebevoll aufgenommen, muss aber feststellen, dass ihr vieles verschwiegen wird. Ist die Wahrheit bedrohlich? Andere Wesen haben großen Einfluss auf die Erde. Unfreiwillig gerät sie im Strudel der Machtkämpfe zwischen die Fronten.
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Seitenzahl: 466
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Die Herkunft
1.1 Besuch bei einer alten Dame
1.2 Die Siedlung
1.3 Mein Leben im Tal
1.4 Ornie
1.5 Zwei Jahre Sommer
1.6 Haithabu
Die Insel
2.1 Strandgut
2.2 Warten auf mein neues Leben
2.3 Jarak
2.4 Mutterglück
2.5 Reise mit Folgen
2.6 Vollmond
2.7 Träume
2.8 Lambayaque
2.9 Fehler im System
2.10 Gelöschte Stunden
2.11 Hochzeit
2.12 Die Phase Grün
2.13 Kinder der Insel
2.14 Jarak geht nach Rom
2.15 Hochzeit auf dem Lande
2.16 Leben mit den Amazonen
2.17 Energieüberladung – Fehler beim Transport
2.18 Wir sind nicht allein
2.19 Verrat
Die Neuzeit
3.1 Ankunft
3.2 Orientierungslos
3.3 Etha
3.4 Kongress
3.5 Verzweifelte Suche
3.6 Einfaches Glück
3.7 Was halten Sie davon?
3.8 Erid
3.9 Abschied von der Residenz
3.10 Tajara an der Macht
3.11 Vergebung
Start eines Projekts
“Interessant, Sie wollen eine Diplomarbeit über Kontaktmangel im Alter mit Einbezug von beginnender Demenz schreiben? Studienobjekte habe ich hier genug. Die Frage ist nur, ob sie zu den verschlossenen und zum Teil auch sehr misstrauischen Menschen durchdringen. Aber ich finde es schön, dass Sie damit beginnen sich ihr Leben anzuhören. In jedem Fall wird es für den eintönigen Alltag hier im Altenheim eine willkommene Abwechslung sein. Manche meiner Bewohner werden Sie gar nicht mehr weglassen wollen, wenn sie die Möglichkeit gewittert haben Ihnen ihr Leben zu erzählen, nachdem sie bereit waren aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Es sind bestimmt viele interessante Geschichten dabei.”
Die Leiterin der Seniorenresidenz, Frau Müller lächelte freundlich und aufmunternd zu.
Frau Müller war 50 plus hatte eine rundliche Figur, dunkle fast schwarze, leicht lockige Haare, die nicht strenge zu einer Frisur geordnet waren. Auch die Kleidung war leger, dunkelblaue Stoffhose und ein etwas helleres Shirt. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch in dem zweckmäßig eingerichteten Büro.
“Wir werden bestimmt geeignete Personen finden. Ich denke da schon an jemand. Haben sie ein Konzept, wie Sie es angehen wollen?”
Sabine Bender, eine blonde Studentin mit schulterlangem glattem Haar, in Jeans, freute sich offensichtlich über die angebotene Hilfe. Jetzt schien ihr das Thema, welches im Studiengang vorgegeben wurde, nicht mehr so fremd und unüberschaubar. Viel lieber hätte sie etwas mit jungen Menschen gemacht. Sabine studierte Sozialpädagogik mit dem Ziel mit Kindern oder Jugendlichen zu arbeiten. Bei der Aufgabenstellung mit “alten Menschen” war sie zunächst völlig ratlos. Die praktische Frau gegenüber nahm ihr ein wenig den Schrecken.
“Irgendwie schon”, schwindelte sie verlegen. “Aber ich dachte, dass ich im Umgang mit den Menschen mein Konzept entsprechend anpassen würde.”
“Gut, wenn Sie möchten mache ich Sie mit Frau Anne Schmitt bekannt. Frau Schmitt ist sehr höflich, lässt sich aber auf kein privates Gespräch ein. Allerdings ist sie auch erst seit kurzem bei uns. Frau Schmitt hat bisher keinen Kontakt zu anderen Heimbewohnern und kommt nur zu den Mahlzeiten in die Gruppe. Sonst ist sie auf ihrem Zimmer und vor allem sehr viel in unserem Park. Oft wollte ich Frau Schmitt in ein Gespräch verwickeln, aber sie antwortete nur auf die Fragen und wandte sich wieder ab. Frau Schmitt bekommt nie Besuch oder Post. Leider fehlt mir die Zeit, mich mehr mit diesen pflegeleichten Bewohnern zu befassen.”
Sie unterbrach kurz das Gespräch um einem tiefen Seufzer Raum zu geben.
“Für Sie eine Herausforderung. Den Grund dieser Zurückgezogenheit herauszufinden, ist sicher ein Schlüssel für Ihre Arbeit. Investieren Sie ausreichend Zeit, wenn es möglich ist. Dadurch werden sich viele Fragen von selbst beantworten. Soweit es meine Zeit erlaubt, werde ich Sie unterstützen. Wann wollen Sie beginnen?”, fragte Frau Müller.
“Ich habe alles mit. Von mir aus, wann immer es Ihnen passt. Am liebsten sofort” ,lächelte Sabine gewinnend.
“Die Leute sitzen gerade beim zweiten Frühstück. Vielleicht finden wir Frau Schmitt jetzt im Speisesaal, dann können Sie gleich loslegen!”
Frau Müller stand auf, öffnete die Bürotür und ging ohne weitere Einladung voraus. Sabine folgte ihr eifrig und erleichtert, hatte aber etwas Mühe dem forschen Schritt zu folgen. Zielstrebig betrat Frau Müller das Speisezimmer, marschierte in Richtung Fenster und ging mit raschem Tempo auf eine alte Dame zu, deren Blick hinaus in den Park gerichtet war.
Sie sah aus, wie viel alte Menschen, die man sieht und doch wieder sofort vergisst. Weißes Haar, pastellfarbene Kleidung und ein Gesicht mit sehr vielen Falten, die der Strom des Lebens unbarmherzig hinein gefurcht hatte.
“Guten Morgen Frau Schmitt”, riss Frau Müller sie in die Realität zurück.
Gedankenverloren gab diese den Gruß zurück und wollte sich wieder ihren Träumen hingeben, aber Frau Müller ging nicht auf diesen offensichtlichen Wunsch ein.
“Frau Schmitt, ich bringe Ihnen eine junge Studentin, die das Leben einiger Heimbewohner aufschreiben möchte. Ich hoffe, Sie sind bereit, sie zu unterstützen. Bisher hatte sie fast ausschließlich mit vielen jungen Menschen zu tun. Ich dachte, Sie sind genau die Richtige, sie behutsam in unsere Welt hier im Seniorenheim einzuführen. Sie wissen, wie manche ihrer Mitbewohner sind. Sie stoßen Besucher vor den Kopf, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Bitte helfen Sie Frau Bender.” Sie sah bittend in die freundlichen Augen der alten Dame und lächelte flehentlich.
“Sie haben doch auch eine Enkelin in diesem Alter. Wären Sie nicht froh, jemand würde ihr helfen, wenn es möglich wäre?”, der sonst etwas militärische Ton der Leiterin war sanft, liebevolle und bittend. Auffordernd hob sie den Kopf.
“Ich lasse Sie alleine, sie kann Ihnen alles Weitere erklären.”, trotz der zuvor geschlossenen Frage wartete sie die Reaktion ihres Schützlings ab.
Frau Schmitt nickte sanft: “Ich kann mir ja mal anhören, womit ich der jungen Frau helfen kann.”
Sichtbar erleichtert über die prompte Zusage, strahlte Frau Müller, nahm die Hand zum Dank und schüttelte sie leicht.
“Danke, Sie helfen uns sehr damit.”
Mit diesen Worten eilte Frau Müller zu ihren täglich Pflichten zurück.
Sabine schaute in die fast leeren Augen dieser alten Frau. Verlegen lächelte sie, denn Sabine wusste nicht so recht, wie sie das Gespräch beginnen sollte.
“Sie können einfach drauf los erzählen”, war der plumpe Beginn des Gesprächs. Die Augen der alten Dame leuchteten plötzlich, als wäre ein Licht entzündet.
“Sind Sie sicher, dass Sie mein Leben hören wollen? Vielleicht ist es so unwahrscheinlich, dass Sie einen Schreck bekommen?”, sagte Frau Schmitt mit einer Wärme, die Sabine alle Ängste für diesen Augenblick vergessen ließ.
“Fangen Sie einfach an. Es ist nicht meine Aufgabe, Ihre Erzählung zu bewerten, ich will sie nur aufzeichnen. Ich werde ganz still sein, Sie möglichst nicht unterbrechen, höchstens einmal eine Frage stellen, die Sie auch nur beantworten sollten, wenn Sie es ausdrücklich wollen. Auf keinen Fall will ich Sie zu etwas drängen. Erzählen Sie nur, was ganz von Ihnen alleine kommt.”
Ohne es zu wollen, schaute sie mit einem bittenden Hundeblick, dem wohl schlecht jemand widerstehen konnte. Ängstlich, dass ihre erste Kandidatin noch abspringt, versuchte Sabine zu beschleunigen:
“Wir könnten sofort damit beginnen. Hier in der Tasche ist alles drin”, sie hob zur Bestätigung eine schwarze Ledertasche an.
“Gut, warum eigentlich nicht.” Ein Seufzer, der von ganz tief unten aus der Seele kam, stimmte dem Vorhaben offensichtlich zu.
“Ich habe lange genug gesucht und nichts mehr gefunden. Mein Leben ist bald zu Ende und mir ist nichts geblieben als die Erinnerung. Wenn ich es Ihnen erzähle, kann ich mich vielleicht nochmals von allem verabschieden und mit Frieden diese Welt verlassen. Nur Sie werden es nicht glauben. Hören Sie mir zu und lassen Sie mich zu Ende erzählen, ganz gleich wie verwirrt Ihnen meine Geschichte vorkommt?”, mit dem letzten Satz war die bedingungslose Forderung der sonst so sanften Frau zu spüren.
“Selbstverständlich”, antwortete Sabine ohne zu ahnen auf was sie sich einließ. Sie war so erleichtert, sie hätte in diesem Augenblick alles versprochen.
Frau Schmitt stand auf mit den Worten: “Gehen wir zu mir auf die Terrasse. Ich mache uns einen Tee. Um diese Zeit ist es sehr schön in der Sonne zu sitzen und sich von den warmen Strahlen umschmeicheln zu lassen.”
Überraschend leichtfüßig ging die alte Dame voran: “Wollen Sie mir folgen?”
Sabine nickte, packte ihre Aktentasche und bemühte sich wie noch nie zuvor in ihrem Leben sich genau dem Schritt der Seniorin anzupassen, um auch wirklich nicht den “Start” zu gefährden.
Wortlos folgte die Studentin, schon etwas aufgeregt, wie das erste Interview laufen würde.
Die Tür zum privaten Wohnraum der Heimbewohnerin war zu ihrer Überraschung nicht verschlossen. Er war einfach und zweckmäßig eingerichtet. Wenige ausgefallene Gegenstände ließen auf ein Interesse an Geschichte schließen.
“Gehen Sie einfach durch, ich komme sofort mit dem Tee”, forderte die alte Dame sehr freundlich.
Sabine betrat den kleinen Freisitz durch die offene Tür, setzte sich auf einen der beiden Korbstühle und begann die Hardware für die Aufzeichnung auszupacken. Kurz darauf kam die Bewohnerin mit einem chinesischen Teeservice, schenkte wortlos ein, setzte sich bequem hin und fragte:
“Sind Sie fertig?”
“Ja, es kann losgehen”, war die erleichterte Antwort der jungen Frau.
“Erzählen Sie mir kurz etwas von sich, damit ich mir ein Bild machen kann, wem ich mein Herz ausschütte.”
Sabine tat, wie ihr geheißen, sie erzählte aus ihrer Familie, beschrieb ihren schulischen Werdegang und erzählte auch von ihrem Freund, in den sie sehr verliebt war.
Kurz beschrieb sie auch ihre Aufgabe, aber sehr vorsichtig, um nichts Falsches zu sagen, was ihr Anliegen gefährden könnte.
“Wenn Sie noch Fragen haben, beantworte ich sie gerne”, versicherte die junge Frau.
Frau Schmitt lächelte und schüttelte den Kopf.
Die alte Dame nahm einen Schluck Tee, einen tiefen Atemzug und begann verträumt zu erzählen.
Meine Geschichte beginnt in einem Tal, unweit eines großen Flusses. Hier lebten mehr als 50 Familien. Diese große Anzahl war sehr ungewöhnlich, aber im Fluss gab es viele Fische, der Boden war fruchtbar und in den umliegenden Wäldern jagten unsere Männer erfolgreich nach Wild. Die Bewohner halfen einander und so konnte jeder in Wohlstand leben. Hunger kannten wir nicht. Von kriegerischen Auseinandersetzungen oder Raubzügen wussten wir nur von Gegenden die weit entfernt waren. Keiner aus unserer Siedlung war selbst je dort gewesen oder hatte so etwas erleben müssen. Jeder hatte es von jemand gehört, der es ebenfalls von jemandem gehört hatte.
Niemand fürchtete, dass solche Unruhen bis in unser Tal vordringen könnten.
Krankheiten gab es nur selten. Im Wald und auf den Flussauen wuchsen viele Pflanzen. Das Wissen um ihre Heilkraft wurde großzügig weitergegeben. Heiler und Heilerinnen auch aus anderen Gegenden tauschten ihre Kenntnisse und Erfahrungen aus. Wenige Tagesreisen entfernt gab es einen großen Salzstock. In regelmäßigen Abständen zogen einige Männer dort hin, um die Vorräte aufzufüllen. Mit Salz machten wir Fisch und Fleisch haltbar. Manchmal jede Familie für sich, aber oft auch mehrere in Gruppen. Ebenso hielten wir es mit anderen großen Projekten, dem Bau von Hütten und Häusern, bei der Herstellung von Werkzeug oder Haushaltsgeräten. Gegenseitige Hilfe war selbstverständlich. Das Wohl der ganzen Gemeinschaft lag jedem am Herzen und alle waren bereit dazu beizutragen und es zu erhalten.
Jede Familie hatte eine Parzelle zur Verfügung. Hier stand das Wohnhaus, mehrere Wirtschaftsgebäude, ein Garten und Nutzfläche für Tiere. Je nach Bedarf eingegrenzt durch Zäune. Als meine Eltern noch jung waren, wurden auch die Äcker um das Haus angelegt. Mit der Zeit gab es immer mehr Siedler. Die Ortsansässigen stellten ihre Felder zur Bebauung zur Verfügung. Außerhalb wurde neues Land kultiviert. Diesen Mehraufwand nahmen die Menschen in Kauf, weil sie jede neue Familie als Bereicherung betrachteten. Zumal es sich oft um Kinder oder enge Verwandtschaft handelte. Bevor ein Feld bestellt oder ein Haus gebaut wurde, fragte der Interessent beim Rat an. Gegenseitige Rücksicht wurde erwartet und führte auch nie zu ernsten Konflikten. Noch gab es genug Platz, dass die 50 Gehöfte sich bestens versorgen konnten.
Dass unser kleines Paradies so reibungslos funktionierte, lag auch am kundigen Einfühlungsvermögen unseres Rates. Dieser bestand nicht nur aus Ältesten und wurde auch nicht gewählt. Jeder konnte sich einbringen, Vorschläge machen oder Wünsche äußern, die in den Bereich des Dorfes eingriffen. Die meisten Mitglieder nahmen nur zeitweise teil. Andere waren immer beteiligt. Dieser “Stamm” bestand aus 5 Männern. Nachdem meine Großmutter gestorben war, hat keine andere Frau ihre Stelle eingenommen. Seit ich denken konnte, gehörte auch mein Vater zu diesen Männern, wie zuvor sein Vater. Er war dafür bekannt Harmonie zwischen den Menschen zu schaffen. Seine große Stärke bestand darin, Lösungen zu finden, aus denen alle zufrieden heraus gehen konnten.
Unser Gehöft war typisch und unterschied sich von den anderen nur, weil es wesentlich größer war. Wie jede Familie hatten wir unser Anwesen mit einem Holzzaun abgeteilt, um die frei laufenden oder wilden Tiere abzuhalten. Vor dem Anbau war das große Wohnhaus wie die meisten nur ca. 8 Meter lang, später wurde es auf 12 x 5 m erweitert. Leichte Wände aus Ästen und Lehm unterteilte es in verschiede Räume. Im hinteren Bereich waren die Schlafplätze. Bei dem Anbau ließ Vater für mich und Egni, meine jüngere Schwester und das Nesthäkchen, je einen eigenen Raum abteilen. Zuvor hatten wir Schwestern ein gemeinsames Zimmer. Vom Gemeinschaftsraum aus, führte die Tür in das Haus von Maad. Dieser Raum stand allen jederzeit offen und war der Treffpunkt für die Familien und Besucher. Gekocht wurde meist vor dem Haus. Vater hatte uns den Herd mit einem Untersand überdacht gebaut, damit wir auch bei schlechtem Wetter draußen kochen konnten, ohne nass zu werden. Die anderen Häuser dienten als Lager. Zum Teil mit Vorräten für unsere Familien, aber auch zum Handeln. Wie alle Familien hatten wir mehrere Erdkeller, in denen die Vorräte lagerten. Es waren Gruben, deren Einstieg circa 1 Meter im Durchmesser war und sich nach unten in die Tiefe und die Breite wie eine dickbauchige Flasche ausdehnte. Über jedem Keller stand ein Häuschen. Die Sparren waren knapp über dem Boden aufgelegt und die Firsthöhe nur mannshoch, so dass man bequem hinein steigen konnte, um Vorräte kühl zu lagern und zu entnehmen. Einer der Keller, war aufwendiger gebaut. Er hatte eine hölzerne Klappe auf dem Boden, durch die wir in einen unterirdischen Raum herabsteigen konnten. Im Sommer lagerten wir hier die kühlen Getränkte, wie Bier und Wein, und im Winter die Waren, die keinen allzu strengen Frost vertrugen. Auf diesen Raum war Vater sehr stolz, weil nur sehr wenige Familien über derartigen Luxus verfügten. Wie üblich, stellte er ihn auch der Allgemeinheit zur Verfügung. Ebenso hatten wir mehrere Trockenlagerhäuser auf Stelzen. Sie konnten nur über Treppen oder Leitern erreicht werden. Mindestens 1 Meter über dem Boden, wurden die vier Wände ebenfalls mannshoch mit biegsamen Ästen geflochten, sodass der Wind gut durchblasen konnte. Darüber lag ein festes Dach aus Holzschindeln. Verschlossen wurde es durch eine passgenaue Tür. Der Holzfußboden war ebenfalls so dicht gearbeitet, dass keine ungebetenen nagenden Gäste die Vorräte verunreinigen konnten.
Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das Donnerwetter, welches anbrach, als jemand die Tür nicht richtig verschlossen hatte. Ein Huhn war eingedrungen. Es hatte Mist hinterlassen und die aufgehängten Säcke angepickt. Mutter geriet sehr aufbrausend in Zorn. Sie schlachtete das Huhn sofort. Die ganze Familie war froh, dass nur das Huhn den Kopf abgehackt bekam. Jeder ging Mutter den restlichen Tag aus dem Weg.
Dann gab es noch drei weitere Werkhäuser, die ein Meter tief ins Erdreich eingelassen waren. Hier stand der Webstuhl meiner Mutter. Zusätzlich dienten sie als Werkstatt und als Lager für die verschiedensten Waren. Zusätzlich gab es einen Stall für das Vieh und Geflügel. Ein kleineres Feld, Obstbäume und einen sehr schönen Garten. Nicht nur das große Gehöft unterschied unsere Familie von den meisten. Mein Vater handelte auch als einziger mit den Reisenden, die regelmäßig auf dem großen Fluss bei uns vorbei kamen. Dadurch waren wir sehr wohlhabend. Heute würde man sagen, wir waren die reichste Familie der Siedlung. Die Bewohner unseres Dorfes vertrauten Vater zu Recht auch in seiner Händlertätigkeit. Nie würde er jemanden betrügen. Er erwartete aber auch von den Partnern einen fairen Preis. Alle kannten seinen Geschäftssinn und sein Wohlwollen für jedermann. Für seine Verhandlung schenkten ihm die anderen Dorfbewohner genügend Fische und auch viel Wild, so fiel es kaum auf, dass er weder ein guter Jäger noch Fischer war. Unsere kleine Landwirtschaft ernährte die ganze Sippe reichlich.
Meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich sammelten und trockneten Wildfrüchte, sodass wir keine Not kannten und abwechslungsreiche Speisen auf den Tisch kamen. Das Jahr hatte einen festen Ablauf. Jeder kannte seine Aufgabe, um die Nahrungsvorräte für das ganze Jahr zu sichern. Holz stand aus den umliegenden Wäldern in Hülle und Fülle zur Verfügung. Hatte eine Familie Probleme sich ausreichend auf den Winter vorzubereiten, sprang die Gemeinschaft ein. Ich war die mittlere von drei Töchtern. Als Maad meine älteste Schwester Thura um ihre Hand bat, fragte mein Vater, wie es üblich ist, wo sie denn leben wollten. Maad stotterte schüchtern:
“Ich habe 6 Brüder. Sie werden mir helfen, ein Haus zu bauen, aber es wird noch einige Zeit benötigen, bis alles soweit ist.”
Thura wollte aber nicht länger warten und umgarnte Maad, dass er bereit war, in das Haus ihrer Eltern zu ziehen. Vater machte es überglücklich. Er hatte nur drei Töchter. Jede von uns liebte er über alles, aber wir wussten, wie sehr ihm der Sohn fehlte, der die Verantwortung für die Familie mit ihm teilte. Die Freude, dass er jetzt diesen Sohn bekam, war übergroß. Gerne halfen die Bewohner im kommenden Sommer. An das Haus wurden einfach 4 Meter angebaut. Die Wand blieb erhalten, so dass das Paar seinen eigenen Eingang hatte. Vater wollte auch keine Verbindungstür, aber Thura sagte:
“Meinst du bei Regen will ich um das Haus laufen, um zu euch zu kommen?”
Maad lachte: “Sie hat Recht und wenn erst mal die Kinder da sind...”, er senkte den Blick auf den Boden und kratze sich verlegen am Kopf.
Maads sechs Brüder waren alle jung und kräftig. Mühelos wuchs das Haus noch vor dem Winter auf 12 Meter heran. Jetzt hatten auch die Enkelkinder genug Platz. Die ließen nach der Hochzeit nicht lange auf sich warten. Kurz hintereinander bekam Thura 2 Kinder. Soun und Mirka, von jeder Sorte eins. Groß war die Freude in unserer Familie. Die Mutter und beide Kinder überstanden die Geburt ohne Probleme, was nicht selbstverständlich war. Zu dieser Zeit lebte Großmutter noch. Sie, die Heilkundige unserer Siedlung, verfügte über umfangreiches Wissen. Thura befolgte brav all ihre Ratschläge. Vielleicht trug das auch zu dem guten Verlauf bei. Die Kleinen bildeten den Mittelpunkt unserer jetzt acht-köpfigen Familie und jeder von uns wetteiferte, die Kinder zu verwöhnen, wo immer sich eine Möglichkeit bot.
Die Erzählerin machte eine kleine Pause, um den Blick der jungen Studentin zu suchen. Diese spürte den prüfenden Blick und bemühte sich, dass ihr Gesichtsausdruck nicht ihre Gedanken widerspiegelt, so gut sie das eben beeinflussen konnte.
Sabine wunderte sich: “Es klingt, als sei sie vor dem Mittelalter aufgewachsen. Diese alten Leute und ihre Phantasie, scheinbar verwechselt sie ihre Kindheit mit einem Buch oder einem Film, mit dem sie sich in der Vergangenheit beschäftigte. Aber es ist nicht meine Aufgabe, sie zu Berichtigen oder zu kritisieren. Mal sehen, was ich damit anfangen kann.”
Sie sagte nichts, blickte interessiert und ernst drein. Innerlich schmunzelnd lehnte sie sich zurück, ließ das Mikro weiter laufen und hörte ihr weiterhin aufmerksam zu.
Es war ein schönes Leben. Wir hatten keine Sorgen. Die Zukunft schien so klar und jeder von uns glaubte, es würde immer so weitergehen. Alle wussten, was sie zu tun oder zu lassen hatten. Unser gemeinsames Ziel war genügend Vorräte jeglicher Art zu haben, um die Winter zu überstehen. Diese waren durch den nahe gelegenen Fluss recht mild. Die einzigen Ungewissheiten waren, wann kommt der Frühling oder der Winter und wann ist es Zeit für die Saat. Für kleine Überraschungen sorgten die Liebesgeschichten der Siedlung oder die ankommenden Babys. Hier trugen nicht nur die Eltern die Verantwortung für die Kinder, sondern das gesamte Dorf. Jede Geburt war ein Fest für alle unserer Gemeinschaft. Es kam auch immer öfter vor, dass ein Mädchen einem Mann in eine entferntes Gebiet folgte oder umgekehrt.
Durch Abwechslung erfreuten auch die Reisen zu den Salzvorkommen sowie die Ankunft der Händler, welche uns von fernen Ländern berichteten. Immer haben wir diese Ereignisse durch ein großes Fest gefeiert. Hier wurden Neuigkeiten ausgetauscht, neues Wissen weitergeben, aber auch getratscht und zarte Bande angeknüpft. Ich beginne meine Geschichte als ich 16 Jahre alt war und schon fast eine Frau.
Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich je etwas anderes als glücklich sein werde. Meine schöne Zukunft lag so klar vor meinen Augen. Änderungen, mit denen ich zu rechnen hatte, würde ich mit links meistern. Was soll mir in diesem liebevollen Familienverband schon geschehen, um diese Umstände zu ändern? Gedanken an Schicksalsschläge, wie den Tod oder Verlust von geliebten Menschen, waren so weit weg. Zu dieser Zeit dominierte die Lebensfreude und wie viele Jugendliche in diesem Gemütszustand hatte ich fast das Gefühl unsterblich zu sein. Dieses Hochgefühl kam auch durch meine wichtige Stellung in der Gemeinschaft. Meine Aufgabe bestand unter anderem darin Kräuter zu sammeln. Diese trocknete ich in den Lagerhäusern, damit ich auch auf sie zurückgreifen konnte, wenn sie bereits verblüht waren oder eine dicke Schneedecke die Ernte unmöglich machte. Das ganze Jahr hindurch verfügte ich über eine große Auswahl an getrockneten Drogen, Salben oder Tinkturen und vieles mehr. Schon in frühester Kindheit begleitete ich meine Großmutter in den Wald und auf Wiesen. Alles, was sie mich über Pflanzen lehrte, nahm ich begierig auf und manchmal wusste ich bereits, wie sie verarbeitet werden und für welche Leiden sie zu verwenden sind, bevor sie es mir sagte.
Die Händler, die uns besuchten, hatten auch Methoden Unpässlichkeiten zu behandeln. So konnte ich auf einen breiten Schatz an Kenntnissen zurückgreifen, wenn jemand meinen Rat suchte. Mir war unverständlich, dass meine Mutter sich so gar nicht für das Wissen unserer Großmutter interessierte, aber dafür konnte sie wunderschöne Webarbeiten herstellen, an denen ich wiederum wenig Interesse hatte. Trotz meiner Jugend nahmen unsere Dorfbewohner bereitwillig jede Hilfe von mir an. Seit vielen Jahren begleitete ich Großmutter zu den Besuchen bei den Familien. Bereits in früher Kindheit hatte ich ihr Handgriffe abgenommen oder Botengänge für sie erledigt. Mit meiner steigenden Erfahrung durfte ich eigene Behandlungsvorschläge unterbreitet und Arbeiten erledigen, die ihr mit zunehmendem Alter schwerer fielen. So führte ich ihr Wirken einfach fort, nachdem Großmutter uns im letzten kalten Winter verlassen hatte. Es gab Zeiten, da waren alle gesund und munter und die Salbenvorräte noch ausreichend. Dann kam ich auch gerne meiner zusätzlichen Aufgabe nach, meinem Vater zu helfen.
Ich konnte erfreulich gut rechnen und hatte seinen Geschäftssinn geerbt. Gemeinsam ging er mit mir den Lagerbestand durch und wir legten fest, was dringend aufgefüllt werden musste. Wir bereiteten Waren vor, die wir für bestimmte Kaufleuten da hatten, um sie bei dem nächsten Besuch sicher auch anzubieten. Die meisten kannte Vater schon seit Jahren. Das Sortiment wich nicht viel ab. Überwiegend verkaufte er die Felle der Nutztiere, Salz, aber auch in Salz konserviertes Fleisch und Fisch. Ab und zu auch getrocknete Lebensmittel oder alkoholische Getränke. Am Interessantesten waren die Anbieter von, auf den ersten Blick, völlig unnützen Dingen. Diese Kaufleute kamen selten vorbei, hauptsächlich boten sie ihre Waren in Städten und großen Märkten an. Wenn sie bei unserem kleinen Außenposten Halt machten, war es eher Zufall. Neugierig wartete ich immer auf jeden Besuch der fremden Händler, begleitete Vater zum Begutachten der Waren und bediente die Fremden, wenn sie sich zu Verhandlungen in unserem Haus einfanden. Einige der oftmals rauen Burschen jagten mir hin und wieder Angst ein. Meine Begeisterung für die Geschichten und zum Teil neuen Waren war jedoch größer, sodass es mir leicht fiel, mich zu überwinden, nicht von Vaters Seite zu weichen. Andere wieder waren sehr elegant und hatten so höfliche Manieren, dass es mir übertrieben vorkam und ich mir das Lachen verkneifen musste.
Ich muss auch zugeben, diese Welt war mir wesentlich lieber, als meiner Mutter bei der Hausarbeit zu helfen. Kochen, Waschen, Weben und was sonst auf diesem Gebiet anfiel, überließ ich gerne meiner Mutter und den Schwestern. Ihnen ging es zum Glück umgekehrt. Sie waren froh, dass ich begierig war von fernen Ländern und Sitten zu erfahren, sodass sie ihr vertrautes Umfeld nicht verlassen mussten. Meine Tage waren ausgefüllt und dann – dann gab es auch noch Nalor.
Wie viele junge Mädchen war ich seit meiner Kindheit einem Mann versprochen. Bereits in der Zeit, in der wir als Kinder spielten, sprachen unsere Eltern darüber, dass ihre Kinder gut zusammen passen könnten. Wenn sie als Jugendliche sich aber für eine andere Person interessierten oder den Versprochenen nicht leiden konnten, war niemand an die Übereinkunft gebunden. Das war aber eher die Ausnahme. Meist heirateten die Paare in die befreundete Familie, den seit langem vertrauten Spielkameraden. Soweit ich Einblick hatte, kann ich sagen, diese Ehen waren überwiegend glücklich.
Mein Freund, unser junger Schmied, hieß Nalor. Noch im Wachstum übernahm er die schwere Arbeit seines Vaters. Seit frühster Jugend war er mit der Hitze an der Esse vertraut. Er hatte eine traurige Kindheit hinter sich. Sehr jung verlor er zuerst die Mutter, dann die Großmutter, im darauf folgenden Sommer den Vater, später auch noch den Bruder. Nalor war kaum 16 Jahre alt, als zuletzt der Vater an einem bösen Husten starb. Jeder Heilungsversuch blieb erfolglos. Von nun an lebten die Brüder trotz ihrer Jugend alleine. Wir konnten kaum glauben, dass wenig später im gleichen Sommer Nalors älterer Bruder im großen Fluss ertrank. Alle in der Siedlung haderten damals über so viel Grausamkeit der Götter. Das ganze Dorf nahm Anteil an diesem schweren Schicksal und unterstützte ihn, wo er nur Hilfe brauchte. Trotzdem war es nicht möglich die Liebe und Wärme aus der eigenen Familie zu ersetzen. Als Mitglied des Rates fühlten meine Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Monate lebte und mein Vater sich besonders verpflichtet. Nur zu gerne versuchten meine Eltern, ihn auch etwas zu verwöhnen. Er war der Sohn, den beide sich gewünscht hatten. Sein trotz allem sehr sonniges, etwas kindliches Gemüt machte ihn einfach liebenswert. Immer fröhlich, hilfsbereit, stark wie ein Bär liebte ihn die ganze Gemeinschaft. Ohne große Absprache sah meine Familie in ihm meinen zukünftigen Ehemann. Schon seine stattliche Erscheinung gefiel mir gut. Er überragte die meisten Männer an Größe. Durch die schwere Arbeit hatte er sehr breite Schultern und kräftige Oberarme. Seine Hüften waren im Verhältnis dazu schmal, was den Körper nur noch attraktiver machte. Bedingt durch die Arbeit trug er meist nur eine Hose und Stiefel. Lange schwarze Locken fielen über die fast das ganze Jahr gebräunten Schultern. Dunkle braune Samtaugen blickten mich liebevoll an.
Ja, genau das war der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen wollte.
Er liebte und verwöhnte mich und wir waren uns einig, dass wir zusammen gehören. Mit dem geschickten Schmied Nalor an meiner Seite, machten sich weder Vater noch ich Sorgen über mein Auskommen. Jeder war von seinen Feldgeräten, Pfeil- und Speerspitzen begeistert. Kochtöpfe und Pfannen wurden auch immer gebraucht und das Dorf schätze seine Fertigkeiten trotz der noch geringen Erfahrung. Vater brachte ihn auf die Idee, seine besonderen Fähigkeiten zur Herstellung sehr guter Nieten und Nägel für die Drachenschiffe der Händler einzusetzen. Diese waren immer gefragt und bestens bezahlt. Er tauschte sogar für mich eine wunderschöne Fibel mit einem großen Bernstein ein. Diese leuchtete, als sei die Sonne darin gefangen. Mit dem Heiraten wollte ich aber noch etwas warten. So lieb ich die Kinder meiner Schwester hatte, sah ich die viele Arbeit der Mutterschaft. Obwohl mir sicher auch die gleiche Fürsorge und Unterstützung für meine Kinder von der Familie zugekommen wäre, konnte ich es mir jetzt noch nicht vorstellen. Nalor liebte Kinder. Ich wusste, er würde ein sehr liebevoller Vater werden, dem es aber gewiss an Strenge fehlen wird. Lieber würde er mit seinen Kinder spielen und jeden Unsinn mitmachen, wenn nicht sogar anstiften.
Nein, dafür war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit.
Meine Großmutter hatte mich nicht nur in Heilkunde unterrichtete. Jeder Frau im Dorf waren auch die Kräuter vertraut, mit denen Kinderwunsch noch hinauszuzögern bzw. ganz verhütet werden konnte. Hätten wir aber jetzt schon geheiratet, würde ständig nachgefragt, wann die Familie nun komplett werden würde. Trotzdem hatte ich das Haus von Nalor bereits nach meinen Wünschen eingerichtet. Zum Essen gingen wir gerne zu meiner Mutter, wie schon erwähnt, kochen war nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Die Nächte verbrachte ich seit einiger Zeit bei ihm, obwohl ich im Haus meines Vaters noch ein eigenes Zimmer hatte. Das begründete ich damit, dass Nalor nicht gerne in dem einsamen Haus seiner Eltern alleine lebte. Ein weiterer, bestimmt ebenso wichtiger Grund war das Entdecken der körperlichen Liebe. Ich kann gar nicht mehr sagen, ob es von mir oder ihm ausging. Auf jeden Fall war es sehr einvernehmlich, wie immer. Unstimmigkeiten kannten wir eigentlich nicht. Nalor lass mir jeden Wunsch von den Augen ab und ich war ihm von ganzem Herzen zugetan. In unserer Beziehung dominierten Zärtlichkeit und Vertrautheit. Wenn ich in seinen starken Armen lag, hatte ich das Gefühl, dass er mich vor allem beschützen konnte. Wir sahen beide freudig unserer gemeinsamen Zukunft entgegen, welche wir konkret liebevoll geplant hatten. Nicht nur wir hielten unsere Liebe für unvergänglich. Für meine Familie und bei allen im Dorf gehörten wir einfach zusammen. Bereits jetzt waren die Familienbande so stark, dass jeder Fremde dachte, wir seien schon einige Zeit verheiratet. Nur durch unsere Jugend fielen wir als Paar auf. Einige sagten auch, dass wir eine Kinder-Ehe führten. Uns war das gleich, unsere Welt war in Ordnung. Genau wie die meiner Eltern. Ich brauchte die Räumlichkeiten meiner Familie für das Arbeiten mit den Kräutern. Sie brauchten mich immer wieder auf vielen Gebieten. Mit den Schwestern konnten sie nicht rechnen. Egni war noch etwas verträumt, Thura hatte mit ihren Kindern alle Hände voll zu tun. Wir unterstützen sie, wo wir nur konnten. Niemand wollte, dass ich das Elternhaus verließ, um zu heiraten. Selbst wenn ich nur wenige Häuser weiter gewohnt hätte, wäre es doch etwas anderes gewesen.
Die Ankunft der Händler war wie jedes Mal eine große Aufregung.
Meist reisten sie in Gruppen mit mehreren Schiffen. Spielende Kinder, welche sie schon auf dem Fluss gesehen hatten, kamen schreiend ins Dorf gelaufen. Jeder ließ alles liegen, was er gerade begonnen hatte und eilte zum Anlegeplatz. Viele Reisende kamen regelmäßig bei uns vorbei. Andere waren uns unbekannt. Diese machten eher überraschend bei uns halt. Auch in diesem Frühling standen wir neugierig am Ufer und reckten die Hälse. Es wurde durcheinander geredet, wer wohl diesmal kommt, was er mitbringt. Im Stimmengewirr wurden die letzten Errungenschaften gelobt oder kritisiert, Vergleiche angestellt, Wünsche geäußert. Wir Frauen wünschen uns schöne Stoffe und Schmuck, etwas für die Küche oder den Garten, die Männer eine Verbesserung der Waffen oder Werkzeuge.
Vater trat nach vorne. Diesmal waren es fünf Schiffe die gemeinsam den Fluss herunter kamen. Das machte Sinn, oft war es notwendig sich gegenseitig zu unterstützen. Zwei der Schiffe hatten schon früher bei uns angelegt und Vater kannte die Männer. Die anderen Boote waren zum ersten Mal bei uns. Die Begrüßung fiel sehr freundlich aus und schon bald herrschte ein wildes Durcheinander. Waren wurden abgeladen, am Ufer ausgebreitet und von den Dorfbewohnern begutachtet. Manche von uns gingen an Bord, um dort die Fracht in Augenschein zu nehmen. Ich war hier nicht unbedingt erforderlich. Es dauerte immer sehr lange, bis Entscheidungen getroffen und was gegen welche Dinge getauscht wurde. Erst wenn Einigkeit erziel wurde, benötigte Vater gelegentlich meine Hilfe. Also ging ich ins Dorf zurück und breitete weiter meine Kräuter aus, die ich gerade aus dem Wald mitgebracht hatte. Sobald ich kommen sollte, würde Vater nach mir schicken. Es dauerte auch diesmal mehrere Tage, bis das Eigentum gewechselt und alle Beteiligten zufrieden waren. Inzwischen trafen auch von weit und breit aus den umliegenden Dörfern Bewohner ein, um Waren zu tauschen. Wie jedes Mal kam dann die Zeit für das große Fest.
Es war das erste in diesem Jahr und Boten wurden in die Nachbardörfer gesandt, um alle einzuladen. Nach dem langen Winter freute sich jeder auf diese Abwechslung und die Teilnehmer brachten großzügig alles Notwendige mit. Bei jedem Besuch der Händler war die ganze Siedlung auf den Beinen, um auch die Gäste zufrieden zu stellen. Beide Seiten waren nach dem Handel sehr zufrieden. Wie immer herrschte bereits bei den Vorbereitungen Hochstimmung. Es gab viel Essen und Trinken. Holzscheide wurde zu einem Lagerfeuer aufgetürmt und alle saßen darum herum. Erwachsene und Kinder tanzten ausgelassen. Met und selbstgebrautes Bier taten ihres dazu. Das Lachen, Singen und Johlen hörte man schon von weitem. Nalor hatte wieder alle Schmiedearbeiten an den Mann gebracht, für mich ein schönes Schmuckstück erstanden und sogar noch Münzen obendrauf erhalten. Die angebotenen Tauschwaren benötigte er nicht. Seine Werkstücke waren von den Händlern restlos aufgekauft worden, welche sich mit dem Preis sogar gegenseitig überboten. Vater hatte für alle Interessenten eine gute Übereinkunft ausgehandelt. Ihm war wichtig, dass bei beiden Parteien Zufriedenheit herrschte.
Er sagte immer: “Es ist nur ein gutes Geschäft, wenn alle Beteiligten restlos zufrieden sind.”
Ich rechnete fleißig mit und half den Eltern die getauschten Waren einzulagern, welche Vater für unser, aber auch die umliegenden Dörfer auf Vorrat hielt. Es war schon spät, als Nalor und ich uns an den Rand des Feuers setzten. Wir unterhielten uns angeregt mit den anderen jungen Leuten.
Mein Blick traf zufällig auf das Feuer, als plötzlich Glut und Funken aufstiegen. Holz wurde aufgelegt. Durch den Feuerschein sah ich einen der jungen Händler. Mit ihm hatten mehrere gerade geholfen ein schweres Stück in die Gut zu werfen. Er trat nochmals lachend gegen den Stamm, sodass erneut ein Funkenregen aufstieg.
Für einen Augenblick begegneten sich unsere Blicke.
Dies war einer der magischen Momente in meinem Leben. Ich glaubte, die Welt sei kurz angehalten. Alles stand still, alles war verschwunden, die Menschen, die Geräusche, nur das Feuer und die Augen des Mannes waren noch da, mit denen er bis tief in meine Seele blicken konnte.
“Kommst du mit?”, die Stimme meiner Schwester riss mich aus dieser Zwischenwelt.
“Ich geh heim, ich bin müde”.
“Nein”, antwortet ich kurz, wie ertappt, doch gleich eilte ich mit meinen Gedanken wieder ins hier und jetzt.
“Ich geh kurz mit”, sagte Nalor. “ich will noch was bei eurem Vater holen.”
“Ist gut”, antwortete ich erleichtert darüber Zeit zu haben, um meine Verwirrung wieder in den Griff zu bekommen.
Jetzt hatte ich ausreichend Gelegenheit mir den Mann zwar mit etwas Scheu, aber noch mehr Neugierde anzusehen. Er schaute zu mir herüber, während er sich mit den anderen Händlern unterhielt. Ich hatte ihn schon öfters gesehen. Er war nicht so groß wie Nalor und hatte auch nicht die kräftigen Schultern und Arme wie mein junger Schmied. Er trug glatte Lederkleidung. Eine enge Hose mit einer sehr großen, runden, silbernen Gürtelschnalle. Die ärmellose Weste war offen, dass die unbehaarte Brust zu sehen war. Seine roten Haare wirkten lang, glatt und sehr gepflegt. Trotz des roten Feuerscheins fiel mir die fast weiße Haut auf. Kein schöner Mann. Vielleicht trug er deshalb selbst für einen Händler zu viel Schmuck. Nalor war viel hübscher.
Trotzdem zog er mich unwiderstehlich an.
Ich versuchte, wie zufällig auf die andere Seite des Feuers zu sehen. Er stand neben einem anderen Händler, der viel größer und kräftiger war als er. Immer wieder trat er wie zufällig gegen das Holz und dadurch flammte das Feuer neu auf, Funken stiegen gegen den Himmel und es brannte wieder hell und kräftig. Der Feuerschein verstärkte noch sein geheimnisvolles Aussehen. Wieder und wieder trafen sich unsere Blicke. Aus Angst einer der anderen jungen Leute aus unserem Dorf könnte es bemerken, stand ich mit den Worten auf:
“Ich gehe, bis morgen.”
Schnell ging ich aus dem Licht des Feuers in die schützende Dunkelheit. Ein tiefer Atemzug sollte meine Sinne wieder klären. “Was ist passiert?”, fragte ich mich selbst. Doch ehe ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, trat dieser Mann hinter einem Baum hervor, nahm mich bei der Hand und zog mich in den Schatten des Baumstammes.
“Das Feuer ist wunderschön, die Funken steigen gegen den Himmel, als wollten sie dort oben zu Sternen werden. Es hat dir gefallen, ich habe es im Glanz deiner Augen gesehen”, sagte er sehr leise, dass ich befürchtete, er konnte den lauten Schlag meines aufgeregten Herzens hören.
Innerlich jauchzte es in mir, obwohl ich nicht genau wusste, warum. Ich wusste, dass dies nicht richtig war. Er zog mich an der Hand fort mit den Worten:
“Komm ich zeige dir noch etwas Schönes”.
Wir gingen weiter ins Dunkle. “Keiner kann uns sehen”, dachte ich erleichtert. Es war eine schöne Sommernacht, der Mond war nur eine kleine Sichel, dadurch war niemand zu erkennen. Ich ging gerne mit ihm mit. Obwohl es warm war, hatte ich kalte feuchte Hände. Es dauerte einige Zeit, bis ich meine Fassung wieder fand und fragte:
“Was willst du mir den zeigen?”
“Glitzernden Schmuck”, war die verschmitzte Antwort.
“Hier bei uns gibt es wenig Gelegenheit so viel davon zu tragen. Er stört bei der täglichen Arbeit im Garten oder mit den Tieren”. Ich freute mich, dass meine Stimme normal klang, obwohl ich immer noch sehr aufgeregt war.
“Ich weiß”, lachte er, “aber es wird dir gefallen, ihn anzusehen.”
Vielleicht will er mir doch nur was verkaufen, dachte ich, sagte aber zu mir: “Das glaubst du ja selbst nicht.”
Er führte mich an der Hand durch die dunkle Nacht zum Lager der Händler auf ein kleines Feuer zu. Eine Fackel lag dort. Sobald sie am Lagerfeuer angezündet war leuchtete sie hell auf und wir gingen in eines der Boote. Er steckte den Lichtspan in einen mit Sand gefüllt Topf. Viel war nicht zu erkennen. Aus einer Ecke packe er tatsächlich wunderschöne Schmuckteile aus. Wir setzten uns ans Licht, damit ich jedes Stück einzeln in die Hand nehmen und bewundern konnte. Er erklärte mir die aufwendige Arbeit und erzählte mir, woher der Bernstein kam, dass er so alt war wie die Berge und wie er bearbeitet wurde, bis dieser so leuchtet, als sei die Sonne darin eingefangen. Im Schein der Fackel glitzerte und funkelte jedes Stück noch mehr als bei Tageslicht. Wir saßen nebeneinander, unsere Köpfe waren eng zusammen, um besser sehen zu können. Nun begann er unauffällig unsere beiden Haarsträhnen mit einem Finger zusammenzudrehen und sagte:
“Bei dem spärlichen Licht haben wir fast die gleichen Haare.”
Unsere Haare wurden immer fester zusammengezwirbelt, bis sich unsere Gesichter berührten und er mich zart küsste. Ein Prickeln ging durch meinen ganzen Körper. Die Liebe war mir nicht unbekannt, aber dieses Verlangen hatte ich noch nie gefühlt. Er zog mich auf den Schlafplatz und half mir beim Ausziehen. Während er mich über und über mit Küssen bedeckte, zog er sich dabei aus. Ich staunte, dass er seine Kleidung trotz unser beider Ungeduld noch ordentlich zusammenlegte. Dann gab ich mich ganz seinen Liebkosungen hin. Wir liebten uns wie im Rausch. Noch nie hatte ich auch nur eine Vorstufe dieser Erregung erlebt. Unsere beiden Körper und Seelen verschmolzen zu einer Einheit. Gleichzeitig erreichten wir beide den Höhepunkt und sanken erschöpft nieder. Bevor ich in die Realität zurückfinden konnte, begannen wir erneut mit dem Liebesspiel. So ging es uns immer wieder bis es schon lange dämmerte und wir beide tief befriedigt und völlig erschöpft einschliefen. Unsanft wurden wir geweckt. Einer der Händler stürmte laut redend in die Kajüte und bremste erst, die Worte und den Schritt, als er mich sah.
Er lächelte und sagte mit breitem Grinsen: “Ornie, ich - komm mal kurz raus”.
Plötzlich war der Rausch vorbei. Blitzschnell waren all die Folgen meines Handelns klar.
“Sag ihm bitte, ihm und anderen, sie sollen schweigen. Ich bin versprochen”, stammelte ich.
“Ich komme gleich wieder, bitte geh noch nicht fort”, erwiderte er nickend. Ohne meine Antwort abzuwarten zog er seine Hose über und war schon aus der Tür raus.
Was war nur geschehen? Wie konnte mir, die ich immer so vernünftig und sachlich handelte, so etwas passieren? Ich schämte mich vor mir selbst, doch gleichzeitig dachte ich an die Flut der Gefühle, die mich die ganze Nacht eingehüllte hatten. Es war herrlich so etwas zu erleben. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gab. Schnell begann ich mich anzuziehen. Ich musste dringend nach Hause. Ornie betrat den Raum wieder, reichte mir einen wunderschön gearbeiteten Kamm lächelnd mit den Worten:
“Du musst dich kämmen!”
“Ich werde Nalor, den Schmied heiraten. Es war eine wunderschöne Nacht, ich muss es ihm sagen. Er wird mir verzeihen”, sagte ich zu ihm, aber bestimmt mehr zu mir, während ich mich hastig fertig anzog und grob zu Recht machte.
Er nickte scheinbar zustimmend. “Lass mich dir etwas zum Abschied schenken”, flüsterte er, zog mich wieder an sich und küsste zärtlich meinen Hals während ich meine Haare wieder in Ordnung brachte.
Eigentlich wollte ich das nicht, aber sobald seine Arme mich umfingen ging wieder dieses Kribbeln durch den Körper und jedes kleine Teil von mir wollte nur in seinen Armen liegen. Es kostete sehr viel Kraft zu stottern:
“Nein, bitte nicht. Ich muss wirklich gehen.” Ich riss mich los und lief aus dem Lager zurück zum Haus meiner Eltern.
“Warte!”, rief er mir hinterher, aber ich musste nur noch weg. Weg aus seinen Armen, weg von meinen Gefühlen und meinen Wünschen, sich ihm erneut hinzugeben.
In schnellem Schritt rannte ich in die Richtung unseres Hauses. Ich versuchte zu denken, aber es war mir nicht möglich. Mein Kopf war komplett leer. Schon kam mir meine Mutter aufgeregt entgegen mit den vorwurfsvollen Worten:
“Wo warst du die ganze Nacht? Nalor hat dich gesucht. Ich sagte, du bis heute schon bald mit Vater fort gegangen. Er wartet im Haus!”
“Ich wollte ihn nicht anlügen. Diese Nacht habe ich mit einem Händler verbracht”, antwortete ich etwas trotzig und entschlossen.
Sie schüttelte den Kopf: “Mach ihn nicht unglücklich. Er liebt dich doch so sehr.”
Nalor war froh mich zu sehen und obwohl er vielleicht bereits zu diesem Zeitpunkt ahnte, was geschehen war, nahm er mich in den Arm mit den Worten:
”Komm mit, ich habe ein Geschenk für dich!”
Mit dieser Lüge wollte ich nicht leben und fasste mir ein Herz. Ich ging mit ihm in die Richtung seines Hauses. Mit Tränen in den Augen sah ich ihn an und raunte:
“Ich habe heute Nacht mit einem der Händler verbracht. Ich kann dir nicht sagen, wie mir das passieren konnte. Es tut mir unsagbar leid. Kannst du mir verzeihen?”
Auch der Bär von einem Mann hatte Tränen in den Augen. Trotzdem nahm er mich in den Arm und wir weinten beide leise vor uns hin. Wir gingen in sein Haus, legten uns auf sein Bett und hielten uns eng umschlungen und schweigend in den Armen. Natürlich verzieh er mir. Wer von uns beiden unglücklicher war, kann ich gar nicht sagen. Er war froh, dass ich wieder bei ihm lag. Nur er spürte trotzdem, dass der Schmerz in meinem Herz wuchs. Ich ging die nächsten Tage in den Wald entgegen der Richtung vom Fluss. Auf keinem Fall wollte ich nochmals Ornie begegnen. Erleichtert war ich, als endlich das Ufer wieder leer und die Schiffe nicht mehr zu sehen waren.
“Alles nur ein böser Spuk”, befahl ich mir immer wieder. Trotzdem war es mir nicht möglich, trotz des Alltags Ornie zu vergessen.
Vergeblich versuchte ich mich in den Rausch hereinzusteigen, den ich bei Ornie erlebt hatte, wenn Nalor und ich uns liebten. Alles war anders geworden. Ich fühlte mich krank. Die Sehnsucht war so stark, dass der Schmerz mein ständiger Begleiter wurde. Die einzige Möglichkeit schien mir Nalor zu verlassen. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was mir die Zukunft bringen sollte, wollte ich es tun. Dann war wieder diese Vertrautheit, die mich mit ihm seit unserer Kindheit verband. Nalor wollte mich auf keinen Fall gehen lassen. Ständig kreisten wirre Gedanken in meinem Kopf. Eine glückliche Zukunft wartete mit Nalor auf mich, aber ich liebte ihn nicht mehr. Wenn ich nur aus Mitleid bei ihm blieb, würden wir beide ein unglückliches Leben führen. Eines Tages würde ich ihn dafür hassen und er konnte doch überhaupt nichts dafür. Ständig war ich von diesen Gedanken hin und her gerissen. Die Zeit verging, aber noch nie dauerte ein Winter so lange. Um mich abzulenken, half ich sogar meiner Mutter beim Weben und anderen Arbeiten vor denen ich mich sonst stets gedrückt hatte. Endlich war auch der Frühling wieder da. Im Frühjahr gab es immer viel zu tun. Die Natur tröstete mich ein wenig und ich hatte wieder Hoffnung doch noch ein zufriedenes Leben mit Nalor zu führen. Ich arbeitete gerade in meinen Beeten im Garten, als ich die wie immer sehr aufregende Neuigkeit für unsere Siedlung hörte:
“Die Händler kommen!”
Die ganze Siedlung war auf dem Weg zum großen Fluss, um die Ankommenden zu begrüßen. Noch eifriger arbeitete ich weiter, schlug die Hacke tief in den Boden. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Jetzt wusste ich, wie sich ein Kranker fühlt, der glaubte, es ist überstanden und dann doch wieder mit Fieber an sein Bett gefesselt war. Da half kein eiserner Wille. Machtlos stand ich wieder dem Berg von überwältigenden Gefühlen gegenüber. Am liebsten hätte ich laut geschrien, aber stattdessen harkte ich den kleinen Pflanzen die Erde, dass sie besser wachsen konnten. Ich richtete mich auf, um meinen schmerzenden Rücken etwas zu entlasten. Von weitem sah ich jemanden auf mich zukommen.
“Seltsam”, dachte ich, “jemand lässt sich die Ankunft der Händler entgehen.”
Wieder heruntergebeugt wandte ich mich meinen Pflänzchen zu. Erst jetzt verstand ich, wen ich von weitem gesehen hatte. Rote Haare blitzen in der Sonne. Er trug eine weite graue Jacke aus Kaninchenfell. So ein fein gearbeitetes Kleidungsstück würden bei uns nur die Frauen tragen.
“Er musste es sein!”, schoss es mir durch den Kopf.
Aufgeregt schaute ich erneut auf. Wirklich - er kam, er kam auf mich zu. Jetzt ging es wie im Traum. Alles ließ ich aus den Händen fallen und rannte ihm entgegen. Er fing gleichzeitig an zu laufen. Wir fielen uns überglücklich in die Arme.
“Du hast mir so gefehlt”, sagte er atemlos.
“Ich konnte dich nicht vergessen”, weinte ich.
Wir rannten gemeinsam zum Haus meiner Eltern. Wir rissen uns einander die Kleider vom Leib und zu meiner großen Belustigung legte Ornie wieder seine Sachen, trotz der Gier, die keiner von uns beiden zügeln wollte oder konnte, ordentlich zusammen. Wir liebten uns und nun verstand ich wieder, warum ich ohne diese Liebe nicht sein wollte.
“Wir müssen uns wieder anziehen, jeden Moment können die andern kommen”, zwang ich mich zu sagen, nachdem wir tief zufrieden für den Moment voneinander ließen.
Jetzt gab es so viel zu erzählen. Eigentlich war mir alles egal. Ich wollte nur bei ihm sein, ihn lieben, ihn neben mir spüren. Ich suchte meine Sachen zusammen und er zog seine sorgfältig aufgetürmten Kleidungsstücke an. Ernst und bestimmt erklärte er:
“Ich wünsche mir, dass du mit mir kommst. Nur das Leben von uns Händlern ist sehr unruhig. Wir sind das ganze Jahr unterwegs und meist auf unseren Schiffen zu Hause. Wenige Frauen begleiten ihre Männer. Es ist ihnen zu beschwerlich und ich kann nicht hier bei deinem Vater bleiben, wie der Mann deiner Schwester. Ich bin weder ein guter Jäger noch ein Bauer. Beim Handeln verstehe ich nur etwas von schönen Dingen, für die es hier wenig Verwendung gibt. Trotzdem kann ich nicht verlangen, dass du dein geordnetes Leben aufgibst, obwohl ich es mir so sehr wünsche!”.
Ohne darüber nachzudenken hörte ich meine Stimme: “Wenn ich nicht mit dir leben kann, weiß ich nicht mit wem. Gerne komme ich mit dir. Ich habe versucht ohne dich zu sein, es kann kaum etwas Schlimmeres geben. Ohne dich fühle ich mich krank. Permanent bohrt ein tiefer Schmerz durch meine Seele!”
Wir setzten uns vor dem Haus in die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, um dort auf die Ankunft der Familie zu warten. Ornie erzählte mir von seinen Reisen. Er war schon mehrere Jahre unterwegs, um in fernen Ländern nach Schätzen zu suchen, aber auch dorthin die Schätze des Nordens wie Pelze, feine warme Federn oder Bernstein zu bringen. Seine Heimat war ein Ort namens Haithabu. Aus den fernen Ländern brachte er einen Stoff mit, der so zart war wie Blütenblätter, ebenso ganz fein gegerbtes Leder, welches er für seine eigene Kleidung bevorzugte. Nebenbei verstand ich auch, warum er immer seine Kleidung ordentlich neben sich legt. Es kann vorkommen, dass durch einen Überfall von Menschen oder auch wilden Tieren alles selbst im Dunkeln griffbereit sein muss. Ich konnte nur zuhören und ihn anhimmeln, etwas anderes fand in meinem Kopf keinen Platz. Als wir Vater mit einem Teil der anderen Händler kommen sahen, lockerte er die Umarmung mit den Worten:
“Ich werde alleine mit deinem Vater sprechen. Es wird schwer für ihn, wenn ich dich mitnehme.”
Ornie begrüßte die Gruppe von Männern und sie gingen in eines der Lagerhäuser, um die vorhandenen Waren aufzunehmen. An Vaters Gesicht konnte ich lesen, dass er wusste was auf ihn zukam. Jetzt war ich alleine. Bisher hatte ich noch keine Zeit gehabt darüber nachzudenken, was nun geschehen würde. Ich würde fortgehen, fort von der vertrauten Umgebung in fremde Länder, fort von den Menschen, die mich liebten, fort von meiner vertrauten Arbeit, was tat man den ganzen Tag auf einem Boot? Fort von Nalor und dem Leben, welches wir gemeinsam führen wollten. Später kamen die anderen Familienmitglieder. Sie hatten Ornie gesehen und keiner traute sich zu fragen, bis Nalor das Schweigen brach.
“Er ist gekommen, um dich mir wegzunehmen?”
Ich nahm ihn bei der Hand, um alleine mit ihm zu reden. “Wir können doch Freunde bleiben, ich könnte doch eine Schwester für dich sein wie meine beiden Schwestern es für dich sind.”
“Ich brauch keine Schwester. Ich will dich als Frau. Ich werde um dich kämpfen”, schrie er und begann genau wie ich bitterlich zu weinen.
Es rührte mich sehr diesen staken Mann so verzweifelt zu sehen. Wenn ich aber hier bleiben würde, würde ich anfangen ihn zu hassen und ihm die Schuld für meinen Schmerz zu geben. Alle Argumente wollte er nicht hören. Er war zu verzweifelt. Wie sollte ich ihn nicht verstehen. Dieser Schmerz war mir vertraut – ohne den geliebten Menschen ist das Leben unendlich schwer. Nach einiger Zeit kam Ornie zu mir. Nalor sah ihn an und ich war darauf gefasst, dass er Ornie seinen ganzen Hass entgegen schleuderte, aber er sah ihn nur mit leeren Augen an. Ornie führte mich an der Hand weg und sagte sachlich:
“Ich habe noch zu tun und werde dich später holen.”
An diesem Tag hatte ich nichts mehr richtig erledigen können. Ich war viel zu aufgeregt. Die Zeit wollte nicht vergehen. Mir schien es wie nach einer Ewigkeit, als Ornie mich endlich abholte und wir zum Lager der Händler am großen Fluss gingen. Ornie stellte mich Zei vor, mit dem er das offensichtlich schon im Vorfeld besprochen hatte. Wir gingen auf das Schiff. Ornie zeigte mir kurz alles und wies mir einen Platz zu, an dem ich meine persönlichen Sachen unterbringen konnte. Die nächsten Nächte verbrachte ich bereits bei Ornie. Tagsüber sortierte ich zu Hause meine Kräuter, Töpfe und Tiegel und versuchte eine kurze Einweisung meiner kleinen Schwester, die nun hier meine Arbeit übernehmen sollte. Um Nalor machte ich einen großen Bogen, teils aus Scham, aber auch aus Schmerz. Vor dem großen Fest, welches die Abreise einleitete, fragte Ornie, ob ich gleich mit ihm gehen oder mir bis zu seiner Rückkehr in 3 bis 6 Monaten doch noch überlegen wollte, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen. Gegen den Rat meiner Eltern entschied ich mich mit ihm zu gehen. Ein ungewisses Leben wartete auf mich. Bei diesem Fest zur Abreise der Händler war die Stimmung gedrückt, schon bei den Vorbereitungen. Ich nahm nicht daran teil und versteckte mich auf dem Boot.
Beim Abschied von meiner Familie weinte ich bitterlich. Aus dem Augenwinkel konnte ich die Blicke der Dorfgemeinschaft sehen, die meine Entscheidung nicht billigten. Von Nalor verabschiedete ich mich nicht. Als wir ablegten, sah ich noch so lange zu unserer Siedlung, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Ornie kümmerte sich die folgende Zeit liebevoll um mich. Zei war sehr wortkarg. Er sprach nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Die Händler blieben bei jedem Halt circa eine Woche. Es wurden die Waren getauscht, Vorräte eingelagert und die weitere Route geplant. Es waren immer Gruppen von ungefähr 20 bis 30 Personen mit einer unterschiedlichen Zahl an Schiffen, die auch unterschiedlich groß waren. Die Gemeinschaft wurde immer wieder neu zusammengesetzt und oft trafen oder trennten sie sich in Handelszentren. Ich hatte Vater beim Handeln geholfen und glaubte, dieses Geschäft sei mir vertraut. Jetzt musste ich erkennen, dass ich sehr wenig davon verstand. Während wir immer die gleichen Waren anboten und deren Wert gut beurteilen konnten, gab es bei den Händlern wirklich alles, was ich mir vorstellen konnte und auch Dinge, die ich noch nie gesehen oder auch nur davon gehört hatte. Ornie und sein Freund Zei handelten mit feinen Lederwaren und Feinschmiedearbeiten wie Geschirr, Besteck, Schmuck und, wie mein Vater sagen würde, anderen unnützen Dingen. Für diese Gegenstände gab es nicht überall Abnehmer und so reisten sie mit anderen Händlern, die mehr Waren für den täglichen Bedarf vertrieben. Tagsüber gab es so viel zu sehen. Die Nächte mit Ornie waren wunderschön und wir schliefen sehr wenig. Nie hätte ich gedacht, die Liebe auf diese intensive Weise erleben zu dürfen. Zei entlastete seinen Freund verständnisvoll, sodass er sich fast ausschließlich um mich kümmern konnte. Ein Problem nahm ich mit. Die Vorräte meiner Eltern des Samens der Mille waren nicht allzu groß. Durch das kauen dieser Samen war es einfach ungewünschte Schwangerschaften zu verhindern. Ich musste zusehen, diese Pflanze auf der Reise zu finden, um immer genügend Vorrat davon zu haben. Die wenigen Frauen der Händler kannten diese Pflanze nicht und die Verhütungsmethoden, die sie bevorzugten, erschienen mir nicht nachahmenswert.
Als ich Ornie davon berichtete lachte er: “Eine passende Aufgabe für dich. Wir werden Pflanzen in unsere Handelsware aufnehmen, du wirst dafür verantwortlich sein. Wir werden sie in schönen Gefäßen anbieten. Dafür zahlen Frauen gerne einen guten Preis. Es war der beste Tag meines Lebens, an dem ich dich verführt habe und anschließend deinem Vater abschwatzte.”
“Es war meine Entscheidung, dich zu begleiten”, protestierte ich.
“Nein, es war Schicksal, du warst von den Göttern für mich bestimmt. Sie haben dich vor langer Zeit für mich bei deinem Vater bestellt. Du bist ausschließlich für mich gemacht.”
“Sei nicht so frech, sonst liebe ich dich nicht mehr”, sagte ich neckisch und gespielt trotzig.
“Kannst du doch gar nicht”, grinste Ornie.
Mit diesen Worten nahm er mich in den Arm, küsste mich und wir konnten und wollten beide nicht widerstehen, uns sofort zu lieben.
Unsere Reise führte uns in den Norden. An den meisten Anlegestellen verlief die Begrüßung wie in unserer Siedlung. Überrascht und etwas misstrauisch wurde ich begutachtet. Die wenigsten Reisenden hatten Frauen in der Gruppe. Von den Waren, die Ornie verkaufte, verstand ich nicht viel und mir war klar, dass es einige Zeit dauern würde, bis mir diese Luxusartikel vertraut waren. In unserem Dorf gab es diese Dinge kaum, wozu auch? Für unser tägliches Leben hatten wir alles und jeder von uns hätte eher Waren bevorzugt, welche die Arbeit erleichterten. Schnell fiel mir auf, dass Salz überall willkommen war und es als eine Art Zahlungsmittel galt. Je nach Verfügbarkeit war es mehr oder weniger wert, konnte aber immer an den Mann gebracht werden. Wenn keine Ware zum Tausch zur Verfügung stand, die das Interesse weckte, wurde mit Salz bezahlt. Das nahm jeder an. Münzen dagegen waren nicht überall willkommen. Bevor der Winter kam, trafen wir zusammen wieder mit einer anderen Händlergruppe in der Siedlung meiner Eltern ein.
Die Kinder, die am Fluss gespielt hatten und die Kunde unserer Ankunft in die Siedlung trugen, konnte ich schon von weitem am