Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen - Tilman Wetterling - E-Book

Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen E-Book

Tilman Wetterling

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Beschreibung

Die Geschäftsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Als deren Grundvoraussetzung wird von juristischer Seite ein freier Wille angesehen. Die Frage, ob die Fähigkeit zu einer freien Willensbestimmung gegeben ist, ist auch eine medizinische, da eine Reihe von neuropsychiatrischen Erkrankungen diese einschränken kann. Davon sind besonders ältere Menschen betroffen. Durch die Veränderung der Altersstruktur gibt es in Deutschland immer mehr hochbetagte Menschen, bei denen sich oft die Frage stellt, ob die Geschäfts- oder Testierfähigkeit noch vorhanden ist. In dem in 2., überarbeiteter Auflage vorliegenden Buch wird die gutachterliche Bewertung der Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit bei neuropsychiatrischen Erkrankungen dargestellt.

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Der Autor

Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. Tilman Wetterling: Studium der Chemie und Medizin in Göttingen, 1986 Arzt für Neurologie und Psychiatrie, 1987–1997 Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie der Med. Universität zu Lübeck, 1991 Habilitation für das Fach Psychiatrie mit einer Arbeit zur »Differentialdiagnose dementieller Abbauprozesse«. 1997 apl. Professor für Psychiatrie (Med. Universität zu Lübeck).

1997–2003 Leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt/M.

2003–2016 Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum Kaulsdorf, Berlin.

2005–2017 apl. Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité, Berlin.

Arbeitsgebiete:

 

•  Neuropsychiatrische Erkrankungen, insbesondere Demenz und Delir einschl. rechtlicher Aspekte

•  Multimorbidität

•  Alkoholerkrankung einschl. rechtlicher Aspekte

•  Nebenwirkungen von Psychopharmaka

www.prof-wetterling.de

Tilman Wetterling

Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen

Ein Leitfaden zur Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037914-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-037915-2

epub:    ISBN 978-3-17-037916-9

mobi:    ISBN 978-3-17-037917-6

Vorwort

 

 

 

Das Recht, selbst bestimmen zu können, ist ein Grundrecht in modernen Demokratien. Voraussetzung dafür ist ein eigener freier Wille, mit dem man entscheiden kann,

•  was man (im Rahmen der Gesetze) tun will, z. B. Geschäfte tätigen, Verträge zu schließen, etc. (Geschäftsfähigkeit)

•  was man aus seinem Besitz wem bei seinem Tode hinterlassen will (Testierfähigkeit).

Die Frage, ob die Fähigkeit zu einer freien Willensbestimmung gegeben ist, ist nicht nur eine philosophische und politische, sondern auch eine medizinische. Es gibt eine Reihe von Erkrankungen, v. a. des Gehirns, die die freie Selbstbestimmung einschränken. Davon sind besonders ältere Menschen betroffen.

In Deutschland verändert sich die Altersstruktur seit über 60 Jahren deutlich, sodass es immer mehr hochbetagte Menschen gibt. Diese leiden häufig unter typischen Alterserkrankungen, u. a. unter kognitiven und auch psychischen Störungen. Daher stellt sich oft die Frage, ob die Geschäftsfähigkeit noch gegeben ist. Viele Hochbetagte haben im Laufe ihres Lebens ein erhebliches Vermögen erworben. Wenn sie erst spät ein Testament verfassen, ergibt sich mitunter die Frage, ob sie noch testierfähig waren.

Bei entsprechenden Auseinandersetzungen vor Gericht werden nicht selten psychiatrische Gutachten angefordert. Die zivilrechtliche Beurteilung der Geschäfts- und Testierfähigkeit unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von einer forensischen Begutachtung strafrechtlicher Fragen. Da die zivilrechtliche Begutachtung oft posthum erfolgen muss, wird sie allgemein als sehr schwierig angesehen. In meiner mehr als 25-jährigen Praxis als Gutachter haben mich besonders die enorme Ausdauer und die Energie, die in langjährige Erbschaftsstreitigkeiten durch alle Gerichtsinstanzen investiert werden, nachdenklich gemacht. Ich habe Erbschaftsprozesse erlebt, die bis zu 19 Jahre andauerten und trotz des zwischenzeitlichen Todes der direkten Erben erbittert weiter geführt wurden. Dies zeigt, dass es beim Erben um ein elementares Bedürfnis von Menschen geht.

Auch hat mich immer wieder erschreckt, mit welchen Erwartungen von Prozessbeteiligten und insbesondere privaten Auftraggebern Gutachten verbunden sind. Viele wünschen sich eine Art Schiedsrichter, der mit seiner Fachautorität endlich der »Gegenseite« einmal sagt, wer wirklich Recht hat. Diese Erwartungen kann ein Gutachten nicht erfüllen, weil es um die Beurteilung der Fähigkeiten einer Person (Erblasser) geht. Gutachten sollen v. a. dem Gericht eine Grundlage für seine Entscheidung bieten.

Von einem Gutachter wird erwartet, dass er bei seiner Beurteilung sorgfältig vorgeht und möglichst alle Gesichtspunkte berücksichtigt. Da es in Deutschland bisher keine ausführliche Publikation zu diesem Themenkomplex gab, habe ich mich entschlossen, aufbauend auf meiner langjährigen Erfahrung als Gutachter und Neuropsychiater die wichtigsten Gesichtspunkte in einem Buch darzustellen. Dabei habe ich versucht, die unterschiedlichen juristischen und medizinischen Denkweisen (vorwiegend induktiv aus der Rechtsphilosophie vs. deduktiv aus empirischen Daten) zu berücksichtigen und, so dies möglich ist, zusammenzuführen.

Der Autor möchte dem Kohlhammer-Verlag danken für die Bereitschaft, dieses Buch zu veröffentlichen. Ganz besonders möchte ich mich bei Herrn Dr. Poensgen und Frau Bach bedanken, die dieses Buchprojekt ausdauernd unterstützt haben.

 

Berlin, Januar 2016T. Wetterling

Vorwort zur 2., aktualisierten Auflage

 

 

 

Bei der Überarbeitung des Textes wurden v. a. neuere medizinische Erkenntnisse sowie neue Gerichtsurteile berücksichtigt. Soweit schon bekannt, wurden die neuen Kriterien/ Definitionen der ICD-11 (WHO 2019) angegeben. Da hiervon noch keine autorisierte Übersetzung vorlag, stammen die Übersetzungen vom Verfasser.

Der Autor möchte dem Kohlhammer-Verlag und insbesondere Herrn Dr. Poensgen sowie Frau Dr. Rapp und Frau Brutler dafür danken, dass sie die neu überarbeitete Auflage des Buches ermöglicht haben.

 

Berlin, Dezember 2019T. Wetterling

Inhalt

 

 

 

Vorwort

Vorwort zur 2., aktualisierten Auflage

Praktische Hinweise

Abkürzungsverzeichnis

1 Gesellschaftliche Aspekte

1.1 Demografische Entwicklung (alternde Gesellschaft)

1.2 Zunahme alterstypischer Erkrankungen

1.3 Vererbte Vermögenswerte

1.4 Psychodynamik

2 Geschäftsfähigkeit

2.1 Juristische Voraussetzungen

2.1.1 Relative/partielle Geschäftsunfähigkeit

2.2 Rechtsprechung

2.2.1 Beweislast

2.2.2 Kriterien für Geschäftsfähigkeit

2.3 Prozessfähigkeit

2.4 Deliktfähigkeit

2.5 Ehefähigkeit

2.6 Versicherungsvertragsgesetz

2.6.1 Rechtsprechung

3 Testierfähigkeit

3.1 Juristische Voraussetzungen

3.2 Rechtsprechung

3.2.1 Beweislast

3.3 Spezielle Aspekte

3.3.1 Partielle Testierfähigkeit

3.3.2 Testament eines Betreuten

3.4 Inhalt des Testaments

4 Freier und natürlicher Wille

4.1 Philosophische und neurowissenschaftliche Aspekte

4.2 Rechtsprechung

4.3 Prozess der Willensbestimmung

4.3.1 Informationsaufnahme

4.3.2 Speicherung und Abruf von Informationen

4.3.3 Informationsverarbeitung und Urteilsbildung

4.3.4 Willensbildung und -umsetzung

4.4 Natürlicher Wille

4.5 Mutmaßlicher Wille

5 Krankhafte Störung der Geistestätigkeit

5.1 Amnestisches Syndrom

5.1.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.1.2 Differenzialdiagnose

5.1.3 Ursachen

5.1.4 Verlauf

5.1.5 Gutachterliche Beurteilung

5.2 Demenzielles Syndrom

5.2.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.2.2 Differenzialdiagnose

5.2.3 Ursachen

5.2.4 Verlauf

5.2.5 Gutachterliche Beurteilung

5.3 Depressives Syndrom

5.3.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.3.2 Differenzialdiagnose

5.3.3 Ursachen

5.3.4 Verlauf

5.3.5 Gutachterliche Beurteilung

5.4 Manisches und bipolar affektives Syndrom

5.4.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.4.2 Differenzialdiagnose

5.4.3 Ursachen

5.4.4 Verlauf

5.4.5 Gutachterliche Beurteilung

5.5 Persönlichkeitsveränderungen

5.5.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.5.2 Differenzialdiagnose

5.5.3 Ursachen

5.5.4 Verlauf

5.5.5 Gutachterliche Beurteilung

5.6 Schizophrenes Syndrom und andere Wahnerkrankungen

5.6.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.6.2 Differenzialdiagnose

5.6.3 Ursachen

5.6.4 Verlauf

5.6.5 Gutachterliche Beurteilung

5.7 Suchterkrankungen (Gebrauch psychotroper Substanzen)

5.7.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

5.7.2 Differenzialdiagnose

5.7.3 Ursachen

5.7.4 Verlauf

5.7.5 Gutachterliche Beurteilung

5.8 Sonstige Erkrankungen

5.8.1 Autismus

5.8.2 Enzephalopathien

5.8.3 Epilepsie

5.8.4 Infektionen des zentralen Nervensystems

5.8.5 Multiple Sklerose

5.8.6 Parkinson-Syndrom

5.8.7 Schädel-Hirn-Traumen (Kopfverletzungen)

5.8.8 Vaskulär bedingte Enzephalopathie

5.8.9 Tumoren des Zentralnervensystems

5.9 Wirkungen von Arzneimitteln (Medikamenten)

5.9.1 Wirkungen von Medikamenten auf Hirnfunktionen

5.9.2 Polypharmazie (Multimedikation)

5.9.3 Gutachterliche Beurteilung

5.10 Psychiatrische Komorbidität

5.10.1 Ursachen

5.10.2 Verlauf

5.10.3 Gutachterliche Beurteilung

5.11 Multimorbidität

5.11.1 Beispiele für Multimorbidität

5.11.2 Verlauf

5.11.3 Gutachterliche Beurteilung

6 Geistesschwäche (Intelligenzminderung)

6.1 Psychopathologische und neuropsychologische Symptome

6.2 Differenzialdiagnose

6.3 Ursachen

6.4 Verlauf

6.5 Gutachterliche Beurteilung

6.5.1 Geschäftsfähigkeit

6.5.2 Testierfähigkeit

7 Bewusstseinsstörung

7.1 Quantitative Bewusstseinsstörungen

7.1.1 Psychopathologische und neuropsychologische Symptome

7.1.2 Differenzialdiagnose

7.1.3 Ursachen

7.1.4 Verlauf

7.1.5 Gutachterliche Beurteilung

7.2 Qualitative Bewusstseinsstörungen (Delir/ Verwirrtheitszustand)

7.2.1 Neuropsychologische und psychopathologische Symptome

7.2.2 Differenzialdiagnose

7.2.3 Ursachen

7.2.4 Verlauf

7.2.5 Gutachterliche Beurteilung

8 Empirische Untersuchungsergebnisse

8.1 Neuropsychologische Untersuchungen

8.1.1 Wahrnehmungsstörungen

8.1.2 Gedächtnisstörungen

8.1.3 Störungen der exekutiven Funktionen

8.1.4 Entscheidungsfindung (Decision-Making)

8.2 Standardisierte Erfassung von komplexen Fähigkeiten

8.3 Vergleich der Angaben von Betroffenen und Informanten

8.3.1 Angaben zu Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL)

8.3.2 Angaben zu Hirnfunktionsstörungen

8.4 Zusammenhänge zwischen verschiedenen Hirnfunktionsstörungen

9 Neuropsychiatrische Begutachtung

9.1 Prozedere

9.1.1 Anforderung eines Gutachtens durch ein Gericht

9.1.2 Anforderung eines Gutachtens durch Privatpersonen

9.1.3 Sachverständiger

9.1.4 Ärztliche Atteste

9.2 Anforderungen an Sachverständigengutachten

9.3 Methodik der Begutachtung

9.3.1 Abfassung eines Gutachtens

9.4 Auswertung von Aussagen und Unterlagen

9.4.1 Ärztliche Unterlagen/Angaben

9.4.2 Vorgutachten

9.4.3 Pflegedokumentation (Pflegeberichte)

9.4.4 Dokumente des zu Begutachtenden

9.4.5 Testergebnisse

9.4.6 Neuroradiologische Befunde

9.5 Zeugenangaben/-aussagen

9.5.1 Rechtsprechung

9.5.2 Inhalt der Angaben bzw. Aussagen

9.5.3 Beobachtungen (direkte Wahrnehmungen)

9.5.4 Einschätzungen bzw. Schlussfolgerungen

9.5.5 Unterschiedliche Beobachtungszeitpunkte

9.5.6 Beobachtungssituation

9.5.7 Bewertung von Zeugenaussagen

9.6 Gutachtenerstellung

9.6.1 Gutachten zur Geschäfts(un)fähigkeit

9.6.2 Gutachten zur Testier(un)fähigkeit

9.6.3 Gutachten bei Selbsttötung (Suizid)

10 Anhaltspunkte für die Beurteilung

10.1 Psychopathologie

10.1.1 Wahrnehmungsstörungen, Sinnestäuschungen und Ich-Störungen

10.1.2 Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- und Vigilanzstörungen

10.1.3 Orientierungsstörungen

10.1.4 Gedächtnisstörungen

10.1.5 Formale Denkstörungen

10.1.6 Inhaltliche Denkstörungen (Wahn)

10.1.7 Störungen der Affektivität

10.1.8 Störungen des Antriebs und der Psychomotorik

10.1.9 Andere psychopathologische Symptome (Verhaltensauffälligkeiten)

10.1.10 Psychopathometrische Skalen

10.2 Neuropsychologische und andere Störungen

10.2.1 Sprachstörungen

10.2.2 Störung der Exekutivfunktionen (Planung und Handlungssteuerung)

10.2.3 Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs)

10.2.4 Neuropsychologische und andere Testverfahren

10.3 Verlaufsaspekte

10.3.1 Differenzierung strukturelle Schädigung – funktionale Störung

10.3.2 Verlaufsformen

10.3.3 Kurzzeitige Besserung (luzides Intervall)

10.4 Andere Aspekte (Einfluss Dritter, Kontinuität des Willens etc.)

10.4.1 Einfluss Dritter

10.4.2 Kontinuität des Willens

10.4.3 Impulsivität

10.4.4 Fehlende Krankheitseinsicht

10.4.5 Gesamteindruck (Gesamtpersönlichkeit)

11 Abschließende Bemerkungen

Literatur

Stichwortverzeichnis

Praktische Hinweise

 

 

 

In diesem Buch werden viele Hinweise auf die Rechtsprechung in Deutschland gemacht. Da Kommentare zur Rechtsprechung meist nur Juristen zugänglich bzw. geläufig sind, wurden diese nur in Einzelfällen zitiert. Hauptsächlich wurde auf Gerichtsurteile verwiesen. Diese sind zu einem großen Teil im Internet frei zugänglich (z. B. über http://www.dejure.org).

Bei den Verweisen auf die medizinische Fachliteratur wurde ebenfalls versucht, frei im Internet zugängliche Literatur auszuwählen. Von den meisten medizinischen Arbeiten finden sich in PubMed (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pub med) kurze Zusammenfassungen (Abstracts) bzw. in PMC (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc) die vollständigen Artikel.

Abkürzungsverzeichnis

 

 

 

1          Gesellschaftliche Aspekte

 

 

 

In den letzten Jahrzehnten sind in der Bundesrepublik Deutschland einige gesamt-gesellschaftlich wichtige Entwicklungen zu verzeichnen, die sich allen Prognosen nach fortsetzen werden, u. a.:

•  Die Bevölkerung wird immer älter, d. h. das Durchschnittsalter steigt, und daher

•  Zunahme der alterstypischen Erkrankungen und der Multimorbidität.

•  Aufgrund der geringen Geburtenrate und der neuen Formen des Zusammenlebens haben viele Menschen keine direkten Nachkommen mehr.

•  Immer mehr ältere Menschen haben ein beträchtliches Vermögen erworben und dieses dann im Falle ihres Todes zu vererben.

 

1.1       Demografische Entwicklung (alternde Gesellschaft)

 

Die mittlere Lebenserwartung hat in Deutschland in den letzten 100 Jahren deutlich zugenommen (Destatis 2011). Das mittlere Sterbealter betrug 2013 81,8 Jahre für Frauen und 74,5 Jahre für Männer (Destatis 2015a). Aufgrund der gestiegenen Lebensdauer und der geringen Geburtenrate (Destatis 2012) in den letzten Jahrzehnten ist der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland stark von 1,0 % (1950) auf 6,2 % (2017) gewachsen, und diese Entwicklung wird weiter anhalten (Destatis 2009, 2015b).

 

1.2       Zunahme alterstypischer Erkrankungen

 

Infolge der demografischen Entwicklung mit einer steigenden Zahl an älteren Menschen wächst auch die Zahl derer, die an Alterserkrankungen, insbesondere Herz-Kreislauf- und Krebs- sowie neuropsychiatrischen Erkrankungen leiden. Deren Häufigkeit steigt mit dem Lebensalter deutlich an. Menschen im höheren Lebensalter leiden sehr oft an mehreren Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität) (Kap. 5.11). Nach einer Schätzung leiden in Deutschland etwa 165.000 Menschen an einer akuten neuropsychiatrischen Erkrankung, die mit einer schweren Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten einhergehen kann (Wetterling 2002, S. 11). Deutlich höher liegen die Zahlen für Menschen mit chronischen neuropsychiatrischen Erkrankungen. Eine Reihe von Studien zeigen, dass insbesondere das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Demenz zu erkranken, sehr hoch ist. Es wird auf über 20 % geschätzt (Lobo et al. 2011; Fishman 2017; Seshadri und Wolf 2007). Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Etwa 20 % aller Menschen erleiden während ihres Lebens einen Schlaganfall (Seshadri und Wolf 2007). Also ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Anteil der Menschen in hohem Lebensalter aufgrund einer Schädigung des Gehirns an einer organisch bedingten Störung der kognitiven Fähigkeiten leidet.

Über 2 % der Deutschen leiden nach Schätzungen an einer Schizophrenie oder einer wahnhaften Störung und 6 % an einer Depression (Jacobi et al. 2014). Da diese Erkrankungen ebenso wie schwere Formen anderer psychiatrischer Erkrankungen zu einer Einschränkung der freien Willensbildung führen können, ist der Kreis derjenigen, bei denen eine Geschäfts- oder Testierfähigkeit zu diskutieren ist, groß. Falls diese Fähigkeiten nicht mehr gegeben sind, ist für bestimmte Aufgabengebiete die Einrichtung einer Betreuung erforderlich (Wetterling 2018a). Die Zahl der rechtlichen Betreuungen (nach § 1906ff. BGB) ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Die Zahl der betreuten Personen in Deutschland betrug Ende 2013 knapp 1,3 Millionen (= etwa 1,6 % der Gesamtbevölkerung) (Bundesanzeiger 2017).

 

1.3       Vererbte Vermögenswerte

 

Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW 2017) werden in Deutschland in den nächsten Jahren jährlich bis zu 400 Mrd. Euro vererbt. Das entspricht etwa 6 % des gesamten Geldvermögens aller privaten Haushalte. Nach einer Studie der Deutschen Bank (2018) beschäftigen sich 60 % der Deutschen ungern mit dem Thema Erbschaft. Über dieses Thema wird auch wenig kommuniziert. Aber sowohl den zukünftigen Erben als auch den Erblassern ist es besonders wichtig, dass es keinen Streit um das Erbe gibt. Gleichwohl hatten nur 39 % der potentiellen Erblasser ein Testament gemacht. Bei 19 % der Erbschaften kam es in den letzten Jahren zu Streitigkeiten.

Häufigster Anlass für Streit ist, dass sich einzelne Erben benachteiligt fühlen (Kap. 1.4). In juristischen Auseinandersetzungen wird oft die Testierfähigkeit des Erblassers angezweifelt.

 

1.4       Psychodynamik

 

Die Geschäftsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben. Sie wird in der Regel als gegeben vorausgesetzt. Eine Geschäftsunfähigkeit wird nur dann behauptet, wenn der Betreffende sich massiv übervorteilt oder getäuscht fühlt. In entsprechenden Fällen wird versucht, durch diese Behauptung den meist finanziellen Schaden wieder gut zu machen bzw. zu begrenzen. Die Betreffenden berufen sich in solchen Fällen auf einen »Ausnahmezustand«, in dem sie sich vorübergehend befunden haben. Mitunter wird auch ein »Rauschzustand« (z. B. Kaufrausch) angegeben. Das wesentliche Motiv für juristische Auseinandersetzungen ist in diesen Fällen meist die Scham, auf einen anderen »hereingefallen« zu sein. Aus dieser Scham und auch Schuldgefühlen kann sich Wut entwickeln, wenn der Betreffende sich nicht mit den aus seiner Sicht gerechtfertigten Ansprüchen durchsetzen kann. Die Geschäftsfähigkeit wird bei älteren Menschen von Dritten v. a. beim Abschluss von Verträgen, insbesondere Erbverträgen (mit kompliziertem Inhalt), angezweifelt.

Um ein Erbe wird oft mit einer enormen Verbissenheit und Ausdauer gestritten, nicht selten über mehrere Gerichtsinstanzen. Dem Autor sind Gerichtsverfahren bekannt, die bis zu fast 20 Jahre nach dem Tode des Erblassers andauerten, auch nachdem die unmittelbaren Erben zwischenzeitlich verstorben waren. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Erbstreitigkeiten bis hin zu Königsmorden und Ermordung von anderen potenziellen Erben (Familienangehörigen) geführt haben. Aufgrund von Erbstreitigkeiten kam es zu mehreren »Erbfolgekriegen« in Europa. Mitunter bekämpfen sich die potenziellen Erben so lange, bis nach den Kosten für die Anwälte, Gerichte und Gutachter kaum noch ein nennenswerter Betrag übrig bleibt. Die Triebfeder für diese erbitterten Streitigkeiten, die dazu führen können, dass nahe Verwandte, z. B. Geschwister, nie mehr miteinander sprechen und »auf ewig« verfeindet sind, müssen also neben der reinen Gier nach Erlangung des Erbes (Geld, Immobilien etc.) noch weitere sein.

Oft brechen durch einen Erbfall lang andauernde, im Untergrund schwelende Familienkonflikte wieder auf und gewinnen im Verlauf der Erbstreitigkeiten eine teils fatale Dynamik. Mitunter wird sogar bestritten, dass eine leibliche Verwandtschaft zum Erblasser besteht und ein DNA-Test gefordert. Einzelne Erben, die sich von dem Erblasser ihr Leben lang nicht richtig gewürdigt oder gar gegenüber anderen, z. B. Geschwistern, zurückgesetzt fühlen, können sich damit getröstet haben, dass sie am Ende doch noch ihren »gerechten« Anteil an dem Erbe bekommen. Wenn der Erblasser sie aber (wie schon zu Lebzeiten) nicht genügend berücksichtigt hat, kommen tiefgründige Gefühle wie Neid und Hass auf den (scheinbar) Bevorteilten zum Ausbruch. Diese Emotionen können so stark sein, dass sie den Betreffenden »gefangen« nehmen und es zu einem Lebensinhalt von ihm wird, am Ende doch endlich »Recht« zu bekommen.

In entsprechenden Fällen (z. B. bei Erbverträgen) kann sich der Hass auch gegen den Erblasser richten und dazu führen, dass danach getrachtet wird, ihn zu diskreditieren und durch entsprechende Angaben seine Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit in Zweifel zu ziehen. Besonders in Fällen, in denen ein Erbe den Erblasser bei schwerer Krankheit oder kurz vor seinem Tode dazu bringt, ein Testament zu seinen Gunsten zu verfassen oder Sonderregelungen zu seinen Gunsten (z. B. Schenkungen, Schließen eines Erbvertrags, Wohnrecht etc.) zu vereinbaren, entsteht Streit, vor allem dann, wenn es vorher andere testamentarische Regelungen gab. Dies führt oft dazu, dass der Benachteiligte sich übervorteilt oder gar betrogen fühlt. Nicht selten kommt es in solchen Fällen schon zu Lebzeiten des Erblassers zu ersten juristischen Auseinandersetzungen (z. B. Hausverbot, gegenseitige Betrugsvorwürfe mit Strafanzeigen etc.). In diesem Zusammenhang wird oft versucht, eine rechtliche Betreuung einzuleiten mit dem Ziel, anderen potenziellen Erben den Zugang zu dem Erbe zu erschweren oder unmöglich zu machen.

Die Anregung einer Betreuung (nach § 1896 BGB) ist von potenziellen Erben mitunter auch deswegen erwünscht, um »amtlich« feststellen zu lassen, dass der Erblasser geschäftsunfähig ist. Dabei wird oft argumentiert, dass andere potenzielle Erben den Erblasser massiv beeinflussen und/oder ihn vom Antragsteller abschirmen. Die Anregung einer Betreuung kann dazu führen, dass der Erblasser sich in seinen Rechten eingeschränkt sieht und dann die »Gegenseite« begünstigt. So kann der ganze Ablauf der Erbauseinandersetzungen eine neue Dynamik gewinnen. In der Zeit, in der das Erbscheinverfahren bei Gericht läuft, versuchen potenzielle Erben nicht selten, sich ihren Teil an dem Erbe zu »sichern«, indem sie sich Gegenstände aus dem Erbe (z. B. Schmuck, Antiquitäten etc.) aneignen, ohne dass sie dazu eine Berechtigung haben. Solche »Sicherungsmaßnahmen« verschärfen oft schon schwelende Konflikte zwischen den potenziellen Erben. Streit entsteht auch, wenn leibliche Erben nur ihren Pflichtteil bekommen und das Haupterbe an eine (familienfremde) Person fällt, die den Erblasser in seinen letzten Lebensjahren betreut hat. In entsprechenden Fällen ist dann oft von Erbschleicherei die Rede.

Auch Ärzte, Juristen/Notare und Gerichte sowie Gutachter können einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu der Dynamik von Erbauseinandersetzungen liefern. Als Beispiele sind zu nennen:

•  Ausstellung eines Attests durch den Hausarzt, in dem er dem Erblasser eine Demenz oder gar eine Geschäfts-/Testierunfähigkeit bescheinigt, ohne die Voraussetzungen hierfür genau geprüft zu haben

•  Notare, die Testamente beglaubigen, ohne nach den wesentlichen Punkten gefragt zu haben, nämlich ob der Erblasser sich Gedanken (»Für und Wider«) zu allen möglichen Erben gemacht hat und warum er sich für die im Testament festgelegte Regelung entschieden hat

•  Rechtsanwälte, die sich benachteiligt fühlenden Erben in Aussicht stellen, dass der Betreffende in der nächsten Instanz bestimmt Recht bekommen wird, ohne dass wesentliche neue Anhaltspunkte vorgelegt werden können

•  Gerichte, die lange Zeit brauchen, um die Verfahren zu bearbeiten. Hierdurch können Erben, die größere Geldbeträge möglicherweise schon »verplant« haben, ungeduldig werden und daher weitere Schritte von ihren Anwälten verlangen.

•  Gutachter, die ohne ausreichende Anknüpfungspunkte und ungenügende Berücksichtigung der medizinisch denkbaren Alternativen (Differenzialdiagnose etc.) zu ihren Beurteilungen gelangen und so die Basis für eine neue Runde der Erbauseinandersetzungen vor Gericht legen

•  Privat-Gutachter, die nur aufbauend auf den ihnen von ihrem Auftraggeber überlassenen (aber oft nicht vollständigen) Unterlagen zu einer Beurteilung in dessen Sinn kommen, z. B. indem sie dessen Bewertungen ungeprüft übernehmen

Diese Beispiele zeigen, dass an den Erbstreitigkeiten nicht direkt beteiligte Personen durchaus einen wesentlichen Beitrag zu deren Dynamik und auch zur Vehemenz der Auseinandersetzung leisten können. Daher sollten sich alle Beteiligten darüber im Klaren sein, dass die »Motivation« zu langen Erbstreitigkeiten vor allem auf sehr elementare menschliche Gefühle wie Gier, Neid und Hass sowie das Gefühl der Übervorteilung zurückzuführen ist. Als zusätzliches Moment kommen, je länger die Auseinandersetzungen andauern, noch Ungeduld sowie das Gefühl, endlich Recht bekommen zu müssen, hinzu. In diesem emotionalen Spannungsfeld und in dem für sie kaum durchschaubaren juristischen Verfahren werden häufig von potenziellen Erben hohe Erwartungen an die Fachleute (Juristen, Gutachter) gestellt. Die hohen Erwartungen kann ein psychiatrisches Gutachten oft nicht erfüllen, weil es im Wesentlichen um die Beurteilung der Fähigkeiten einer Person (Erblasser) geht und nicht – wie von potenziellen Erben oft erwartet wird – auch um eine Bewertung der Handlungen Dritter im Zusammenhang mit der Testamentserrichtung. Dies führt oft zur Enttäuschung bei den potenziellen Erben und veranlasst diese, neue Gutachten zu fordern und weiter zu prozessieren.

Bei der Betrachtung der psychodynamischen Gesichtspunkte ist aber auch wichtig, die Sichtweise des Erblassers zu betrachten. Für ihn kann es eine ganze Reihe von Gründen geben, die ihn veranlassen, jemanden bei dem Erbe nicht zu berücksichtigen bzw. ihm nur den Pflichtanteil zukommen zu lassen, u. a.:

•  Enttäuschung über die Lebensweise des potenziellen Erben, z. B. entgegen den Wertevorstellungen des Erblassers

•  Rechtsstreitigkeiten mit dem Betreffenden

•  Ungenügende Unterstützung im Alter, z. B. statt der erwünschten persönlichen Hilfe die Empfehlung, in ein Heim zu ziehen, oder sogar Veranlassung einer Heimunterbringung durch einen potenziellen Erben

•  Fehlender Kontakt (zerrüttete Familienverhältnisse, »Patchwork«-Familien)

•  Berücksichtigung von Lebenspartnern

•  Stiftung für ein ihn bedeutsames Anliegen (karitative Zwecke, Tier- oder Umweltschutz, Forschung für bestimmte Erkrankungen, etc.)

•  Und, vor allem wenn Pflegebedürftigkeit besteht, die Absicht, durch eine Einsetzung als Erben oder durch Erbvertrag die lebenslange Pflege durch den Betreffenden zu sichern.

Bei großen Vermögen, insbesondere Firmen, Bauernhöfen etc. kann auch der Gesichtspunkt eine wesentliche Rolle spielen, dass möglichst »alles in einer Hand bleibt.« Auch kann bei einem Erblasser der Wunsch aufkommen, am Lebensende bei denjenigen, von denen er glaubt, sie zeitlebens zu streng oder ungerecht behandelt zu haben, eine Art Wiedergutmachung zu leisten und sie in seinem Testament besonders großzügig zu berücksichtigen.

2          Geschäftsfähigkeit

 

 

 

2.1       Juristische Voraussetzungen

 

Die Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit eines Menschen (jur. einer natürlichen Person), rechtlich bedeutsame Handlungen vorzunehmen, insbesondere wirksame Rechtsgeschäfte (z. B. Kauf eines Gegenstandes, Abschließen eines Vertrages etc.) vorzunehmen. Sie ist die entscheidende Voraussetzung, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen finden sich in Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).

Grundsätzlich ist jeder Bürger der Bundesrepublik Deutschland nach Vollendung des 7. Lebensjahres geschäftsfähig (§ 104 Abs. 1 BGB). Aber erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres besteht eine volle Geschäftsfähigkeit, zwischen dem 7. und dem 17. Lebensjahr besteht eine beschränkte Geschäftsfähigkeit (§ 107 BGB).

Die Geschäftsunfähigkeit stellt also eine Ausnahme dar, die gesetzlich in § 104 Abs. 2 BGB bzw. § 105 Abs. 2 BGB geregelt ist.

§ 104 Abs. 2 BGB – dauerhafte Geschäftsunfähigkeit

Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.

Willenserklärungen eines Geschäftsunfähigen sind grundsätzlich nichtig. Ein Geschäftsunfähiger kann wirksam nur durch seinen gesetzlichen Vertreter handeln (z. B. Eltern für ihre Kinder, bei Erwachsenen gesetzlicher Betreuer). Ausnahmen sind in § 105a BGB (Geschäfte des täglichen Lebens) geregelt.

§ 105 Abs. 2 BGB – vorübergehende Geschäftsunfähigkeit

Nichtig ist eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird.

Beschränkt geschäftsfähig sind gemäß Personen zwischen dem 7. und 18. Lebensjahr (Minderjährige). Ihnen gleichgestellt sind gemäß § 1903 BGB Betreute, die einem Einwilligungsvorbehalt unterliegen.

Einige Gesetze nehmen Bezug auf die Geschäftsfähigkeit oder enthalten ähnliche Regelungen:

•  Deliktfähigkeit (gemäß § 827 BGB) (Kap. 2.3)

•  Ehefähigkeit bzw. Ehemündigkeit (gemäß §§ 1303, 1304, 1314 Abs. 2 Nr. 1 BGB)

•  Prozessfähigkeit (gemäß § 52 ZPO) (Kap. 2.4)

•  Testierfähigkeit (gemäß §§ 2064, 2229, 2247, 2275 BGB) (Kap. 3)

•  Gesetz zur Einwilligung in ärztliche Maßnahmen (§ 630d BGB)

•  § 161 des Versicherungsvertragsgesetz (VVG) (Kap. 2.5).

2.1.1     Relative/partielle Geschäftsunfähigkeit

Vielfach wird diskutiert, ob es Einschränkungen der Geschäftsfähigkeit gibt, z. B. auf bestimmte Bereiche oder Angelegenheiten (sogenannte partielle Geschäftsunfähigkeit). Nach der Rechtsprechung (BGH, Urteil v. 14.07.1953 – V ZR 97/52; BGH, Urteil v. 19.06.1970 – IV ZR 83/69; BGH, Urteil v. 18.05.2001 – V ZR 126/00) betrifft ein Ausschluss der freien Willensbestimmung seiner Natur nach regelmäßig die ganze Persönlichkeit und wird abgesehen von Sonderfällen nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt bleiben. Daher wurde in den Urteilen die Möglichkeit einer partiellen Geschäftsfähigkeit abgelehnt.

Eine bei besonders schwierigen Rechtsgeschäften eingeschränkte Geschäftsunfähigkeit (sogenannte abgestufte oder relative Geschäftsunfähigkeit) wird von der Rechtsprechung nicht anerkannt (BGH, Urteil v. 14.07.1953 – V ZR 97/52; BGH, Urteil v. 23.10.1975 – II ZR 109/74; vergleichbarer Tenor: BayObLG, Urteil v. 19.06.1986 – BReg. 3 Z 165/85; BayObLG, Urteil v. 24.11.1988 – BReg. 3 Z 149/88; BayObLG Urteil v. 05.12.1991- BReg 3 Z 182/91).

Hinsichtlich komplexer (Rechts-)Geschäfte ist auf das BGH, Urteil v. 19.06.1970, IV ZR 83/69 zu verweisen: Eine Person, die in der Lage ist, ihren Willen frei zu bestimmen, deren intellektuelle Fähigkeiten aber nicht ausreichen, um bestimmte schwierige rechtliche Beziehungen verstandesmäßig zu erfassen, ist deswegen noch nicht geschäftsunfähig. Es muss ihr vielmehr überlassen bleiben, auf welche Weise sie mit besonderen Lagen fertig werden will. Wenn sie sich dem Rat einer dritten Person fügt, so ist dies aufgrund einer vernünftigen freien Willensentschließung geschehen, sie steht dann auch insoweit nicht unter einem ihre eigene Willensfreiheit ausschließenden Einfluss eines anderen.

Sonderfälle: Die Geschäftsfähigkeit kann wegen Vorliegens einer geistigen Störung für einen beschränkten Kreis von Angelegenheiten (etwa denjenigen, die mit einem Eheprozess zusammenhängen) ausgeschlossen sein (Stichwort: Querulantenwahn) (BGH, Urteil v. 24.09.1955 – IV ZR 162/54).

Das Bundesverfassungsgericht sieht eine partielle Geschäftsfähigkeit im Falle einer Eheschließung als möglich an, wenn der Betreffende in einem psychiatrischen Gutachten für befähigt gehalten wird, im Rahmen einer natürlichen Willensbildung dezidiert Wünsche zu äußern und auf die Erfüllung von Bedürfnissen hinzuwirken (BVerfG, Beschluss v. 18.12.2002, 1 BvL 14/02). Auch bei der Erstellung einer Patientenvollmacht wird vom OLG München (Beschluss v. 05.06.2009 – 33 Wx 278/08) eine hierauf bezogene partielle Geschäftsfähigkeit als möglich angesehen, wenn durch den Betroffenen bewusst und in freier Willensentschließung eine Vertrauensperson bevollmächtigt wurde, auch wenn nicht auszuschließende leichtere kognitive Defizite zu Bedenken gegen die Wirksamkeit anderweitiger Willenserklärungen Anlass geben können.

 

2.2       Rechtsprechung

 

2.2.1     Beweislast

BGH, Urteil v. 20.06.1984 – IVa ZR 206/82

Störungen der Geistestätigkeit, die gemäß § 104, Abs. 2 oder § 105 BGB, Abs. 2 zur Geschäftsunfähigkeit führen, sind Ausnahmeerscheinungen und derjenige, der sich auf solche Störungen beruft, muss Tatsachen darlegen, aus denen sich Anhaltspunkte hierfür ergeben. (Vergleichbarer Tenor: KG, Beschluss v. 7.9.1999–1 W 4291/98; OLG Jena, Beschluss v. 04.05.2005 – 9 W 612/04). Jemand ist so lange als geschäftsfähig anzusehen, als nicht seine Geschäftsunfähigkeit zur vollen Gewissheit des Gerichts nachgewiesen wird (BayObLG, Beschluss v. 18.05.1993 – 1Z BR 7/93; OLG Frankfurt/M., Urteil v. 05.09.1995 – 20 W 107/94; OLG Düsseldorf, Urteil v. 06.03.1998 – 7 U 210/95).

2.2.2     Kriterien für Geschäftsfähigkeit

BGH, Urteil v. 14.7.1953 – V ZR 97/52

(Gleicher Tenor: BGH, Urteil v. 19.06.1970 – IV ZR 83/69; Reichsgericht Urteil v. 19.01.1922 – Rep.VI. 585/21, RGZ 103, 399)

Nach § 104 Nr. 2 BGB sind für die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit nicht so sehr die Fähigkeiten des Verstandes ausschlaggebend als die Freiheit des Willensentschlusses. Es kommt darauf an, ob eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider, eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist, oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Betroffene fremden Willenseinflüssen unterliegt oder die Willenserklärung durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen ähnlich einer mechanischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ausgelöst wird. Ein solcher Ausschluss der freien Willensbestimmung wird seiner Natur nach regelmäßig die ganze Persönlichkeit ergreifen und abgesehen von den oben erwähnten Sonderfällen nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt bleiben. Eine auf besonders schwierige Geschäfte beschränkte Geschäftsunfähigkeit kann daher grundsätzlich nicht anerkannt werden.

BGH, Urteil v. 20.06.1984 – IVa ZR 206/82

Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden (nicht nur vorübergehenden) Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Demgemäß kommt es neben einer Störung der Geistestätigkeit vornehmlich darauf an, ob der Erblasser imstande war, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Störung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Ausschlaggebend sind dabei weniger die Fähigkeiten des Verstandes als vielmehr die Freiheit des Willensentschlusses. Abzustellen ist daher darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich war oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Erblasser fremden Einflüssen unterlag.

Es reicht für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit nicht aus, wenn ein Betreffender die wirtschaftliche Tragweite vermögensrechtlicher Entscheidungen nicht voll zu ermessen vermag oder ob eine Willensentscheidung in einem sinngesetzlichen Zusammenhang noch normal motiviert ist. Wer unklug und kurzsichtig handelt, muss deshalb noch nicht geschäftsunfähig sein (vgl. BayObLG, Beschluss v. 24.11.1988 – BReg. 3 Z 149/88).

 

2.3       Prozessfähigkeit

 

Nach § 52 ZPO ist eine Person insoweit prozessfähig, als sie sich durch Verträge verpflichten kann, d. h. also geschäftsfähig ist. Wer sich auf eine Prozessunfähigkeit beruft, muss entsprechende Tatsachen darlegen, aus denen sich ausreichende Anhaltspunkte dafür ergeben (vgl. BGH, 24.09.1955 – IV ZR 162/54; BGH, Urteil v. 10.10.1985 – IX ZR 73/85). Die Prozessfähigkeit kann wegen Vorliegens einer geistigen Störung für einen beschränkten Kreis von Angelegenheiten (etwa diejenigen, die mit einem Eheprozess zusammenhängen, ausgeschlossen sein) (Stichwort: Querulantenwahn) (vgl. BGH, 24.09.1955 – IV ZR 162/54).

 

2.4       Deliktfähigkeit

 

§ 827 BGB – Ausschluss und Minderung der Verantwortlichkeit

Wer im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustand widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist.

 

2.5       Ehefähigkeit

 

Gemäß § 1304 BGB kann, wer geschäftsunfähig ist, eine Ehe nicht eingehen. Es handelt sich um einen Unterfall der Geschäftsfähigkeit (vgl. BGH, Urteil vom 11.4.2012, XII ZR 99/10), bei dem es darauf ankommt, ob der Eheschließende in der Lage ist, das Wesen der Ehe zu begreifen und insoweit eine freie Willensentscheidung zu treffen. Die Geschäftsfähigkeit i. S. d. § 1304 BGB ist unter Berücksichtigung der in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Eheschließungsfreiheit als Ehegeschäftsfähigkeit zu beurteilen und ggf. wird eine diesbezügliche partielle Geschäftsfähigkeit bejaht (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.12.2002 – 1 BvL 14/02).

 

2.6       Versicherungsvertragsgesetz

 

Im Fall einer Selbsttötung (Suizid) wird in dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG) eine freie Willensbildung als Bedingung für die Leistungspflicht des Versicherers angeführt.

§ 161 VVG – Selbsttötung

(1) Bei einer Versicherung für den Todesfall ist der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet, wenn die versicherte Person sich vor Ablauf von drei Jahren nach Abschluss des Versicherungsvertrags vorsätzlich selbst getötet hat. Dies gilt nicht, wenn die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist.

2.6.1     Rechtsprechung

Die Beweislast für das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit zum Zeitpunkt des Suizids hat der Anspruchsteller (BGH, Urteil v. 13.10.1993 – IV ZR 220/92, VersR 1994). Die Rechtsprechung bezieht sich in entsprechenden Fällen auf die im BGH, Urteil v. 20.06.1984, IVa ZR 206/82 festgelegten Grundsätze für eine Geschäftsunfähigkeit (LG Bonn, Beschluss v. 12.11.2004 – Az. 9 O 447/04). Dabei können als krankhafte Störung der Geistestätigkeit alle Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens, des Gefühls und des Trieblebens in Betracht kommen, ohne dass die Manifestation einer Geisteskrankheit erforderlich ist (vgl. BGH, Urteil v. 27.11.1959 – 4 StR 394/59; OLG Karlsruhe, Urteil v. 20.02.2003 – 12 U 205/02; OLG Stuttgart, Urteil v. 27.06.1988 – 5 U 259/87). Auch eine Alkoholintoxikation bzw. eine Mischintoxikation ist zu berücksichtigen (BGH, Urteil v. 19.11.1985 – IVa ZR 40/84; ähnlich OLG Köln, Urteil v. 21.02.2001 – 5 U 127/00).

Allein die Tatsache, dass ein Selbstmörder »nicht normal« ist, reicht für den Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit nicht aus. Es lässt sich nicht von vornherein sagen, dass jeder, der sich das Leben nimmt, krankhaft in seiner Geistestätigkeit gestört gewesen sein muss (OLG Karlsruhe, Urteil v. 09.03.1977 – 12 W 17/77). Der Umstand, dass die Tat unerklärlich erscheint, reicht für die Annahme einer Störung der Geistestätigkeit nicht aus. Auch das Fehlen eines bestimmten und ausreichenden Beweggrundes für die Tat kann für sich genommen einen Ausschluss der Steuerungsfähigkeit nicht begründen (vgl. OLG Köln, 21.02.2001 – 5 U 127/00).

3          Testierfähigkeit

 

 

 

Das Erbrecht und die Testierfreiheit gründen auf dem Grundgesetz (Art. 14 Abs. 1 Satz 1). Die Testierfähigkeit ist Voraussetzung, um ein Testament wirksam errichten, ändern oder aufheben zu können. Die Testierfähigkeit ist eine Unterform der Geschäftsfähigkeit und von dieser zu unterscheiden (vgl. BayObLG, Urteil v. 28.05.1993 – 1 Z BR 7/93; BayObLG, Urteil v. 06.03.1996 – 1 Z BR 199/95; BayObLG, Urteil v. 06.04.2001 – 1 Z BR 123/00).

 

3.1       Juristische Voraussetzungen

 

Die juristischen Voraussetzungen der Testierfähigkeit werden in § 2229 BGB geregelt, dabei wird von dem Grundsatz ausgegangen, dass jeder Mensch mit Vollendung des 16. Lebensjahrs testierfähig ist. Nicht testierfähig ist nach § 2229 Abs. 4 BGB, wer

•  wegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit (Kap. 5),

•  wegen einer Geistesschwäche (Kap. 6) oder

•  wegen einer Bewusstseinsstörung (Kap. 7)

nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

 

3.2       Rechtsprechung

 

Es gilt der Grundsatz, dass eine Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet. Daher ist ein Erblasser so lange als testierfähig anzusehen, als nicht seine Testierunfähigkeit zur vollen Gewissheit des Gerichts nachgewiesen wird (BayObLG, Urteil v. 18.12.1991 – BReg 1 Z 45/91; OLG Frankfurt/M, Urteil v. 05.09.1995 – 20 W 107/94; OLG Frankfurt/M, Urteil. v. 19.02.1997 – 20 W 409/94). Ohne konkrete Anhaltspunkte braucht das Nachlassgericht von möglichen Erben geäußerten Zweifeln an der Testierfähigkeit des Erblassers nicht nachzugehen (OLG Frankfurt/M, Urteil v. 13.03.2003 – 20 W 339/01).

3.2.1     Beweislast

Die Beweislast hat derjenige, der die Testierfähigkeit anzweifelt. D. h. derjenige, der die Testierfähigkeit anzweifelt, muss den Beweis antreten, dass der Erblasser zum Zeitpunkt der Erstellung des Testaments nicht mehr in der Lage dazu war (KG, Urteil v. 07.09.1999 – 1 W 4291/98; OLG Jena, Urteil v. 04.05.2005 – 9 W 612/04; OLG Frankfurt/M, Urteil. v. 19.02.1997 – 20 W 409/94). Die Beweislast der Echtheit des Testaments hat derjenige, der Ansprüche aus dem Testament ableitet (OLG Köln, Urteil v. 12.12.2003 – 2 WX 25/03). Bei Zweifeln an der Echtheit des Testaments oder bei Nachträgen zum Testament ist ein Schriftsachverständiger hinzuzuziehen (BayObLG, Urteil v. 28.05.1993 – 1 Z BR 7/93; BayObLG, Urteil v. 02.10.2002 – 1 Z BR 68/02).

Wenn die Testierunfähigkeit trotz Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten im Zeitpunkt der Testamentserrichtung nicht von Amts wegen festgestellt werden kann, so hat derjenige, der die Feststellungslast hat (d. h. die Testierunfähigkeit annimmt) im Erbscheinverfahren die daran geknüpften Nachteile zu tragen (OLG Jena, Urteil v. 04.05.2005 – 9 W 612/04). Wenn das Testament nicht datiert und auch nicht aufgrund sonstiger Umstände datierbar ist, trifft die Feststellungslast denjenigen, der Rechte hieraus für sich in Anspruch nimmt, wenn feststeht, dass der Erblasser zu irgendeinem Zeitpunkt während des in Betracht kommenden Zeitraums der Testamentserrichtung testierunfähig war (OLG Jena, Urteil v. 04.05.2005 – 9 W 612/04). Wenn die Testierunfähigkeit des Erblassers zu irgendeinem Zeitpunkt feststeht, aber nicht klar ist, wann er das Testament errichtet hat, so ist dieses nach § 2247 V BGB als unwirksam anzusehen (BayObLG, 11.4.1996 – 1 Z BR 163/95).

Das Interesse des Erblassers, nicht schon zu Lebzeiten über die Verteilung seines Nachlasses Rechenschaft geben und sich von seinem potenziellen Erben mit Prozessen überhäufen lassen zu müssen, geht vor. Daher kann ein möglicher Erbe erst nach dem Tode des Erblassers die angebliche Testierunfähigkeit rechtlich prüfen lassen (OLG Frankfurt/M, Urteil v. 30.01.1997 – 20 W 21/97).

 

3.3       Spezielle Aspekte

 

3.3.1     Partielle Testierfähigkeit

Eine sogenannte partielle Testierunfähigkeit wird von der Rechtsprechung verneint. D. h. die Möglichkeit, dass die Fähigkeit, ein Testament zu verfassen, auf einige Teilbereiche begrenzt ist, wird von Juristen nicht anerkannt. Es gibt also keine nach Schwierigkeitsgrad des Testaments abgestufte Testierfähigkeit; die Fähigkeit zur Testamentserrichtung ist entweder gegeben oder fehlt ganz (BayObLG, Urteil v. 31.01.1991 – BReg 1 a Z 37/90).

3.3.2     Testament eines Betreuten

Für die Beurteilung der Testierfähigkeit von unter Betreuung stehenden Personen gelten die gleichen Grundsätze, denn ein Betreuer hat keinen Einwilligungsvorbehalt hinsichtlich der Testamentserrichtung (§ 1903 Abs. 2 BGB). Wenn in einem fachärztlichen Attest (z. B. Betreuungsgutachten) die Testierfähigkeit bei einem Betreuten nicht zweifelsfrei verneint wird, so ist davon auszugehen, dass die Testierfähigkeit vorliegt (OLG München, Urteil v. 31.10.2014 – 34 Wx 293/14). Wenn eine Betreuung nach der Abfassung eines Testaments durch ein Vormundschaftsgericht aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens eingerichtet wird, kann ohne weitere Anhaltspunkte nicht geschlossen werden, dass der Erblasser bereits im Zeitpunkt der Testamentserrichtung nicht mehr testierfähig war (OLG Celle, Urteil v. 11.03.2003 – 6 W 16/03).

 

3.4       Inhalt des Testaments

 

Nachträgliche Zusätze unter ein (notariell beglaubigtes) Testament sind nur gültig, wenn sie am Schluss unterschrieben sind (OLG München, Beschluss v. 13.09.2011 – 31 Wx 298/11).

Die Testierfreiheit gründet sich auf das Grundgesetz (Art. 14 Abs. 1 Satz 1). Daher ist es nach der Rechtsprechung ohne Bedeutung, welche Beweggründe einen Erblasser veranlasst haben. Sein Wille ist grundsätzlich auch dort zu respektieren, wo seine Motive keine Achtung verdienen (vgl. BGH, Beschluss v. 31.03.1970 – III ZB 23/68). Ein Erblasser muss seine letztwillige Verfügung nicht durch vernünftige und von Dritten nachvollziehbare Gründe rechtfertigen (BayObLG, Beschluss v. 31.01.1991 – BReg 1 a Z 37/90). Der Inhalt der letztwilligen Verfügung ist nicht hinsichtlich seiner Angemessenheit zu beurteilen, sondern es geht nur darum, ob das Testament frei von krankheitsbedingten Störungen zu Stande gekommen ist (vgl. OLG Celle, Beschluss v. 11.03.2003 – 6 W 16/03; OLG Rostock, Beschluss v. 05.06.2009 – 3 W 47/09). Die Einsetzung eines familienfremden Erben ist möglich (vgl. OLG Frankfurt/M, Urteil v. 05.09.1995 – 20 W 107/94). So kann auch eine Geliebte zur Erbin bestimmt werden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 22.08.2008 – I 3 Wx 100/08). Gesetzliche Erben können die Erbeinsetzung des testamentarischen Erben nicht nur deshalb anfechten, weil es zwischen ihnen und dem testamentarischen Erben (z. B. mit Lebensgefährtin des Erblassers) Streitigkeiten gegeben hat (OLG Frankfurt, Urteil v. 13.03.2003 – 20 W 339/01).

4          Freier und natürlicher Wille

 

 

 

Nach deutschem Recht ist eine freie Willensbestimmung Voraussetzung für die Fähigkeit, rechtlich bindend Geschäfte zu tätigen (z. B. Verträge zu schließen etc.). Sie ist daher in folgenden Gesetzen enthalten:

•  Geschäftsfähigkeit (§ 104 Abs. 2 BGB bzw. § 105 Abs. 2 BGB),

•  Deliktfähigkeit (§ 827 BGB)

•  Testierfähigkeit (§ 2229 Abs. 4 BGB)

•  Anspruch auf Auszahlung einer Lebensversicherung bei Suizid in den ersten drei Jahren nach Vertragsabschluss (§ 161 Abs. 1 VVG).

Der freie Wille ist auch für die Schuldfähigkeit bei Straftaten von sehr großer Bedeutung (Stompe und Schanda 2010). Der juristische Begriff »Wille« ist im Sinne des psychologischen Begriffes von Selbststeuerung und damit Selbstbestimmung zu verstehen. Von juristischer Seite wird in Deutschland eine Unterscheidung vorgenommen in

•  freier Wille,

•  natürlicher Wille,

•  mutmaßlicher Wille.

Der mutmaßliche Wille ist ein Rechtsbegriff für einen hilfsweise angenommenen Willen (vgl. § 683 BGB). Er ist vor allem bei Patienten von Bedeutung, die keine Einwilligung geben können. Entsprechende gesetzliche Regelungen finden sich in § 630d Abs. 1 Satz 3 BGB und § 1901a Abs. 2 BGB (Kap. 4.5). Der Rechtsbegriff »natürlicher Wille« wird nur im Betreuungsrecht gebraucht (Kap. 4.4).

 

4.1       Philosophische und neurowissenschaftliche Aspekte

 

Die Fähigkeit, einen freien Willen zu bilden, ist Gegenstand zahlreicher philosophischer Betrachtungen (u. a. Descartes 1648; Hegel 1986; Kant 1817). In der Philosophie gibt es einen langen Streit darüber, ob es einen freien Willen geben kann oder nicht (Indeterminismus-Determinismus-Problem).

In der experimentellen Hirnforschung hat die Frage der (freien) Willensbildung zu zahlreichen Untersuchungen und daraus folgenden Modellvorstellungen geführt (s. Übersicht Lavazza 2016). Ausgangspunkt waren neurophysiologische (EEG) Untersuchungen, bei denen bei Willkürbewegungen ein vorangehendes sogenanntes »Bereitschaftspotenzial« nachgewiesen werden konnte (Libet et al. 1979), d. h. es ist schon eine elektrische Aktivität des Gehirns messbar, bevor der Betreffende sich der Handlung (Einleitung der Bewegung) bewusst wird. Dieser und ähnliche Versuche wurden als Bestätigung der These angesehen, dass der Wille nicht frei, sondern determiniert ist (u. a. G. Roth 2012; Singer 2010). Neuere Untersuchungen führten zu komplexeren integrativen Modellvorstellungen (Dias 2016, Lavazza 2016).

Anzumerken ist aber im Hinblick auf die in diesem Buch behandelten komplexen mentalen Fähigkeiten, dass es in den oben genannten Experimenten um »Willkürbewegungen« ging, d. h. um die Planung und Ausführung von Bewegungen. Die zugrundeliegenden »Bewegungsmuster« sind in dem sogenannten prozeduralen Gedächtnis, einem Teil des impliziten Gedächtnisses, gespeichert (Kap. 4.3.2). Die Ausführung der Bewegungen wird im Wesentlichen durch das Kleinhirn und den motorischen Cortex veranlasst.

Dagegen kommt es bei den im Kontext dieses Buches behandelten mentalen Fähigkeiten (v. a. eine Entscheidung vorzubereiten und zu treffen [Decision-making]) auf die Funktionsfähigkeit anderer Hirnstrukturen an (Darby und Dickerson 2017, Fellows 2018, Lee und Seo 2016), v. a. des präfrontalen Cortex und des funktionierenden episodischen (autobiografischen) Gedächtnisses. Auf Letzteres kann nach dem aktuellen neuropsychologischen Erkenntnisstand »bewusst« zugegriffen werden (Piefke und Fink 2013) (Kap. 4.3.2).

Im Allgemeinen wird unter Willensfreiheit verstanden: sich frei fühlen, Entscheidungen darüber zu treffen, was man nach persönlichen Motiven und Neigungen und im Rahmen der Möglichkeiten tun oder lassen will. Hierbei handelt es sich genau genommen um die Handlungsfreiheit. Dabei ist für das Gefühl der Freiheit wichtig, dass man sich keinem inneren oder äußeren Zwang bei der Entscheidung ausgesetzt fühlt (vgl. Hegel 1986). In einem gesellschaftlichen Rahmen sollten alle diese personale Freiheit haben. Dieses Konzept ist dem Determinismus und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verträglich (H. Walter 2004). Dieses »Selbstbestimmungsrecht« ist eine wesentliche Grundlage der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Auf ihm basiert auch die deutsche Rechtsphilosophie, deren wesentliche Prinzipien der Willensfreiheit auf Immanuel Kant zurückgeführt werden können (H. Walter 1999). In der deutschen Rechtsprechung geht es vorrangig um die Urteilsfähigkeit, die Fähigkeit des Abwägens »Für und Wider« und die Fähigkeit, hieraus einen Entschluss zu fassen im Sinne des Kant’schen Alternativismus.

In Anlehnung an Pauen (2004) sind als wesentliche Punkte einer Willensfreiheit anzusehen:

•  Die Fähigkeit einer Person, unabhängig von äußeren Einflüssen autonom über eine eigene Willensbestimmung zu verfügen (Autonomieprinzip)

•  Die Person ist Verursacher einer Kausalkette (Urheberprinzip)

•  Die Person hätte den Willensakt auch unterlassen können (Deliberationsprinzip)

•  Die Person hätte unter identischen Umständen auch anders handeln können (Prinzip der alternativen Möglichkeiten)

•  Freiwillige Handlungen müssen als auf einer vernünftigen (reflektierten) Entscheidung basierend erklärt werden (Intelligibilitätsprinzip)

Die philosophischen Überlegungen zum freien Willen beziehen sich nicht auf Personen mit einer »Geisteskrankheit«. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis wichtig, dass nicht nur von neurowissenschaftlicher Seite, sondern auch von tiefenpsychologischer Seite der Wille nicht als frei angesehen wird. So ist Freud (1915) davon ausgegangen, dass Triebe den Willen wesentlich bestimmen. Diese Betrachtungsweise findet sich in dem BGH-Urteil v. 19.06.1970 – IV ZR 83/69 wieder: von einer freien Willensbildung kann nicht mehr gesprochen werden, wenn die Willensbildung durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen ähnlich einer mechanischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ausgelöst wird.

Es stellt sich also die Frage, welche Anhaltspunkte für eine Einschränkung der freien Willensbildung bei Personen mit einer »Geisteskrankheit« herangezogen werden können. Nach Habermeyer und Saß (2002a) kann von freier Willensbestimmung nicht mehr gesprochen werden, wenn eine Erkrankung

•  die Umsetzung persönlicher Wertvorstellungen verhindert, indem sie kognitive Voraussetzungen der Entscheidungsfindung, Planung, Reflektion und Zielgerichtetheit verunmöglicht, oder

•  die Persönlichkeit des Betroffenen soweit verändert, dass der Zugang zu persönlichen Wertvorstellungen verstellt bzw. das Wertgefüge verformt wird.

 

4.2       Rechtsprechung

 

Der BGH hat in seinem Urteil vom 05.12.1995 (XI ZR 70/95) Anhaltspunkte für eine freie Willensbestimmung zusammengestellt. Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn

•  jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und

•  nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln.

•  Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder

•  ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (Kap. 10.4.1).

In weiteren Urteilen hat der BGH die Voraussetzung für eine freie Willensbestimmung präzisiert:

BGH, Urteil v. 23.10.1975 – II ZR 109/74 (Willensschwäche)

Die freie Willensbestimmung bei Abgabe einer Willenserklärung fehlt nur dann, wenn sie nicht nur geschwächt und gemindert, sondern völlig ausgeschlossen ist. Bloße Willensschwäche schließt die Möglichkeit freier Willensbildung nicht aus. Bestimmte krankhafte Vorstellungen und Empfindungen des Erklärenden müssen derart übermäßig geworden sein, dass eine Bestimmung des Willens durch vernünftige Erwägungen ausgeschlossen war.

BGH, Urteil v. 19.06.1970 – IV ZR 83/69

Eine Person, die in der Lage ist, ihren Willen frei zu bestimmen, deren intellektuelle Fähigkeiten aber nicht ausreichen, um bestimmte schwierige rechtliche Beziehungen verstandesmäßig zu erfassen, ist deswegen noch nicht geschäftsunfähig. Es muss ihr vielmehr überlassen bleiben, auf welche Weise sie mit besonderen Lagen fertig werden will. Wenn sie sich dem Rat einer dritten Person fügt, so ist dies aufgrund einer vernünftigen freien Willensentschließung geschehen, sie steht dann auch insoweit nicht unter einem ihre eigene Willensfreiheit ausschließenden Einfluss eines anderen.

Die Frage, wie »Wille« im zivilrechtlichen Kontext definieren werden kann, ist nicht zufriedenstellend geklärt (Habermeyer und Saß 2002b; Habermeyer 2009, S. 55–61; Reischies 2007, S. 114).

 

4.3       Prozess der Willensbestimmung

 

Nicht nur die rechtliche Lage, sondern auch die Begrifflichkeit ist komplex, daher wird hier ein Versuch unternommen, den Prozess der Willensbestimmung darzustellen (Abb. 4.1). Die Willensbestimmung umfasst drei wesentliche Aspekte:

•  Willensbildung: Hiermit ist der Prozess gemeint, aus einem Motiv, das in einer Idee oder einem Gedanken, der auf der Lebenserfahrung des Betreffenden aufbaut, bestehen oder auf einem Gefühl (z. B. Hunger) beruhen kann,

•