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»Ein Familienroman, bei dem man permanent salzigen Meeresduft in der Nase hat.« freundin
Ada liebt ihr Elternhaus mit dem herrlichen Bauerngarten, von dem aus man das Meer glitzern sieht. Doch ohne die Mutter ist Gragaard nicht mehr das, was es immer war. Gemeinsam mit ihrer Schwester Toni räumt Ada das Haus samt Bootsschuppen aus. Dabei werden längst vergessene Erinnerungen wieder wach, als hätten all die alten Dinge Geschichten in sich bewahrt und warteten nur darauf, sie zu erzählen. Die juniblauen Tage an der Ostsee werden zu einer Reise in die Vergangenheit der Familie – und zeigen zugleich beiden Schwestern neue Wege auf. Aus einem schmerzlichen Abschied wird ein mutiger Aufbruch.
»Eine Geschichte über Geschwisterliebe und Selbstfindung als leichte Sommerlektüre.« Hörzu
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Seitenzahl: 225
Ada liebt ihr Elternhaus an der Ostsee mit dem herrlichen Bauerngarten, doch nun nach dem Tod der Mutter muss Gragaard verkauft werden. Zusammen mit ihrer Schwester Toni räumt sie Haus und Bootsschuppen aus, und eine Reise in die Vergangenheit beginnt: Da sind die Abendkleider der Mutter, die die rauschenden Sommerfeste wiederaufleben lassen und die glücklichen Tage, bevor der Vater die Familie verließ. Und da sind die Ölporträts, die der russische Maler Maxim, um dessen Aufmerksamkeit die Mädchen buhlten, einst von ihnen angefertigt hat. Als sie im Sekretär einen Brief der Mutter an sie beide finden, fasst Ada endlich den Mut, sich ihren Sehnsüchten zu stellen, und aus dem Abschied wird Aufbruch.
Anne Müller wuchs in Schleswig-Holstein auf und lebt heute in Berlin. Nach dem Studium der Theater- und Literaturwissenschaften arbeitete sie zunächst als Radiojournalistin, dann als Drehbuchautorin. »Sommer in Super 8«, ihr erster literarischer Roman, fand viele begeisterte Leserinnen und Leser. »Zwei Wochen im Juni« ist ihr neuer Roman, der wieder in ihre Heimat an der Ostsee führt.
»Ein zärtlicher und kluger Familienroman, der sich wie eine weibliche Variante der Bücher von Joachim Meyerhoff liest. Toll!« flow über »Sommer in Super 8«
»Ein großartiger Familienroman – sehr anrührend und mit großem Tiefgang. … Die langsame Wandlung von einem heiteren Schmöker mit vielen schönen Kindheitserinnerungen zu einem Roman mit sehr ernsten Tönen hat Anne Müller perfekt umgesetzt.«
Westfalen-Blatt/OWL am Sonntag, Doris Wassermann über »Sommer in Super 8«
»Das liest sich leicht und locker trotz der Gewissheit, dass sich das Leben nicht zurückdrehen lässt wie ein Film.«
Augsburger Allgemeine über »Sommer in Super 8«
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Anne Müller
Zwei Wochen im Juni
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Meiner Familie und dem wunderbaren Fleckchen Erde da oben!
»Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort …«
Joseph von Eichendorff
Ich habe was, was du nicht hast. Ihr Spiel auf Autofahrten. Toni, die immer hinter dem Beifahrersitz und der Mutter saß, gehörte die rechte Hälfte der Welt, ihr, Ada, die linke. Der Himmel zählte nicht mit, nur das, was auf der Erde war. Die Straße war die Trennlinie. Und gebannt schauten sie hinaus. Toni, drei Jahre älter, ganz die Mutter mit ihren dunklen Haaren und den blauen Augen, sah durch das rechte Seitenfenster, was sich wohl alles auf ihrer Seite zeigen würde, und Ada auf das, was links kam. Die Welt war eine Wundertüte. Auf Tonis Seite erschien gerade ein Reh, bei Ada kurz darauf eine Herde grasender Kühe. Toni gehörte ein Bauer auf einem Mähdrescher, Ada eine kleine Strohdachkate, die auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Immer wieder blickten sie hinüber, was die andere wohl gleich bekäme. Einmal verfiel Toni in einen Schreikrampf. Minutenlang war bei ihr nichts gewesen außer öden Feldern mit Strommasten. Ada dagegen hatte einen Förster, drei Häuser, einen stillgelegten Bahnhof und zwei Fahrradfahrer auf einem Feldweg abbekommen. Toni schrie so lange, bis der Vater am Straßenrand anhielt. Die Mutter wandte sich fragend nach hinten, und Toni forderte unter Tränen, sie müsse mit Ada die Seiten wechseln. Unbedingt. Sofort. Sie tauschten die Plätze, der Vater fuhr weiter, es war jedoch wie verhext. Kaum saß Ada auf der rechten Seite, kamen dort die tollsten Dinge zum Vorschein: ein ehrwürdiges Herrenhaus, davor Pferde auf der Weide. Toni schmollte, denn sie ritt und liebte Pferde, und links waren nur eine Baustelle und ein verfallener Schuppen zu sehen. Und dann stand rechts auf einer Koppel ein Zirkus mit einem großen blauen Zelt, Wohnwagen und Tieren. Einen faltigen Elefanten, sogar einen Tiger im Käfig gab es. Und Ada malte sich gerade aus, all das samt Seiltänzerin und Messerwerfer zu besitzen und die Zirkusdirektorin zu sein, da zischelte Toni: »Auch wenn ich links sitze, gehört die rechte Hälfte der Welt trotzdem mir!« Gegenüber der Wiese mit dem Zirkuszelt, auf der linken Straßenseite, stand ein Clown. Er winkte dem Auto mit seinen Programmzetteln in der Hand und einem breiten Grinsen zu. Und Ada sagte nur: »Dann gehört der aber mir!«
Jetzt saß sie selbst am Steuer und fuhr durch dieselbe Landschaft, in der sie aufgewachsen war und die sich kaum verändert hatte seit damals. Ein paar Windräder waren dazugekommen. Mehr Maisfelder. Ada liebte die Gegend, um diese Jahreszeit besonders. Die Weizenfelder leuchteten sommergolden, die Knicks waren in sattem Grün, und auf einer Weide standen gelassen Kühe, deren braunes Fell in der Abendsonne ebenfalls zu glänzen schien. Es hatte offensichtlich geregnet, ihre Heimat wirkte wie frisch aus der Waschanlage. Nach den holprigen Landstraßen, den vielen Kurven und der Allee bei Höby dann der magische Moment: der Blick aufs Meer. Sobald Ada auf den Feldweg Richtung Ostsee bog, lag es da, das Blau des Wassers, darüber der Himmel mit Wolkenbergen, von der Sonne angestrahlt. Wolken, das hatte sie damals von Maxim gelernt, die nur am Meer so schön waren.
Der Weg bog nach rechts und führte nun am Wasser entlang, Ada fuhr an der Scheune von Bauer Jensen vorbei und an der weißen Strohdachkate von Greta Andersen mit der so einladenden blauen Haustür. Gretas Auto stand nicht davor, und die Gardinen waren zugezogen.
Ostern hatte Ada die Mutter hier in Gragaard das letzte Mal besucht, und ihr fiel wieder ein, wie ihre Mutter am Ostermontag in der Tür gestanden und so lange gewinkt hatte, wie das Auto den Feldweg entlangfuhr, und wie sie im Seitenspiegel ihre Mutter kleiner werden sah und noch einmal hupte. Ihr Abschiedsritual.
Jetzt erschien am Ende des Weges hinter alten Kastanienbäumen das große zweigeschossige Haus, »unsere Möchtegern-Villa«, wie ihre Mutter immer gesagt hatte. Ein herrlich verwinkeltes, unperfektes Haus mit einer hellen Fassade, die einen Anstrich vertragen konnte, ein Haus, das ein Locationscout vom Film vor Jahren für die Dreharbeiten zu einem Schwedenkrimi hatte mieten wollen. Wochenlang hatte er Nora Hoffmann umworben und mehrfach die Summe erhöht, doch sie hatte sich nicht kaufen lassen. Der Dreh hätte bedeutet, dass sie für Wochen aus ihrem Haus vertrieben worden wäre. Innen hätten die Filmleute es sogar umgebaut. Mit der ihr eigenen Klugheit hatte die Mutter gewusst, dass kein Geld der Welt diesen Eingriff hätte wiedergutmachen können. Ada hatte damals gespürt, dass ihre Mutter das Angebot eher wegen des Hauses und seines Seelenfriedens als um ihrer selbst willen abgelehnt hatte. Denn dass das Haus eine Seele besaß, davon war sie stets überzeugt gewesen.
Es war ein seltsames Gefühl, auf das Haus zuzufahren, wie immer, und zu wissen, dass nicht ihre Mutter die Tür öffnen und in den an den großen Zehen ausgebeulten Hausschuhen im Windfang stehen würde, nicht heute und auch an keinem der nächsten Tage. Nie wieder. Zum Glück musste Ada diese ungewohnte Leere im Haus nicht lange allein aushalten, Toni wollte gegen acht kommen.
Die Stockrosen im Vorgarten waren in voller Blüte und tanzten im Wind, ein Begrüßungskomitee in Rot, Hellgelb und Rosa. Ihr Vater hatte oft erzählt, dass er sich bei der Hausbesichtigung als Erstes in die Stockrosen verliebt habe. Er war es, der unbedingt ein Haus am Meer hatte haben wollen und dann am wenigsten davon gehabt hatte. Seit über zwanzig Jahren lebte er nicht mehr, und Ada verband mit dem Haus in Gragaard vor allem ihre Mutter.
Ada parkte vor dem Haus, wie sie es immer tat. Als sie ausstieg, atmete sie tief die gute Luft ein, die wie eh und je nach Ostsee, Heckenrosen und Strand roch. Ein paar Möwen kreischten über ihr. Ada holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, schloss das Auto ab, obwohl das hier draußen nicht nötig war, nahm den Haustürschlüssel, der an ihrem Schlüsselbund ganz selbstverständlich hing, als gehörte Gragaard noch zu ihrem Leben. Und so war es ja auch, obwohl sie ihr altes Zuhause schon vor vierundzwanzig Jahren zum Studium verlassen hatte. Beim Blick auf den üppig blühenden Garten, der rechts vom Haus lag, stellte Ada fest, dass die Natur dieses Jahr ein paar Wochen früher dran war.
Sie öffnete die Tür, betrat den Windfang, sah die ordentlich aufgereihten Schuhe im kleinen Regal und die Jacken ihrer Mutter an der Garderobe. Die Ordnung hatte die Mutter überdauert.
Ada trat in den dunklen Flur. Alles schien wie immer zu sein, ihre Mutter hätte ihr einfach nur entgegenkommen müssen und sie umarmen. Ada spürte ein tiefes Bedauern. Sie hätte ihre Mutter viel öfter in den Arm nehmen und ihr sagen sollen, dass sie sie liebte.
Ada stieß die angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf. Der Flügel stand da, eine fast unsichtbare Staubschicht auf dem schwarzen Lack, das helle Ledersofa mit der karierten schottischen Wolldecke, eines der vielen edlen Mitbringsel Tonis von ihren Reisen, vielleicht noch von der Mutter so ordentlich zusammengelegt, der sandfarbene Teppich mit dem Blumenmuster und der alte Ohrensessel in beigem Samt, in dem Nora Hoffmann einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbracht hatte und in dem sie vor sechs Wochen eingeschlafen war.
Greta, die in der Kate den Feldweg entlang wohnte, war wie jeden Vormittag mit Toffy, ihrem Golden Retriever, spazieren gegangen und hatte sich gewundert, dass im Wohnzimmer Fernsehlicht flackerte. Greta näherte sich über den Rasen an und sah durch die Fensterscheibe Nora in ihrem Sessel. Und als diese auf ein Klopfen nicht reagierte, betrat Greta das Haus und konnte nur noch den Tod ihrer Freundin und Nachbarin feststellen. Sie rief Toni an und diese Ada.
Ada erinnerte sich noch genau an den Moment. Sie war im Atelier gerade dabei, einen Blauton zu mischen, als das Handy klingelte. Sie ging bei der Arbeit nicht bei jedem ran, aber als »Toni« im Display erschien, war ihr sofort klar, dass es etwas Wichtiges sein musste, normalerweise telefonierten die Schwestern nicht tagsüber. Sie telefonierten sowieso nicht oft miteinander.
»Ada, zum Glück erwische ich dich! Greta hat mich gerade angerufen. Mama ist tot.«
Tonis Stimme brach ab, sie schluchzte.
Ada wusste nicht, wann sie Toni das letzte Mal hatte weinen hören. Mehr noch durch das Schluchzen ihrer Schwester als durch die Worte wurde ihr klar, dass etwas Schlimmes, etwas Endgültiges passiert war. Etwas, das ihr Leben durchrütteln würde.
Ada musste sich setzen und ließ sich auf die Fensterbank nieder. Sie lehnte die Stirn an die kühle Scheibe und sah über die Dächer von Ottensen. Ein Anblick, der ihr nur zu vertraut war, doch aus allem schien die Farbe entwichen zu sein. Dabei hörte sie ihre große Schwester, die sich, ganz Toni, schnell wieder gefasst hatte.
»Mama ist vor dem Fernseher eingeschlafen, sie sah ganz friedlich aus, sagt Greta. Ich fahre gleich hin, kommst du auch?«
»Ja, klar«, antwortete Ada und wusste nicht, wie sie in ihrem Zustand Auto fahren sollte. Die Welt da draußen war immer noch voller Grautöne.
»Ada, alles okay bei dir? Vielleicht nimmst du besser den Zug, und ich gabel dich in Eckernförde am Bahnhof auf.«
Ada ging in die Küche, wie sie es immer tat, wenn sie in Gragaard ankam, öffnete den Kühlschrank. Er war leer. Absolut leer. Darauf war sie nicht gefasst. Ihre Mutter hatte immer ihre Lieblingssorte Käse gekauft und Bier kalt gestellt, und wenn Besuch kam, war der Kühlschrank voller guter Sachen. Ada musste sich hinsetzen. Vom Küchenstuhl aus am kleinen Holztisch sah sie sich um. Die Einbauküche war schlicht mit ihrer Front aus Kiefer und auch schon immer da gewesen. Die Wände waren seit der letzten Renovierung aprikotfarben, nur die Decke war weiß. Das Spülbecken befand sich am Fenster Richtung Meer, und ihre Mutter hatte oft gescherzt, dass niemand beim Töpfeschrubben so einen schönen Ausblick hatte wie sie. Neben dem Herd hingen an einem Plastikhaken die schiefen Topflappen, die Adas Nichte Julia unter ihrer Anleitung in einem Sommer vor vielen Jahren gehäkelt hatte. Alles sah aus wie immer, und das machte es umso bedrückender. Am oberen Küchenschrank klebte, befestigt mit Tesa, ein Foto von Toni und ihr, vor drei Jahren am siebzigsten Geburtstag der Mutter aufgenommen, beide in hübschen Kleidern und geschminkt. Es hatte der Mutter gefallen, dass sich ihre Töchter für sie herausgeputzt hatten. Toni hatte den Arm um Ada gelegt wie eine große Schwester, und sie lächelten in die Kamera des Fotografen, den ihre Mutter für teures Geld extra bestellt hatte. Beide hatten sie das als vollkommen überflüssig empfunden.
Morgens zur Bescherung waren sie und Toni gemeinsam ins Esszimmer gegangen, Toni trug die Torte, die sie gebacken und mit einer »70« aus rosafarbenem Zuckerguss verziert hatte, und zusammen sangen sie Viel Glück und viel Segen, wobei Ada recht eingerostet klang. Toni hatte eine schöne Stimme und war im Kirchenchor bei ihr zu Hause die Stütze des Soprans. Ihre Mutter saß am Esstisch in einem eleganten Kleid und mit den frisch frisierten Haaren. Sie lächelte, stolz, gerührt, voller Liebe. Ada versuchte, nach kurzem Räuspern, auch etwas höher zu singen, doch das ging gründlich schief, und dann summte sie nur noch leise mit. Wie das Gesicht ihrer Mutter im Schein der Kerzen leuchtete, nachdem Toni die Torte vor ihr abgestellt hatte!
»Für alle zwei Lebensjahre eine Kerze. Siebzig habe ich nicht draufgekriegt«, erklärte Toni, nachdem sie beide die Mutter umarmt und ihr gratuliert hatten.
»Wie schön ihr zusammen gesungen habt«, sagte die Mutter noch, aber Ada wusste, dass das eine diplomatische Umschreibung war.
Dann überreichten sie ihre Geschenke, und es war wie so oft. Toni hatte eine edle Kaschmirstrickjacke in einem Blau besorgt, das genau zur Augenfarbe der Mutter, die ja ihre eigene war, passte, und diese hatte sie freudig ausgepackt. Für das Ölbild von Ada hatte sie nur ein knappes »Danke, Schatz« übrig. Ihre Mutter legte es auf den Gabentisch, es war ein Geschenk unter anderen. Die Strickjacke von Toni hatte sie später am Tag angezogen, und Ada konnte es irgendwann nicht mehr hören, dass alle der Mutter sagten, wie gut ihr die Farbe stünde, und wie sie jedes Mal stolz antwortete: »Von Toni!«
Sie feierten in einem Restaurant an der Ostsee mit vierzig Gästen, und der Fotograf hatte wie ein Fremdkörper zwischen all den Leuten gestanden, steif, die Kamera umgehängt, und ab und zu ein verlorenes Lächeln in den Raum gesandt. Nur weil er ihr leidtat, hatte Ada ein bisschen mit ihm und seiner Kamera geflirtet, damit er das Gefühl hatte, ein Mensch, ein Mann zu sein. Dieser Flirtblick jedenfalls hatte zu einem schönen Porträt von ihr geführt, ein Foto, das ihre Mutter auf dem Nachttisch in einem Silberrahmen stehen und das Ada auch zu Hause bei sich aufgestellt hatte. Arthur betrachtete es oft, wenn er sie besuchte, und hatte mal gesagt, sie sähe darauf aus wie eine Mischung aus einem Wildfang und einer Femme fatale mit ihrer roten Lockenmähne.
Die Küche war unverändert, es fehlten nur die Lebensmittel. Toni wollte welche mitbringen. Sie und Toni waren die Übriggebliebenen, die nun, gute fünf Wochen nach der Beerdigung, anfangen wollten, das Übriggebliebene zu entsorgen. Das Haus sollte verkauft werden. Ada war etwas mulmig zumute, Toni und sie hatten lange nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht, aber gleichzeitig freute sie sich auf die zwei Wochen. Wo auch immer ihre Mutter jetzt war, sie würde es sich sicher wünschen, dass ihre beiden Töchter einander beistünden, sich nahestünden.
Eine Fliege brummte durch die Küche, setzte sich vor Ada auf den Tisch, flog dann Richtung Küchenschrank. Wie still ein Haus und wie laut eine Fliege sein konnten, dachte Ada, und sie fragte sich, ob Fliegen älter als sechs Wochen wurden und diese hier ihre Mutter noch gekannt und zu Lebzeiten geärgert hatte.
Adas Handy klingelte. Toni war dran.
»Ada? Hallo, du, es tut mir wahnsinnig leid, aber ich schaffe es heute nicht mehr. Tom fährt morgen zu seinem Praktikum, und ich musste noch seine Wäsche machen und seine Hemden bügeln.«
»Kann der das mit achtzehn nicht selbst?!«
»Er ist neunzehn, meine Liebe!«
In Ada stieg eine alte, sehr bekannte Wut auf ihre Schwester auf. Immer war alles andere wichtiger.
»Dann wäre ich auch erst morgen gekommen, verdammt, jetzt sitze ich hier in diesem leeren Haus! Wir hatten das doch ausgemacht.«
»Tut mir leid, Ada, aber ich habe so Kopfschmerzen, mir wird das heute zu viel mit der Autofahrt. Ich komme gleich morgen früh um halb neun und bringe frische Brötchen mit, okay?«
»Na gut, bis dann.«
»Gute Nacht«, hörte Ada ihre Schwester sagen, dann legten sie auf. Gern hätte Ada noch etwas geredet, aber Toni war einfach nicht die Schwester, mit der man länger telefonieren konnte. Toni war permanent beschäftigt, und das war schon immer so gewesen.
Die Küchenuhr zeigte kurz vor acht. Wenn Greta da gewesen wäre, hätte Ada ihr einen Besuch abgestattet. Greta freute sich immer über einen Klönschnack. Stattdessen ging Ada ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Er war auf Standby, als wartete er auf die Rückkehr von Nora Hoffmann. Die vertraute Melodie erklang. In Hamburg guckte Ada selten die Tagesschau, aber in Gragaard war es ein festes Ritual.
Ada setzte sich in den Sessel neben den ihrer Mutter, wie sie es immer getan hatte. Aber es war nichts wie immer. Die Nachrichten lenkten sie ab, Raketen, Panzer, das Chaos nach einem Sprengstoffanschlag, ein Selbstmordattentat, Verletzte, darunter erschreckend viele Kinder, Sanitäter, ein gesunkener Frachter und Menschen, die gegen ihre Entlassung demonstrierten. Die einzige positive Meldung: Am nächsten Tag sollte das Wetter hier an der Ostseeküste gut werden, und Ada nahm sich vor, an den Strand zu gehen. Es folgte ein belangloser Fernsehfilm, den sie bald ausschaltete. Sie blickte aufs Handy, vielleicht hatte Arthur eine SMS geschickt. Nichts. Um diese Zeit saß er vermutlich zu Hause bei seiner Familie.
Sie würde ihn nicht anrufen, das war Teil der Abmachung. Er meldete sich, wenn es bei ihm gerade passte. Gestern Nacht noch war er bei ihr gewesen. Sie hatten sich voneinander verabschiedet, zwei Wochen lang würden sie sich nicht sehen. Ada unterdrückte den Impuls, ihm eine SMS zu schreiben, stattdessen wählte sie die Nummer von Ellen. Leider kam nur das »Hallihallo, hier ist der telefonische Assistent der Familie Krug-Brauer, wir sind gerade nicht zu Hause, aber ihr könnt uns gern …«. Ada legte auf.
Ellen wäre jetzt die Einzige gewesen, der sie von dem leeren Kühlschrank, der Enttäuschung über ihre Schwester, dem seltsamen Gefühl, hier allein im Haus zu sein, hätte erzählen können. Ellen war auch vor Jahren mal mit in Gragaard gewesen, und sie und die Mutter hatten sich auf Anhieb blendend verstanden.
Ada war plötzlich hundemüde und beschloss, ins Bett zu gehen.
Ihre Mutter hatte die Mädchenzimmer im ersten Stock so gelassen, wie die Töchter sie nach dem Abitur verlassen hatten. Die Türen standen offen, als Ada in der oberen Etage ankam. Die Holzdielen knarzten vertraut, es lagen noch die alten Flickenteppiche da, die Farben mit der Zeit verblasst. Abgesehen von den beiden Zimmern der Mädchen, Ada hatte das kleinere Richtung Meer und Toni das große zum Garten hin, gab es noch ein Gästezimmer und das sogenannte Bügelzimmer, früher das Arbeitszimmer ihres Vaters. Und sie hatten hier oben ein eigenes Bad, gefliest im typischen Orangeton der Siebziger, ein Bad, das heute fast schon kultig war. Das Schlafzimmer ihrer Mutter war im Erdgeschoss nach hinten zum Garten hinaus, unter dem von Toni. Ada warf einen kurzen Blick in Tonis Zimmer, auf die Regale mit den Reiterpokalen. Dort hingen auch noch die Rosetten der Turniere, gelb, rot, blau, die Toni früher am Wochenende von irgendwoher mitgebracht hatte, wenn sie gerötet, müde und nach Pferd duftend zurückkam nach Gragaard. Was hatte Ada ihre Schwester damals um diese Rosetten beneidet, nun waren sie ausgeblichen und angestaubt.
Fast ehrfürchtig betrat Ada ihr altes Zimmer, fühlte sich jedes Mal beim Überschreiten der Schwelle gleich jünger. Das Plakat mit dem Mädchen mit rotem Hut, ein vergrößertes Aquarell von Nolde, das ihr Vater ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte, hing an den apfelgrünen Wänden, die sie gemeinsam mit Hannes an einem Wochenende angestrichen hatte. Sie hatten sturmfreie Bude gehabt und erst Adas Zimmer grün gemalt und dann im Geruch der Wandfarbe auf der Matratze mitten im ausgeräumten Zimmer miteinander geschlafen, und Ada sah, als wäre es gestern gewesen, noch die getrockneten apfelgrünen Spritzer auf Stirn und Wange von Hannes. Er war ihr erster richtiger Freund gewesen, zwei Jahre waren sie miteinander gegangen, eine Ewigkeit, wenn man zwischen siebzehn und neunzehn ist.
Abgesehen von der Tatsache, dass Hannes unbedingt im Norden hatte bleiben wollen und Ada davon geträumt hatte, ein Jahr lang nach Paris oder London zu gehen, hatten sie nach Adas Meinung gut zusammengepasst, und sie war damals der unerschütterlichen Ansicht gewesen, dass diese Liebe nichts so schnell erschüttern konnte. Und dann war sie während der Abifeten doch erschüttert worden, und zwar von einem blassen blonden Mädchen mit hochstehenden Wangenknochen, einem breiten Becken und viel zu dicken Waden, dem aber alle Jungs hinterherliefen. Silke Holm war die einzige Tochter des einzigen Bäckers in Kappeln, dem nächsten größeren Ort, wo sich auch das Gymnasium befand. Ada selbst war dann statt nach Paris oder London nach Kiel an die Kunsthochschule gegangen.
Marie, die Putzfrau, die, solange Ada denken konnte, zweimal die Woche bei Wind und Wetter mit ihrem alten Fahrrad von Maasholm hierher nach Gragaard gekommen war, hatte das ganze Haus gründlich geputzt, auch die Fenster, damit alles einen guten Eindruck machte auf potenzielle Käufer. Und sie hatte für Toni und Ada die Betten frisch bezogen. Ada öffnete das Fenster, ließ den so vertrauten Geruch nach Meer und feuchtem Sand herein, dann zog sie sich aus und legte sich einfach nackt ins Bett. Draußen war es immer noch nicht dunkel, und der Abendhimmel hatte ein unnachahmliches Blau. Fast metallic. Ada liebte die hellen Nächte mit ihrem besonderen Licht, wenn sich die blaue Stunde ewig ausdehnte, als wollte und wollte der Tag nicht schlafen gehen.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal hier im Haus allein übernachtet hatte. Toni war schuld, und Ada war sauer auf ihre Schwester, dass sie sie in diese Lage gebracht hatte, denn sie fühlte sich auf einmal nicht nur wie der letzte Mensch am Ende der Welt, nichts anderes war Gragaard, sondern auch so ausgeliefert wie lange nicht mehr. Klar, sie war hin und wieder auch in Hamburg einsam, aber dann war sie wenigstens in ihren eigenen vier Wänden, und um sie herum waren vertraute Möbel, Pflanzen, Bilder. Dies hier war das Zimmer einer anderen Ada, die sie mal gewesen war und die nicht weit vom Meer in einem Zimmer mit diesem Plakat gelebt hatte.
Auf dem Fensterbrett standen zwischen Muscheln und Steinen vom Strand gerahmte Fotos, eines von ihrem Vater, da war er Mitte vierzig und sah aus wie Alain Delon, nur mit dunkleren Haaren und einem rundlicheren Gesicht. Ada verstand, dass seine Studentinnen für ihn geschwärmt und mehr seinetwegen als wegen Thomas Mann oder Fontane die Vorlesungen besucht hatten. Das Foto war in Südfrankreich aufgenommen worden, in einem sehr schönen gemeinsamen Urlaub, an den Ada gern zurückdachte, weil sie da noch eine richtige Familie gewesen waren und ihr Vater wie ein echter Vater in die Kamera geguckt hatte, mit festem, liebevollem Blick. Arthur hatte Ähnlichkeit mit ihrem Vater, das war Ada sofort aufgefallen. Schade, dass sie ihm das Haus hier nie hatte zeigen können. Arthur gab es ja offiziell nicht, er war nicht der Mann an ihrer Seite, sondern der heimliche Mann, der, den sie verstecken musste, der sich mit ihr versteckte und der sie versteckte.
In ihrer frisch bezogenen Bettwäsche, die herrlich nach »an der Luft getrocknet« roch, stellte Ada sich vor, dass es an ihrer Tür klopfte und Arthur käme, und unten im Wohnzimmer säßen ihre Eltern mit Toni. Nein, noch antörnender: Unten saß seine Frau, aber Arthur hatte sich davongeschlichen. Sie mussten sich mit dem Sex beeilen, damit es nicht auffiel. Er schloss die Tür hinter sich ab, kroch zu ihr, ausgezogen. Ada erinnerte sich an die vergangene Nacht, seinen warmen Körper, die sanft kitzelnden Brusthaare, die Küsse an ihrem Hals, den Nacken und Rücken entlang, wie Arthur ihren Po streichelte, »Ich will dich« in ihr Ohr flüsterte.
Danach schlief Ada sehr entspannt ein. Sie träumte, ihre Eltern, Toni und sie hätten sich alle für den Zirkus fein gemacht. Sie betraten das Zelt, um die Plätze aufzusuchen, ihre Mutter hatte eine Tüte mit gebrannten Mandeln in der Hand, sie und Toni Popcorn. Ein unter der Schminke etwas traurig blickender Clown verteilte das Programm, und als Ada einen Zettel entgegennahm, sah sie, dass der Clown Arthur war.
Der Morgen war ein Versprechen auf einen strahlenden Sommertag und für viertel nach acht schon warm. Ada hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt. Sie ging barfuß über den noch taufeuchten Rasen, der leicht kitzelte an den Fußsohlen, und stellte gerade fest, dass das Gras morgens am intensivsten roch, da fuhr Toni hupend vor. Sie parkte ihren schwarzen Passat neben Adas Renault und stieg aus. Toni trug eine Caprihose und ein Poloshirt, dazu Slipper. So angezogen, ging sie vermutlich auch in die Schule.
»Guten Morgen!«, begrüßte Ada sie mit noch etwas belegter Stimme, und Toni lächelte ihre kleine Schwester an. Kopfschmerzen schien sie keine mehr zu haben, das hätte Ada gesehen.
»Morgen! Brötchenservice Hansen liefert auch ans Ende der Welt!«
Ada ging zu Toni. Seit dem Tod der Mutter, so empfand Ada es, waren ihre Umarmungen fester geworden.
»Ich habe die Brötchen des Feindes gekauft.«
Ada lächelte müde bei der Anspielung auf Silke Holm, die nun das Bäckerei-Imperium ihres Vaters gemeinsam mit Hannes fortführte. Die beiden hatten geheiratet.
Kurz darauf saßen sie auf der Terrasse, wo sich die Wespen bereits über die Marmelade hermachten. Toni hatte eine neue Frisur, einen Pagenschnitt, der ihr gut stand. Die gerade Linie des Ponys in ihrem braunen Haar ließ die blauen Augen förmlich leuchten. Sie war in den vergangenen Wochen im Gesicht noch schmaler geworden, die Zeit vor den großen Ferien mit den Zeugnissen war immer besonders stressig.