Neuropsychiatrische Aspekte der Multimorbidität - Tilman Wetterling - E-Book

Neuropsychiatrische Aspekte der Multimorbidität E-Book

Tilman Wetterling

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Beschreibung

Das Thema Multimorbidität gewinnt zunehmend an Aufmerksamkeit, denn das gleichzeitige Bestehen mehrerer Erkrankungen führt zu großen medizinischen und sozialpolitischen Herausforderungen. Während dies vornehmlich als ein Problem des höheren Lebensalters angesehen wird, betrifft es im Bereich der Neuropsychiatrie auch viele Menschen im erwerbsfähigen Alter. Bislang sind neuropsychiatrische Aspekte hierbei wenig betrachtet worden. Es gibt bisher kein anerkanntes Konzept für Multimorbidität. In diesem Buch wird ein neu entwickeltes Modell zu deren Einteilung, das neuropsychiatrische und Suchterkrankungen berücksichtigt, vorgeschlagen und erörtert. Die bei einer Multimorbidität oft zahlreichen Funktionsstörungen führen zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität und einer erhöhten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Die bei der Komplexität der Symptomatik häufig erforderliche Polypharmazie und andere therapeutische Möglichkeiten werden eingehend betrachtet.

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Tilman Wetterling

Neuropsychiatrische Aspekte der Multimorbidität

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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2. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037108-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-037109-5

epub:    ISBN 978-3-17-037110-1

mobi:    ISBN 978-3-17-037111-8

Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet – nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe –, das ist mehr als nur die Summe seiner Bestandteile. Aristoteles, 384 v.Chr.–322 v.Chr. Metaphysik VII

Vorwort

 

 

 

Durch die demografische Entwicklung in Deutschland mit einer erheblichen Zunahme von älteren Menschen kommt es zu großen gesundheitsökonomischen Herausforderungen. Denn im höheren Lebensalter treten gehäuft chronische Erkrankungen auf. In Folge der Chronizität bestehen bei vielen älteren Menschen mehrere Erkrankungen gleichzeitig. Dieser Zustand wird in der Wissenschaft als Multimorbidität bezeichnet. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass die über 65-Jährigen in Deutschland sehr häufig eine Multimorbidität aufweisen (je nach den verwandten Kriterien für Multimorbidität bis über 60 %). Aber auch jüngere können betroffen sein, insbesondere psychisch Erkrankte.

Das Thema Multimorbidität gewinnt in den letzten Jahren in der medizinischen Forschung zunehmend an Aufmerksamkeit, wie die steigende Zahl der Veröffentlichungen (Catalá-López et al., 2018; Xu X et al., 2017) beweisen. Bisher wurden im Zusammenhang mit dem Thema Multimorbidität neuropsychiatrische Erkrankungen aber kaum erörtert, obwohl viele von ihnen ebenfalls chronisch verlaufen und nach den Global burden of disease-Statistiken der WHO (GBD) sehr häufig schon im Erwerbstätigenalter (bes. Schizophrenie und Suchterkrankungen) und auch im Alter (bes. Demenz, Schlaganfall, Parkinson-Syndrom etc.) auftreten. In diesem Buch sollen die neuropsychiatrischen Aspekte in ein Gesamtkonzept zur Multimorbidität stärker eingebunden werden. Bisher gibt es aber in der Literatur noch kein allgemein akzeptiertes Konzept der Multimorbidität. In diesem Buch wird ein Krankheitskonzept zugrunde gelegt, das Krankheit vor allem als Funktionsstörung ansieht (vergleichbar dem ICF-Konzept der WHO), denn die Auswirkungen einer Multimorbidität bestehen für den Betroffenen v. a. in Funktionseinschränkungen. Diese können zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führen. Hierzu können insbesondere neuropsychiatrische Erkrankungen beitragen.

Multimorbid Erkrankte benötigen auch gehäuft medizinische und psychosoziale Leistungen. Dadurch entstehen für die entsprechenden Versorgungsstrukturen erhebliche Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit besteht in der medizinischen Behandlung von Multimorbidität, denn es sind vielerlei Wechselwirkungen zu berücksichtigen, insbesondere auf dem Gebiet der medikamentösen Behandlung. Das Problem der Polypharmazie wird daher eingehend erörtert.

Der Autor möchte dem Kohlhammer-Verlag für die Bereitschaft, dieses Buch zu veröffentlichen, danken. Ganz besonders möchte ich mich bei Herrn Dr. Poensgen und Frau Dr. Boll, die dieses Buchprojekt ausdauernd unterstützt haben, bedanken.

Berlin, März 2018 T. Wetterling

Dieses Buch stellt einen ersten Versuch dar, die vielfältigen Aspekte der Multimorbidität aus neuropsychiatrischer Sicht darzustellen und der Autor ist dankbar für Kommentare, Anregungen etc.

Inhalt

Vorwort

Praktische Hinweise

Abkürzungsverzeichnis

1 Gesellschaftliche Aspekte

1.1 Demografische Entwicklung

1.2 Sozioökomonische Entwicklung

1.3 Auswirkungen auf das Gesundheitswesen

1.3.1 Zunahme alterstypischer Erkrankungen

1.3.2 Neuropsychiatrische Erkrankungen

1.3.3 Lifestyle bedingte Gesundheitsrisiken

2 Definition von Krankheit

2.1 Sicht des Betroffenen

2.2 Sicht des Arztes/der medizinischen Wissenschaft

2.3 Sicht der Gesellschaft (Allgemeinheit)

2.4 ICF-Konzept der WHO

2.5 Unterscheidung Krankheit – Risikofaktor – Behinderung

3 Multimorbidität

3.1 Definition

3.1.1 Strukturelle Veränderungen der Beschaffenheit des Körpers

3.1.2 Funktionseinschränkungen körperlicher und geistiger Tätigkeiten

3.1.3 Behandlungsbedürftigkeit

3.2 Verschiedene Sichtweisen

3.2.1 Multimorbidität aus Sicht des Betroffenen

3.2.2 Multimorbidität aus Sicht des Arztes

3.2.3 Multimorbidität aus Sicht der Gesellschaft

3.2.4 Erfassungsinstrumente

3.3 Konzepte

3.3.0 Multimorbidität-Typ 0: Kein erkennbarer Zusammenhang

3.3.1 Multimorbidität-Typ 1: Nur statistische Zusammenhänge

3.3.2 Multimorbidität-Typ 2: Risikofaktor(en) und »Folgeerkrankung(en)«

3.3.3 Multimorbidität-Typ 3: Krankheit B ist eine Folge von Krankheit A

3.3.4 Multimorbidität-Typ 4: Bidirektionale Interaktionen zwischen den Erkrankungen

3.4 Funktionale Betrachtung

3.4.1 Verminderte Reservekapazität

3.4.2 Frailty-Konzept

3.4.3 Pflegebedürfigkeit

3.4.4 Skalen zur Erfassung der Funktionseinschränkungen

3.5 Epidemiologische Daten

3.5.1 Epidemiologische/statistische Begriffe

3.5.2 Art der Studie

3.5.3 Datenbasis

3.5.4 Altersabhängigkeit

3.5.5 Andere Einflussfaktoren (sozioökonomische etc.)

3.5.6 Typische Konstellationen

4 Risikofaktoren

4.1 Hypertonie

4.1.1 Epidemiologische Daten

4.1.2 Funktionseinschränkungen

4.1.3 Risikofaktoren

4.1.4 Multimorbidität

4.1.5 Neuropsychiatrische Aspekte

4.1.6 Therapiemöglichkeiten

4.2 Diabetes mellitus

4.2.1 Epidemiologische Daten

4.2.2 Funktionsstörungen

4.2.3 Risikofaktoren

4.2.4 Multimorbidität

4.2.5 Neuropsychiatrische Aspekte

4.2.6 Therapiemöglichkeiten

4.3 Hyperlipidämie

4.3.1 Epidemiologische Daten

4.3.2 Funktionsstörungen

4.3.3 Risikofaktoren

4.3.4 Multimorbidität

4.3.5 Therapiemöglichkeiten

4.4 Übergewicht

4.4.1 Epidemiologische Daten

4.4.2 Funktionsstörungen

4.4.3 Risikofaktoren

4.4.4 Multimorbidität

4.4.5 Therapiemöglichkeiten

4.5 Bewegungsmangel

4.5.1 Epidemiologische Daten

4.5.2 Funktionsstörungen

4.5.3 Risikofaktoren

4.5.4 Multimorbidität

4.6 Erhöhter Alkoholkonsum

4.7 Rauchen

4.8 Weitere Risikofaktoren (Stress etc.)

4.8.1 Multimorbidität

4.9 Metabolisches Syndrom

4.10 Verlaufsstudien mit mehreren untersuchten Risikofaktoren

5 Häufige chronische somatische Erkrankungen

5.1 Atherosklerose

5.1.1 Epidemiologische Daten

5.1.2 Funktionseinschränkungen

5.1.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.1.4 Therapiemöglichkeiten

5.2 Herz-/Kreislauferkrankungen

5.2.1 Epidemiologische Daten

5.2.2 Funktionseinschränkungen

5.2.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.2.4 Therapiemöglichkeiten

5.3 Erkrankungen der Atmungsorgane

5.3.1 Epidemiologische Daten

5.3.2 Funktionseinschränkungen

5.3.3 Risikofaktoren/Multimorbidität

5.3.4 Therapiemöglichkeiten

5.4 Lebererkrankungen

5.4.1 Epidemiologische Daten

5.4.2 Funktionseinschränkungen

5.4.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.5 Nierenerkrankungen

5.5.1 Epidemiologie

5.5.2 Funktionseinschränkungen

5.5.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.6 Gelenkerkrankungen (Arthrose und rheumatoide Arthritis)

5.6.1 Epidemiologische Daten

5.6.2 Funktionseinschränkungen

5.6.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.7 Osteoporose

5.7.1 Epidemiologische Daten

5.7.2 Funktionseinschränkungen

5.7.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.7.4 Therapiemöglichkeiten

5.8 Schilddrüsenerkrankungen

5.8.1 Epidemiologische Daten

5.8.2 Funktionseinschränkungen

5.8.3 Multimorbidität/Risikofaktoren

5.8.4 Therapiemöglichkeiten

5.9 Infektionen

5.10 Krebserkrankungen

5.10.1 Epidemiologische Daten

5.10.2 Funktionseinschränkungen

5.10.3 Risikofaktoren

5.10.4 Multimorbidität

5.10.5 Neuropsychiatrische Aspekte

6 Chronische neuropsychiatrische Erkrankungen

6.1 Neuropsychiatrische Ko- und Multimorbidität

6.1.1 Psychiatrische Komorbidität

6.1.2 Neurologische Komorbidität

6.1.3 Neuropsychiatrische Komorbidität

6.1.4 Neuropsychiatrische-somatische Multimorbidität

6.2 Degenerative Hirnschädigungen

6.2.1 Alzheimersche Erkrankung (AD)

6.2.2 Parkinson’sche Erkrankung (PD)

6.2.3 Lewy-Körperchen Erkrankung (Lewy body disease (LBD))

6.2.4 Frontotemporale lobäre Degeneration (FTLD)

6.3 Vaskulär bedingte Hirnschädigungen (Schlaganfall, WML etc.)

6.3.1 Hirninfarkt

6.3.2 Hirnblutung

6.3.3 Zerebrale Mikroangiopathie

6.3.4 Zerebrale Amyloidangiopathie

6.4 Entzündlich bedingte Hirnschädigungen

6.5 Immunologisch bedingte Hirnschädigungen

6.5.1 Multiple Sklerose

6.6 Metabolische Enzephalopathien

6.6.1 Hepatische Enzephalopathie

6.6.2 Urämische Enzephalopathie

6.6.3 Wernicke-Enzephalopathie

6.7 Hirntumoren oder -metastasen

6.8 Affektive und Angststörungen

6.8.1 Depression

6.8.2 Manie und bipolar affektive Störung

6.8.3 Angststörungen

6.9 Schizophrene und wahnhafte Störungen

6.10 Chronische Schmerzsyndrome

6.10.1 Migräne

6.11 Suchterkrankungen (Gebrauch psychotroper Substanzen)

6.11.1 Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit

6.11.2 Amphetamin-Abusus

6.11.3 Cannabis-Abusus

6.11.4 Kokain-Abusus

6.11.5 Medikamenten-Abusus

6.11.6 Opiat-Abusus

6.11.7 Tabak/Rauchen

6.11.8 Polytoxikomanie

6.12 Epilepsie

6.13 Demenz

7 Behandlung

7.1 Priorisierung

7.1.1 Erwartungen/Wünsche des Patienten

7.1.2 Medizinische Aspekte (Behandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeit)

7.1.3 Volkswirtschaftliche Aspekte

7.2 Behandlungsplanung

7.3 Polypharmazie (Multimedikation)

7.3.1 Patientenverhalten und Polypharmazie

7.3.2 Ist die medikamentöse Behandlung durch die Ärzte Leitlinien gerecht?

7.3.3 Dauer der Behandlung

7.3.4 Potenziell vermeidbare Komplikationen bei einer Polypharmazie durch den Patienten

7.3.5 Potenziell vermeidbare Komplikationen bei einer Polypharmazie durch den Arzt

7.4 Medikation bei Multimorbiden

7.5 Nicht-medikamentöse Therapien

7.5.1 Eigene Maßnahmen des Betroffenen

7.5.2 Maßnahmen der Angehörigen

7.5.3 Maßnahmen durch Pflegepersonen etc.

7.6 Selbstmedikation

7.7 Rechtliche Aspekte

8 Krankheitsverarbeitung

8.1 Kognitive Aspekte

8.2 Affektive Bewertung/Verarbeitung

8.2.1 Studien zur Lebensqualität Multimorbider

8.2.2 Krankheitsverarbeitung/-bewältigung

8.3 Mitarbeit des Patienten

8.4 Gesundheitsschädliches Verhalten

8.5 Interventionsmöglichkeiten

9 Versorgungsaspekte

9.1 Ambulante ärztliche Versorgung

9.2 Stationäre ärztliche Versorgung (Krankenhaus)

9.3 Ambulante pflegerische Versorgung

9.4 Stationäre pflegerische Versorgung (Pflegeheim etc.)

9.5 Ökonomische Aspekte

9.6 Perspektiven

10 Abschließende Bemerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Praktische Hinweise

 

 

 

Weiter wird auf viele epidemiologische Daten der WHO verwiesen, wovon viele im Internet unter http://thelancet.com/gbd bzw. www.healthdata.org/ger many abgerufen werden können. Weiter wird oft auf Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von deutschen Fachgesellschaften verwiesen. Diese sind im Internet unter www.awmf.org/leitlinien/aktuelle-leitlinien.html zu finden.

Um den Text nicht zu unübersichtlich werden zu lassen, werden nur männliche Formen von Begriffen benutzt. Auch werden bei den sehr häufig angegebenen Risikofaktoren OR (odds ratios) die 95 % Confidenzintervalle in Klammern ohne die Angabe 95 % CI angegeben.

Abkürzungsverzeichnis

 

 

 

1          Gesellschaftliche Aspekte

 

 

 

Die Häufigkeit von Erkrankungen ist u. a. abhängig von demografischen und sozioökonomischen Faktoren. Daher haben gesellschaftliche Entwicklungen erhebliche Auswirkungen auf das Gesundheitswesen.

1.1       Demografische Entwicklung

In Deutschland steigt die mittlere Lebenserwartung seit über 100 Jahren (mit kurzen Unterbrechungen durch die beiden Weltkriege) ständig (destatis.de1). Das mittlere Sterbealter betrug 2016 83,2 Jahre für Frauen und 78,3 Jahre für Männer (destatis.de2). Durch diesen Anstieg und durch die geringe Geburtenrate ist in den letzten Jahrzehnten das mittlere Lebensalter in Deutschland ständig gestiegen. Es lag 2015 bei Männern bei 42,8 und bei Frauen bei 45,6 Jahren (bib). Für das Gesundheitswesen ist besonders der deutlich angewachsene Anteil der Hochbetagten an der Bevölkerung von großer Bedeutung. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung hat sich von 1950: 14,6 % auf 2016: 27,6 % fast verdoppelt und der der über 80-Jährigen in demselben Zeitraum von 1,0 % auf 6,0 % vervielfacht (destatis.de3).

Diese Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung haben u. a. gravierende Folgen für die Renten- und Pflegeversicherungen, denn das Verhältnis zwischen der Anzahl der Beitragszahler und der Anzahl derjenigen, die Leistungen aus diesen Kassen beanspruchen, wird immer kleiner. Da vornehmlich (sehr) alte Menschen pflegebedürftig werden, ist diese Entwicklung besonders problematisch für den Pflegebereich (Kap. 9).

1.2       Sozioökomonische Entwicklung

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Arbeitsbedingungen in Deutschland erheblich gewandelt. So hat sich der Anteil der in der Landwirtschaft und im produzierenden Gewerbe Tätigen kontinuierlich verringert (von 1991: 39,4 % auf 2016: 28,2 %), während der Anteil der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten entsprechend gestiegen ist (von 1991: 60,6 % auf 2016: 71,8 %) (destatis.de4), d. h. der Anteil der Menschen in Deutschland, die einer (schweren) körperlichen Arbeit nachgehen, ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. Dagegen haben die Arbeitsplätze mit vorwiegend sitzender Tätigkeit, v. a. am Computer-Bildschirm, zugenommen.

1.3       Auswirkungen auf das Gesundheitswesen

Die demografische Entwicklung in Deutschland hat enorme Auswirkungen auf die Sozialsysteme (v. a. die Rentenkassen) und für das Gesundheitswesen (Kranken- und Pflegekassen). Die Zunahme der Lebenserwartung ist u. a. durch die besseren Behandlungsmöglichkeiten von einer Vielzahl von Erkrankungen bedingt. Diese Fortschritte in der Medizin haben dazu geführt, dass jetzt andere Problemfelder mehr in den Fokus der klinisch tätigen Mediziner und auch der Gesundheits- und Sozialpolitik rücken:

•  alterstypische Erkrankungen (Kap. 1.3.1)

•  (neuro)psychiatrische Erkrankungen (Kap. 1.3.2 und Kap. 6)

•  »Lifestyle« bedingte Gesundheitsrisiken (Kap. 1.3.3 und Kap. 4)

Diesen ist gemeinsam, dass sie meist chronisch verlaufen bzw. langfristig behandelt werden müssen. Dadurch werden hohe Kosten für die Sozialkassen verursacht. Chronische Erkrankungen stellen die an der Krankenversorgung Beteiligten (Ärzte, Krankenhäuser, Pflegedienste etc.) vor große Herausforderungen, denn die Versorgungsstrukturen sind entsprechend anzupassen bzw. zu entwickeln (Kap. 9).

1.3.1     Zunahme alterstypischer Erkrankungen

Die demografische Entwicklung bedeutet für die medizinische Versorgung der Bevölkerung eine große Herausforderung, denn es ist davon auszugehen, dass die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit ab dem 65. Lebensjahr mit dem Alter abnimmt (Baltes, 1997; Fuchs et al., 2013a). So steigt die Zahl der Personen, die an körperlichen oder geistigen Erkrankungen leiden, mit zunehmender Lebenserwartung deutlich an. Eine Reihe von Erkrankungen zeigt eine deutliche Altersabhängigkeit, d. h. sie treten mit steigendem Lebensalter immer häufiger auf. Diese Erkrankungen werden als alterstypische Erkrankungen oder Alterserkrankungen (Kap. 5 und Kap. 6) bezeichnet. Bei den meisten der alterstypischen Erkrankungen ist eine Heilung oder wesentliche Besserung der Symptomatik nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr möglich, so dass sie chronisch verlaufen. Aufgrund der Chronizität kommt es in sehr vielen Fällen dazu, dass die Betreffenden nicht nur an einer, sondern mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden. Dieser Zustand wird meist mit dem Begriff Multimorbidität bezeichnet, obwohl eine allgemein akzeptierte Definition fehlt (Kap. 3).

1.3.2     Neuropsychiatrische Erkrankungen

Viele neuropsychiatrische Erkrankungen weisen eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhte Mortalität (Sterblichkeit) auf. So ist bei psychiatrischen Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder Sucht die Lebenszeit um mehr als 15 Jahre verkürzt (Nordentoft et al., 2013). Hierzu tragen verschiedene Faktoren bei: früher Beginn der Erkrankung (75 % vor dem 25. Lebensjahr (Kessler et al., 2005a)), eine deutlich erhöhte Suizidrate (Nordentoft et al., 2013) und das häufige Auftreten von körperlichen Erkrankungen (de Hert et al., 2011; Lawrence et al., 2013). Dies zeigt die erheblichen Auswirkungen, wenn bei einem Menschen gleichzeitig eine psychiatrische und eine körperliche Erkrankung bestehen. Psychische Störungen führen häufig zu körperlichen Erkrankungen (Kap. 5 und Kap. 6).

Epidemiologische Betrachtungen wie die Global burden of disease study (www.healthdata.org/germany) zeigen, dass 2016 drei neuropsychiatrische Erkrankungen, nämlich zerebrovaskuläre, depressive und Angst-Erkrankungen zu den zehn Krankheiten zählen, die in Deutschland auf die Lebenszeit hochgerechnet zu den längsten Beeinträchtigungen des normalen, beschwerdefreien Lebens (disability-adjusted life years (DALYs)) führen. In der Altersgruppe zwischen 18 und 45 Jahren haben psychiatrische Erkrankungen von allen Krankheitsgruppen die höchsten DALYs (Krankheitslast) (GBD 2016 Disease, 2017). Sie führen bei den unter 60-Jährigen auch am häufigsten zu einer Multimorbidität (Bobo et al., 2016).

Psychische Erkrankungen sind auch die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühberentungen, so stieg zwischen 1993 und 2016 der Anteil von Frühberentungen aufgrund von psychischen Störungen an allen vorzeitigen krankheitsbedingten Berentungen in Deutschland von 15,4 auf 42,7 % und der von Nervenerkrankungen oder Erkrankungen der Sinnorgane von 5,7 auf 6,5 %. D. h. fast 50 % der Erkrankungen, die 2016 in Deutschland Grund für eine Frühberentung waren, waren neuropsychiatrische (DRV, 2017). Aber nicht nur die Erwerbsfähigkeit, sondern die Lebensqualität der Betroffenen wird in den meisten Fällen dauerhaft eingeschränkt (Kap. 8.2.1).

1.3.3     Lifestyle bedingte Gesundheitsrisiken

In epidemiologischen Studien, z. B. der Global burden of disease study der WHO (http://www.healthdata.org/germany), zeigte sich, dass unter den Hauptrisikofaktoren für Erkrankungen, die langfristig die Lebensqualität einschränken und/oder zum Tode führen, v. a. solche Faktoren waren, die durch die Art der Lebensführung (»Lifestyle«) stark beeinflusst werden, wie u. a. Ernährung und Übergewicht, hohe Blutzucker- und Cholesterinwerte, Rauchen und Alkoholkonsum. Einige dieser Faktoren sind durch das Verhalten des Betroffenen bestimmt und streng genommen Suchterkrankungen (Kap. 6.11). Sie tragen in erheblichem Maße mit dazu bei, dass viele Menschen an einer Multimorbidität leiden.

2          Definition von Krankheit

 

 

 

Die Frage, was unter Krankheit zu verstehen ist, ist nicht einfach zu beantworten. Denn das, was als krank bezeichnet, ist abhängig von dem zugrunde gelegten Konzept von Gesundheit bzw. Krankheit. In der Menschheitsgeschichte sind verschiedene Konzepte von Krankheit entwickelt worden (Hess & Herrn, 2015). Die Weltgesundheitsbehörde hat keine Definition für Krankheit, sondern nur eine für Gesundheit (WHO, 1946). Danach ist Gesundheit »ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« (»Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.«)

Ein Definitionsversuch von juristischer Seite (BGH, 21.3.1958 – 2 Str 393/57): »Krankheit ist jede auch nur geringfügige oder auch nur vorübergehende Störung der normalen Beschaffenheit oder Tätigkeit des Körpers, die beseitigt oder gelindert werden sollte.«

Nach einer Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses (www.g-ba.de) zu dem § 62 Abs.1 SGB V ist eine Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hat.

In diesen Definitionen werden drei Aspekte herausgestellt, auf die noch näher einzugehen ist:

•  Strukturelle Veränderungen der Beschaffenheit des Körpers

•  Funktionseinschränkungen körperlicher Tätigkeiten

•  Behandlungsbedürftigkeit

Die beiden ersten Aspekte liegen auch dem Konzept der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO, 2005; deutsch: www.dimdi.de1)) zugrunde, wobei auch die mentalen Funktionseinschränkungen explizit erwähnt werden. In diesem Buch wird in vielen Punkten auf das ICF-Konzept Bezug genommen (Kap. 2.4).

Grundsätzlich sind bei der Betrachtung des »krank«-seins verschiedene Sichtweisen zu unterscheiden (im Englischen gibt es dafür unterschiedliche Begriffe (Heinz, 2015)):

•  die des Betroffenen (engl. illness)

•  die des Arztes bzw. der medizinischen Wissenschaft (engl. disease)

•  die der Gesellschaft (engl. sickness)

Je nach Betrachtungsweise (Individuum, Gesellschaft, Kranken-/Sozialkassen etc.) können verschiedene Formen von Krankheit unterschieden werden. Auf die entsprechenden Aspekte von Multimorbidität wird in späteren Kapiteln eingegangen (Kap. 3.2, Kap. 7–9).

Schwierig ist insbesondere eine Festlegung des Schweregrades der subjektiven Beschwerden oder einer Funktionseinschränkung, ab dem ein Krankheitswert besteht bzw. ab dem von einer Krankheit gesprochen werden kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Norm bzw. dem Normalzustand. Dieser ist interpersonell allenfalls statistisch zu bestimmen. Er unterliegt aber auch intrapersonellen Schwankungen. Die Norm, an der die Begriffe Krankheit und Gesundheit zu messen sind, kann eine gewisse Schwankungsbreite aufweisen. »Norm« kann nur Durchschnitt innerhalb einer gewissen Variationsbreite bedeuten (BGH, 21.3.1958 – 2 Str 393/57 und BVerwG, 16.02.1971 – BVerwG I C 25.66). Eine Norm ist aber gerade bei älteren Menschen schwer zu definieren und daher umstritten. Die Frage nach der Norm stellt sich auch für die verschiedenen Betrachtungsweisen von Krankheit.

2.1       Sicht des Betroffenen

Aus Sicht des Betroffenen kann der Zustand des Fehlens von Gesundheit (entsprechend der WHO-Definition als vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden) schon Krankheit bedeuten. Bei dieser Sichtweise wäre wahrscheinlich eine sehr hohe Zahl an Menschen krank. In der deutschen Sprache gibt es den Begriff Unwohlsein. Dieser bezeichnet einen Zustand, in dem der Betreffende sich noch nicht richtig krank fühlt. Hier wird deutlich, dass gesund und krank nur die Extreme zwischen vollkommenem Wohlbefinden einerseits und schwerer bis kompletter Einschränkung der körperlichen und geistigen Funktionen andererseits darstellen. Es ergibt sich also die Frage, ob und ggf. wie der Schweregrad der Beeinträchtigungen bestimmt werden kann.

Die häufigsten Störungen des Wohlbefindens sind Schmerzen, v. a. Rücken- und Kopfschmerzen sowie Schlafstörungen. Diese sind auch häufig Anlass, einen Arzt aufzusuchen. Die Bestimmung des Schweregrades von Schmerzen bzw. der Schlafqualität gestaltet sich sehr schwierig. Häufig werden hierzu sogenannte visuelle Analogskalen verwendet. Auf diesen kann der Betroffene z. B. den Ausprägungsgrad seiner Schmerzen angeben. Hierbei handelt es sich aber um ein rein subjektives Maß. Zur Verdeutlichung der Problematik: Zahnärzte kennen sowohl Patienten, die wegen der damit verbundenen Schmerzen eine Zahnextraktion gern in Vollnarkose vornehmen lassen möchten als auch einige wenige, die jede Art von Betäubung ablehnen. Dies zeigt, dass die Schmerzwahrnehmung und der Umgang mit Schmerzen, also die Schmerzverarbeitung, extrem unterschiedlich sein können. Diese Betrachtungen zeigen, dass es unmöglich ist, eine allgemein gültige Norm für Schmerzen festzulegen.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass akute Schmerzen (z. B. bei Verletzungen) anders wahrgenommen und vor allem anders verarbeitet werden als chronische, bei denen es sehr häufig zu einer psychischen Reaktion (Dysphorie, Depression etc.) kommt (Kap. 8.2). Diese Unterschiede lassen sich auch dann noch nachweisen, wenn die angegebenen Schweregrade der Schmerzen vergleichbar sind. Dies zeigt, dass vielfältige Einflüsse (Dauer, Situation etc.) eine große Rolle bei der subjektiven Schmerzwahrnehmung und v. a. bei der kognitiven Verarbeitung der Schmerzen spielen. Letztendlich ist aber die Schmerzverarbeitung entscheidend dafür, welchen Stellenwert die Schmerzen für den Betroffenen haben, d. h. wie groß die durch die verursachte Abweichung vom vollkommenen Wohlbefinden ist.

Diese Beispiele zeigen, dass das Zusammenspiel mehrerer Funktionen, insbesondere

•  der Wahrnehmung der Veränderung sowie

•  deren kognitive und psychische Verarbeitung

erst das subjektive Ausmaß der Beeinträchtigung des Wohlbefindens ergibt (Kap. 8). Daher sind diese Funktionen mit in die Betrachtung von strukturellen Veränderungen des Körpers und Funktionseinschränkungen einzubeziehen. Diese Aspekte kommen auch in der WHO-Definition von Lebensqualität zum Ausdruck (WHO, 1997): »Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.« Lebensqualität ist nach dieser Definition ein anderer Aspekt von Wohlbefinden. Auch hierfür sind die Normen subjektiv und intraindividuell nicht konstant.

Aus der Sicht des Patienten ist neben dem Ausprägungsgrad der strukturellen Veränderungen des Körpers und dem Schweregrad der Funktionseinschränkungen auch die verbleibende Lebensqualität von Bedeutung für den Grad der Abweichung vom subjektiven Wohlbefinden. Die erheblichen interindividuellen Unterschiede hinsichtlich der Wahrnehmung des Schweregrades der Abweichung vom Wohlbefinden bzw. des Gefühls, krank zu sein, zeigen sich auch in der Inanspruchnahme von Heilmaßnahmen (Arztkonsultationen etc.) und in der Mitwirkung bei Heilmaßnahmen (z. B. regelmäßige Medikamenteneinnahme oder Kontrolluntersuchungen). Das Inanspruchnahmeverhalten weist große Unterschiede auf: von Ablehnung von medizinischen Maßnahmen trotz schwerer Erkrankung (Kap. 9) bis zum fast täglichen Doctor shopping oder Selbstmedikation (Kap. 7.6). Ziel medizinischer Maßnahmen muss es aus Sicht des Patienten sein, den Zustand des »Krankseins« möglichst schnell zu beenden. Dies ist aber bei einer Multimorbidität allenfalls eingeschränkt möglich.

2.2       Sicht des Arztes/der medizinischen Wissenschaft

Aus Sicht des Arztes, der von seinem Berufsethos her die Aufgabe hat, den Menschen bei Erkrankungen zu helfen, haben Kopfschmerzen allein nicht unbedingt Krankheitswert. Sie sind eher ein Anzeichen (= Symptom) für eine Normabweichung, deren Ursache (= Ätiologie) es zu klären gilt, z. B. familiärer oder beruflicher Stress, Migräne, Meningitis, Subarachnoidalblutung oder Hirntumor. Der Arzt hat demnach die Aufgabe, von dem Patienten genauere Angaben zu den Beschwerden (wie z. B. Zeitpunkt des Auftretens, Lokalisation, Intensität wechselnd oder dauerhaft, weitere Symptome wie Sehstörungen, Schwindel, Brechreiz etc.) zu erfragen. Wenn dann die erfragten Symptome über »Kopfschmerzen« deutlich hinausgehen, kann der Arzt zu dem Ergebnis kommen, dass eine Krankheit vorliegt. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, ob durch die vorliegenden Symptome Funktionseinschränkungen bedingt sind.

Die Überprüfung der Frage, ob sich die vom Patienten geäußerte Störung des Wohlbefindens (Beschwerden) definierten Funktionsstörungen zuordnen lassen, ist eine originäre Aufgabe des Arztes, denn nur durch eine adäquate Diagnostik können die Behandlungsmöglichkeiten geklärt werden. Dabei ist es das Ziel, die Symptome einem bekannten Krankheitsbild zuordnen zu können. In der Arzt-Patienten-Beziehung ist die medizinische Behandlung (einschließlich Psychotherapie) der vom Patienten angegebenen Beschwerden von zentraler Bedeutung.

Um Kranken helfen zu können, waren und sind wissenschaftliche Untersuchungen über die Ursachen und die bestmögliche Behandlung von Erkrankungen erforderlich. Die wissenschaftliche Betrachtung von Erkrankungen ist heutzutage vornehmlich eine Aufgabe von speziellen Forschungsinstituten, z. B. an Universitätskliniken. Da diese aber meist hochspezialisiert sind für eine Erkrankung bzw. für ein Körperorgan, rückt die Multimorbidität erst langsam in den Fokus der medizinischen Wissenschaft (Catalá-Loéz et al., 2018; Xu X et al., 2017).

Die Frage, ob die Kopfschmerzen Krankheitswert haben, ist auch für den Arzt durchaus von Bedeutung, weil der Patient möglicherweise von ihm »krank geschrieben« werden möchte. Hier fungiert der Arzt als Bindeglied zwischen Patient und Gesellschaft (in Form der gesetzlichen Krankenkassen). Hierzu ist es in der Regel erforderlich, dass der Arzt die Symptomatik einem definierten Krankheitsbild zuordnen kann. Dabei kann er sich z. B. auf die auf internationaler Ebene vereinbarten Klassifikationen und Leitlinien wie ICD-10 (WHO, 1991) beziehen. Diese Klassifikationen beruhen auf bestimmten Konzepten, die in Konsensus-Konferenzen von internationalen Experten erarbeitet wurden. Die zugrunde liegenden Konzepte sind – wie beim Vergleich der ICD-10 zu der geplanten ICD-11 sichtbar wird – Wandlungen unterworfen.

2.3       Sicht der Gesellschaft (Allgemeinheit)

Für die Allgemeinheit sind vor allem die übertragbaren Erkrankungen von Bedeutung (z. B. Pest, Cholera, Ebola, Masern, Tuberkulose etc.), weil durch sie eine große Zahl von Bürgern erkranken kann. Für den Umgang und die Behandlung von Betroffenen hat der Gesetzgeber in Deutschland spezielle Gesetze erlassen bzw. bestimmte Vorkehrungen getroffen, die bis hin zu Einschränkungen von Grundrechten gehen. Der hierbei vorherrschende Gedanke ist es, eine weitere Ausbreitung der Erkrankung nach Möglichkeit zu verhindern, z. B. Quarantäne oder bestimmte Hygienemaßnahmen. Die übertragbaren Erkrankungen spielen in Deutschland zurzeit eine eher geringere Rolle (GBD 2016 Disease, 2017). Aber die potentielle Gefahr von Epidemien, d. h. einer schnellen Ausbreitung übertragbarer schwerer Erkrankungen besteht weiter (Stichwort: Vogelgrippe).

Da die meisten übertragbaren Erkrankungen einen foudroyanten Verlauf zeigen und in vielen Fällen schnell zum Tode führen bzw. weitgehend ausheilen, sind sie bei der Betrachtung der Multimorbidität von nur geringer Bedeutung. Eine Ausnahme stellt die chronisch verlaufende Tuberkulose dar. Erkrankungen wie HIV, Lues etc. sind nur bei einem Intimkontakt übertragbar. Hierfür bestehen andere Vorschriften von Seiten der Gesellschaft bzw. des Gesetzgebers.

Der wesentliche gesellschaftliche Aspekt von Krankheit ist in Deutschland die durch die Erkrankung bedingte Funktionseinschränkung, die u. a. zu einer Arbeitsunfähigkeit des Betroffenen und damit zu Kosten für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit (z. B. für Arzt, Medikamente, Krankengeld, Rehabilitation etc.) führt. In Fällen, in denen dies nicht möglich ist, wird eine vorzeitige Berentung notwendig. Auch diese ist mit erhöhten Kosten für die Gesellschaft verbunden. Bei den älteren Menschen entstehen sehr häufig neben den Kosten für die medizinische Versorgung der Erkrankung(en) (Arzt, Medikamente, Krankenhaus) weitere für pflegerische Hilfsmaßnahmen (ambulant oder in Pflegeheimen). Dies betrifft in besonderem Maße multimorbide Menschen.

Diese kurzen Betrachtungen machen deutlich, dass in einem Land wie Deutschland, in dem die Bürger Anspruch auf staatliche Fürsorge haben, zahlreiche Kosten bei den vom Staat hierfür geschaffenen Institutionen (wie gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung) durch Krankheit entstehen. Die Ausgaben betrugen 2016 für die:

•  gesetzlichen Krankenkassen: 207 Milliarden Euro

•  gesetzlichen Pflegekassen 29 Milliarden Euro

Hinzu kommen noch die Zahlungen der privaten Kassen in Höhe von 31 Milliarden Euro.

Die Gesundheitsausgaben in Deutschland beliefen sich im Jahr 2016 insgesamt auf 356,5 Milliarden Euro oder 4.330 Euro je Einwohner. Dies entspricht einem Anteil von 11,3 % des Bruttoinlandproduktes. Die Gesundheitsausgaben nahmen in den letzten Jahren stärker zu als das Bruttoinlandsprodukt (destatis.de5). Hierzu trägt die hohe Anzahl an Multimorbiden bei.

Ein weiterer gesellschaftlicher Aspekt von Krankheit ist der, dass durch neuropsychiatrische Erkrankungen häufig die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, am gesellschaftlichen Leben adäquat teilzunehmen und Unterstützung in rechtlichen und gesellschaftlichen Belangen benötigen. Hierfür hat der Gesetzgeber in Deutschland das Betreuungsrecht eingeführt (Wetterling, 2018). In Deutschland betrug 2015 die Zahl der Betreuten etwa 1,276 Millionen (entspricht etwa 1,6 % der Gesamtbevölkerung) (Deinert, 2016). Hinzu kommen aber noch etliche Personen, die aufgrund einer Vorsorgevollmacht einen Bevollmächtigten haben.

Bei Verhaltensweisen, durch die andere Mitglieder der Gesellschaft gefährdet sind, können psychisch Kranke auch zwangsweise in psychiatrischen Kliniken untergebracht werden (Wetterling, 2018).

Zu den staatlichen Aufgaben zählt auch die Prävention von Erkrankungen. Hier sind vor allem Impfungen für übertragbare Erkrankungen zu nennen. Eine wichtige Voraussetzung für die Planung von gesundheitspolitischen Maßnahmen sind verlässliche Zahlen über die Häufigkeit von Erkrankungen in der Bevölkerung und insbesondere Änderungen der Häufigkeit. Hierzu erfolgt eine von Land zu Land unterschiedlich umfassende Datenerhebung, bisher in der Regel auf der Basis der ICD-10 (WHO, 1991). Die in diesem Buch erwähnten epidemiologischen Daten basieren daher meist auf der ICD-10 bzw. der DSM-IV (APA, 1994).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von Seiten der Allgemeinheit bei der Betrachtung von Krankheiten folgende Gesichtspunkte im Vordergrund stehen: Sicherheit der nicht von der Krankheit Betroffenen vor Erkrankungen und Fürsorgemaßnahmen für die Kranken, die nur durch einen gesellschaftlichen Konsens und darauf basierender (gesetzlicher) Regelungen zu bewerkstelligen sind.

2.4       ICF-Konzept der WHO

Die WHO hat neben der Anleitung zur Klassifizierung von Krankheiten (ICD-10), die v. a. der vergleichenden und statistischen Erfassung von Erkrankungen bzw. Todesursachen in verschiedenen Ländern dienen soll, mit der 2001 veröffentlichten ICF-Klassifikation ein Konzept vorgestellt, in dem neben den Organschädigungen v. a. die Funktionsstörungen betrachtet werden. Es geht besonders auf Aspekte wie Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe am sozialen Leben) sowie Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren ein.

Der Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen umfasst nach der ICF alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist funktional gesund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren:

1.  ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen). Schädigungen der Struktur können eine Anomalie, ein Defekt, Verlust oder eine andere wesentliche Abweichung der Körperstruktur sein.

2.  sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten).

3.  sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen).

Zu den wesentlichen Aktivitäten zählen die Motilität und Selbstversorgung (Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL)). Hierfür und für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind Funktionen wie

•  Bewegungssteuerung und -koordination

•  Handlungsplanung und -durchführung

•  Kommunikation

•  Emotionale Beteiligung bzw. -verarbeitung

erforderlich. Hierbei handelt es sich um neuropsychiatrische Funktionen. Dies zeigt die Notwendigkeit der Betrachtung neuropsychiatrischer Aspekte bei dem Thema Multimorbidität.

2.5       Unterscheidung Krankheit – Risikofaktor – Behinderung

Ein Risikofaktor liegt nur vor, wenn man dem ICF-Konzept folgt, solange noch keine Organschädigung oder Funktionsbeeinträchtigung eingetreten ist. In manchen Fällen ist die Organschädigung noch reversibel, z. B. Alkoholhepatitis bei Abstinenz (Lackner et al., 2017). Auch Funktionsstörungen, z. B. kognitive Störungen nach einem Alkoholentzugsdelir, können zumindest zum Teil rückbildungsfähig sein, wenn der Risikofaktor nicht mehr besteht. Bei den genannten Beispielen handelt es sich aber um Prozesse, die in der Regel in weniger als einem Jahr ablaufen, d. h. noch nicht chronisch sind. Der Aspekt der Chronizität hat daher eine große Bedeutung bei der Definition der Multimorbidität (Kap. 3.1).

In der medizinischen Forschung, insbesondere in epidemiologischen Studien nimmt die Suche nach Risikofaktoren für das Auftreten einer bestimmten Erkrankung großen Raum ein (z. B. in der Global burden of disease study der WHO (http://www.healthdata.org/germany)). Eine Reihe von Labor-, Körper- oder Verhaltens-»Normabweichungen« wurden als Risikofaktoren identifiziert:

•  Erhöhter Blutdruck

•  Tabakrauchen

•  Übergewicht

•  Alkoholkonsum

•  Erhöhte Laborwerte für Blutzucker und Blutfette

denn nach Verlaufsstudien treten bei Bestehen dieser »Normabweichungen« gehäuft bestimmte Erkrankungen im Sinne von Organschädigungen auf (Kap. 4). Da aber kein 1:1 Zusammenhang besteht, sondern bei Tabakrauchen nur das Risiko, z. B. an Lungenkrebs zu erkranken, gegenüber einer Population von Nichtrauchern erhöht ist, werden diese »Normabweichungen« als Risikofaktoren bezeichnet. So kann jemand, der raucht und viel Alkohol trinkt, sehr lange keine wesentlichen Funktionsbeeinträchtigungen bemerken und Rauchen und Alkoholkonsum als Bestandteil seiner Lebensqualität ansehen.

Aus Sicht der Gesellschaft ist präventiv eine Verringerung der Krankheitshäufigkeit sinnvoll und daher wird vielfach eine Risikoverringerung als Behandlungsindikation angesehen, z. B. Behandlung eines Diabetes mellitus Typ 2 (Senkung des Blutzuckers). Hierzu ist anzumerken, dass die WHO in der ICD-10 bei Diabetes unterschieden hat zwischen der »Normabweichung« (E 11.0) und Komplikationen, die Krankheitswert haben: E11.x. Diese Komplikationen können zu Funktionseinschränkungen führen, z. B. diabetische Polyneuropathie mit Gangstörung (E 11.4). Die Art der Behandlung bleibt aber gleich: Senkung des Blutzuckers.

Allerdings ist die Grenze zwischen Risikofaktor und Krankheit oft schwer klar zu definieren, da die Funktionseinschränkungen sich meist schleichend über einen längeren Zeitraum entwickeln. Aber es können auch kurzfristige Funktionsstörungen wie z. B. eine hypertone Krise, Hyperglykämie oder ein Entzug bei Alkoholkonsum auftreten. Wenn derartige Funktionsstörungen aufgetreten sind, ist die Grenze zur Erkrankung überschritten.

Diese Betrachtungen zeigen, dass das Auftreten von Komplikationen, die zu Funktionsbeeinträchtigungen geführt haben als Grenze zwischen Risikofaktor und Krankheit angesehen werden können (Abb. 2.1). Ein großes Problem bei dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass die Kategorisierung als Risikofaktor auf statistischen Daten aus Langzeit-Verlaufsstudien beruht und das Auftreten der Komplikationen oft schleichend, d. h. fast unmerklich erfolgt.

In der Übersicht von Willadsen et al. (2016) werden einige Normabweichungen auch als Symptome bezeichnet. Hierzu zählen v. a. Seh- und Hörminderung (im Alter). Hierbei handelt es sich um Funktionseinschränkungen, die zum Teil durch technische Hilfsmittel kompensiert werden können.

Wenn chronische Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, wird oft der Begriff Behinderung gebraucht, der allerdings sehr verschieden definiert wird. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention § 1 Abs.2 zählen zu den Menschen mit Behinderungen diejenigen, »die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.« Hiernach sind viele Multimorbide als Behinderte anzusehen.

Abb. 2.1: Schematische Darstellung von Risikofaktoren.

Die Veränderungen, die nach Jahrzehnten zu den Krankheiten führen, bestehen schon länger, z. B.:

3          Multimorbidität

 

 

 

3.1       Definition

Eine allgemein akzeptierte Definition für Multimorbidität gibt es bisher nicht (Boyd & Fortin, 2010; Diederichs et al., 2011; Feinstein,1970; Koroukian et al., 2015; le Reste et al., 2015; NICE, 2016; van den Akker et al., 1996; Violan et al., 2014; Willadsen et al., 2016). Die umfassendste Definition stammt von einer europäischen Arbeitsgruppe von Allgemeinmedizinern (Le Reste et al., 2015). Danach ist Multimorbidität definiert als jegliche Kombination einer chronischen Erkrankung mit zumindest einer weiteren Erkrankung (akut oder chronisch), oder einem bio-psycho-sozialen Faktor (assoziiert oder nicht) oder einem somatischen Risikofaktor. Jeglicher bio-psycho-sozialer Faktor, jeglicher Risikofaktor, das soziale Netzwerk, die Krankheitslast, die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie persönliche Bewältigungsstrategien können die Auswirkungen von Multimorbidität beeinflussen. Multimorbidität kann Gesundheitsparameter beeinflussen und Funktionseinbußen verstärken. Sie kann auch die Lebensqualität reduzieren oder zu Gebrechlichkeit führen.

Diese weite Definition würde dazu führen, dass sehr viele Menschen als multimorbide bezeichnet werden müssten. Meist wird aber erst, wenn bei einem Patienten zwei oder mehr chronische Erkrankungen gleichzeitig vorliegen, von Multimorbidität gesprochen. Dabei ist nicht klar definiert, was unter chronisch zu verstehen ist. In diesem Buch wird entsprechend der Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses (www.g-ba.de) eine Mindestdauer von einem Jahr als unterer Grenzwert angenommen (Kap. 5.1).

Es bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich dessen, was in der jeweiligen Studie als Erkrankung bezeichnet wird (Valderas et al., 2009; Willadsen et al., 2016). So werden in einigen Untersuchungen alle Erkrankungen, die auf einer Schädigung oder Funktionsstörung eines Organs beruhen, zusammengefasst, z. B. Herzerkrankungen. In anderen werden dagegen Differenzierungen vorgenommen, z. B. in Herzrhythmusstörungen, ischämische Herzmuskelerkrankung oder Herzklappenveränderungen. Eine Differenzierung wird meist auch hinsichtlich der Erkrankungen des Gehirns gemacht und zwar in neurologische und psychiatrische. Inwieweit dies berechtigt bzw. sinnvoll ist, wird in Kapitel 6.1 erörtert.

Häufig werden auch Risikofaktoren wie Hyperlipidämie als eine Erkrankung im Sinne einer Multimorbidität angesehen. Gleiches gilt für Symptome wie Rückenschmerzen (Willadsen et al., 2016). Diese werden zusammen mit Funktionsstörungen wie Urininkontinenz, Stürzen etc. auch als geriatrische Syndrome bezeichnet (Inouye et al., 2007). Eine Einteilung in chronische Erkrankungen, funktionelle Einschränkungen und geriatrische Syndrome haben Koroukian et al. (2015) vorgeschlagen. Dies zeigt, dass die Zuordnung zu Begriffen sehr unterschiedlich ist. In der angloamerikanischen Literatur wird daher oft auch der Begriff multiple chronic conditions verwendet. Die genannten Punkte zeigen, dass es schwierig ist, die publizierten (epidemiologischen) Daten zu vergleichen, z. B. hinsichtlich der Häufigkeit einer Multimorbidität bzw. zur Anzahl der Erkrankungen bei Multimorbidität (Kap. 3.5).

In diesem Buch wird nur die Konstellation, dass mindestens zwei chronische Erkrankungen in zwei verschiedenen Organen bestehen, als Multimorbidität bezeichnet. Bei der Definition von Krankheit sind v. a. drei Aspekte von Bedeutung, die auch für die Definition einer Multimorbidität herangezogen werden können (Kap. 2):

•  Strukturelle Veränderungen der Beschaffenheit des Körpers bzw. von Organen

•  Funktionseinschränkungen körperlicher Tätigkeiten

•  Behandlungsbedürftigkeit

3.1.1     Strukturelle Veränderungen der Beschaffenheit des Körpers

Strukturelle Schädigungen von Körperorganen sind in der Regel, da sie sehr häufig nicht mehr reversibel sind, ein Indikator für den Schweregrad der Erkrankung, z. B. bei arthrotischen Gelenkveränderungen. Da eine Multimorbidität besonders häufig im Alter auftritt (Kap. 3.5.3) und es sich bei den chronischen Erkrankungen sehr oft um degenerative Erkrankungen handelt, stellt sich bei der Betrachtung der strukturellen Schädigungen die Frage einer Altersnorm, z. B. bei einer Presbyopie (Altersweitsichtigkeit). In der Wachstumsphase bei Kindern und Jugendlichen sind andere Normen als für Erwachsene allgemein anerkannt. Eine Involution (im weiteren Sinne) wird im Alter bei fast allen Organen als naturgegeben angesehen. Die Frage ist nur, wann der Rückbildungsprozess als »natürlich« eingeschätzt werden kann und wann ein vorzeitiger pathologischer Prozess vorliegt.

Eine Reihe von Faktoren hat einen Einfluss auf die Entwicklung von strukturellen Veränderungen im Körper, u. a.:

•  Genetische Faktoren

•  Geschlecht (z. B. Involution von Geschlechtsorganen und hormonelle Umstellung)

•  Lebensbedingungen, z. B.

−  Ernährung (Mangelernährung, Versorgung mit Vitaminen, Eiweiß etc. bzw. zu hohe Kalorienaufnahme, Übergewicht)

−  körperliche schwere Arbeit (z. B. bei Veränderung des Skeletts und der Gelenke)

−  geistige und körperliche Aktivität

−  Noxen (Alkoholkonsum, Rauchen, am Arbeitsplatz, Luftverschmutzung (Feinstaub) etc.)

Diese Aufstellung zeigt, dass es sowohl eine große sozioökonomisch als auch eine interindividuell bedingte Varianz gibt und daher Normen kaum zu definieren sind.

3.1.2     Funktionseinschränkungen körperlicher und geistiger Tätigkeiten

Für den Betroffenen sind die Funktionsbeeinträchtigungen die erkennbaren Auswirkungen einer Erkrankung. Wenn mehrere Erkrankungen vorliegen, sind die Funktionseinschränkungen meist gravierender als bei einer. Zu den Funktionsbeeinträchtigungen sind auch Schmerzen zu zählen, denn sie stellen in einem weiteren Sinne ein Alarmsignal des Körpers bei Überlastung dar und führen meist dazu, dass die entsprechende Funktion nicht mehr (voll) »genutzt« werden kann. Dem Faktor unzureichende körperliche Aktivität kommt bei der Entwicklung einer Multimorbidität (Autenrieth et al., 2013; Dhalwani et al., 2016) und auch von kognitiven Beeinträchtigungen einige Bedeutungen zu (Carvalho et al., 2014). Auch für Funktionseinschränkungen lassen sich, insbesondere für ältere Menschen Normen wegen der erheblichen Varianz kaum definieren.

Als wesentlicher Gesichtspunkt zur Beurteilung kann der Grad, in dem ein Multimorbider noch in der Lage ist, sich selbst zu versorgen bzw. am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, herangezogen werden. Dabei sind v. a. folgende Funktionsbereiche zu berücksichtigen:

•  Selbstversorgung: ATLs (Körperhygiene, Anziehen, Mahlzeiten zubereiten, Telefonieren, Einkaufen, etc.) (z. B. Wetterling, 2001a, S.12)

•  Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: Motilität, Fähigkeit zu kommunizieren (Hören und Sehen), Motivation und emotionale Fähigkeiten

•  »berufliche« Tätigkeit (einschließlich Haushalt, Kindererziehung etc.)

Funktionseinschränkungen sind oft der Anlass für Arbeitsausfälle, Krankschreibungen und medizinische Behandlungsbedürftigkeit. Dadurch entstehen hohe Kosten für die Krankenkassen. Länger andauernde und schwerwiegende Funktionseinschränkungen, wie sie bei einer Multimorbidität sehr häufig sind (Ryan et al., 2015), führen zu hohen Kosten für weitere soziale Kassen (z. B. Renten- und Pflegeversicherung).

In diesem Buch wird dem Aspekt der Funktionseinschränkung besondere Beachtung bei der Betrachtung zur Multimorbidität gewidmet, weil er sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft von größter Bedeutung ist (Kap. 3.2.1, Kap. 3.2.3). Hier ist auf die Ähnlichkeit zu anderen Konzepten wie Reservekapazität oder »Frailty « hinzuweisen (Kap. 3.4).

3.1.3     Behandlungsbedürftigkeit

Bei der Definition einzelner Erkrankungen spielt der Ausprägungsgrad der Symptomatik und damit auch die Frage der Behandlungsbedürftigkeit eine Rolle. Ähnliches gilt auch bei einer Multimorbidität. Aber auch Risikofaktoren wie z. B. ein Diabetes mellitus Typ 2, der lange Zeit keine Symptome aufweist, werden bei den meisten Studien zur Multimorbidität »mitgezählt«, denn in der Regel besteht eine Behandlungsindikation zur Vermeidung bzw. Verringerung von Folgeerkrankungen. Ähnliches gilt für verschiedene Symptome, die zwar nicht eindeutig einer Erkrankung zuzuordnen sind, aber bei denen eine Behandlungsbedürftigkeit besteht, z. B. Schmerzsyndrome wie beispielsweise Rückenschmerzen.

3.2       Verschiedene Sichtweisen

Wie auch bei der Frage, was Krankheit bedeutet (Kap. 2.1–2.3), sind bei der Frage, was das Wesentliche einer Multimorbidität ausmacht, unterschiedliche Sichtweisen zu berücksichtigen:

3.2.1     Multimorbidität aus Sicht des Betroffenen

Für den Betroffenen haben die durch die Erkrankungen bedingten Funktionseinschränkungen vorrangige Bedeutung, denn sie beeinträchtigen seine Lebensqualität und in schweren Fällen auch seine Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie die autonome Bewältigung der alltäglichen Tätigkeiten (ATLs). Verschiedene Funktionsbeeinträchtigungen können sich gegenseitig beeinflussen und verstärken. Für den Betroffenen ist daher entscheidend, welche Funktionen ihm noch zur Verfügung stehen, d. h. welches Leistungsvermögen er noch hat (Kap. 3.4). Da eine Besserung in sehr vielen Fällen nicht mehr möglich ist und die Funktionseinschränkungen dauerhaft bestehen bleiben, sind für den Betroffenen seine Möglichkeiten zur Krankheitsverarbeitung von Bedeutung (Kap. 8).

3.2.2     Multimorbidität aus Sicht des Arztes

Für den Arzt bzw. die medizinische Wissenschaft stellt Multimorbidität eine besondere Herausforderung dar, v. a. in Hinsicht der Klärung möglicher ätiologischer Zusammenhänge (Kap. 3.3). Wenn diese bekannt sind, kann die Behandlung entsprechend gestaltet werden. Wenn keine Zusammenhänge bekannt sind, führt die Behandlung der einzelnen Erkrankungen, Risikofaktoren und Symptome sehr häufig zu einer Polypharmazie (Kap. 7.3). Dabei sind die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Erkrankungen und den verschiedenen Medikamenten zu berücksichtigen.

3.2.3     Multimorbidität aus Sicht der Gesellschaft

Aus Sicht der Gesellschaft ist Multimorbidität v. a. wegen der damit verbundenen hohen Kosten für die Behandlung und Pflege der Betroffenen sowie für die Schaffung entsprechender Einrichtungen von Bedeutung (Bähler et al., 2015; Lehnert & König, 2012; Van den Bussche et al., 2011b). Daher sind aus Sicht der Gesellschaft v. a. Präventionsstrategien und eine Bedarfsschätzung wichtig. Hierzu sind v. a. epidemiologische Untersuchungen bzw. Daten erforderlich ( Kap. 3.6). In vielen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass eine Multimorbidität eine deutlich erhöhte Sterberate (Mortalität) bzw. verkürzte Lebenserwartung zur Folge hat, besonders bei psychiatrischen Erkrankungen (De Hert et al., 2011, Nordentoft et al., 2013).

3.2.4     Erfassungsinstrumente

Um die Komplexität der Multimorbidität erfassen zu können, sind eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt worden (Harrison et al., 2014; Valderas et al., 2009; Willadsen et al., 2016). Weitere sind für verwandte Konzepte wie z. B. Fraility vorgeschlagen worden (Sutton et al., 2016) (Kap. 3.4). Wesentlich für die Auswahl, welche Skala angewendet werden kann, ist die Frage, was mit der Skala ermittelt werden soll (Willadsen et al., 2016): z. B. Komplikationsrate, insbesondere Sterblichkeit (Charlson Comorbidty Index CCI (Charlson et al., 1987; modifiziert: Deyo et al., 1992)) oder Ausprägung bzw. Schweregrad der Beeinträchtigungen (Cumulative Illness Rating Scale CIRS, Linn et al., 1968). Einige Skalen erfassen nur die Diagnosen wie z. B. die CCI nur Diagnosen und Symptome. In der CIRS-Skala wird operationalisiert für verschiedene Organsysteme und psychische Erkrankungen ein Schweregrad ermittelt (Salvi et al., 2008).

3.3       Konzepte

Eine Multimorbidität kann nicht hinreichend definiert werden allein durch das Vorliegen von Schädigungen mehrerer Körperorgane, denn in fast allen Studien bzw. Konzepten zur Multimorbidität werden Risikofaktoren wie Hyperlipidämie, psychische Störungen, bestimmte Verhaltensweisen wie Alkohol-/Nikotingebrauch und auch Symptome einbezogen (Willadsen et al., 2016). Bisher gibt es kein allgemein akzeptiertes Konzept von Multimorbidität (Lappenschaar et al., 2012; Valderas et al., 2009; Willadsen et al., 2016). Zunächst ist daher eine Klärung der Begriffe erforderlich. In diesem Buch wird ausgehend von dem allgemein üblichen Gebrauch in der Psychiatrie der Begriff Komorbidität für alle Erkrankungen benutzt, die das gleiche Organ betreffen, z. B. alle Herzerkrankungen. Auch neurologische und psychiatrische Erkrankungen werden als komorbide Erkrankungen bezeichnet, da das Gehirn als komplexes Netzwerk anzusehen ist (Kap. 6.1