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In einer schmalen Gasse eines alten Stadtteils von Seoul befindet sich Frau Yeoms kleiner Gemischtwarenladen. Täglich kreuzen sich hier die Wege ganz unterschiedlicher Menschen. Der obdachlose Dok-go versucht sein Leben neu zu ordnen und fängt als Nachtschichtarbeiter in dem Laden an. Schnell merkt er, dass er nicht der Einzige ist, den Sorgen und Nöte umtreiben. Frau Yeom und Frau Oh hadern mit dem Verhältnis zu ihren erwachsenen Söhnen, In-gyeong ist unglücklich in ihrem Beruf als Schauspielerin, und Gyeong-man steht immer wieder sein hitziges Temperament im Weg. Doch durch Dok-go schöpfen sie alle neue Kraft – und lenken ihre Leben in überraschende und hoffnungsvolle Bahnen.
Humorvoll und einfühlsam widmet sich Kim Ho-yeon besonderen Begegnungen im Alltag und erzählt von mutigen Entscheidungen, neuen Wegen und dem Glück der Gemeinschaft.
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In einer schmalen Gasse eines alten Stadtteils von Seoul befindet sich Frau Yeoms kleiner Gemischtwarenladen. Täglich kreuzen sich hier die Wege ganz unterschiedlicher Menschen. Der obdachlose Dok-go versucht sein Leben neu zu ordnen und fängt als Nachtschichtarbeiter in dem Laden an. Schnell merkt er, dass er nicht der Einzige ist, den Sorgen und Nöte umtreiben. Frau Yeom und Frau Oh hadern mit dem Verhältnis zu ihren erwachsenen Söhnen, In-gyeong ist unglücklich in ihrem Beruf als Schauspielerin, und Gyeong-man steht immer wieder sein hitziges Temperament im Weg. Doch durch Dok-go schöpfen sie alle neue Kraft — und lenken ihre Leben in überraschende und hoffnungsvolle Bahnen.Humorvoll und einfühlsam widmet sich Kim Ho-yeon besonderen Begegnungen im Alltag und erzählt von mutigen Entscheidungen, neuen Wegen und dem Glück der Gemeinschaft.
Kim Ho-yeon
Frau Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen
Roman
hanserblau
Als Frau Yeom Yeong-suk bemerkte, dass sich der Beutel mit ihrem Portemonnaie nicht mehr in ihrer Tasche befand, fuhr der Zug gerade an Pyeongtaek vorbei. Das Problem war, dass ihr beim besten Willen nicht einfallen wollte, wo sie den Beutel verloren haben könnte. Fast noch beunruhigender als der Verlust schien ihr in diesem Augenblick jedoch ihr nachlassendes Gedächtnis. Ihr brach der Schweiß aus. Fieberhaft versuchte sie sich zu erinnern, wo überall sie zuletzt gewesen war.
Bis zu dem Zeitpunkt, als sie am Seouler Hauptbahnhof das Ticket für den KTX-Schnellzug gelöst hatte, hatte sie den Beutel zweifellos noch bei sich gehabt. Denn sie hatte ja die darin befindliche Bankkarte herausgeholt, um das Ticket zu bezahlen. Danach hatte sie im Wartesaal gegessen, das Programm eines 24-Stunden-Nachrichtensenders gesehen und etwa dreißig Minuten auf den Zug gewartet. Im Zug war sie, die Tasche auf dem Schoß, eine Weile eingenickt, aber als sie aufwachte, war alles unverändert. Und als sie schließlich vorhin die Tasche geöffnet hatte, um das Handy herauszunehmen, hatte sie einen gewaltigen Schreck bekommen, weil der Beutel nicht mehr da war. Darin befanden sich ihre wichtigsten Sachen: Portemonnaie, Banksparbuch, Notizheft. Ihr wurde schwarz vor Augen.
In einer Geschwindigkeit, die sich mit der ihres Zuges messen konnte, brachte sie nun notgedrungen ihr Gehirn auf Hochtouren, drückte die Rückwärts-Taste ihres Gedächtnisses, ließ die Landschaft, die dort draußen vor dem Fenster vorbeirauschte, rückwärtslaufen und spulte ihre Erinnerungen zurück, mit schlotternden Beinen und leise vor sich hinmurmelnd. Ihr Sitznachbar, ein Mann mittleren Alters, quittierte ihr Verhalten mit demonstrativem Hüsteln.
Was sie aber aus ihrer Versunkenheit riss, war nicht dieses Hüsteln, sondern die Melodie ihres Handys, die aus ihrer Tasche hevordrang und den Eingang eines Anrufes verkündete. Ein Lied von ABBA, an dessen Titel sie sich jedoch gerade nicht erinnern konnte. Chiquitita oder Dancing Queen. Meine arme Jun-hui, deine Oma wird langsam dement …
Erst nachdem sie das Handy mit zitternder Hand aus der Tasche befördert hatte, fiel ihr der Titel wieder ein. Thank You for the Music. Auf dem Display leuchtete eine unbekannte Nummer mit Seouler Vorwahl auf. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie den Anruf annahm.
»Ja, hallo?«
Keine Antwort. Der Lärm, der vom anderen Ende der Leitung zu ihr herüberdrang, ließ jedoch vermuten, dass sich der Anrufer irgendwo in der Stadt befinden musste.
»Wer spricht da bitte?«
»Ist da … Yeom … Yeonsuk?«
Die Stimme klang so rau und undeutlich, dass man sie kaum für eine menschliche Stimme hätten halten wollen. Eher für die eines Bären, der nach tiefem Winterschlaf seine Höhle verlässt und das erste Mal seit Langem wieder den Mund öffnet.
»Ja, das bin ich. Ähm, wieso?«
»Das … Portemonnaie …«
»Ja, haben Sie es gefunden? Wo sind Sie denn?«
»In … Seoul.«
»Wo in Seoul? Vielleicht am Hauptbahnhof?«
»Ja. Am Seouler … Hauptbahnhof.«
Sie senkte das Handy, gönnte sich einen Seufzer der Erleichterung und räusperte sich.
»Vielen Dank, dass Sie das Portemonnaie gefunden und sich bei mir gemeldet haben. Könnten Sie es vielleicht noch ein wenig aufbewahren oder irgendwo abgeben? Ich bin gerade im Zug unterwegs. Ich steige an der nächsten Station aus und fahre dann gleich zurück. Sobald ich da bin, bekommen Sie Ihren Finderlohn.«
»Ich bin … einfach hier. Ich kann ja nirgends hin …«
»So? Ähm, verstehe. Wo am Hauptbahnhof sollen wir uns treffen?«
»Wo es … zum Airport … zum Airportexpress geht. Am GS-Shop.«
»Vielen Dank. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Keine … Eile …«
»Ja, gut. Vielen Dank.«
Als sie das Gespräch beendet hatte, befiel sie ein etwas mulmiges Gefühl. Das an Tierlaute erinnernde, inartikulierte Gestammel am anderen Ende der Leitung hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich um einen Obdachlosen handeln musste. »Ich kann ja nirgends hin«, hatte er gesagt, und nach der Nummer zu urteilen, hatte er offenbar von einer öffentlichen Telefonzelle aus angerufen, weil er kein Handy besaß. Frau Yeom wurde nervös. Zwar hatte er ihr versprochen, das Portemonnaie zurückzugeben, aber sie konnte schließlich nicht wissen, ob er das an weitere Forderungen knüpfen würde. Andererseits hatte er sie ja immerhin angerufen und seinen guten Willen bekundet und insofern nicht den Eindruck gemacht, ihr weitere Scherereien bereiten zu wollen. Die 40.000 Won Bargeld, die sich im Portemonnaie befanden, sollten als Finderlohn genügen. Durch die Lautsprecher wurde der nächste Halt des Zuges angekündigt. Cheonan. Frau Yeom ließ das Handy zurück in ihre Tasche gleiten und erhob sich von ihrem Sitz.
Auf ihrem Rückweg zum Hauptbahnhof fuhr der Zug gerade an Suwon vorbei, als ihr Handy erneut klingelte. Sie wiederholte für sich den Text von Thank You for the Music — Demenzvorbeugung — und sah auf das Display. Dieselbe Nummer wie vorhin. Frau Yeom unterdrückte ihre Nervosität und nahm den Anruf an.
»Ähm … Ich noch mal«, drang ihr die vernuschelte Stimme des Mannes entgegen.
Frau Yeom erhob die Stimme, als hätte sie es mit einem säumigen Schüler zu tun:
»Ja, bitte?«
»Ich … ähm … Entschuldigen Sie bitte vielmals, es ist nur, ich habe Hunger und …«
»Und was?«
»Eine Lunchbox … aus dem Laden … Ginge das vielleicht?«
Frau Yeom war sogleich sanftmütiger gestimmt. Die Worte »Entschuldigen Sie bitte vielmals« und »Lunchbox« hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Aber ja doch. Kaufen Sie sich eine Lunchbox. Und wenn Sie Durst haben, auch noch ein Getränk dazu.«
»Danke … schön.«
Kaum hatte sie aufgelegt, kam auch schon die SMS mit der Bankkartenabrechnung. Innerhalb so kurzer Zeit, dass nahelag, dass er bei seinem Anruf schon an der Ladentheke gestanden haben musste. Wer einen solchen Hunger hatte, konnte in der Tat niemand anders sein als ein Herr des Hauptbahnhofs, ein Freund der Stadttauben, ein Mensch ohne Obdach. Wie die Rechnung bei genauerer Betrachtung erkennen ließ, handelte es sich um »Park-Chanho’s Too-much-GS-Lunchbox mit allerlei Beilagen« für 4900 Won. Auf ein Getränk hatte er verzichtet. Offenbar ein anständiger Kerl. Nachdem sie zunächst überlegt hatte, ob sie ihn sicherheitshalber nicht vielleicht besser in Begleitung treffen solle, gab sie ihre Bedenken nun auf und entschied sich dafür, ihn allein aufzusuchen. Mit ihren siebzig Jahren fürchtete sie sich zwar davor, dement zu werden, auf ihre würdevolle Erscheinung aber konnte sie sich verlassen. Bis zu ihrer Pensionierung aus dem Lehrdienst hatte sie nicht ein einziges Mal gekuscht, sondern war all ihren Schülern immer souverän entgegengetreten.
Am Hauptbahnhof angekommen, fand sie gleich die Rolltreppe, die zum Airport-Express führte. Wenn man die Rolltreppe hinunterfuhr, befand sich gleich gegenüber auf der rechten Seite der rund um die Uhr geöffnete GS25, und direkt davor hockte der Mann, das Gesicht über seine Lunchbox gesenkt. Je näher sie ihm kam, desto heftiger fühlte sie wieder die Nervosität in sich aufsteigen. Da saß er, langes Haar, verfilzt wie ein Wischmopp, in einer dünnen Sportjacke und einer schmuddeligen Stoffhose, von der sich nicht mehr sagen ließ, ob sie ursprünglich beige oder braun gewesen war, und beförderte mithilfe seiner Esstäbchen zielstrebig ein kleines Wiener Würstchen aus der Lunchbox in seinen Mund. Also wirklich ein Obdachloser. Frau Yeom nahm ihren Mut zusammen und trat auf ihn zu.
In diesem Augenblick geschah es. Drei fremde Männer kamen auf den Mann mit der Lunchbox zugestürmt. Frau Yeom blieb erschrocken stehen. Die drei Männer, zweifellos ebenfalls Obdachlose, umringten den Lunchbox-Esser wie ein Rudel Hyänen, drückten ihn mit aller Kraft zu Boden und versuchten, ihm etwas von seiner Habe zu entreißen. Frau Yeom blickte sich um und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, aber die vorbeieilenden Passanten warfen allenfalls flüchtige Seitenblicke auf den, wie sie wohl meinten, alltäglichen Zank der Straßenpenner.
Der Mann hatte seine Lunchbox sinken lassen und saß nun vollkommen zusammengekauert da, um sich vor den Angreifern abzuschirmen. Doch diese gingen jetzt dazu über, ihn zu würgen und ihm die Arme hochzureißen, und schafften es schließlich, ihm wegzunehmen, was er bis eben so sorgsam behütet hatte. Frau Yeom, die das Geschehen mit wachsender Unruhe verfolgt hatte, erkannte nun, was es war. Ein rosafarbener Beutel. Ihr Portemonnaiebeutel.
Die drei Angreifer traten noch einmal auf den Lunchbox-Mann ein, um sich dann aus dem Staub zu machen. Frau Yeom zitterte am ganzen Körper. Vollkommen hilflos ließ sie sich zu Boden sinken. Da sprang der Mann plötzlich auf, setzte zum Gegenangriff an und warf sich mit voller Wucht und furchterregendem Gebrüll auf denjenigen, der den Beutel in der Hand hielt, packte ihn bei den Beinen und brachte ihn zu Fall. Zwar gelang es ihm, seinem am Boden liegenden Kontrahenten den Beutel abzuringen, doch da wurde er sofort von den anderen beiden in die Mangel genommen. Jetzt kam Leben in Frau Yeom. Mit feurigen Augen sprang sie auf, stürzte auf die Männer zu und schrie, dass ihr die Halsadern hervortraten:
»Ihr Schufte! Das gehört mir!«
Als sie die kreischende Frau auf sich zustürmen sahen, hielten die Männer inne. Frau Yeom hob ihre Handtasche und schlug damit dem Kerl, der ganz vorne stand, mit voller Wucht auf den Kopf. Er schrie auf vor Schmerz. Die anderen wichen einen Schritt zurück.
»Diebe! Die haben mir das Portemonnaie gestohlen! Verfluchte Kerle!«
Durch Frau Yeoms hartnäckiges Geschrei aufmerksam geworden, begannen die Leute stehen zu bleiben, und die Kerle machten sich, einer nach dem anderen, aus dem Staub. Nur der Mann mit der Lunchbox blieb zusammengekauert sitzen, den Beutel eng an seine Brust gedrückt. Sie ging auf ihn zu.
»Ist alles in Ordnung?«
Der Mann hob den Kopf und blickte Frau Yeom an. Mit seinen geschwollenen Augen, seiner blut- und rotzverschmierten Nase und seinem struppigen, den Mund überwuchernden Bart sah er aus wie ein Höhlenmensch, der verletzt von der Jagd heimgekehrt war. So als begriffe er erst jetzt, dass die Angreifer verschwunden waren, richtete er sich langsam auf. Frau Yeom holte ein Taschentuch heraus und kniete sich vor dem Mann hin.
Da schlug ihr sein stinkender Atem entgegen. Sie hielt die Luft an und reichte ihm das Taschentuch. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Nase. Am Ende würde noch ihr Portmonnaiebeutel mit Rotz und Blut beschmutzt werden … Als Frau Yeom sich bei diesem Gedanken ertappte, ärgerte sie sich über sich selbst.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
Der Mann nickte und sah sie an. Als sie seinen aufmerksamen Blick wahrnahm, fragte sie sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie wollte schnell von hier weg. Nur musste sie noch ihren Beutel wiederbekommen.
»Vielen Dank, dass Sie auf mein Portemonnaie aufgepasst haben.«
Der Mann nahm den Beutel, den er unter den linken Arm geklemmt hatte, in die rechte Hand und reichte ihn ihr. Doch gerade als sie danach greifen wollte, zog er die Hand zurück. Er musterte ihr erstauntes Gesicht und öffnete den Beutel.
»Was soll das?«
»Gehört der Beutel … wirklich Ihnen?«
»Natürlich. Ich bin doch extra gekommen, weil er mir gehört. Sie haben doch vorhin mit mir telefoniert.«
Sein grundloses Misstrauen verärgerte sie. Wortlos durchsuchte er den Beutel, fand das Portemonnaie, holte den Personalausweis daraus hervor und betrachtete ihn.
»Ihre … Personalausweisnummer.«
»Na, hören Sie, glauben Sie, ich lüge Sie an?«
»Ich muss doch … sichergehen. Ich trage doch Verantwortung dafür … dass ich das Portemonnaie … dem Besitzer zurückgebe.«
»Auf dem Ausweis ist doch ein Foto. Da sehen Sie doch, dass ich es bin.«
Der Mann blinzelte mit seinem geschwollenen Auge und ließ seinen Blick zwischen dem Foto und Frau Yeom hin- und herwandern.
»Das Foto … ist anders.«
Das war doch absurd. Frau Yeom schnalzte ratlos mit der Zunge, versuchte aber die Fassung zu bewahren.
»Das ist alt. Das Foto«, fügte der Mann hinzu. Trotzdem hätte er doch einwandfrei ihr Gesicht auf dem Bild erkennen müssen, vielleicht war er einfach nicht gesund und hatte Probleme mit den Augen. Oder aber sie war wirklich so sehr gealtert, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war …
»Die Ausweisnummer … bitte.«
Puh … Nach einem kurzen Seufzer ließ sich Frau Yeom dazu herab, die Zahlenfolge aufzusagen.
»Fünf-zwei-null-sieben-zwei-fünf-…«
»Stimmt. Man muss schließlich … sichergehen. Nicht wahr?«
Mit nach Zustimmung suchendem Blick schob er den Ausweis zurück ins Portemonnaie, steckte dieses wieder in den Beutel und reichte ihn ihr. Sie hatte ihren Beutel zurück. Mit dem Gefühl, sich eine Menge Scherereien erspart zu haben, spürte sie ihm gegenüber nun eine Welle der Dankbarkeit. Denn dass er bereit gewesen war, auf ihren Beutel aufzupassen und dafür sogar Prügel vonseiten der anderen Obdachlosen einzustecken, und dass er so gewissenhaft überprüft hatte, ob es sich bei ihr auch wirklich um die rechtmäßige Besitzerin handelte, zeugte von außergewöhnlichem Verantwortungsbewusstsein.
Mit leichtem Ächzen stand er auf. Auch Frau Yeom erhob sich und zog eilig die vier 10.000-Won Scheine aus ihrem Portemonnaie.
»Bitte schön.«
Der Mann sah auf das Geld. Sie spürte, dass er zögerte.
»Nehmen Sie es.«
Anstatt nach dem Geld zu greifen, steckte er die Hand in seine Jacke und beförderte eine zerknautschte Rolle Klopapier ans Tageslicht, mit der er sich die noch immer blutende Nase abwischte. Dann drehte er sich um und ging. Frau Yeom, das zurückgewiesene Geld noch in der Hand, stand hilflos da und blickte ihm eine Weile nach. Vor dem 24-Stunden-Shop, wo er kurz zuvor gehockt hatte, um sein Lunchpaket zu verzehren, blieb er stehen und bückte sich. Sie folgte ihm.
Er betrachtete die ausgekippte Lunchbox, murmelte etwas vor sich hin und seufzte. Frau Yeom, die ihn eine Weile von hinten beobachtet hatte, beugte sich vor und klopfte ihm auf den Rücken. Er drehte sich um und blickte in das Gesicht einer Lehrerin, die bereit war, einen niedergeschlagenen Schüler zu trösten.
»Mein Herr, seien Sie so gut, und kommen Sie mal kurz mit mir mit.«
Als sie am Westausgang des Bahnhofs ankamen, blieb er stehen und zögerte. Wie ein pflanzenfressendes Tier, dass sich weigert, den Schoß der Natur zu verlassen und in einen auf dem Asphalt stehenden Lastwagen zu steigen. Mit drängender Geste brachte Frau Yeom ihn schließlich dazu, das Bahnhofsgebäude zu verlassen, und nun liefen sie die Straße entlang, die in Richtung des Viertels Garwol-dong führte. Sie trippelte voran, und er folgte ihr in wenigen Schritten Abstand. So ließen sie Garwol-dong hinter sich und erreichten das Viertel Cheongpa-dong. Die zu Boden gefallenen Früchte der spätherbstlichen Ginkgobäume am Straßenrand verströmten einen ähnlich unappetitlichen Geruch wie der Obdachlose. Frau Yeom überlegte, was sie dazu gebracht hatte, ihn mitzunehmen.
Sie wollte sich diesem Mann gegenüber, auch wenn er ihren Finderlohn abgelehnt hatte, irgendwie erkenntlich zeigen. Dafür, dass er ihren Portemonnaiebeutel so eisern verteidigt hatte, und dafür, dass er sich so anständig verhalten hatte, obwohl man dies von einem Penner wie ihm nicht unbedingt hatte erwarten können. Diese Haltung war ihr während all der Jahre im Schuldienst und im Umgang mit den Schülern in Fleisch und Blut übergegangen. Vor allem war sie ihr ganzes Leben überzeugte Christin gewesen und wollte die Güte des Obdachlosen, der sich als barmherziger Samariter erwiesen hatte, nun in gleicher Weise erwidern.
Sie waren etwa eine Viertelstunde lang gegangen, als am Ende einer dunklen Gasse eine große Kirche in Sicht kam. Sie befanden sich in der Nähe der Sookmyung-Frauenuniversität. Kichernde Studentinnen in Jeans und Jacke gingen an ihnen vorbei, und vor einem Imbiss, der durch eine Fernsehsendung berühmt geworden war, standen die Leute Schlange. Frau Yeom drehte sich um und sah, wie der Mann sich fasziniert in der Umgebung umblickte. Leute wichen ihnen aus. Sie fragte sich nicht ohne Sorge, was die Leute wohl dachten, wenn sie sie so zusammen sahen. Denn hier, in Cheongpa-dong, war sie selbst zu Hause. Und hier lag auch ihr Geschäft.
Den Mann im Schlepptau, ging sie weiter in Richtung der Sookmyung-Frauenuniversität, an zwei Seitengassen vorbei, bis zu einer kleinen Weggabelung. Ihr 24-Stunden-Laden lag genau an der Ecke der beiden hier zusammenlaufenden Straßen. Sie öffnete die Ladentür und bedeutete ihm einzutreten. Er zögerte einen Moment lang, doch dann folgte er ihrer Aufforderung.
»Herein! Oh, da sind Sie ja.«
Si-hyeon, die Ladenaushilfe, ließ das Handy sinken und begrüßte Frau Yeom mit einem Lächeln. Diese erwiderte das Lächeln, bemerkte aber sogleich die Irritation, die sich nun in Si-hyeons Gesicht ausbreitete.
»Keine Sorge, das ist ein Gast.«
Bei dem Wort »Gast« verzog sich Si-hyeons Miene noch mehr. Bis das Mädchen erwachsen werden würde, würde es wohl noch eine ganze Weile dauern, dachte Frau Yeom, ergriff den Arm des Mannes und zog ihn zu der Auslage mit den Lunchboxen. Ob er gleich verstanden hatte oder sich nichts weiter dachte — diesmal folgte er ihr sofort, ohne ein Wort zu sagen.
»Suchen Sie sich einfach was aus. Was Sie gerne essen.«
Der Mann sah sie fragend an.
»Der Laden gehört mir, also tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Also … hm … wie?«
Nachdem er sich eben noch so die Lippen geleckt hatte, stand er nun mit offenem Mund ratlos da.
»Was ist? Gibt es nichts, das Sie gerne essen würden?«
»Hier … gibt es keine … Park Chanho-Lunchbox …«
»Das hier ist kein GS-Shop. Die Park Chanho-Lunchbox gibt es nur im GS-Shop. Aber auch hier gibt es viele leckere Sachen. Schauen Sie mal, was wir so haben und suchen Sie sich was aus.«
»Park Chanho … Die Lunchbox von dem … ist wirklich gut …«
Frau Yeom war leicht irritiert darüber, dass er ihr andauernd mit der Lunchbox des Konkurrenzunternehmens in den Ohren lag. Dann griff sie ins Regal und holte die größte Lunchbox heraus, die ihr eigener Laden zu bieten hatte.
»Probieren Sie mal das hier. Lunchbox de luxe. Die ist wirklich gut und hat richtig viele Beilagen.«
Er nahm die Lunchbox entgegen und zählte sorgfältig die Anzahl der verschiedenen Beilagen. Zwölf. Ein Festmahl für einen Straßenpenner, dachte sich Frau Yeom, während sie beobachtete, wie er akribisch seine Lunchbox studierte. Schließlich hatte er seine Begutachtung abgeschlossen, hob den Kopf und bedankte sich mit einer Verbeugung. Dann ging er nach draußen und setzte sich, als hätte er den Platz für sich reservieren lassen, an den Tisch vor dem Laden.
Der grüne Plastiktisch wurde nun zu seinem Esstisch. Ganz behutsam, als öffnete er ein Schatzkästchen, hob er den Deckel der Lunchbox, brach vorsichtig die beiden Holzstäbchen auseinander und nahm dann einen Löffel Reis. Frau Yeom beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen. Dann drehte sie sich um, griff nach einer Packung Doenjang-Suppe im Plastikbecher und stellte sie auf den Tresen. Si-hyeon, die sofort begriff, scannte den Barcode ein, und Frau Yeom goss heißes Wasser in den Becher, nahm Stäbchen und Löffel und ging nach draußen.
»Hier, probieren Sie mal. Damit es schmeckt, gehört doch noch eine Suppe dazu.«
Er schaute zwischen dem Becher, den sie auf den Tisch gestellt hatte, und ihrem Gesicht hin und her. Dann nahm er den Becher mit der Suppe und trank daraus, ohne einen Löffel zur Hand zu nehmen. Nachdem er den Becher — als könnte das kochend heiße Wasser seiner Kehle nichts anhaben — zur Hälfte ausgeschlürft hatte, nickte er ein paarmal und griff dann wieder zu den Essstäbchen.
Frau Yeom ging zurück in den Laden und kam mit einem mit Wasser gefüllten Pappbecher wieder heraus, den sie vor ihm auf den Tisch stellte. Dann nahm sie ihm gegenüber am Tisch Platz und sah zu, wie er seine Lunchbox verzehrte. Er sah aus wie ein hungriger, gerade aus dem Winterschlaf erwachter Bär, der sich über ein Honigfass hermachte oder sich für den bevorstehenden Winterschlaf Fettvorräte anfraß. Als Straßenpenner war es für ihn sicher nicht leicht, am Tag drei Mahlzeiten zu sich zu nehmen, wieso sah er dann trotzdem so wohlgenährt aus? Vielleicht aus demselben Grund, der dazu führte, dass der Anteil übergewichtiger Menschen in der Unterschicht besonders hoch war. Oder weil er sein Essen immer so schnell in sich hineinschlang.
»Essen Sie langsam. Es nimmt Ihnen niemand weg.«
Den Mund von der Soße des gebratenen Kimchis verschmiert, sah er sie an. Nun nicht mehr mit vorsichtig wachsamem, sondern mit einem artig folgsamen Blick.
»Schmeckt … gut …«
Dann sah er auf den Deckel der Lunchbox, der neben ihm auf dem Tisch lag, und fügte hinzu: »Wirklich … de luxe.«
Er neigte den Kopf zum Dank und wandte sich dann wieder der Doenjang-Suppe zu. Offenbar kam er langsam zu sich, seine Bewegungen wurden sicherer, sein gröbster Hunger schien gestillt zu sein. Sie betrachtete, wie er die restlichen Eomuk-Fischmehlkuchen mit den Stäbchen aus der Schale nahm, und spürte ein eigenartiges Gefühl der Zufriedenheit. Denn die Beharrlichkeit, mit der er sich diesen letzten, noch übrigen Eomuk-Stückchen widmete, strahlte Würde aus.
»Kommen Sie in Zukunft hierher, wenn Sie Hunger haben. Hier können Sie immer eine Lunchbox bekommen.«
Er ließ die Stäbchen sinken und sah sie mit großen Augen an.
»Ich sag den Aushilfen Bescheid, Sie müssen nichts bezahlen.«
»Sie meinen … Sie meinen die weggeworfenen Lunchboxen?«
»Nein, die neuen. Warum sollten Sie weggeworfene Sachen essen?«
»Die Aushilfen … essen die weggeworfenen Lunchboxen. Die sind … für mich … echt in Ordnung …«
»In unserem Laden lasse ich niemanden weggeworfene Sachen essen. Die Aushilfen nicht und Sie auch nicht. Essen Sie was Vernünftiges. Ich bestehe darauf.«
Einen Moment sah er etwas verwirrt aus, dann verneigte er sich erneut zum Zeichen des Dankes und machte sich wieder an den Eomuk-Resten zu schaffen. Erst da reichte sie ihm das mitgebrachte Besteck. Unschlüssig nahm er es entgegen. Doch dann begann er, wie jemand, dessen Körper sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder daran erinnert, dass er früher einmal Fahrradfahren gelernt hat, die restlichen Stücke des Fischkuchens mit der Gabel zusammenzukratzen. Und ließ sie sich schmecken.
Als er die Plastikbox vollständig und sauber geleert hatte, hob er den Kopf und sah Frau Yeom an.
»Das hat … gut geschmeckt. Danke.«
»Ich danke Ihnen, dass sie auf meinen Beutel aufgepasst haben.«
»Den haben eigentlich … die beiden Kerle geklaut.«
»Die beiden Kerle?«
»Ja … Da bin ich wütend geworden und hab es ihnen … weggenommen. Wo das Portemonnaie drin war.«
»Heißt das, die Kerle haben mir mein Portemonnaie gestohlen und Sie haben es ihnen weggenommen? Um es mir zurückzugeben?«
Er nickte und trank einen Schluck von dem Wasser, das sie ihm in den Pappbecher gegossen hatte.
»Gegen zwei … komme ich an. Aber bei dreien … wird es schwierig … Die nehme ich mir später einzeln vor.«
Die Erinnerung an das, was am Bahnhof passiert war, schien ihn wütend zu machen. Grimmig bleckte er die Zähne. Der Anblick des roten Chilipulvers zwischen seinen gelben Zähnen löste bei Frau Yeom zwar ein leichtes Stirnrunzeln aus, aber dass er nun so mit seiner Körperkraft prahlte, hatte etwas Ermutigendes und Befreiendes.
Er trank das Wasser aus und blickte sich um.
»Wo … sind wir hier eigentlich?«
»Hier? In Cheongpa-dong. Auf dem blauen Hügel.«
»Auf dem blauen Hügel … Wie schön …«
Inmitten des dichten Bartwuchses hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Dann nahm er den Lunchbox- und den Suppenbehälter, stand auf und warf den Abfall mit großer Selbstverständlichkeit in den Eimer für den Recycling-Müll. Als er zurückkam, holte er erneut die unansehnliche Rolle Klopapier aus der Jackentasche und wischte sich damit den Mund ab. Nach einer 90-Grad-Verbeugung zum Abschied wandte er sich schließlich zum Gehen.
Sie sah ihm noch eine Weile nach, sah, wie er in Richtung Hauptbahnhof ging, als machte er sich gerade auf den allmorgendlichen Weg zur Arbeit. Dann ging sie zurück in den Laden. Sofort kam Si-hyeon voller Neugier herbeigeeilt und begann, sie auszufragen. Frau Yeom erzählte, was passiert war, begann damit, wie sie im Zug den Verlust ihres Beutels bemerkt hatte. Si-hyeon hörte zu und nahm immer wieder mit teils verwunderten, teils erschrockenen Ausrufen Anteil.
»Ein interessanter Mensch. Man würde wirklich nicht denken, dass er ein Straßenpenner ist«, meinte Frau Yeom.
»Also, ich finde, er ist ein ganz gewöhnlicher Straßenpenner. Sehen Sie lieber noch einmal nach, ob Ihr Portemonnaie noch da ist.«
Frau Yeom öffnete ihren Beutel und sah nach. Es war alles noch da. Na siehst du, schien ihr Blick zu sagen, als sie ihrer Aushilfe zulächelte. Dann zog sie plötzlich ihren Personalausweis aus dem Portemonnaie und zeigte ihn Si-hyeon.
»Sehe ich anders aus?«
»Sie sehen genauso aus wie auf dem Foto. Bis auf die grauen Haare sehen Sie noch genauso jung aus wie auf dem Bild.«
Frau Yeom betrachtete nun selbst ganz genau das Foto auf ihrem Personalausweis. Es bestand kein Zweifel, sie hatte sich inzwischen wirklich ziemlich verändert.
»So traurig das ist, er hat recht.«
»Was?«
»Da ist wirklich was dran … Si-hyeon, du bist sehr rücksichtsvoll.«
Frau Yeom wies Si-hyeon an, dem stämmigen Obdachlosen in Zukunft immer seine Lunchbox zu geben, wenn er im Laden erschien, und auch alle anderen Mitarbeiter darüber in Kenntnis zu setzen. Si-hyeon wirkte wenig begeistert, machte sich dann aber doch daran, die Anweisung der Chefin in den Mitarbeiter-Gruppenchat zu tippen. Frau Yeom sah sich mit zufriedener Miene im Laden um. Plötzlich erstarrte sie. Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Kunden erinnern, die in den Laden gekommen waren, während der Straßenpenner mit seiner Lunchbox beschäftigt gewesen war. Vielleicht wurde sie wirklich schon dement. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Nun, auf jeden Fall war ihr Gutes widerfahren, und sie hatte Gutes getan. Und damit allein, so beschloss sie es zu sehen, war der Tag doch eigentlich nicht schlecht gelaufen.
»Aber wollten Sie denn nicht nach Busan?«
»Du meine Güte, das habe ich ja ganz vergessen …«
Der Tag war noch nicht vorbei. Sie musste unbedingt bis spätestens heute Abend in Busan sein. Sie musste zur Beerdigung ihrer Cousine und wollte bei dieser Gelegenheit noch ein paar Tage in Busan verbringen.
Sie verstaute den Portmonnaiebeutel sicher in ihrer Tasche und machte sich wieder auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof.
Nach einer knappen Woche war Frau Yeom zurück in Seoul und ging zu ihrem Laden, um nach dem Rechten zu sehen. Si-hyeon, die gerade an der Kasse zu tun hatte, wo ein Pärchen seine Getränke bezahlte, nickte ihr zur Begrüßung zu. Gleich nachdem das Pärchen gegangen war, verließ Si-hyeon ihren Platz an der Kasse und ging zu Frau Yeom hinüber, tauschte mit ihr ein paar höfliche Worte — ob alles in Ordnung sei, ob es in der Zwischenzeit keine Probleme gegeben habe —, um dann zur Sache zu kommen:
»Frau Yeom, der Mann von neulich, der ist jeden Tag hier aufgetaucht, ohne Ausnahme.«
»Wen meinst du denn? Ach so, der Obdachlose?«
»Ja, jeden Tag, immer wenn ich Dienst hatte, ist der gekommen, um sein Lunchpaket zu essen.«
»Und wenn die anderen Dienst hatten, dann nicht?«
»Nein, immer nur wenn ich da war.«
»Vielleicht mag der dich?«
Si-hyeon quittierte den boshaften kleinen Scherz mit gerümpfter Nase und verdrehten Augen. Frau Yeom meinte lachend, das sei doch nur Spaß gewesen, und machte sich nichts weiter aus Si-hyeons Genörgel.
»Hm, aber wissen Sie, wenn ich jetzt darüber nachdenke … Dass der immer in meiner Schicht hierhergekommen ist, das war immer pünktlich um acht Uhr abends, wenn die abgelaufenen Sachen entsorgt werden.«
»Was? Ich hab dir doch gesagt, du sollst ihm frische Ware geben.«
»Das habe ich ihm ja auch gesagt. Aber er hat eisern darauf bestanden, nur von den abgelaufenen Lunchboxen zu essen.«
»Dabei habe ich ihm doch extra erklärt, dass er die neuen Sachen bekommt. Ich muss mein Versprechen halten!«
»Das ist gar nicht einfach, Frau Yeom. Der steht vor der Kasse und brummelt stur vor sich hin. Und dann dieser Gestank. Das riecht echt, als hätte irgendwer hier im Laden sein Häufchen hinterlassen. Manche Kunden sind sogar gleich wieder gegangen, als die den hier stehen gesehen haben. Was soll ich denn da machen? Wenn das irgendwie schnell geregelt werden soll, bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als es so zu machen, wie er will, und ihn dann wieder gehen zu lassen. Und lüften muss ich hinterher auch noch jedes Mal.«
»Puh … Verstehe.«
»Also, ich habe irgendwie das Gefühl, das ist abgesprochen. Immer genau dann, wenn die alten Lebensmittel entsorgt werden, taucht der jedes Mal wie aus dem Nichts hier auf.«
»Der hat seine Prinzipien, so viel steht fest.«
»Gestern ist er mal ein klein wenig später gekommen, da hab ich schon befürchtet, dass er vielleicht krank ist.«
Si-hyeon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bemühte sich, möglichst besorgt zu wirken. Frau Yeom rang sich ein Lächeln ab. Das Mädchen, groß gewachsen, gertenschlank und von sanftem Gemüt, erinnerte sie immer ein wenig an eine röhrenförmige Tubeman-Puppe, die als Werbefigur vor Geschäften steht, im Wind hin und her schwankt und mit den Armen schlackert.
»Si-hyeon, du bist einfach zu liebenswürdig für diese Welt …«
»Sie waren es doch, die auf die liebenswürdige Idee gekommen ist, dem Obdachlosen jeden Tag eine Lunchbox zu spendieren. Wenn der jetzt auch noch seine Kollegen hier anschleppt, was machen wir denn dann?«, gab Si-hyeon zurück. So eine Tubeman-Puppe ist biegsam, aber unbeugsam …
»So einer ist er nicht.«
»Ah ja? Woher wissen Sie das denn so genau?«
»Ich habe einen Blick für so was. Deswegen habe ich ja auch dich hier eingestellt, nicht wahr?«
»Sie sind wirklich unschlagbar.«
Frau Yeom hatte stets Freude an den neckischen Rangeleien mit Si-hyeon. So hätte sie sich ihre älteste Tochter gewünscht. Sie wünschte ihr von Herzen, dass sie die Beamtenprüfung bestand und dann weiterziehen könnte, wurde aber gleichzeitig auch schon wehmütig bei dem Gedanken daran, dass Si-hyeon dann nicht mehr hier im Laden arbeiten würde.
Die Türglocke bimmelte. Si-hyeon begrüßte den eintretenden Kunden und nahm sogleich ihren Platz hinter der Kasse ein. Frau Yeom sah sich im Laden um und warf einen Blick auf die übrig gebliebenen Lunchboxen. Sie nahm sich vor, einmal hierherzukommen, wenn die abgelaufenen Lebensmittel entsorgt wurden. Um den Obdachlosen nach seinem Namen zu fragen.
An diesem Abend war sie nach Hause gekommen und vor dem Fernseher eingeschlafen. Geweckt wurde sie durch das Telefon. Sie sah auf das Display. Es war ihr Sohn. Und es war kurz nach Mitternacht. Beides stieß ihr sauer auf. Als sie den Anruf annahm, klang ihr vom anderen Ende der Leitung eine unzweifelhaft alkoholisierte Stimme entgegen. Ihr Sohn wusste nicht, dass sie in Busan gewesen war, und hatte auch vergessen, dass sie morgen Geburtstag hatte. Trotzdem beteuerte er, dass er sie liebe und dass es ihm leidtue, sich seiner Mutter gegenüber so ungebührlich zu verhalten. Den Abschluss seines üblichen Repertoires bildete stets, und so auch heute, die existenzielle Frage danach, wie es »um den Laden denn so stehe«. Woraufhin sie erwiderte, das brauche ihn nicht zu kümmern. Und wie immer antwortete er darauf mit dem Hinweis, dass sie doch viel mehr Freiraum und ein deutlich behaglicheres Leben hätte, wenn sie den unrentablen Laden endlich dichtmachen und ihm das für sein eigenes Geschäft benötigte Geld zur Verfügung stellen würde. Da konnte sie sich nicht länger zurückhalten:
»Min-sik, diese Betrügereien der eigenen Familie gegenüber lässt du bleiben, klar?«
»Ach, Mama. Wieso vertraust du mir denn nicht? Glaubst du wirklich, dein eigener Sohn würde dich über den Tisch ziehen?«
»Ob Menschen oder Staaten, sie alle werden danach beurteilt, welche Vergangenheit sie in sich tragen, lass dir das von einer pensionierten Geschichtslehrerin sagen. Erinnere dich daran, was du dir in der Vergangenheit alles geleistet hast. Würdest du dir da selber vertrauen?«
»Uff … Mama, ich bin so einsam. Warum macht ihr mich noch einsamer, meine Schwester und du? Familie? Was soll das denn heißen?«
»Ich lege jetzt auf. Ich höre mir dein betrunkenes Gefasel nicht länger an.«
»Mama …«
Sie legte auf und ging in die Küche. Sie hatte Schmerzen in der Herzgegend. Ihr Herz brannte, als würde es in der Pfanne fritiert. Brutzelnd breiteten sich die Schmerzen in ihr aus und drückten auf die gesamte Brust. Sie öffnete den Kühlschrank, nahm eine Dose Bier heraus und trank in großen Schlucken, um das Feuer in ihrer Brust, die Schmerzen in ihrem Herzen, zu löschen, trank, bis sie sich verschluckte und husten musste. Dass sie sich nun betrank, um das Geschwafel ihres betrunkenen Sohnes zu vergessen, fand sie selbst erbärmlich.
Sie war ratlos. Was sollte sie tun?
Mit klarem Urteilsvermögen und Entschlusskraft hatte sie ihr Leben bis jetzt ohne große Schwierigkeiten bewältigt. Das Problem mit ihrem Sohn war, dass er ihr Leben aus dem Gleichgewicht brachte. Angenommen, sie würde ihren Laden wirklich aufgeben, um ihrem missratenen Sohn bei seinem Geschäft, seinen Machenschaften oder wobei auch immer zu helfen, und ihr Geld würde dabei draufgehen. Was käme als Nächstes? Wahrscheinlich ihre letzte noch verbliebene Rücklage, die kleine Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines unmodernen, sonnenverblichenen Hauses, das seit zwanzig Jahren auf dem Hügel von Cheongpa-dong stand. Vielleicht würde sie ihm auch ihr letztes Refugium noch abtreten müssen, um sein völliges Scheitern zu verhindern.
So schwer es ihr fiel, sich das einzugestehen, ihr Sohn war nicht nur missraten, sondern ein lupenreiner Betrüger. Auch ihrer Schwiegertochter musste irgendwann ein Licht aufgegangen sein, denn sie hatte nach rund zwei Jahren Hals über Kopf die Scheidung eingereicht. Damals hatte Frau Yeom sich noch über die vermeintliche Kaltherzigkeit ihrer Schwiegertochter aufgeregt, aber schließlich hatte sie einsehen müssen, dass es wohl ihr Sohn gewesen war, der die Hauptschuld am Scheitern der Ehe trug. Drei Jahre später hatte ihr Sohn auch das restliche Vermögen vollständig verjubelt. Sie, seine Mutter, war nun die Einzige, die ihm noch helfen konnte Was aber tat sie? Sie sorgte sich um die Mahlzeiten eines Straßenpenners am Hauptbahnhof. Warum aber konnte sie nicht für ihren eigenen Sohn sorgen, der, seit er nicht mehr bei ihr wohnte, ständig betrunken war und auf keinen grünen Zweig mehr kam?
Nachdem sie das Bier ausgetrunken hatte, blieb sie am Küchentisch sitzen und begann zu beten. Inniges Beten, flehentliches Bitten, das war alles, was sie tun konnte.
Ihren Geburtstag verbrachte Frau Yeom gemeinsam mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und ihrer Enkelin Junhee, dem kleinen Sonnenschein. Diesmal war ihre Familie nicht zu ihr nach Cheongpa-dong gekommen, sondern hatte sie in ein Grillrestaurant eingeladen, das sich in einem Mehrzweckgebäude in ihrem eigenen Wohnviertel befand. Das High-Eco-Village im Ostteil von Ichon-dong, wo ihre Tochter wohnte, und das Haus in Cheongpa-dong, wo Frau Yeom wohnte, lagen zwar beide im Bezirk Yongsan-gu, ansonsten aber in jeder Hinsicht himmelweit voneinander entfernt. Yongsan-gu war nach den drei Gangnam-Bezirken derjenige Stadtteil mit den höchsten Immobilienpreisen, wobei aber Cheongpa-dong mit seinen dicht an dicht liegenden Häuschen und Studentenunterkünften nach wie vor ein Viertel der Unterschicht war. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sagten zwar immer wieder, ihre Wohnung gehöre eigentlich der Bank, aber sie hatten es sich zum Ziel gesetzt, reichlich Geld anzusparen, um dann, wenn Junhee in die Mittelstufe käme, nach Gangnam, ins gelobte Land, zu ziehen. Zwar fragte sich Frau Yeom bisweilen, ob die aggressiven, ambitionierten Methoden der Geldanlage und Haushaltsführung, die ihren eigenen konservativen wirtschaftlichen Vorstellungen zuwiderliefen, eher den Fähigkeiten ihrer Tochter oder aber dem Geschick ihres Schwiegersohnes geschuldet waren, doch irgendwann begriff sie, dass es sich bei alldem um ein synergetisches Zusammenspiel der beiden handelte. Nach deren Hochzeit schien ihre Tochter ihr immer weniger wie eine Tochter und ihr Schwiegersohn umso mehr wie jemand aus einem angeheirateten Haushalt. Zum Glück bereitete ihr die Familie ihrer Tochter, die harmonisch und gedeihlich zusammenlebte, weniger Sorgen als die Ehe ihres Sohnes, die in Streit und Scheidung geendet hatte. Aber sie spürte doch, dass die Verbindung zu ihrer Tochter, in der sich die Ausrichtung und die Art der Gespräche und so vieles andere geändert hatte, zusammen mit der physischen Distanz, sollten sie von Yongsan nach Gangnam umziehen, weiter auseinanderbrechen würde.
Was bedeutete es da schon, dass man sich zum Geburtstag der Mutter und Schwiegermutter in diesem für seine hohen Preise bekannten Restaurant versammelt hatte, um delikates koreanisches Rindfleisch zu essen? Im Grunde schien ihr dieser Umstand weniger rührend als vielmehr belastend. Bis dahin hatte die Familie ihren Geburtstag immer in einem Schweinerippchen-Restaurant vor der Sookmyung-Universität gefeiert. So saß sie nun in unbehaglicher Stimmung da und betrachtete ihre Enkelin Junhee mit einem stillen Lächeln. Zwar war Junhee mit den YouTube-Videos auf ihrem Smartphone beschäftigt und beachtete ihre Oma nicht weiter, aber es war trotzdem ein schönes Gefühl. Tochter und Schwiegersohn sprachen gerade über irgendwelche Finanzleistungen, einmalig oder gestaffelt, mit oder ohne Garantie, Dinge, von denen sie nicht das Mindeste verstand, sodass sie nur hoffte, dass das Fleisch nicht mehr lange auf sich warten lassen werde, damit sie sich dem Essen widmen könne. Es war doch ihr Geburtstag. Da sollte es ihr vergönnt sein, ein wenig Spaß zu haben.
Das Essen kam. Sie konzentrierte sich ganz darauf, das von ihrem Schwiegersohn gegrillte Fleisch in ihren Mund zu befördern, ihre Tochter kümmerte sich um Junhee, und ihr Schwiegersohn grillte fleißig weiter. Nachdem das Bier eingeschenkt und angestoßen worden war, wandte ihre Tochter, als hätte sie ein Signal abgewartet, sich schließlich an sie.
»Mama, wir haben beschlossen, dass Junhee von nun an zur Taekwondo-Schule geht.«
»Was schickt ihr denn ein Mädchen zum Taekwondo …«
»Na hör mal, und ich dachte, du hättest studiert. Ob Junge oder Mädchen, Taekwondo können doch alle lernen. Junhee wurde vor Kurzem von einem Jungen geschlagen. Da hat sie von sich aus gesagt, dass sie gerne Taekwondo lernen will, damit sie sich in Zukunft gegen so unverschämte Kerle wehren kann.«
Ihre Tochter hatte recht. Frau Yeoms Gesicht erstarrte. Sie schämte sich für ihre altmodische Sichtweise. Während ihr Schwiegersohn versuchte, ihre Gedanken zu lesen, leerte ihre Tochter das Bierglas. Frau Yeom blickte schnell zu Junhee hinüber. Ihre Gesichtszüge entspannten sich.
»Junhee, willst du Taekwondo lernen?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete das Mädchen, ohne die Augen von dem YouTube-Video abzuwenden.
»Es gibt nämlich in deinem Viertel eine gute Taekwondo-Schule, Mama. Der Hagwon-Leiter dort soll ganz hervorragend sein. Der war in der Nationalen Taekwondo-Bereitschaftstruppe, ist jung, hat eine gute Einstellung … Im Dongchon-Mums’ Café soll der einen sehr guten Ruf haben.«
»Dongchon-Mums’ Café?«
»Das ist der Verein der Mütter in Dongbu-Ichon. Im Internet.«
»Da muss der Leiter aber ziemlich dumm sein. Was macht er denn dann in irgendeiner engen Gasse in Cheongpa-dong? Da sollte er seinen Hagwon doch lieber nach Dongbu-Ichon verlegen, wo er Geld verdienen kann.«
»Das würde er ja auch gerne. Aber hier ist es halt ein bisschen zu teuer. Wir können nicht warten, bis er hier in diese Gegend kommt. Deshalb müssen wir Junhee dorthin schicken, und dafür brauchen wir, glaube ich, ein bisschen deine Hilfe, Mama.«
Das gute koreanische Rindfleisch, so unglaublich zart es auch war, blieb ihr mit einem Mal zwischen den Zähnen hängen und ließ sich nicht mehr gut kauen. Natürlich machte es Frau Yeom nichts aus, Zeit mit Junhee zu verbringen. Aber dass sie diese Zeit nicht frei wählen konnte, gefiel ihr nicht.
Ihre Tochter bat sie darum, sich in den zwei Stunden zwischen Geigen- und Taekwondo-Unterricht um Junhee zu kümmern. Noch dazu sollte sie, weil der Hagwon-Shuttlebus zeitlich ungünstig fuhr, Junhee im öffentlichen Linienbus begleiten. Als Rentnerin ohne Termine wäre es im Grunde nicht schwer gewesen, sich zwei Stunden lang um die eigene Enkeltochter zu kümmern. Aber Frau Yeom hatte durchaus Termine. Sie musste oft in ihrem Laden vorbeischauen, sie leistete ehrenamtliche Arbeit in der Kirche, und außerdem schrieb sie täglich Englischvokabeln, um geistig fit zu bleiben. Wenn diese Termine denen ihrer Tochter oder ihrer Enkeltochter in die Quere kamen, würde sie sie ganz gewiss hintanstellen müssen.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Wunsch der Tochter nachzukommen. Von einer Entschädigung war zwar keine Rede, aber in dem Glauben, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sich bestimmt von sich aus darum kümmern würden, willigte sie ein.
Als sie alleine mit dem Bus nach Hause fuhr, fielen ihr die Angestellten in ihrem Laden ein. Die Leute, die dort mit ihr zusammenarbeiteten, waren ihr sympathischer und für sie eher so etwas wie eine Familie als ihr renitenter Sohn und ihre neunmalkluge Tochter. Ihre Tochter würde wohl kritisieren, dass es nicht in Ordnung sei, seine Angestellten wie eine Familie zu behandeln, und wenn schon. Das hieß ja nicht, dass sie von ihren Angestellten verlangte, sie als Familie zu betrachten, oder dass sie ihnen »ganz familiär« unangemessene Arbeit aufhalsen würde. Frau Yeom war sich bewusst, dass sie ihren Mitarbeitern gefühlsmäßig deshalb so nahestand, weil sie von niemand anderem so abhängig war.
Frau Oh, die vormittags die Verantwortung für den Laden übernahm, war seit zwanzig Jahren eine gute Freundin von Frau Yeom und besuchte auch dieselbe Kirche. Sie war wie eine kleine Schwester für sie und hatte in der Vergangenheit manch Freud und Leid mit ihr geteilt. Und Si-hyeon, die am Nachmittag kam, war wie eine Tochter oder Nichte, einfach dadurch, dass sie so war, wie sie war. Sie arbeitete nun beinahe ein Jahr lang hier im Laden, und abgesehen davon, dass ihr manchmal ein Fehler bei der Rechnung unterlaufen war, hatte sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Allein die Tatsache, dass sie es ein Jahr lang in einem 24-Stunden-Laden ausgehalten hatte, wo dauernd Kunden bedient werden mussten, war schon eine enorme Unterstützung gewesen. In dieser Hinsicht war auch Seong-pil, der seit einiger Zeit die Nachtschicht übernommen hatte, ihr ein treuer Gefährte. Der Mitte-fünfzig-Jährige war ein echter Glücksfall gewesen. Vor zwei Jahren hatte er ihrem Kopfzerbrechen darüber, dass die Aushilfen für die Nachtschicht so häufig wechselten, ein Ende bereitet. Er lebte als Familienvater zweier Kinder in einer Souterrainwohnung nicht weit vom Laden entfernt und war manchmal dort vorbeigekommen, um Zigaretten zu kaufen. Gleich als er erfahren hatte, dass ein Ladenmitarbeiter gesucht werde, hatte er angefragt, ob er hier arbeiten könne. Mit Nachdruck hatte er erklärt, dass er seinen Job verloren habe und es schwer sei, eine neue Anstellung zu finden, und dass er deshalb bereit sei, als nächtliche Aushilfe im Laden seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr war bewusst, wie händeringend er als Familienvater Arbeit suchte, und nachdem sie ihn eingestellt hatte, erhöhte sie den üblichen Stundenlohn noch um fünfhundert Won. Als die neue Regierung den stündlichen Mindestlohn noch einmal ein gutes Stück erhöhte, konnte er schließlich ein Monatsgehalt von mehr als zwei Millionen Won nach Hause bringen. Seitdem waren anderthalb Jahre vergangen, in denen er die Nachtschichten übernommen hatte, der härteste Job, den der Laden zu bieten hatte.
Das war es, was die familiäre Atmosphäre ausmachte. Aus Sicht der Chefin wäre es wünschenswert gewesen, sie alle weiterhin hier arbeiten zu lassen. Aber sie hatte beschlossen, Si-hyeon, die feste Arbeit suchte, und Seong-pil, der sich vorgenommen hatte, eine neue Anstellung zu finden, frohen Herzens gehen zu lassen, wenn sich ihnen die Gelegenheit böte, ihren Wunsch zu verwirklichen. Si-hyeon hatte sie sogar schon einmal eine passable Arbeitsstelle empfohlen. Aber zum Glück war Si-hyeon nach nur einem Tag wieder zurückgekommen. Frau Yeom erinnerte sich noch genau daran, wie Si-hyeon sie mit der Begründung, sie sei »noch nicht bereit fürs echte Berufsleben«, darum gebeten hatte, weiter im Laden arbeiten zu dürfen.
Die Arbeit am Wochenende übernahmen Studentinnen der Sookmyung-Universität, und wenn unter der Woche mal jemand gebraucht wurde, sprangen Schüler aus der kirchlichen Jugendgruppe ein. Dieses Arsenal an Aushilfen, denen es zusagte, sich ein oder zwei Tage lang ein Taschengeld zu verdienen, sorgte dafür, dass sich Frau Yeom nicht ständig von Neuem darum kümmern musste, Ausfälle zu ersetzen, und sich das Problem, Mitarbeiter einzustellen, das wohl jedem Unternehmer das größte Kopfzerbrechen bereitet, erheblich verringerte. Frau Yeom war stets erstaunt, dass die studentischen Aushilfskräfte, die nicht so eng in den familiären Kreis der ständigen Mitarbeiter eingebunden waren, sie stets mit »Sajangnim«, »Frau Geschäftsführerin« ansprachen, und dankbar, dass sie bereit waren, auf den Laden aufzupassen.
Ein Problem aber gab es. Die Umsätze.
Mit ihrer Lehrerpension konnte Frau Yeom für sich alleine gut sorgen. Dass sie nach langem Grübeln darüber, was sie mit dem Nachlass ihres Mannes anfangen solle, schließlich den Laden eröffnet hatte, war den Ratschlägen ihres jüngeren Bruders zu verdanken gewesen, der selbst drei Läden besaß. Ihr Bruder hatte betont, dass man mindestens drei Filialen führen müsse, wenn man mit einem 24-Stunden-Laden Geld verdienen wolle, und sie gedrängt, das Geschäft zu erweitern, aber ihr genügte dieser eine Laden. Wenn sie von ihrer eigenen Rente leben konnte und sich mit dem Laden für den Lebensunterhalt der »Mitarbeiterfamilie« sorgen ließ, dann war das genug. Zwar war ihr das nicht von Anfang an bewusst gewesen, aber ohne den Laden hätten Frau Oh und Seong-pil Schwierigkeiten gehabt, über die Runden zu kommen, und auch Si-hyeon verdiente sich das Geld, das sie für die Vorbereitung auf die Beamtenprüfung aufbringen musste, hier im Laden. Frau Yeom hatte nie die Absicht gehabt, sich selbstständig zu machen und bis an ihr Lebensende als Geschäftsführerin zu arbeiten. Dass sie nun dennoch dazu gekommen war, sich um das Management des Ladens zu kümmern, hatte seinen Anfang genommen, als ihr aufgegangen war, dass dieses Geschäft nicht nur in ihrem eigenen Interesse lag, sondern dass das Leben ihrer Mitarbeiter davon abhing.
Am Anfang lief das Geschäft ganz gut, aber nach sechs Monaten öffneten keine hundert Meter entfernt zwei Filialen anderer