Wenn es Nacht wird in Frau Yeoms kleinem Laden - Kim Ho-yeon - E-Book + Hörbuch

Wenn es Nacht wird in Frau Yeoms kleinem Laden Hörbuch

Kim Ho-yeon

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Beschreibung

Nach Frau »Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen« der neue warmherzige Roman von Kim Ho-yeon über den 24-Stunden-Laden von Frau Yeom

In einer schmalen Gasse in einem alten Stadtteil von Seoul befindet sich Frau Yeoms kleiner 24-Stunden-Laden. Dort lenkt seit Kurzem Seon-suk die Geschicke, unterstützt vom neuen Nachtschichtmitarbeiter Hwang Geun-bae, der wie sein Vorgänger schnell zum Trostspender wird und Kunden wie Kollegen hilft, ihre Probleme anzugehen und neue Hoffnung zu schöpfen.
Kim Ho-yeon erzählt in seinem neuen Roman humorvoll und einfühlsam von ermutigenden Begegnungen im Alltag und der Suche des Menschen nach Gemeinschaft und dem kleinen und großen Glück.

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Zeit:10 Std. 46 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Stefan WilkeningBirgitta Assheuer

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Das ist das Cover des Buches »Wenn es Nacht wird in Frau Yeoms kleinem Laden« von Kim Ho-yeon

Über das Buch

Nach Frau »Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen« der neue warmherzige Roman von Kim Ho-yeon über den 24-Stunden-Laden von Frau YeomIn einer schmalen Gasse in einem alten Stadtteil von Seoul befindet sich Frau Yeoms kleiner 24-Stunden-Laden. Dort lenkt seit Kurzem Seon-suk die Geschicke, unterstützt vom neuen Nachtschichtmitarbeiter Hwang Geun-bae, der wie sein Vorgänger schnell zum Trostspender wird und Kunden wie Kollegen hilft, ihre Probleme anzugehen und neue Hoffnung zu schöpfen.Kim Ho-yeon erzählt in seinem neuen Roman humorvoll und einfühlsam von ermutigenden Begegnungen im Alltag und der Suche des Menschen nach Gemeinschaft und dem kleinen und großen Glück.

Kim Ho-yeon

Wenn es Nacht wird in Frau Yeoms kleinem Laden

Roman

hanserblau

Ladenchefin Oh Seon-suk

Seon-suk, die sich auf dem Weg zur Arbeit befand, bemerkte erst durch die vorwurfsvollen Blicke der Vorbeigehenden, dass sie vergessen hatte, ihre Maske aufzusetzen. Schnell lief sie zurück nach Hause. Im Flur direkt neben der Tür hatte sie die Maske aufgehängt, um sie ja nicht zu vergessen, und nun war es doch wieder passiert. Diese blöde Maske! So oft Seon-suk sie auch trug, sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.

Auch an den Rest der ganzen Coronasache nicht. Dabei hieß es immer, der Mensch sei ein Gewöhnungstier. Vielleicht konnte man gegen diese Art von Virus ohnehin nichts ausrichten, aber die Wirkung des Impfstoffs ließ doch sehr zu wünschen übrig, und auch die Entwicklung anderer Heilmittel ging nur schleppend voran. Immer wieder gab es neue »Mutationen« oder was auch immer, die alle mit absonderlichen Bezeichnungen bedacht wurden, und dauernd musste man sich nachimpfen lassen, weil es wieder zu Durchbruchsinfektionen oder sonstigen Scherereien gekommen war. Dazu die Frage, ob man sich diesmal einen anderen Impfstoff spritzen lassen sollte als beim letzten Mal oder lieber nicht, und die Angst vor möglichen Nebenwirkungen sowie vor der erhöhten Gefahr für ältere Menschen, von der immer wieder die Rede war. In einer Welt, in der ein solches Virus wütete, waren kleine Leute wie Seon-suk einfach hoffnungslos überfordert.

Von ihrer Wohnung bis zum 24-Stunden-Laden waren es gerade einmal fünfhundert Meter zu Fuß, und trotzdem geriet Seon-suk außer Atem. Aufgrund ihrer korpulenten Statur war es für sie ohnehin mit Beschwernissen verbunden, wenn sie ihre Wohnung verließ, in der sommerlichen Hitze nun aber auch noch durch eine Maske atmen zu müssen, machte die Sache noch anstrengender. Ihre beiden Hunde Yeppi und Kkami waren wirklich zu beneiden. Die mussten keine Maske tragen, wenn sie von ihr Gassi geführt wurden. Ob sie heute überhaupt mit ihnen würde spazieren gehen können? Schließlich musste sie bis abends im Laden arbeiten.

Klingeling! Seon-suk öffnete die gläserne Ladentür, die mit Aushängezetteln zugekleistert war: »Verkaufsevent«, »Ladenhilfe gesucht«, »Betreten des Ladens nur mit Maske«. Drinnen war es kühl. Erst jetzt, da sie im 24-Stunden-Laden Always, ihrem Arbeitsplatz, angekommen war, konnte sie verschnaufen. Sie lächelte. Es war ein Gefühl der Behaglichkeit, wie sie es früher, als sie noch den Straßenimbiss und später das Bierlokal geführt hatte, nie gekannt hatte. Hier im Laden fühlte sie sich wohl. Warum war das so? Weil sie sich an die Arbeit hier gewöhnt hatte? Vielleicht eher, weil sie nun Filialleiterin war. Wenn man Geschäftsinhaber war, musste man sich ständig um den Absatz und verwaltungstechnische Dinge kümmern und stand täglich unter Druck. Als einfache Teilzeitkraft wiederum wurde man schlecht bezahlt und hatte wenig Sicherheit. Im Gegensatz dazu hatte sie Glück: Als Filialleiterin konnte man ein gutes Maß an Verantwortung übernehmen, aber der Lohn war höher und der Arbeitsplatz einigermaßen gesichert.

Dass sie dem Ort so verbunden war, lag wahrscheinlich einfach daran, dass dies hier der Laden war, in dem sie so lange Dienst geleistet hatte und immer eine wichtige Stütze gewesen war, der einzige Always-Laden im Viertel Cheongpa-dong. Mittlerweile machten in vielen Stadtteilen Filialen, die derselben Ladenkette angehörten, einander schon Konkurrenz, die Ladenkette Always allerdings befand sich eher auf dem Rückzug. Nachdem zu Beginn des Jahres die Filiale vor dem Haupteingang der Sookmyung-Frauen-Universität ihre Pforten dichtgemacht hatte, war der Laden, in dem Seon-suk arbeitete, als einziger in diesem Viertel übrig geblieben.

Hatte sich die Geschäftslage dadurch verbessert? Keineswegs. Wenn es der Zentrale schlecht ging, schlug sich das immer auch auf die Bilanz der Filialen nieder. Die Läden der erfolgreichen Franchise-Unternehmen veranstalteten regelmäßig Rabattaktionen und hatten zahlreiche preiswerte Produkte der eigenen Marke im Angebot, während der hiesige Laden nun sogar die Sammelpack-Aktionen für Bier einschränken und infolgedessen vor Kurzem auch den Verlust eines Stammkunden hatte verkraften müssen, der es immer auf »vier Dosen für zehntausend Won« abgesehen gehabt hatte. Ein Kunde der besonderen Art, der jeden Abend nach der Arbeit einen kurzen Zwischenstopp hier im Laden eingelegt, vier Dosen Bier sowie Knabberkram gekauft und stets auch noch ein paar Hamburger oder Sandwiches, die kurz vor Ablauf des Verfallsdatums standen, mitgenommen hatte. Irgendwann hatte er dann angefangen, sich nach seltsamen Biermarken zu erkundigen, die von Unternehmen herausgebracht wurden, die eigentlich auf Mehlproduktion, Schuhcreme-Herstellung oder eingelegte Wellhornschnecken spezialisiert waren. Seon-suk, die von der Existenz dieser Marken noch nie gehört hatte, aber ohnehin nicht damit hätte dienen können, blieb schließlich nur ein beschämtes Kopfschütteln. »Schade« war das letzte Wort, das sie noch zu hören bekam, bevor er den Laden verlassen und sich seitdem nie wieder gezeigt hatte. Als Seon-suk darüber nachgrübelte, ob sie diese eigentümlichen Biermarken nun in ihr Sortiment aufnehmen solle, kam ihr der Gedanke, dass sie in dieser Angelegenheit doch einmal ihren Sohn um Rat fragen könnte.

»Das ist halt was Neues. Was für Insta. Soll auch ganz gut schmecken«, meinte der.

»Du hast das schon mal getrunken?«

»Mama! Ich bin doch Soju-Trinker. Das Zeug glänzt nur am Anfang, also mach dir keine Sorgen.«

Die Worte ihres Sohnes beruhigten sie. Sicher, den Bierfreak hatte sie nicht zufriedenstellen können, aber wir alle mussten uns doch mit dem Unzureichenden begnügen, um irgendwie durchs Leben zu kommen. Außerdem war ihr Laden ja ohnehin für seine zahlreichen Unzulänglichkeiten bekannt — diesem Image sollte man treu bleiben. Und so entschloss sich Seon-suk dazu, anstatt sich Sorgen zu machen, einfach weiterhin jeden Tag den Kunden gegenüber ihr Bestes zu geben.

Vielleicht war das der Grund, weshalb es ihr hier so gut gefiel: weil der Laden mit all seinen Mängeln und Schwachstellen ihrem eigenen Leben in vieler Hinsicht ähnelte. Das Geschäft mit Hängen und Würgen durch die Wirtschaftskrise zu manövrieren, passte irgendwie zur Normalbürgerin Oh Seon-suk, die in Zeiten roter Zahlen selbst darum kämpfte, weiter durchs Leben zu gehen.

Sie hatte die Kassenprüfung abgeschlossen und wollte gerade mit der eigentlichen Arbeit beginnen, da kam in kurzärmligem Hemd — die Mitarbeiterweste hatte er schon ausgezogen — Ladenmitarbeiter Gwak zu ihr herüber. In die Müdigkeit, die oberhalb der Maske aus seinen Augen sprach, mischte sich der Ausdruck von Scham. Seon-suk war alarmiert. Gwak zeigte sonst nie eine Gefühlsregung.

»Frau Oh, darf ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Wenn Gwak, der für gewöhnlich so einsilbig war, als hätte die Maske ihm den Mund versiegelt, nun von sich aus ankam, musste es ernst sein. Seon-suk versuchte, ihr ungutes Gefühl zunächst beiseitezuschieben, und blickte ihm ins Gesicht.

»Natürlich. Was gibt es?«

»Ich … ähm … Ich kann nur noch eine Woche hier arbeiten, also bis nächsten Donnerstag. Tut mir leid.«

Aha! Irgend so etwas hatte ja kommen müssen. Vor ein paar Tagen hatte er sich plötzlich einen Tag freigenommen, und schon da hatte sie vermutet, dass etwas passiert sein musste.

»Herr Gwak, haben Sie denn eine neue Arbeit gefunden?«

Ihre Frage war von aufrichtiger Sorge begleitet. Zwar hatte Gwak nun seit über einem Jahr die Nachtschicht hier im Laden inne, aber dass er jetzt problemlos eine andere Arbeit würde übernehmen können, erschien ihr angesichts seines Alters und seiner eingeschränkten Fähigkeiten doch fraglich. Immer wieder war es vorgekommen, dass er sich bei der Kassenabrechnung geirrt oder die jeden Monat wechselnden Rabattaktionen durcheinandergebracht hatte, und mit den Zusatzfunktionen des Kartenterminals kam er auch noch immer nicht richtig klar. Wenn es etwas gab, das er gut konnte, so bestand es darin, Ladendiebe dingfest zu machen. Dass es ihm immerhin dreimal gelungen war, Kunden zu stellen, die zu nächtlicher Stunde versucht hatten, Waren aus dem Laden mitgehen zu lassen, war in Anbetracht seines früheren Jobs als Polizeiinspektor allerdings auch einleuchtend.

»Ja, ich geh runter in die Provinz. Da ist eine Stelle als Wachmann frei geworden.«

»In die Provinz? Wohin denn?«

»Nach Gwangju. Da komme ich ursprünglich her. Neulich, als ich mir freigenommen habe, war ich wegen einer Familienangelegenheit da unten. Da habe ich auch zum ersten Mal seit Langem wieder einmal ein paar alte Freunde getroffen, und einer von denen besitzt ein ziemlich großes Gebäude. Er meinte, er sucht einen Wachmann, und als ich ihm erzählt habe, dass ich hier in Seoul in einem 24-Stunden-Laden arbeite, hat er gesagt, ich soll nach Gwangju kommen. Ich habe kurz überlegt und mich dann dazu entschlossen, meine Zelte hier abzubrechen. Aber ich muss eben schon nächste Woche da anfangen … Tut mir leid, dass das alles so kurzfristig ist.«

Was Seon-suk verstimmte, war weniger die Kurzfristigkeit als eher die unerwartete Beredsamkeit, mit der er sich äußerte. Wortkarg — so waren sie doch sonst immer, die Männer. In Situationen, wo ein einziger Satz, ein einziges Wort schon hilfreich gewesen wäre, schlug einem dröhnendes Schweigen entgegen, und daran, die so entstandenen Missverständnisse kommunikativ aufzulösen, war erst recht nicht zu denken. Gwak war in dieser Hinsicht nicht anders, und so hatte sie nie recht Zugang zu ihm gefunden. Das Gleiche galt für Jeong, den jungen Burschen, der auf seine Einberufung zum Wehrdienst wartete und in dieser Zeit für vier Monate als Abendaushilfe im Laden jobbte. Auch der war so gesprächig wie ein Steinbuddha. Wobei Seon-suk selbst, eine redselige, leicht aufbrausende Frau Mitte fünfzig, für die beiden Männer sicher auch kein ganz leichter Umgang war …

»Das muss Ihnen nicht leidtun. Jedenfalls müssen wir jetzt schnell jemanden finden, der die Arbeit übernimmt. Ich sage erst mal dem Geschäftsführer Bescheid und kümmere mich um die Stellenanzeige.«

»Vielen Dank für Ihre Mühe!«

Gwak verneigte sich höflich vor Seon-suk, dann öffnete er die gläserne Ladentür und trat seinen Feierabend an.

Stellenausschreibung. Jemanden suchen, der die Arbeit machen würde. Das war für jede Filialleitung der Sorgenfaktor Nr. 1. Ohnehin war sie bereits auf der Suche nach einer Wochenendaushilfe, nun musste sie auch noch jemanden für die reguläre Nachtschicht unter der Woche finden. Der bloße Gedanke daran bereitete ihr Kopfschmerzen. Der Tag, den sie eigentlich voller Elan hatte beginnen wollen, hatte ihr bereits jetzt Fußfesseln angelegt.

Den Vormittag über bis zur Mittagszeit bediente sie Kunden, überprüfte Haltbarkeitsdaten, ergänzte bestimmte Artikel, die zur Neige gegangen waren, checkte die Frischwaren und legte sie ins Regal. Zwischendurch nahm sie ein Sandwich und eine Tüte Milch, die jeweils knapp über dem Verfallsdatum lagen, als Mittagessen zu sich. Inzwischen war es ein Uhr. Um diese Zeit musste der Geschäftsführer eigentlich aufgestanden sein.

Seon-suk holte ihr Handy hervor, sah auf die Liste der kürzlich erfolgten Telefonate und drückte auf die Nummer unter dem Eintrag »Yeong-suks Sohn«. Die eigentlich fällige Umbenennung in »Geschäftsführer Gang« hatte sie immer wieder aufgeschoben. Von allem, was mit diesem Kerl zu tun hatte, wollte sie lieber die Finger lassen.

Das Freizeichen zog sich immer mehr in die Länge. Seon-suk war genervt. Im letzten Moment nahm er schließlich doch noch ab.

»Was ist? Hast du eine Wochenendaushilfe gefunden?«

»Nee. Erst mal das: Gwak hat gesagt, er hört auf.«

Vom anderen Ende der Leitung glaubte sie ein leichtes Aufstöhnen zu vernehmen, da hörte sie seine barsche Stimme: »Wie viel will er denn? Dass der mir das auch nicht selber sagt …«

»Was? Er hat gesagt, er will aufhören und …«

»Ach komm, Tante« — seit seiner Kindheit nannte er sie so —, »das heißt doch bloß, dass er mehr Geld will. Jetzt hat er länger als ein Jahr im Laden gearbeitet und quengelt rum, weil ich ihm das Gehalt noch nicht erhöht habe. Ein bisschen mehr Lohn, und die Sache mit dem Aufhören hat sich erledigt.«

»Nein, er sagt, er hat in Gwangju, wo er herkommt, eine Arbeit als Wachmann gefunden, und er meint, es muss alles ganz schnell gehen.«

»Na, da hat er sich ja ein hübsches Szenario einfallen lassen. Du bist aber auch reichlich naiv. So was! Muss ich wohl mal mit Onkel Gwak telefonieren.«

Und noch bevor Seon-suk etwas antworten konnte, hatte er aufgelegt. Seine verschlafene Stimme, die Art, wie er sie und Gwak ignorierte — all das war für sie nur schwer erträglich. Als Gwak heute Morgen mit ihr gesprochen hatte, hatte er gewirkt, als meinte er es ernst. Wie kam Gang darauf, dass Gwak versuchte, Spielchen mit ihnen zu spielen? Nun ja, Gang wusste sicher selbst am besten, wovon er sprach. Der Kerl war einfach erbärmlich.

Geschäftsführer Gang. Beziehungsweise Yeong-suks Sohn. Beziehungsweise Min-sik.

Als sie ihn vor über dreißig Jahren eines Tages in der Kirche gesehen hatte, in die Yeong-suk, seine Mutter, ihn mitgebracht hatte, war er ihr schon als zappeliges, ungezogenes Kind aufgefallen, aber dass er sich dereinst zu einem solchen Taugenichts entwickeln würde, hatte sie damals noch nicht geahnt. Das Problem war, dass sie jetzt ständig mit ihm zu tun hatte und er die Entscheidungsgewalt über den Laden innehatte.

Der Kerl interessierte sich lediglich für die Einnahmen, von Geschäftsführung verstand er nicht das Geringste, und er war auch nicht bereit, in irgendeiner Weise Verantwortung dafür zu tragen. Gang hatte keine Lust, sich um die Warenbestellung oder Personalangelegenheiten zu kümmern, denn er war schließlich der Chef, und da sollten doch lieber seine Untergebenen all diese Dinge regeln. Das war der Grund, weshalb er Seon-suk zur Filialleiterin befördert und ihr gleichzeitig erklärt hatte, dass so ein 24-Stunden-Laden ja im Grunde genommen von selbst laufe — sie solle einfach nach eigenem Gutdünken dafür sorgen, dass das so blieb. Und was ihr Gehalt angehe, habe er leider aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage nicht allzu viel Spielraum. So wurde Seon-suk schließlich nicht nur mit einer mickrigen Gehaltserhöhung von gerade einmal vierhunderttausend Won im Vergleich zu ihrem vorherigen Gehalt als Teilzeitmitarbeiterin abgespeist, sondern bekam, begonnen mit der Warenbestellung bis hin zur Regelung der Personalangelegenheiten, auch noch einen Haufen lästiger Arbeiten aufgehalst.

Dass sie nicht ablehnen konnte, hatte nur einen einzigen Grund: Yeong-suk, ihre ältere Freundin. Wie diese ihre Hand genommen und mit flehentlichem Blick darum gebeten hatte, sie möge sich von nun an um den Laden — und um ihren Sohn Min-sik — kümmern, ging Seon-suk nicht aus dem Kopf.

Jeong hatte sich für heute freigenommen, und weil sie einfach keine Aushilfe hatte finden können, war Seon-suk nichts anderes übrig geblieben, als heute selbst bis zum Abend im Laden zu bleiben. Als die Dunkelheit hereinzubrechen begann und die von der Arbeit heimkehrenden Leute auf dem Nachhauseweg im Laden vorbeischauten, wurde Seon-suk von einer solchen Müdigkeit überrollt, dass sie dazu gezwungen sah, entgegen ihrem eigentlichen Geschmack zwei Dosen eines Energydrinks zu leeren.

Da öffnete sich die Ladentür, und Gwak kam herein. Seon-suk sah auf die Uhr. Er war zwei Stunden zu früh. Gwak meinte, er habe gehört, dass Jeong heute nicht da sei, und sei deshalb etwas früher zum Schichtwechsel gekommen.

Im ersten Augenblick war Seon-suk beinahe ein wenig gerührt, aber dann schnaubte sie. Da hätte er ja ruhig mal vorher Bescheid sagen können, dass er früher komme! Ein bisschen mehr Elan, ein bisschen mehr Pepp — meine Güte, so was Verstocktes! Seine Familie konnte einem echt leidtun, dachte Seon-suk noch, musste dann aber plötzlich an ihren eigenen Ehemann denken, der schon vor einiger Zeit von zu Hause abgehauen war, und ihr verächtliches Schnauben verwandelte sich in ein bedauerndes Seufzen. Es war schon alles ziemlicher Mist.

In diesem Moment kam ihr der Gedanke, dass von allen ihr bekannten Männern der »Golden Retriever« noch am besten gewesen sei. Der damals, als das mit Corona gerade anfing, hier im Laden für eine Weile die Nachtschicht übernommen hatte. Dann war er irgendwo hingegangen. Wo er jetzt wohl war? Und wie es ihm wohl ging? Einen Augenblick versank sie in Gedanken, aber erschöpft und hungrig, wie sie war, schob sie ihre Fragen schließlich beiseite und machte sich für den Heimweg bereit.

»Übrigens, Geschäftsführer Gang hat erlaubt, dass ich hier aufhöre«, sagte Gwak zu Seon-suk, nachdem sie sich die Mitarbeiterweste ausgezogen hatte und wieder aus dem Lagerraum gekommen war. Da erst fiel ihr wieder ein, was am Morgen passiert war. Voller Neugier trat Seon-suk an Gwak heran.

»Was hat er denn gesagt? Dass Sie bleiben sollen und er Ihnen den Stundenlohn erhöht?«

»Ja. Da hab ich ihm gesagt, wenn er mir fünfzigtausend pro Stunde gibt, bleibe ich.«

»Und was hat er darauf geantwortet?«

»Danke für die Zusammenarbeit und tschüs!«

»Puh … Also ist er mal wieder ausgerastet.«

»Halb so schlimm. So ist er halt. War ja nicht das erste Mal. Damals, als ich gesagt habe, dass ich hier im Laden arbeiten will, hat er doch auch vor Wut getobt. Kann ich mich noch gut dran erinnern.«

Auch unter seiner Maske konnte Gwak ein Zucken seiner Mundwinkel nicht verbergen.

Das hieß also, dass nun schleunigst eine neue Teilzeitkraft für die Nachtschicht gefunden werden musste. Seon-suk stellte ihre Ökotasche ab und begab sich, nachdem Gwak ihr Platz gemacht hatte, hinter die Kasse. Am dortigen Computer lud sie eine Stellenanzeige auf die Jobbörse im Internet hoch, druckte das offizielle Always-Formular für Stellenangebote und füllte es mit Kugelschreiber aus. Dann befestigte sie einen Streifen transparentes Klebeband am oberen Ende des Formulars und drehte sich zu Gwak um.

»Ich bin heute ziemlich müde, danke, dass Sie früher gekommen sind.«

»Nein, schon gut. Sie haben ja ohnehin genug Stress dadurch, dass ich hier so plötzlich aufhöre.«

Sie erwiderte seinen Blick mit einer leichten Verbeugung und öffnete die Glastür. Als sie draußen war, klebte sie das eben ausgedruckte »Mitarbeiter für die Nachtschicht gesucht« neben das bereits dort hängende »Mitarbeiter für den Wochenenddienst gesucht«. Oh Mann, ein echtes One-plus-One-Stellenangebot. Es stand zu befürchten, dass bei diesem Anblick so mancher irrtümlich auf den Gedanken kam, bei diesem Laden handle es sich um irgendein Monstrum, das bevorzugt Aushilfskräfte verschlang.

Und doch begann Seon-suk auf dem Nachhauseweg, vor sich hin zu summen. Sie hatte aus dem Laden zwei Päckchen Samgak-gimbap, in Seetang gewickelten Reis in Dreiecksform, der Geschmacksrichtung Gemüsereis mitgenommen, die ihr Sohn so gerne aß. Weil sie früher hatte gehen können, würde nun auch noch Zeit bleiben für den Spaziergang mit Yeppi und Kkami. Die Aussicht auf den Feierabend war eben doch der beste Muntermacher. Die Erschöpfung von eben war verflogen, und Seon-suk lief mit leichten Schritten durch die noch sommerlich warmen, abendlichen Straßen ihrem Zuhause entgegen.

Aus dem Zimmer ihres Sohnes drang noch immer ohrenbetäubendes Maschinengewehrstakkato. Doch Seon-suk vermutete, dass es sich, anders als früher, nicht um den Lärm eines Computerspiels, sondern um den einer Actionserie handeln musste.

Im vorigen Herbst hatte ihr Sohn sein langjähriges Dasein als untätiger Stubenhocker aufgegeben und tatsächlich Arbeit gefunden. Zu guter Letzt war er bei einer Produktionsfirma für Filme und Fernsehserien untergekommen. Die Firma gehörte einem Produzenten, den er zu der Zeit kennengelernt hatte, als er seinen Job in einem Großunternehmen hingeschmissen hatte, um in die Filmbranche einzusteigen. Aufgrund der coronabedingten Engpässe sah sich die Filmproduktion gezwungen, auf Serien umzusatteln, brauchte dafür neue Mitarbeiter und hatte ihm daher ein Angebot gemacht. Seon-suk, die zuvor regelmäßig ihren Unmut darüber bekundet hatte, dass er sich einer derart nutzlosen Branche wie dem Filmgeschäft verschrieben habe, war nun, da sich das Problem so erfreulich aufgelöst hatte, erheblich besser gelaunt. Man konnte eben nie wissen, was das Leben so mit einem vorhatte.

Vor allem aber kam ihr der Beruf ihres Sohnes, der nun als Projektplaner für Fernsehserien tätig war, äußerst eigentümlich vor. Seine Arbeit bestand darin, den ganzen Tag koreanische, amerikanische, japanische und chinesische Serien anzuschauen. Nun gut, vermutlich brachte der Job außer Dauerglotzen noch irgendwelche anderen Aufgaben mit sich, aber nach Arbeit sah das Ganze nicht aus — und dass er dafür jeden Monat so gut bezahlt wurde, erstaunte sie doch sehr. Noch dazu konnte er von zu Hause aus arbeiten und musste nur zweimal pro Woche in die Firma. So saß er also weitestgehend in seinem Zimmer, genauso wie früher, als er sich dort verkrochen und den ganzen Tag Computerspiele gespielt hatte, nur dass er jetzt eben arbeitete. Das war schon reichlich seltsam.

Ihr Sohn erklärte ihr, dass man sich heutzutage im OTT-Zeitalter befinde und es einen Kanal namens Netflix gebe, den man sich gegen Bezahlung anschauen könne und für den seine Firma Serien produziere. Seon-suk konnte mit all diesen Begriffen zwar nicht viel anfangen, aber allein die Begeisterung, die aus den Augen ihres Sohnes sprühte, wenn er ihr all das so eifrig erklärte, erfüllte sie mit Zufriedenheit. Sie war stolz auf ihren Sohn, der es geschafft hatte, eine Arbeit zu finden, mit der er sich sehen lassen konnte.

Seon-suk schimpfte nun nicht mehr auf ihren Sohn. Sie sagte ihm auch nicht mehr, dass er die Beamtenprüfung machen solle, um eine sichere Anstellung zu bekommen, oder dass er endlich heiraten solle. Ihr Sohn hatte ihr erklärt, dass die Welt, in der seine Generation sich zurechtfinden müsse, eine andere sei als die, die sie selbst in ihrer Jugend erlebt habe. Das hatte ihr eingeleuchtet, und seitdem war ihr Verhältnis ein anderes. Sie hatte immer Angst davor gehabt, dass ihr Sohn sich vollkommen von ihr abkapseln würde, nun aber waren ihr die Unterschiede zwischen ihnen bewusst geworden, und sie kam damit zurecht, einen gewissen Abstand zu bewahren. Ihr Sohn war erwachsen und würde schon seinen Weg finden. Nachdem Seon-suk akzeptiert hatte, dass sie ihn als Mutter nicht ständig kontrollieren konnte, hatte sie beschlossen, ihm ihr volles Vertrauen und ihre bedingungslose Unterstützung zu geben. Wenn er seine Arbeit mochte, obwohl er nicht viel verdiente, dann würde auch sie seine Arbeit mögen, so hatte sie es sich vorgenommen.

Und seit sie Filialleiterin geworden war, hatte ihr Sohn seinerseits begonnen, sich mehr um sie zu kümmern. Hatte er den Laden früher so ungern aufgesucht wie ein kleines Kind den Zahnarzt, kam er nun öfter vorbei, um seiner Mutter den ein oder anderen Ratschlag zu geben. Auch das mit der neuen Sorte Dosenkaffee, die sie vor Kurzem so mutig auf die Einkaufsliste für den Laden aufgenommen hatte, war seine Idee gewesen. Dieses Produkt aus besten guatemaltekischen Kaffeebohnen hatte sich so gut verkauft, dass sie es gleich wieder nachbestellen musste. Die Vermutung ihres Sohnes, der gemeint hatte, dass die Leute infolge der coronabedingten Abstandsregeln eher im 24-Stunden-Shop nach passablem Dosenkaffee suchen würden, anstatt sich ins Café zu setzen, hatte sich bestätigt. Und ebenso sehr wie über den gestiegenen Absatz freute sich Seon-suk natürlich darüber, dass ihr Sohn Interesse an ihrer Arbeit zeigte.

Das Geballere, das aus seinem Zimmer drang, war inzwischen verebbt und einer majestätisch anmutenden Musik gewichen. Offenbar der Abspann. Seon-suk stellte die beiden Päckchen Samgak-gimbap auf den Küchentisch, nahm Yeppi und Kkami, die schon vor einer ganzen Weile zu winseln begonnen hatten, an die Leine, verließ das Haus und begann ihren Spaziergang mit dem beglückenden Gedanken daran, welch erfreutes Gesicht ihr Sohn machen würde, wenn er nach getaner Arbeit aus dem Zimmer kam und Samgak-gimbap auf dem Küchentisch vorfand.

Das Bild, das Geschäftsführer Gang abgab, als er am nächsten Nachmittag im Laden erschien, war schlechthin unentschuldbar. Das T-Shirt der Größe XXL klebte hauteng an seinem Körper, und eine Dunstwolke aus Schweiß und Alkohol lud dazu ein, auf der Stelle das Fenster zu öffnen.

Sich unterhalb der kurzen Hosen an seinen fleischigen Waden kratzend, kam er in den Laden gebummelt. Demonstrativ blickte er hier und da in die Regale, mit der Attitüde eines Straßenköters, der vorsorglich in alle Ecken pinkelt, um jedermann wissen zu lassen, dass es sich um sein Revier handelt. Seon-suk bemühte sich, ihn nicht weiter zu beachten, sondern sich ganz auf die Kundin zu konzentrieren, die gerade zum Bezahlen an die Kasse gekommen war und die, wie Seon-suk bemerkte, selbst unter ihrer Atemschutzmaske die Nase rümpfte.

Nachdem Seon-suk abgerechnet und die Kundin den Laden verlassen hatte, kam Geschäftführer Gang zu Seon-suk herüber.

»Tante, meinst du nicht, dass du ein bisschen zu viel bestellst?«

»Wieso? Wo ist das Problem?«

»Das Obst da, das verkauft sich doch überhaupt nicht. Wieso kommt das trotzdem immer wieder rein? Die Melonenstücke und die Ananas da. Hm?«

»Von wegen das verkauft sich nicht! Guck dir mal den Absatz an. Die Frauen-Uni ist doch gleich nebenan. Die Studentinnen essen so etwas sehr gern. Wusstest du das nicht?«

»So wahnsinnig appetitlich sieht das halb vergammelte Obst da aber nicht aus …«

»Red keinen Unsinn. Komm lieber öfter mal in den Laden und sieh selbst.«

»Wieso, was soll ich denn hier? Du bist doch da! Das wäre die reinste Personalverschwendung. Ich habe volles Vertrauen in dich, Tante.«

Ein schlitzohriges Grinsen im Gesicht, begab er sich in Richtung Getränkeschrank und kam gleich darauf mit vier Dosen Bier zurück. Bezahlen tat er selbstverständlich nicht. Und auch die Plastiktüte nahm er sich einfach so. Aber Seon-suk war nicht diejenige, die, nur weil er der Chef war, still geblieben wäre.

»Kümmerst du dich auch schön um die Geschäftsplanung? Halt dich mit dem Trinken mal ein bisschen zurück. Um diese Tageszeit schon Bier — meinst du, das tut dir gut?«

»Du hast ja keine Ahnung. Tagsüber Bier trinken, davon wird man so was von wach, sag ich dir. Okay, mit dem Biergeschäft damals … Das hat nicht so ganz hingehauen, aber … Aber wart’s bloß mal ab! Ich krieg das schon noch hin!«

Er rülpste, und Seon-suk verzog das Gesicht. Puh, dieser missratene Kerl. Wirklich, wenn er nicht Yeong-suks Sohn gewesen wäre … Sie war drauf und dran, ihm ordentlich die Leviten zu lesen, zwang sich aber zur Beherrschung.

Ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben, wie Seon-suk zumute war, zeigte Geschäftsführer Gang noch einmal sein feistes Grinsen und verließ den Laden. Vor der Tür blieb er plötzlich stehen und warf einen Blick auf den Aushang mit der Stellenausschreibung. Und geradezu beglückt darüber, erneut ein Haar in der Suppe gefunden zu haben, kam er wie ein eifriger Schülersprecher wieder hereinstolziert.

»Tante, also wirklich! Nachtschichtmitarbeiter für fünf Tage die Woche? Was soll denn das? Ich habe doch gesagt für zwei oder drei Tage!«

»Das haut nicht hin. Dann bewirbt sich keiner.«

»Fünf Tage Vollzeit, das bedeutet Urlaubsanspruch! Zum letzten Mal: Außer dir und Gwak macht hier keiner fünf Tage. Ist das klar?«

»Dann finden wir keinen, der das macht. Oder würdest du für gerade mal zwei Tage Nachtschicht machen, und das nicht am Wochenende, sondern unter der Woche?«

»Klar würde ich das machen! Wenn ich pleite wär. Jetzt in der Coronazeit sind solche Stellen rar, und außerdem sind Ferien! Da prügeln sich die Studenten doch um solche Jobs! Tante, hör mal. Auch wenn du mich für einen Phantomchef hältst — dass du meine Anordnung einfach so ignorierst, macht mich echt traurig. Du änderst die Ausschreibung jetzt sofort auf zwei Tage pro Woche, und auf der Internetseite auch.«

Schluck!

»Jawohl.« Sie beschloss, erst einmal in Deckung zu gehen. Am Anfang riss Gang zwar immer noch das Maul auf, aber es würde nicht lange dauern, und er würde sich nicht mehr groß um die Sache kümmern. Als Jeong eingestellt wurde, war es auch so gewesen. Erst hatte er sich partout geweigert, einem solchen Schlappschwanz, der noch nicht mal Wehrdienst geleistet hatte, den gesetzlichen Mindestlohn zu gewähren, aber schließlich hatte es doch geklappt.

Seon-suk unterdrückte ihren Ärger, folgte Gang aus dem Laden, verabschiedete sich noch von ihm und tat dann so, als wollte sie den Aushang von der Ladentür entfernen.

Jemanden zu finden, der die Nachtschicht wochentags für lediglich zwei, höchstens drei Tage übernehmen würde, war einfach unmöglich. Wenn Gwaks Stelle, die nächste Woche frei würde, sofort wieder besetzt werden sollte, dann gab es nur eine Möglichkeit: Erst mal müsste sie jemanden für fünf Tage einstellen, und falls Gang sich querstellen sollte, würde sie ihrerseits auf den Putz hauen und ihm deutlich machen, wenn niemand die Arbeit machen wolle, dann solle er gefälligst selbst anrücken. Gang spielte sich zwar immer damit auf, wie hart ihm die Gesellschaft stets zugesetzt habe, aber nun schien die Zeit gekommen, ihm beizubringen, dass auch sie, Oh Seon-suk, in Sachen »vom Leben gestählt« problemlos mithalten konnte.

Es ging auf vier Uhr zu, die Zeit, zu der Jeong zum Schichtwechsel kommen würde, da trat eine junge Frau mit einer Tafel Schokolade an die Kasse. Als sie bezahlt hatte und gehen wollte, hielt sie plötzlich inne.

»Sagen Sie … Was ich fragen wollte …«

Die Nachtschicht. Das musste eine Bewerberin für die Nachtschicht sein!

Seon-suk musterte die Frau genau. Oberhalb der Maske ein freundliches Gesicht. Dichte Augenbrauen und ein ruhiger, entspannter Blick. Vielleicht lag es an der Maske, dass die jungen Leute in letzter Zeit alle einen so angenehmen Eindruck machten.

»Sie meinen die Stelle als Ladenaushilfe? Sind Sie Studentin hier an der Sookmyung-Universität?«, fragte Seon-suk rundheraus. Sie konnte einfach nicht an sich halten. Die Frau zögerte wieder einen Moment. Man konnte erahnen, dass sie unter ihrer Maske auf der Unterlippe herumkaute.

»Was ich wissen wollte: In der Nachtschicht …«

»Ja, genau. Wir suchen eine Aushilfe für die Nachtschicht. Das Viertel hier ist vollkommen ungefährlich. Die Polizeistation ist gleich in der Nähe. Die Nachtschicht ist auch für eine Frau absolut kein Problem.«

»Nein, also … In der Nachtschicht, da kommt doch immer dieser Mitarbeiter. Der schon etwas älter ist, knapp über sechzig.«

Moment mal! Wieso kam die denn plötzlich auf Gwak zu sprechen? Seon-suk, sichtlich enttäuscht, dass es der Frau nicht um eine Bewerbung ging, reagierte leicht pampig: »Was ist mit dem?«

»Der war letztes Mal nicht da, und da habe ich mich gefragt, ob er vielleicht krank ist oder aufgehört hat?«

»Nee, der hatte einen Tag frei. Gestern war er doch wieder da. Wieso? Kennen Sie Herrn Gwak?«

Die Frau bewegte leicht den Kopf, aber ob das eine Bejahung der Frage oder einfach nur ein Zeichen von Verlegenheit war, blieb unklar. Seon-suk war genervt. Als sie jedoch sah, wie zurückhaltend die junge Frau sich verhielt, kam ihr plötzlich ein Gedanke.

»Sind Sie vielleicht Gwaks Tochter?«

Die junge Frau sah Seon-suk mit großen Häschenaugen an und trat einen Schritt näher.

»Woher wissen Sie das? Ich sehe ihm doch gar nicht ähnlich …«

»Herr Gwak hat mir erzählt, dass er einen Sohn und eine Tochter hat. Und er hat mir auch ein Foto gezeigt, aber wegen der Maske habe ich Sie nicht erkannt. Aber genau betrachtet, klar, die Augenbrauen! Ja, da ist doch eine Ähnlichkeit.«

Gwaks Tochter wischte sich einmal mit der Hand über die Stirn und warf Seon-suk einen flüchtigen Blick zu. Da bimmelte die Ladenglocke an der Eingangstür, und Jeong kam herein. Mit der ihm eigenen halbherzigen Begrüßung, einem kaum erkennbaren, flüchtig angedeuteten Kopfnicken, begab er sich ins Lager, um sich umzuziehen.

»Ähm, es ist wohl gleich Schichtwechsel … Darf ich vielleicht kurz mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen recht ist? Ich lade Sie auf eine Tasse Tee ein.«

Seon-suk war nicht gerade begeistert, doch angesichts des flehentlichen Blicks, der sie in diesem Moment traf, sah sie keine Möglichkeit, die Bitte abzuschlagen.

Seon-suk gab reichlich Sirup in das dunkelbraune, mit Eiswürfeln durchmischte Getränk und rührte mit dem Strohhalm einmal kräftig um. Dann nahm sie einen Schluck. Iced Caffè Latte, süß und erfrischend, das war Seon-suks Lieblingsgetränk im Sommer. Natürlich nur, wenn sie es nicht selbst bezahlen musste. Normalerweise gab sie äußerst ungern Geld für Kaffee aus, und so durfte sie die jetzige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Sie nahm noch einen Schluck, ließ ihn langsam die Kehle hinablaufen und sah Gwaks Tochter schließlich erwartungsvoll an. Diese ließ ihren mit Americano gefüllten Becher sinken und erwiderte Seon-suks Blick.

»In meiner Schulzeit war ich Schwimmerin. Das hat ziemlich viel gekostet, und leider war ich letztlich nicht erfolgreich genug. Jetzt arbeite ich als Schwimmlehrerin. Wegen Corona habe ich jetzt allerdings noch weniger zu tun, nur noch ein paarmal in der Woche.«

»Deshalb konnten Sie also zu dieser Zeit hierherkommen. Für die meisten Berufstätigen wäre das ja unter der Woche gar nicht möglich.«

»Wissen Sie, Frau Filialleiterin, als Sie vorhin gesagt haben, dass mein Vater Ihnen von mir erzählt hat, da hat mich das ziemlich erstaunt.«

»Ach was, Filialleiterin, nennen Sie mich einfach Frau Oh.«

»Na gut, Frau Oh. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber meine Eltern haben sich vor ein paar Jahren scheiden lassen, und so hat mein Vater sich von mir und meinem jüngeren Bruder ziemlich entfernt, zumal wir einander ohnehin immer ein wenig fremd waren. Wenn ich mich dann mal bei ihm gemeldet habe, wollte er immer sofort wissen, weshalb ich anrufe, und wenn ich mal eine Weile nichts von mir habe hören lassen, hat er sich beschwert, dass ich mich nicht bei ihm melde … Ich konnte einfach nicht mit ihm kommunizieren. Er war ohnehin nie sonderlich gesprächig, und seine Rolle als Polizist ist ihm irgendwann geradezu in Fleisch und Blut übergegangen, jedenfalls hatte er für uns Kinder immer etwas Furchteinflößendes. Noch dazu, weil wir, als wir noch mit ihm zusammengelebt haben, so oft mitbekommen haben, wie er und unsere Mutter sich gestritten haben. Beziehungsweise … eigentlich war es eher so, dass er einfach aggressiv geworden ist und herumgebrüllt hat, und das hat uns doch sehr zugesetzt.«

Sichtlich aufgewühlt, brach sie für einen Moment ab. Seon-suk ermunterte sie mit einer Handbewegung, erst einmal einen Schluck Kaffee zu nehmen. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und nippte einmal kurz daran, bevor sie weitersprach.

»Mein Bruder arbeitet in der Provinz bei einer Firma, und ich wohne mit meiner Mutter hier in Seoul. Meine Mutter spricht nicht gern über meinen Vater, aber ich musste, seit ich angefangen habe zu arbeiten, immer wieder an ihn denken. Als ich klein war, hat er mir den Schwimmunterricht und die Teilnahme an den Wettkämpfen bezahlt, und später habe ich herausgefunden, dass er sogar wichtige Termine bei der Polizei verschoben hat, um heimlich bei meinen Wettkämpfen zusehen zu können. Er hat kaum etwas gesagt, aber er hat alles getan, damit ich Schwimmathletin werden konnte. Als sich dann allerdings herausstellte, dass das mit dieser Karriere nichts werden würde, und ich deswegen den Mut verloren habe, hat ihm das nicht gefallen. Es ist zwischen uns immer wieder zu Konflikten gekommen.«

Immer schneller sprudelten die Worte aus dem Mund der jungen Frau, und immer tiefer tauchte Seon-suk gedanklich ein in das, was sie da zu hören bekam. Mit dem Strohhalm rührte sie den Rest ihres Eiskaffees um, ein Glitzern in den Augen.

»Aber ich weiß einfach nicht, wie ich die Spannungen zwischen uns wieder lösen kann. Seit ich ein Teenager war, habe ich mit meinem Vater kein richtiges Gespräch mehr geführt, die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben, fühlt sich vollkommen leer an. Vor einer Weile allerdings hat mich meine Tante, die Schwester meines Vaters, angerufen. Sie meinte, sie sei neulich mal nach Seoul gekommen, um meinen Vater zu besuchen, und da habe sie große Augen gemacht. Das Zimmer, in dem er alleine wohnt, sei super aufgeräumt gewesen, er koche sich seine Mahlzeiten selbst, und er habe sich sogar Arbeit als Nachtschichtmitarbeiter in einem 24-Stunden-Laden gesucht. Sie meinte aber auch, dass er durch das Alleinsein sehr schwach geworden sei und ob wir uns nicht wenigstens ab und zu um ihn kümmern könnten. Seltsam fand ich vor allem, dass mein Vater in einem Laden arbeitet. Das hätte ich mir bei ihm nie vorstellen können. Er war immer sehr autoritär. Wenn wir mal irgendwo essen gegangen sind, hat er schon bei Kleinigkeiten losgepoltert. Ständig musste er deutlich machen, wer der Chef ist. Dass der mal als Ladenaushilfe anfängt, hätte ich mir wirklich nie träumen lassen … Oje, tut mir leid, dass ich Sie hier so mit meinen Privatangelegenheiten überfalle. Aber … ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte, und da bin ich vor ein paar Tagen spätabends hier in den Laden gekommen und … wissen Sie …«

Plötzlich stieg ihr die Röte ins Gesicht. Ihr war deutlich anzumerken, wie schwer ihr all dies fiel. Seon-suk sah sie ruhig an und lächelte. Die junge Frau, mit den Tränen kämpfend, senkte den Kopf und flüsterte: »Es tut mir leid …« Noch immer blickte sie zu Boden. Seon-suk reichte ihr ein Taschentuch.

»Das kam jetzt alles etwas durcheinander heraus, aber ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Ich habe viel Zeit. Sprechen Sie sich in aller Ruhe aus. Ich habe immerhin mehr als ein Jahr mit Herrn Gwak zusammengearbeitet und bin ihm auch für vieles dankbar. Sie haben Ihren Mut zusammengenommen und sind hier hergekommen, und ich werde Ihnen helfen, wo ich kann. Okay?«

Eilig begann Gwaks Tochter, sich mit dem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Seon-suk trank ihren restlichen Eiskaffee aus. Kurz darauf hatte die junge Frau sich beruhigt und fragte, ob Seon-suk vielleicht noch irgendetwas essen oder trinken wolle. Seon-suk erwiderte, getrunken habe sie genug, aber es sei gerade die Zeit, wo sie sonst zu Hause immer eine Kleinigkeit zu sich nehme, da wären vielleicht ein paar Kekse oder ein Stück Kuchen nicht schlecht. Während sich Gwaks Tochter an die Kuchentheke begab, beschloss Seon-suk, dass es in Ordnung war, sich bei dieser Gelegenheit eben auch noch zum Kuchen einladen zu lassen und sich Zeit für ein noch längeres Gespräch zu nehmen.

Gwaks Tochter hatte die Bestellung aufgegeben, kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder Seon-suk gegenüber, nun mit gefasster Miene.

Auf ihrem Weg nach Hause gingen Seon-suk viele Gedanken durch den Kopf. Hatte Gwak seine Tochter wirklich nicht erkannt? Oder hatte er nur so getan, als sähe er sie nicht? Am liebsten hätte sie ihn gleich angerufen, um ihn zu fragen, aber das wäre nicht anständig gewesen und auch nicht im Sinne von Gwaks Tochter.

Diese hatte ihr erzählt, dass sie sich letzte Woche einfach nicht allein hergetraut und deshalb eine Freundin mitgenommen habe, um nachts im Laden vorbeizuschauen. Sie habe etwas aus dem Regal genommen und sei dann damit unauffällig an die Kasse gegangen. Doch während der Abrechnung habe ihr Vater sie vollkommen ignoriert. Sie habe sich anschließend zwar gefragt, ob das vielleicht an ihrer Maske gelegen haben könnte, aber die Maske abzunehmen und noch einmal zum Laden zurückzugehen, habe sie auch nicht gewagt. Ihre Freundin habe gemeint, dass ihr Vater wahrscheinlich grundsätzlich jeden Blickkontakt mit den Kunden vermeide und sie deshalb nicht erkannt habe — eine letztlich nicht minder betrübliche Vorstellung. Hatte er sie wirklich der Maske wegen nicht erkannt? Oder hatte er sie erkannt und ganz bewusst ignoriert? Beides sei doch gleichermaßen frustrierend, meinte sie und fügte hinzu, sie habe sich deswegen mehrere Tage lang sehr unwohl und niedergeschlagen gefühlt.

Dann sei sie aber diese Woche noch einmal zum Laden gekommen, habe Gwak jedoch nicht angetroffen, sich deshalb Sorgen gemacht und sich gefragt, ob sie ihn, wenn er im Laden aufgehört habe, überhaupt jemals wieder zu Gesicht bekäme. Schließlich habe sie sich gesagt, dass sie doch unbedingt mit ihrem Vater sprechen müsse, sich deshalb, verunsichert, wie sie war, einfach völlig planlos tagsüber zum Laden aufgemacht und, als sie Seon-suk gesehen habe, gleich das Gefühl gehabt, dass diese ihr vielleicht weiterhelfen könne, weshalb sie sie also um ein Gespräch gebeten habe.

Normalerweise hätte Seon-suk ihre eigenen Gedanken sofort schonungslos zum Besten gegeben, aber diesmal tat sie das nicht. Diesmal musste sie besonnen sein.

Sturheit. Das war für Seon-suk in ihrem bisherigen Leben stets ein bewährtes Mittel der Problemlösung gewesen, auch im Umgang mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Aber dann hatte sie gelernt, dass es Fälle gab, in denen man Bedachtsamkeit walten lassen musste, in denen man bestimmte Angelegenheiten nicht aus der eigenen, sondern aus der Perspektive eines anderen betrachten musste. Von wem hatte sie das gelernt? Von ihrer Freundin Yeong-suk. Dank Yeong-suks klugen Ratschlägen war es ihr gelungen — in der Zeit, als sie gerade angefangen hatte, nach langen Jahren wieder das Gespräch mit ihrem Sohn zu suchen, und dabei immer noch leicht aus der Haut fuhr —, die alte Gewohnheit, ihrem Sohn gegenüber auf stur zu schalten, allmählich aufzugeben.

Aus Dankbarkeit hatte Seon-suk ihre Freundin Yeong-suk später zum Essen eingeladen, war mit ihr in eines der damals sehr beliebten Malatang-Restaurants gegangen und hatte sich ausgiebig mit ihr unterhalten. Als Yeong-suk hörte, dass ihre Ratschläge zu einer deutlichen Entspannung der Mutter-Sohn-Beziehung beigetragen hatten, hatte sie erwidert, es sei ihr ein Rätsel, warum das dann bei ihr selbst nicht funktioniere. Seon-suk hatte ihre Freundin ermuntert, erst mal einen großen Schluck von der scharfen, heißen Malatang-Suppe zu nehmen, scharfes Essen sei schließlich gut, um Stress aufzulösen, woraufhin Yeong-suk sich in dem Bemühen, diesen Rat zu befolgen, ganz fürchterlich verschluckt und noch eine ganze Weile arg hatte husten müssen. Bei dieser Erinnerung, die einen ebenso scharfen und doch wohltuenden Geschmack hatte wie die Suppe, die sie an jenem Abend gemeinsam gegessen hatten, wischte Seon-suk sich eine Träne aus dem Auge.

Am Ende all dieser Gedanken kam sie zu dem Schluss, dass es so gut wie ausgeschlossen war, dass Gwak, gescheit, wie er war, seine eigene Tochter nicht erkannt hatte. Aber auch dies war etwas, das behutsam behandelt werden musste, und so nahm sie sich vor, Gwak morgen beim Schichtwechsel vorsichtig darauf anzusprechen. Erst hatte sie seiner Tochter sagen wollen, sie könne es ja noch einmal versuchen und, wenn sie neuen Mut gefasst habe, einfach wieder im Laden vorbeikommen, aber dann fiel ihr ein, dass Gwak ja nicht mehr lange hier arbeiten würde und deshalb Eile geboten war. So musste sie nun selbst anstelle des Menschen, der ihr seine Sorgen ausgeschüttet hatte, den nötigen Mut zum Handeln aufbringen.

»Heute schon wieder über vierhundert. Die Zahlen gehen einfach nicht runter!«, rief Seon-suk Herrn Gwak zu, kaum dass sie den Laden betreten hatte.

Die Coronazahlen vom Vortag waren mittlerweile fester Bestandteil der morgendlichen Begrüßung, so wie »Alles klar?« und »Schönes Wetter heute!«. Gwak beschränkte sich auf beipflichtendes Kopfnicken. Wortkarg, so war er halt.

Seon-suk versuchte es noch einmal.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Angst ich habe, mich anzustecken! Ich warte doch immer noch auf die erste Impfung!«

»Wann bekommen Sie die denn?«, fragte nun Gwak, der seine erste Dosis schon hinter sich hatte.

»Ende dieses Monats, aber ich habe von Leuten gehört, die die Impfung ganz schlecht vertragen haben, da mache ich mir schon Sorgen. Sie sind doch damals nach der Impfung auch einen Tag nicht zur Arbeit gekommen, weil es Ihnen nicht gut ging, oder?«

»Ja, stimmt.«

»Puh … Und wann mein Sohn endlich an die Reihe kommt, frage ich mich auch. Jedenfalls habe ich ihm eingebläut, er soll bis dahin immer schön in der Wohnung bleiben. Zum Glück kann er von zu Hause aus arbeiten und muss nicht irgendwohin.«

Die Erwähnung ihres Sohnes erlaubte es ihr, nun zum eigentlichen Thema zu kommen.

»Na, ein Glück.«

»Wie geht es denn Ihren Kindern? Es sind doch hoffentlich alle gesund?«

Jetzt, wo sie von ihrem Sohn erzählt hatte, musste er doch auch etwas von seiner Tochter erzählen. Er zögerte und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Seon-suk beschloss, den Druck noch ein wenig zu erhöhen.

»Auch wenn man sich von den eigenen Kindern vielleicht ein wenig entfernt hat, in Zeiten wie diesen muss man einander doch anrufen und sich erkundigen, ob alles so weit in Ordnung ist und ob sich auch alle an die Abstandsregeln halten. So machen das doch alle im Moment. Das ist ganz wichtig.«

»Ja … Sicher.«

»Melden Sie sich doch wenigstens jetzt einmal bei Ihrer Familie. Sie haben mir doch damals das Foto von ihren Kindern gezeigt. Die haben einen so guten Eindruck auf mich gemacht, da bin ich wirklich neidisch geworden.«

Die Strategie jetzt: Verführung. Und sie bemerkte, dass sein Blick sogleich ein wenig sanftmütiger schien.

»Wirklich?«

»Natürlich! Besonders Ihre Tochter, die sah so hübsch und adrett aus, also, wenn mein Sohn nicht drei Jahre jünger wäre, hätte ich mich direkt als Schwiegermutter bewerben wollen!«, schoss Seon-suk ihren schärfsten Pfeil ab. Gwak, wie von giftiger Nadel getroffen, erstarrte. Seon-suk ging nicht gleich ins Lager, um sich dort umzuziehen, sondern wuselte weiter in der Nähe der Kasse herum.

»Um ehrlich zu sein … Ich bin meiner Tochter vor Kurzem begegnet.«

Er hatte kaum ausgeredet, da stand Seon-suk schon wieder direkt neben der Kasse.

»Was denn, wirklich? Und? Geht es ihr gut?«

»Ja, sie trägt ihre Maske, und … es scheint ihr so weit ganz gut zu gehen.«

»Wo haben Sie sie denn getroffen? Im Restaurant? Haben Sie ihr was Leckeres spendiert? Ach nein, inzwischen müsste ja sie Ihnen etwas spendieren!«

Seon-suk ließ nicht locker. Sie sah Gwak mit argloser Miene an.

»Na ja, also … Ich habe sie nur kurz gesehen. Wir haben nicht zusammen gegessen oder so.«

»Ach, schade. Na, stimmt schon, zurzeit ist das mit dem Essengehen ja auch so eine Sache. Aber es reicht ja auch schon, sich mal kurz wiedergesehen zu haben, nicht wahr? Das haben Sie gut gemacht!«

Seon-suk ging ins Lager, legte ihre Stofftasche in den Spind, zog sich die Mitarbeiterweste an und kam wieder heraus. Gwak saß still da, den Blick zu Boden gerichtet, in Gedanken versunken. Recht so. Das Fundament war gelegt. Jetzt musste er nur noch zugeben, dass seine Tochter hier gewesen war, und versprechen, dass er sich das nächste Mal, wenn sie käme, mit ihr unterhalten würde. Kein Kunde weit und breit, das perfekte Timing.

Seon-suk setzte ein skeptisches Lächeln auf und stellte sich direkt vor ihn hin. In diesem Moment geschah es. Gwak hob den Kopf und sah Seon-suk geradewegs ins Gesicht.

»Ich wollte Sie ohnehin etwas fragen. Was hat meine Tochter Ihnen gestern eigentlich erzählt?«

Einen Moment lang stand Seon-suk wie vom Blitz getroffen da. Sie bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Mit stechendem Blick sah Gwak sie an. Seon-suk fühlte sich plötzlich wie in einem polizeilichen Verhör. Sie versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte. Gwak wusste also bereits, dass sie seine Tochter gestern getroffen hatte. Der Einzige, der sie zusammen gesehen hatte, war Jeong, die Abendaushilfe. Hatte der ihm etwas gesagt?

»Ich habe mir die Bilder der Überwachungskamera angesehen. Die ganzen letzten Tage schon.«

Na so was. Die Überwachungskamera? Gwak war offenbar noch ganz Polizeiinspektor. Seon-suk fühlte sich zusammenschrumpfen wie ein Kind, das bei der Ausführung seines Geheimplans von einem Erwachsenen ertappt worden war.

Doch war sie nicht gewillt, dies so einfach hinzunehmen. Das ließ ihr Selbstwertgefühl nicht zu.

»Die Überwachungskamera? Also wirklich. Das dürfen Sie doch gar nicht! Das darf nur die Filialleitung!«

»Tut mir leid. Aber ich wollte unbedingt wissen, ob meine Tochter am nächsten Tag wiederkommen würde. Ich musste einfach nachsehen. Jeden Tag habe ich die Aufnahme überprüft. Und da habe ich gesehen, dass sie gestern wieder da war und mit Ihnen nach draußen gegangen ist. Und deshalb war ich natürlich neugierig und wollte wissen, worüber sie mit Ihnen geredet hat.«

»Worüber schon? Sie hat über Ihren Vater abgelästert, was sonst?«

»Oh …«

»War nicht ernst gemeint. Nein, Ihre Tochter wollte einfach wissen, was los ist. Ob ihr Vater sie wirklich nicht erkannt hat oder ob er nur so getan hat. Erkannt haben Sie sie ja offenbar. Aber warum verhalten Sie sich so? Warum tun Sie so, als hätten Sie sie nicht gesehen?«

Seon-suk war, ohne es zu wollen, laut geworden. Gwak wich ihrem Blick aus und senkte den Kopf. Sein üblicher Stummschaltmodus. Seon-suk begann ihre ungestüme Reaktion bereits zu bereuen, da hob er den Kopf und sah sie an: »Ich habe mich geschämt.«

»Aber … wieso denn?«

»Ich war einfach verunsichert, weil sie plötzlich hier aufgetaucht ist.«

Seon-suk schnalzte leise mit der Zunge, das Geräusch drang durch die Maske nach draußen bis an Gwaks Ohr. Gwak blinzelte einmal und meinte dann:

»Irgendjemand hat mir mal gesagt, man solle seine Familie so behandeln wie man auch die Kunden im Geschäft behandelt. Das scheine ich mir so zu Herzen genommen zu haben, dass ich meine Familie wirklich nur so behandle wie die Kunden hier. Ich war wohl nicht mehr ganz bei Verstand.«

»Ach, herrje …«

Während sie das sagte, zeigte sich ein zufriedenes Lächeln in ihrem Gesicht. Er mochte der ehemalige Inspektor sein, doch die Zeugenaussage hatte heute sie von ihm eingeholt. Mit unbewegter Miene genoss sie nun ihren Triumph. Und dann sprach sie vorsichtig aus, was sie sich vorher zurechtgelegt hatte.

»Ich habe beschlossen, Ihre Tochter anzurufen. Sie wollte wissen, ob ihr Vater sie wirklich nicht erkannt hat oder nicht den nötigen Mut aufgebracht hat, sie anzusprechen. Wenn ich heute mit ihr telefoniere, werde ich ihr auch sagen, dass ihr Vater bis Donnerstag nächster Woche hier arbeitet. Wenn sie noch einmal hierherkommt, bevor Sie hier aufhören, dann sprechen Sie sie als Erster an.«

Gwak nickte stumm.

»Ich glaube, Ihre Tochter möchte über eine ganze Menge mit Ihnen reden. Sonst hätte sie mich kaum zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um sich bei mir nach Ihnen zu erkundigen. Also, gehen Sie auf sie zu, hören Sie ihr zu, und geben Sie ihr irgendetwas aus, eine Packung Samgak-gimbap oder einen Dosenkaffee. Geht auf meine Rechnung.«

»Ja, ist gut. Und … vielen Dank.«

Wieder senkte er den Kopf, aber Seon-suk beeilte sich, ihn von der Kasse zu vertreiben, damit sie sich um die Abrechnungsprüfung kümmern konnte. Nach kurzem Zögern ging er ins Lager, und auch nach einer Weile war er noch nicht wieder herausgekommen.

Warum hatte sie ihm eigentlich gesagt, er solle seiner Tocher Samgak-gimbap geben? Da hatte sie plötzlich das Bild eines großen Hundes vor Augen, der Samgak-gimbap in den Pfoten hielt. Sie kicherte. Der Vorgänger von Herrn Gwak hatte sie immer an einen Golden Retriever erinnert. Er und Gwak, die beiden hatten den Laden in der Nacht eine ganze Weile gut bewacht. Aber was war nun mit der neuen Nachtschichtaushilfe? Bis jetzt war ja noch keine einzige Anfrage eingegangen. Bei dem Gedanken, dass sie schleunigst einen neuen Wächter finden musste, der die Verantwortung für den nächtlichen Laden übernahm, bekam Seon-suk gleich wieder stechende Kopfschmerzen.

Als Seon-suk Feierabend machen und nach Hause gehen wollte, kam Jeong, der die Regale aufgeräumt hatte, zu ihr herüber. Dass er, sonst sehr wortkarg, von sich aus mit ihr sprechen wollte, machte sie mit einem Mal nervös. Nicht, dass auch der ihr jetzt noch damit kam, er wolle hier aufhören. Damit, eine Aushilfe für die Nachtschicht und eine für das Wochenende finden zu müssen, war Seon-suk bereits reichlich bedient, wenn jetzt auch noch Jeong aufhörte, wäre das Debakel perfekt.

Jeong war zwar nicht gekommen, um seine Kündigung einzureichen, Stress bereitete er Seon-suk aber trotzdem. Er sagte, am Abend zuvor sei ein Mann da gewesen, der gerne in der Nachtschicht arbeiten wolle und dem er deshalb gesagt habe, er solle tagsüber wiederkommen, wenn die Chefin im Laden sei. Auf Seon-suks Frage, warum er dem Mann denn nicht ihre Telefonnummer gegeben habe, meinte Jeong bloß: »Weil das nicht meine Aufgabe ist.«

Seon-suk konnte es nicht fassen. Wutentbrannt legte sie los: »Weißt du eigentlich, wie dringend wir nach einem Nachtschichtmitarbeiter suchen? Und du bekommst es nicht mal hin, ihm meine Nummer zu geben? Was ist daran so schwer?« Jeong stand einen Augenblick hilflos da. Dann meinte er, er habe ihm die Nummer deshalb nicht gegeben, weil er gedacht habe, dass Seon-suk in ihrer Freizeit vielleicht nicht gestört werden wolle. So eine miese Ausrede. Die Sache war ihm einfach zu lästig gewesen. Es hatte ihn nicht interessiert, und er hatte keine Lust gehabt, sich darum zu kümmern. Ganz egal, ob es im Laden ein Problem gab oder die Kollegen in Schwierigkeiten waren, Hauptsache, er selbst bekam immer schön seinen Stundenlohn ausgezahlt.

»In meiner Arbeitsschicht heute ist niemand gekommen, der sich für den Nachtdienst hätte bewerben wollen. Jeong, hör mal. Wenn der Laden in die Bredouille gerät, bekommst du auch Probleme. Wie kannst du denken, das Ganze geht dich nichts an? So geht das nicht.«

Nachdem sie dem jungen Kerl ausdrücklich die Meinung gesagt hatte — wobei sie nicht wissen konnte, ob er sein Verhalten bereute oder ihr unter der Maske heimlich die Zunge heraustreckte — verließ sie den Laden.

Zu Hause angekommen, bereitete sie das Abendessen vor und wartete darauf, dass ihr Sohn nun ebenfalls Feierabend machte. Nach einer Weile kam er aus seinem »Home Office« in einer ziemlich albern wirkenden Kombination aus Kragenhemd und kurzer Trainingshose. Man sehe auf dem Bildschirm ja schließlich nur seinen Oberkörper, meinte er lachend und stellte damit den Eindruck der Zuverlässigkeit sofort wieder her.

Seon-suk erzählte ihm von Jeong und dessen nachlässiger Arbeitshaltung und beschwerte sich darüber, wie es denn sein könne, dass die jungen Leute heutzutage sich so verhielten. Ihr Sohn lächelte und meinte, er habe weniger den Eindruck, dass »die jungen Leute heutzutage« sich so verhielten, sondern eher den, dass jener Mitarbeiter ein bisschen schwer von Begriff sei, und sie solle sich nicht weiter darum kümmern. Seon-suk wandte ein, dass Jeong schließlich mit ihr zusammenarbeite und sie doch für die Organisation des Ladens verantwortlich sei, und da könnten ihr solche Dinge einfach nicht egal sein. Ihr Sohn legte einen Moment lang die Stäbchen aus der Hand.

»Mama, hör mal, ich versteh schon, dass du Ladenchefin bist und für die Organisation zuständig, aber kümmer dich nicht zu sehr darum, was andere Leute tun oder nicht. Das ist für dich nur anstrengend. Wenn man mit anderen Leuten zu tun hat, ist es gut, einen gewissen Abstand zu halten. Ob es sich dabei um Kollegen handelt oder um Freunde.«

Und was ist mit der eigenen Familie?, lag es Seon-suk auf der Zunge. Aber sie beherrschte sich.

Ihr Sohn hatte recht. Auch Seon-suk hatte anderen Menschen lange weder Vertrauen noch besondere Anteilnahme geschenkt. Die Einzigen, denen sie vertraut hatte, waren ihre Hunde gewesen, ganz nach dem Motto der gleichnamigen Fernsehshow Hunde haben’s drauf. Dass man auch Menschen vielleicht nicht unbedingt vertrauen, aber ihnen doch zumindest Sympathie entgegenbringen konnte, war ihr erst jetzt bewusst geworden. Da fiel ihr plötzlich ein, was sie sich für heute noch vorgenommen hatte.

Gleich als sie mit dem Essen fertig waren, griff Seon-suk zum Telefon. Und kaum erklang das Freizeichen, nahm am anderen Ende Gwaks Tochter den Anruf auch schon entgegen, ganz so, als hätte sie darauf gewartet.

Am nächsten Tag benutzte Seon-suk zwischendurch das Ladentelefon. Sie rief bei verschiedenen ehemaligen Ladenaushilfen an, um zu fragen, ob sie vielleicht jemanden wüssten