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Der Autor versteht Freies Theater als radikale Alternative zum herrschenden, zum klassisch gewachsenen, zum bürgerlichen Theater. Als Alternative zum institutionalisierten Staats- und Stadttheater. Denn allein schon im Begriff Freies Theater steckt die Antithese, verbirgt sich der Widerpart: das Unfreie Theater. Er macht klar, dass deshalb eine Arbeit über Freies Theater bei den Voraussetzungen dafür beginnen müsse. Also bei jenen Strukturen, die zum Freien Theater führten: bei den etablierten Bühnen und der Unzufriedenheit mit den dort herrschenden Arbeitsbedingungen. Nur so könne die zwingende Notwendigkeit einer anderen Orientierung, das Bemühen um andere Strukturen und Voraussetzungen, das Suchen nach anderen Arbeitsweisen, Inhalten, Formen und Organisationsstrukturen deutlich gemacht werden.
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Seitenzahl: 258
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EINLEITUNG
oder die Erklärung für ein breites und historisch umfassendes Ausholen
1. TEIL:
A) THEATER UNSERER ZEIT
Ursprung, Entwicklung, Strukturen, Umfeld
Aa)
Theater und Politik (Vom Spieltrieb des Menschen zur moralischen Anstalt)
Ab)
Politik und Theater (Verschleierung der Wirklichkeit oder Veränderung der Zustände)
Ac)
Theater und Sozialismus (Materialistische Dialektik als Diskurs auf der Bühne)
Ad)
Vorläufer des Freien Theaters (Das proletarische Laien- und revolutionäre Berufstheater)
Ae)
Theater nach 1945 (Von der Restauration zu neuen kritischen Ansätzen)
B) FREIES THEATER
(
Versuch einer Begriffsdefinition, basierend auf dem ersten Teil der Arbeit)
Ba)
Der Pariser Mai 1968 (Ein historisches Datum, auch für die theatralische Neuentwicklung)
Bb)
Kultureller Bewußtseinswandel (Der Bruch mit konventionellen Theaterstrukturen)
Bc)
Vorbilder und Anreger (Die Unterschiedlichsten Konzepte und Theorien für das Freie Theater)
Bd)
Europäische Tendenzen (Von Mnouchkines „Théàtre du Soleil“ zu Dario Fos Revuetheater)
Be)
Theater und Demokratie (Die Entwicklung des Freien Theaters im deutschsprachigen Raum)
Bf)
Anspruch und Wirklichkeit (Zwei Schilderungen zur Verdeutlichung des bisher Gesagten)
2. TEIL:
C) DIE GRUPPE “THEATERARBEITERKOLLEKTIV“
(
Entwicklung, Selbstverständnis, Arbeitsweise, Produktionen)
Ca)
Unzufriedenheit mit dem Bestehenden (Gruppengründung als konsequente Folge)
Cb)
Kollektives Miteinander (Der Gemeinsame Arbeits- und Lebensprozess)
Cc)
Themen und Inhalte (Politisch brisante Historien und relevante Probleme unserer Zeit)
Cd)
Form und Ästhetik (Beherrschung des Instrumentariums als Voraussetzung für Akzeptanz)
Ce)
Die einzelnen Produktionen (Kurzbeschreibungen, Kritiken, Stellungnahmen, Gastspiele ...)
Cea)
Friede den Hütten — Krieg den Palästen (1789 bis 1848. Georg Büchner und seine Zeit)
Ceb)
„... dem Manne untertan“ (das Frauenbild in seiner historischen Entwicklung)
Cec)
INTERRUPTUS (Szenen zum Mythos vom schwachen Geschlecht)
Ced)
Bertolt Brecht und der Faschismus (Collage in Szenen, Liedern, Dokumenten)
Cee)
GRÜSS GOTT … mit deutschen Gruß Und deutschem Sang (Szenen aus einem Rechtsstaat)
Cef)
Grazer Spaziergänge (ein satirischironischer Blick auf die Stadt der Volkserhebung)
Ceg)
NOVEMBER 1918 (Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und die Sozialdemokratie)
Kurzer Einschub (Weggang aus Graz, Übersiedlung nach Salzburg)
Ceh)
„Wir sind so frei …“ eine satirischironische Collage aus dem Land der Krone, des Dalma, des Bacher …)
Cei)
DIE HAKEN ZUSAMMEN – DAS KREUZ GESCHLAGEN (Schöne Grüße vom heimischen Faschismus ...)
Zweiter Einschub (Weggang aus Salzburg, Rückkehr nach Salzburg)
Cej)
SCHWEIN ODER NICHT SCHWEIN (das Unbehagen zwischen den Kriegen)
Cek)
FEBRUAR 1934 Der Bürgerkrieg in Österreich
Cel)
PARAGRAPH Frauen im 34er-Jahr
Cem)
JUNGFRAU, MUTTER OBER HURE (ein herzergreifendes Melodram um Liebe, Sex, Schwangerschaft, Verhütung)
Cen)
KRIEG DEM KRIEGE (Lieder und Gebete zwischen den Schlachten ...)
Cf)
Geld und/oder Leben (die Finanzen, der „Reichtum“ einer freien Gruppe)
SCHLUSSBETRACHTUNG
Bedeutung und Wirkung des Freien Theaters in seinem historisch-politischen Kontext
ANMERKUNGEN, LITERATURHINWEISE
Wenn in der folgenden Arbeit vom “Freien Theater“ die Rede ist, so muss dieser Begriff komplex gesehen und als Alternative verstanden werden. Als Alternative zum herrschenden, zum klassisch gewachsenen, zum bürgerlichen Theater. Als Alternative zum institutionalisierten Staats- und Stadttheater. Denn allein schon im Begriff “Freies Theater“ steckt die Antithese, verbirgt sich der Widerpart: das “unfreie“ Theater.
Zwangsläufig muss deshalb eine Arbeit über “Freies Theater“ bei den Voraussetzungen dafür beginnen. Also bei jenen Strukturen, die zum “Freien Theater“ führten: bei den etablierten Bühnen und der Unzufriedenheit mit den dort herrschenden Arbeitsbedingungen.
Nur so kann die zwingende Notwendigkeit einer anderen Orientierung, das Bemühen um andere Strukturen und Voraussetzungen, das Suchen nach anderen Arbeitsweisen, Inhalten, Formen und Organisationsstrukturen deutlich gemacht werden.
Denn “Freies Theater“ versteht sich nicht als Alternative der Alternative wegen, sondern als Bemühen um Alternativen gegenüber dem unbefriedigend Bestehenden, als produktive Weiter- und Neuentwicklung des Erstarrten, als Absage an den etablierten bürgerlichen Theaterbetrieb und den Versuch einer radikalen Neuerung.
Nur so wird auch deutlich, dass unter “Freiem Theater“ nicht alles und jedes verstanden werden darf, was sich außerhalb des institutionalisierten Staats- und Stadttheaters bewegt. Dass all die Klein- und Kellerbühnen, die Privattheater und Laienspielgruppen, deren Berechtigung hier keinesfalls in Frage gestellt werden soll, die aber organisatorisch, inhaltlich und formal oft nur ein Abklatsch “großer Häuser“ sind und für die Akteure nicht selten nur als Sprungbrett zu eben solch großen Häusern verstanden werden, nichts mit “Freiem Theater“ zu tun haben.
Dass eben “Freies Theater“ sich als inhaltliche, formale und organisatorische Alternative zum herrschenden bürgerlichen Theater versteht. Radikal. Und nicht als “Notlösung“.
Eben weil “Freies Theater“ nicht eine Alternative der Alternative wegen ist, weil “Freies Theater“ sich nicht in der Negation des Bestehenden erschöpft, sondern stets nach Sinn und Funktion seines Wesens sucht, weil sich “Freies Theater“ nicht im luftleeren Raum bewegt, sondern sich aus bestehenden Strukturen heraus entwickelt hat, ist es in seinem historischen Kontext zu sehen und zu verstehen.
Seine Gewordenheit und Bedeutung ist nur dann objektiv einzuschätzen, wenn die Funktion von Theater in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung reflektiert und nicht isoliert betrachtet wird.
Deshalb in der Folge vorerst ein weit zurückgreifendes historisches Ausholen. Vor allem rund um die Frage nach der Funktion des Theaters.
Entscheidende Momente, die sich dem Theater grundsätzlich, dem Freien Theater aber ganz besonders immer wieder stellen, werden im historischen Kontext gesucht und überprüft. Fragen der Parteilichkeit, des politischen Engagements, der Ästhetik. Fragen nach Inhalten, Formen und Organisationsmomenten werden geschichtlich abgeleitet und historisch begründet. Da wird Hegel genauso bemüht wie Lessing, Schiller oder Goethe. Da werden die Befürworter des politischen Theaters ebenso zitiert wie jene, die diesen Bereich negieren und ablehnen.
Eine besonders intensive Auseinandersetzung ist in diesem Zusammenhang den eigentlichen Vorläufern des Freien Theaters gewidmet: der Bühne Piscators, dem epischen Theater Brechts, dem proletarischen Theater der Zwischenkriegszeit.
Wobei all diese Auseinandersetzungen nicht als historisch-chronologische Aufzählungen verstanden werden dürfen, sondern als das Theaterverständnis stets durchdringendes Ferment. War und ist doch eben diese Frage nach der Funktion des Theaters der entscheidende Ansatz bei Neuerungen, sollen sich diese nicht im Belanglosen verlieren.
Schließlich versteht sich “Freies Theater“ als untrennbare Einheit von Inhalt, Form und Organisation. Was bedeutet, dass allein die Suche nach neuen Formen, wie dies bei vielen Gruppen in der Folge Artauds und Grotowskis der Fall war, noch lange nicht Theater bzw. Freies Theater ausmacht. Und umgekehrt: dass sich blanke Agitation ohne formal-dramatische Substanz eher lähmend als produktiv auswirkt. Oder: dass nur organisatorische Neuerungen ohne inhaltlich-formale Impulse sich zwangsläufig im Belanglosen verlieren.
Aus diesem Grunde auch die für diese Arbeit gewählte Vorgehensweise:
Eine Gliederung in zwei große Teile. Der erste Teil beginnend mit dem, was die Motivation für “Freies Theater“ überhaupt erst ausmacht: das institutionalisierte Staats- und Stadttheater. Seine Entwicklung, seine Strukturen, seine Arbeitsbedingungen, sein Umfeld, seine Aus- und Weiterbildungssituationen … verbunden mit dem zwingenden Rückgriff in die Geschichte des deutschsprachigen Theaters, auf Entwicklungstendenzen, markante Einschnitte, Scheidepunkte.
Sodann die Alternative dazu: das “Freie Theater“, sein gesellschaftspolitisches Verständnis, seine Organisationsstrukturen, seine Inhalte, seine Formen, seine Vorläufer und richtungsweisendsten Vertreter.
Im zweiten Teil dann die umfassende Darstellung und Skizzierung einer heimischen “Freien Theatergruppe“.
Eines Ensembles, das aus der Grazer Hochschule für Musik und darstellende Kunst hervorgegangen ist und über beinah ein Jahrzehnt geradezu exemplarisch den Begriff “Freies Theater“ gelebt und praktiziert hat: die Gruppe “theaterarbeiterkollektiv“.
Am Beispiel dieser Gruppe soll all das anschaulich und nachvollziehbar verdeutlicht werden, was zuvor theoretisch beschrieben wurde. Was also im ersten Teil als philosophische Abhandlung zu Papier steht, soll im zweiten Teil durch praktische Beispiele seine Ergänzung, Richtigkeit und Bestätigung erfahren.
Wie gesagt: auf Grund der Notwendigkeit einer komplexen Sichtweise des Gesamtthemas ist diese offensichtlich klare Gliederung nicht als historische Chronologie zu verstehen, sondern muss als Hilfestellung zur Klärung der verschiedensten Fragen rund um den Bereich “Freies Theater“ gesehen werden.
Nicht ein geschichtlicher Abriss über die Entstehungsgeschichte des Freien Theaters ist das Thema dieser Arbeit, sondern die Frage nach seinem Anspruch und seinem Wesen. Was bedingt, dass die einzelnen Komplexe sich gegenseitig bedingen und ergänzen, eben komplex gesehen werden müssen.
Theater ist so alt wie die Menschheit selbst. Schon aus der Zeit der Vorgeschichte lassen sich - auf der Basis ethnologischer Untersuchungen - jene Kräfte belegen, die das Theater bis heute speisen: der schöpferische Liebesdrang, der Verkleidungs- und Verwandlungstrieb, die Nachahmungs- und Bewegungslust. Vor allem in inniger Verbindung zum religiösen Kult.
„Es ist eine müßige Streitfrage, was zuerst da war: der religiöse Kult des Priesters, der sich dieses Spielbedürfnisses (des Menschen) bedient, oder das Spielbedürfnis, das im religiösen Kult Befriedigung findet“.1
Die Traditionen des Theaters sind also weit zurückreichend. Und wenngleich der Motor für dieses Theater, der Spieltrieb des Menschen, noch ein ähnlicher ist wie in vorgeschichtlichen Urzeiten, so hat sich doch die Funktion, der Inhalt, die Form und die Organisationsstruktur stetig gewandelt. Analog den gesellschaftspolitischen Entwicklungen bzw. den jeweiligen Herrschaftsformen. Eines jedoch ist dem Theater als öffentlichste aller Künste seit der griechischen Antike geblieben: die Beschäftigung mit politischen Zeitproblemen und Konflikten.
In diesem Zusammenhang spielte Theater in bestimmten Epochen eine nicht unbedeutende gesellschaftliche Rolle. Das Wissen um eben diese Entwicklungen ist eine wesentliche Voraussetzung für die objektive Einschätzung gegenwärtiger wie zukünftiger Bedeutung von Theater. Allein aus solch einer kritischen Reflexion seiner Ursprünge, seiner Wege, seiner Verdienste und Versäumnisse lassen sich die heutigen und die zukünftigen Aufgaben des Theaters und seine Wirkungsmöglichkeiten ableiten.
„Die kritische Selbstüberprüfung entscheidet wesentlich darüber mit, was das Theater aus seiner historischen Rolle jenseits allen affirmativen Gebrauchs, den seine Mäzene zu ihren Zeiten davon machten, an Substanz zur Lösung seiner historischen Aufgabe einbringen kann, einer Aufgabe, die darin bestand, Instrumente der Emanzipation zu sein, Emanzipation nicht allein verstanden als auf das einzelne Individuum bezogen, sondern als eine die Gesellschaft insgesamt verändernde Anstrengung. Denn so wie nach Schiller der Mensch nur existiert, indem er sich verändert, hält sich auch die Gesellschaft in der Veränderung lebendig“.2
Entwickelte sich Theater also ursprünglich aus dem Spieltrieb des Menschen heraus und kam erst dann sein gesellschaftspolitischer Stellenwert im Sinne der Beschäftigung mit Zeitproblemen hinzu, so war die Funktion der Institution Theater in all den Jahrhunderten seit der Antike äußerst zwiespältig und umstritten. Besonders im deutschsprachigen Raum.
Unterschiedlichste Haltungen, Positionen und Stellungnahmen flossen ein. Aus den verschiedensten Richtungen. Von Seiten der politischen Entscheidungsträger ebenso wie von der Philosophie oder - später - von den Medien und damit - indirekt - vom Publikum. Die wesentlichsten Ansätze jedoch lieferten die “Theatermacher“ selbst.
Von entscheidender Bedeutung bei all diesen Funktionsfragen war die nach dem Verhältnis von “Politik und Theater“. So sprach Kant von der Interesselosigkeit der Kunst: „Das Schöne ... gefällt ohne alles Interesse“.3 Und Goethe warnte die Dichter vor der Politik, weil sie ihrem Wesen nach parteiisch und zweckbezogen sei und den unbefangenen, den freien Blick des Künstlers gefährde: „Sowie ein Dichter politisch wirken will, muss er sich einer Partei hingeben, und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muss seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen“.4
Demgegenüber war für die Dichter der Aufklärung die moralisch-politische, die didaktische Funktion des Dramas und damit des Theaters selbstverständlich.
Lessing und Schiller verteidigten ganz entschieden die Einheit von Ethik und Ästhetik. Lessings “Emilia Galotti“ markiert - historisch gesehen - den Wendepunkt des Theaters vom Repräsentations- zum Kulturinstrument. Erstmals erschien auf höfischer Bühne der Bürger. Und zwar als eine gesellschaftlich prägende Kraft.
Theater hat nach Lessing “Schule der moralischen Welt“5 zu sein. Er entwickelt seine “Hamburgische Dramaturgie“ auf der Basis der lehrhaften Funktion des Theaters, abzielend auf Besserung des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Theater ist für ihn der Ort, an dem die brennenden Zeitprobleme des gesellschaftlich-politischen Lebens offenkundig, die Grundtendenzen der Aufklärungsbewegung ausgetragen und Unmenschlichkeiten, Ungerechtigkeiten verurteilt werden.
Auch für Schiller ist die Bühne “Gerichtsbarkeit“ und Theater eine politisch-moralische Instanz: „Wenn die Gerechtigkeit schweigt, ... übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl“.6
Schiller bringt - vor allen in “Kabale und Liebe“, das nach Friedrich Engels “das erste deutsche politische Tendenzdrama ist“7 - die politische Realität auf die Bühne und reflektiert sie kritisch. „Hier nur (auf der Schaubühne) hören die großen der Welt, was sie nie oder selten hören - Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier — den Menschen“.8
Demgegenüber räumt Goethe in seiner Schrift “Dichtung und Wahrheit“ zwar ein, dass ein gutes Kunstwerk durchaus moralische Folgen haben werde, verwehrt sich aber dagegen, vom Künstler moralische Zwecke zu verlangen. Und warnt diesen - siehe oben - vor der Politik.
Diese Vorbehalte gegen politische Motive am Theater und in der Kunst allgemein sind im neunzehnten und auch noch im zwanzigsten Jahrhundert stark verbreitet. So urteilt Siegfried Melchinger in seiner “Geschichte des politischen Theaters“, dass das Thema Politik am Theater niemals so gründlich verdrängt, ja verabscheut und verteufelt wurde wie im 19. Jahrhundert.
Wie wenig aber auch Goethe an Politik auf dem Theater nicht herumkommt, beweist nicht nur sein “Egmont“, in dem er öffentlich die Privilegien der Feudalherren bestreitet und mit wirkungsvollen dramaturgischen Mitteln gegen absolutistisches Machtdenken und für die Freiheit der Bürger und Bauern auftritt. Auch Thomas Mann macht klar, dass Goethe außerstande war, seine theoretischen Ansätze in der Praxis umzusetzen und „das Unlösliche zu lösen und die Verbindung aufzuheben, die zwischen Kunst und Politik unweigerlich besteht. Hier wirkt einfach die Totalität des Menschlichen, die sich auf keine Weise verleugnen läßt“.10
Für Thomas Mann war Goethe nicht nur ein hochpolitischer Theatermann. Er wehrt sich auch gegen die Teilung der Begriffe des Ästhetischen, des Moralischen, des Politisch-Gesellschaftlichen in Einzelkategorien, die gesondert berücksichtigt werden sollen: „Goethes Streitbarkeit gegen die Romantik, gegen Vaterländerei, katholisierende Launen, Kult des Mittelalters, poetische Tartüfferie und raffinierten Obskurantismus aller Art, - was war sie anderes als Politik, - ästhetisch-literarisch verkleidet wohl, aber im Grunde doch Politik pur sang, - schon weil der Gegenstand seiner Abneigung, der Romantizismus, selbst Politik war, nämlich Gegenrevolution? Man suche sich herauszuwinden, indem man von Kulturpolitik, Geistespolitik spricht, in vorgeblichem Gegensatz zur ‘eigentlichen‘ zur Politik im ‘engeren Sinn‘. Man wird dadurch nur die Unteilbarkeit des Problems der Humanität bestätigen, das nie und nirgends einen ‘engeren Sinn‘ hat, sondern alle Sphären in sich schließt. Das Ästhetische, das Moralische, das Politisch-Gesellschaftliche sind eines in ihm“.11
Wie “politisch“ Theater war und ist, zeigt sich aber nicht nur im Diskurs, in der theoretischen Auseinandersetzung, sondern auch in der praktischen Tat. Etwa in der Zensur, im Verbot von Aufführungen, in der Verhinderung solcher. An dieser Stelle sei exemplarisch Kleists “Prinz von Homburg“ genannt. Ein Stück, das - sechs Jahre nach des Autors Selbstmord - erstmals aufgeführt, unmittelbar daraufhin verboten wurde. Dieses Beispiel zeigt, welchen politischen Stellenwert von Herrscherseite dem Theater als meinungs- und bewusstseinsbildendes Medium beigemessen wurde.
Ein anderes Beispiel solcher Form der Verhinderung, also politischer Realität am Theater, ist das erzwungene Schweigen Georg Büchners auf der Bühne seiner Zeit.
Wie überhaupt im neunzehnten Jahrhundert, zwischen dem Sturm und Drang eines Schillers und dem sozialkritischen Engagement eines Hauptmanns (zwei herausragenden Exponenten politisch wirksamen Theaters) - wie zuvor schon angedeutet - der politisch-emanzipatorische Moment am Theater Großteils ausgespart blieb. Und das, obwohl gerade dieses Jahrhundert politisch hochbrisant und von wesentlichen gesellschaftlichen Umwälzungen geprägt war.
Aber Politik am Theater lässt sich eben auch daran messen, was zur Verschleierung der Wirklichkeit auf die Bühne kommt bzw. was zur Aufdeckung von Zuständen, was zur Emanzipation des Menschen auf der Bühne verhindert wird. „Die Freiheit war allmählich bis zu einem Grade untergegangen, von dem niemand, der es nicht selbst miterlebt, einen Begriff hat. Jede Unbefangenheit, ich sage nicht einmal Freiheit der Rede, war unterdrückt. Die Polizei, öffentlich und geheime, angeordnete und freiwillige, durchdrang alle Verhältnisse und vergiftete das Vertrauen des geselligen Lebens. Alle Stützen, auf welchen das Dasein eines Volkes beruht, Religiosität, Geselligkeit, Achtung vor der Sitte und dem Gesetz, waren umgestoßen oder gewaltsam erschüttert. Nur eines wurde festgehalten: Jeder Widerspruch gegen den geäußerten Willen, direkt oder indirekt ausgesprochen, sei ein Verbrechen“.12
Unter solchen gesellschaftspolitischen Bedingungen, unter derart repressiven Zensur-, Verbots- und Verhinderungsmaßnahmen, war die Funktion der Bühne als Instrument der Aufklärung und des kritischen Engagements faktisch aufgehoben.
Unterstützt wurde dies in jenem Jahrhundert dadurch, dass der Kunststil der Romantik konkrete Seinsweisen verklärerisch entwirklichte und auf der Bühne Unverbindliches a la Kotzebue um sich griff.
Umso intensiver wurde die Debatte um die Funktion des Theaters, um ästhetische Anschauungen, um Politik und Kunst theoretisch geführt. Ob indirekt wie bei Büchner etwa im Kunstgespräch zwischen Danton und Camille im zweiten Akt von “Dantons Tod“ (oder auch in den “Anmerkungen übers Theater“ in Lenz) oder unmittelbar wie in Hebbels “Wort über das Drama“, in Wienbargs “Ästhetischen Feldzügen“, in Hegels “Vorlesungen über die Ästhetik“, in Engels “Feuerbach-Kritik“ oder in der damals heftig geführten Kontroverse “Schiller oder Shakespeare“.
Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung “Shakespeare oder Schiller“ bildet die sogenannte “Sickingen-Debatte“, der Briefwechsel zwischen Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lasalle um das von Letztgenanntem geschaffene Schauspiel “Franz von Sickingen“ nach Vorbild Schillers. „Für meine Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Ideellen das Realistische, über den Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen …“13 Marx und Engels sehen im Theatermann Shakespeare „den unübertroffenen Meister der künstlerischpraktischen Aneignung der Welt ... Vor allem aber sahen Marx und Engels in der Lebensfülle des englischen Realisten ‘die Zukunft des Dramas‘ auch in Deutschland“.14
„Allein im ersten Akt der merry wives ist mehr Leben und Wirklichkeit als in der gesamten deutschen Literatur, und der einzige Launce mit seinem Hund Crab ist mehr wert als alle deutschen Komödien zusammen“.15 Aber nicht nur Marx und Engels finden in Shakespears Realismus einen neuen Zugang zum Theater. „Es (gibt) in der deutschen dramatischen Literatur- und Dramentheorie des 19. Jahrhunderts vollends kaum einen Dramatiker und Ästhetiker, der nicht das Problem ‘Schiller oder Shakespeare?‘ in den Mittelpunkt gerückt hätte“.16
Dabei ist Schiller, der sich in einem Brief an Goethe von Shakespears Realismus begeistert zeigte und in manchen Stücken Anlehnung bei ihm nahm, nur als Synonym zu verstehen. Als Synonym für den dramatischen Idealismus jener Zeit. Für das Fehlen von gesellschaftlicher Wirklichkeit, von politischem Engagement am Theater.
Wenn im letzten Kapitel von Theater und Politik die Rede war und von der ambivalenten Haltung von Theoretikern wie Praktikern des 19. Jahrhunderts dazu, so gilt es das Verständnis von Politik grundsätzlich und die Funktion von Politik am Theater, in der Kunst allgemein zu hinterfragen . „Auch die Kunst muss in dieser Zeit der Entscheidungen sich entscheiden. Sie kann sich zum Instrument einiger weniger wachen, die für die vielen die Schicksalsgötter spielen und einen Glauben verlangen, der vor allem blind zu sein hat, und sie kann sich auf die Seite der vielen stellen und ihr Schicksal in ihre eigenen Hände legen. Sie kann die Menschen den Rauschzuständen‚ Illusionen und Wundern ausliefern, und sie kann den Menschen die Welt ausliefern. Sie kann die Unwissenheit vergrößern, und sie kann das Wissen vergrößern. Sie kann an die Gewalten appellieren, die ihre Kraft beim Zerstören beweisen, und an die Gewalten, die ihre Kraft beim Helfen beweisen“.17
Diese Forderung Brechts an die Kunst geht weit über die im letzten Kapitel geäußerten Ängste Goethes an parteipolitische Bindungen und damit verbundene Verluste des Künstlerischen hinaus. Aber auch über den rein moralischen Standpunkt etwa eines Lessings, der die Aufgabe der dramatischen Kunst darin sah, “Menschen, Bürger, Freunde und Patrioten“18 zu bilden.
Hier wird der Kunst (und damit dem Theater) eine wesentlichere Funktion - nämlich eine klar politische, aber beileibe keine parteipolitische, keine tagespolitische - beigemessen: die Kritik an bestehenden Verhältnissen und die Vision einer anderen, einer besseren Gesellschaftsordnung zum Ausdruck zu bringen‚ Haltung einzunehmen, zur Veränderung beizutragen. Theater nicht als Ort der Zustimmung sondern der Kritik zu sehen. Widersprüche aufzudecken und bewusst zu machen, statt sie harmonisierend zu verschütten. Die Ursachen solcher Widersprüche sichtbar zu machen. Kurz: Partei zu ergreifen. Nicht für die Sache einer (politischen) Partei, sondern für die Sache des Menschen und der Menschheit.
So gesehen darf unter dem Begriff “Politik und Theater“ keinesfalls die Reduzierung auf einen tages- und parteipolitischen Pragmatismus verstanden werden, sondern die kritisch-emanzipatorische Funktion der Bühne. „Die Basis der Politik ist der Kompromiss. Gerade der Kompromiss aber ist der Tod von Kunst. Kunst muss radikal sein. Sie muss den Kompromiss vermeiden und sich so extrem wie möglich artikulieren. In dem unauslöschbaren Widerspruch zwischen Politik und Kunst ist der Konflikt schon vorprogrammiert“.19
Diese Aussage von Claus Peymann macht deutlich, dass “politisches Theater“ nicht nur nichts mit Tages- und Parteipolitik zu tun hat, sondern dass es - ganz im Gegenteil – als Widerpart dazu zu verstehen ist. Als Opposition zum partei- und tagespolitischen Verordnen des populistisch Machbaren.
Peymann an einer anderen Stelle: „Das Aufgeben von Opposition aber wäre gleichbedeutend mit künstlerischer Aufgabe. So verstehe ich Kunst überhaupt: Kunst ist immer Widerstand, Widerspruch, das Gegenhalten, und in dem Moment, in dem das nicht mehr stattfindet, versiegt die Kunst“.20
Die Vorbehalte gegen “das Politische am Theater“ rühren vielfach aus der Meinung heraus, dass Kunst - im Unterschied zur Politik - ihrem Wesen nach wert- und tendenzfrei bleiben müsse, und dass “die reine Kunst“ Zeit und Geschichte (und damit auch Politik) aufhebe.
Diese Haltung finden wir nicht nur in der weiter zurückliegenden Geschichte, sondern auch in der neueren Zeit. So wurde “das Politische am Theater“ vor allem von den Vertretern des Absurden Theaters abgelehnt. Eugène Ionesco etwa sprach sich mit folgender Begründung dagegen aus: „Ich glaube, dass das, was uns trennt, eben dieses ‘Politische‘ ist. Es errichtet Schranken zwischen den Menschen und häuft eine gleichbleibende Summe von Missverständnissen an“.21
Ionesco verneint die Bedeutung sozialer wie politischer Aspekte und kultiviert dafür “das allgemein Menschliche“: „Die Grundsituation des Menschen ist nicht seine Situation als Bürger, wohl aber seine Situation als Sterblicher … Was aus meinem Innersten entspringt, meine tiefe Angst, das ist das Allgemeingültigste ... Das Engagement entfremdet, amputiert den Menschen ... Das Menschliche steht über dem Sozialen und nicht umgekehrt“.22
Anders - nämlich philosophisch konsequenter als Ionesco - spricht ein anderer “Absurder“, Wolfgang Hildesheimer, dem Theater den Anspruch auf Politik und Aussage, auf politische Aussage ab: „Absurdes Theater aber bedeutet: Eingeständnis der Ohnmacht des Theaters, den Menschen läutern zu können und sich dieser Ohnmacht als Vorwand des Theaterspiels zu bedienen. Der absurde Dramatiker vertritt die Ansicht, dass kein Kampf der Welt jemals auf dem Theater ausgefochten worden ist. Dass das Theater noch keinen Menschen geläutert und keinen Zustand verbessert hat, und sein Werk zieht ... bittere oder komische Konsequenz aus dieser Tatsache“.23
Seiner Meinung nach habe Theater, absurdes Theater, den Zuschauer mit der Unverständlichkeit und Fragwürdigkeit des Lebens zu konfrontieren, habe auf dieser Frage zu beharren und keinesfalls Antworten darauf zu liefern.
Über diese Haltung meint Max Frisch: „Das Publikum, das sich am Absurden befriedigt, müsste einen Diktator entzücken: es will keine Aufklärung von Ursachen, sondern genießen was es ängstigt, Urlaub in apokalyptischer Gartenlaube“.24 Für ihn, Max Frisch, wirkt sich die Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Belangen im negativen Sinne politisch aus. Auch das Nichts-Sagen - gerade wenn es in theatralisch-poetischer Form gesagt wird - ist eine politische Entscheidung und wird - öffentlich ausgetragen - politische Folgen haben. „Selbst die Poesie des Absurden, das sich ihm zu entziehen scheint, bestätigt das Politische des Theaters“.25
Dass der solipistisch-nihilistische Ansatz der Absurden nicht Unbedingt zu Resignation, Pessimismus und totaler Verweigerung führen muss, beweisen Sartre und Camus, die beide - ohne ihre existentialistische Herkunft zu verleugnen - extrem “politische“ Schriftsteller sind. Eben weil sie nicht im Absurden verharren.
„In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewusst, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, dass er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und dass die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest“.26
Was Camus in seiner Abhandlung “Der Mensch in der Revolte“ skizziert, ist “die Auflehnung des Menschen gegen seine Lebensbedingungen und die ganze Schöpfung“27, ist von politischer Haltung geprägt, vom Engagement des Künstlers, dessen Aufgabe es ist, “den Hunger nach Freiheit und Würde zu stillen, der jedem Menschen ins Herz gesenkt ist“.28
Des Existentialisten Camus‘ ästhetisch-politischer Anspruch deckt und überschneidet sich hier stark mit den kunstphilosophischen Auseinandersetzungen eines Hegels oder Lukacs, deren Schriften entscheidend die Frage nach der Funktion von Kunst geprägt haben. So bleibt auch für Hegel Kunst “nicht beim Unbestimmten und bloß Innerlichen stehen, sondern muss in seiner Totalität auch bis zur bestimmten Anschaulichkeit des Äußeren nach allen Seiten hin herausgehen. Denn der Mensch, dieser volle Mittelpunkt des Ideals, lebt, er ist wesentlich jetzt und hier, Gegenwart, individuelle Unendlichkeit“.29
Hegel bezieht also Kunst inhaltlich auf eine konkrete gesellschaftliche und geschichtliche (also politische) Wirklichkeit. Wobei er nicht das Tages- und Parteipolitische sieht, sondern die Gesamtheit der “Wirklichkeit, zurückgenommen aus der Breite der Einzelheiten und Zufälligkeiten“.30
„Der Zweck der Kunst aber ist es gerade, sowohl den Inhalt als die Erscheinungsweise des Alltäglichen abzustreifen und nur das an und für sich Vernünftige zu dessen wahrhafter Außengestalt durch geistige Tätigkeit aus dem Inneren herauszuarbeiten“.31
Ähnlich sieht - mehr als ein Jahrhundert nach Hegel - der Marxist (später vom offiziellen Sowjetkommunismus als Revisionist verurteilte) Georg Lukács die gesellschaftspolitische Wirkung der Kunst, insbesondere des Theaters. „Erst das Vorherrschen der Besonderheit als schaffendes und organisierendes Prinzip der im Werk gestalteten Gegenständlichkeit vermag dieses ‘Stück‘ aus der bloßen Partikularität, aus der Bruchstückhaftigkeit herauszuheben und ihm den Wirkungscharakter einer in sich abgeschlossenen, die Totalität repräsentierenden ‘Welt‘ zu verleihen. Dieses ‘Stück‘ Wirklichkeit hat nämlich die spezifische Eigenschaft, dass in ihm die wesentlichen Bestimmungen des ganzen Lebens, soweit sie in einem solchen bestimmten Rahmen überhaupt vorhanden sein können, in ihrer wahren Wesenhaftigkeit, in ihrer richtigen Proportionalität, in ihrer wirklichen Widersprüchlichkeit, Bewegungsrichtung und Perspektive zum Ausdruck kommen“.32
Wobei es Lukács vor allem um die Bedeutung des Ästhetischen bei der Vermittlung gesellschaftspolitischer Inhalte geht, was zu intensiven Auseinandersetzungen mit marxistischen Intellektuellen (zur so genannten “Realismus- bzw. Expressionismusdebatte“) führte.
Zwar räumt Lukács ein, dass politische Tages- und Parteienthemen durchaus künstlerisch gestaltet werden können, ja dass sogar das “unmittelbare Eingreifen in die aktuellsten Kämpfe zum Träger einer hohen Kunst werden kann“.33 Allerdings wehrt er sich gegen die Parteidoktrin des “Sozialistischen Realismus“ und lehnt alle Tendenzen, “aus der Kunst eine bloße Dienerin aktuell-praktischer Aufgaben zu machen und dadurch diese vorbehaltslos und restlos in das System der sozialen Tagespraxis eizufügen“34 ab.
Und steht damit im krassen Widerspruch zu Vertretern des “Sozialistischen Realismus“, die unter Parteilichkeit nicht nur künstlerisches Engagement für die Ideologie des Marxismus-Leninismus verstehen, sondern defacto die Unterwerfung des Künstlers unter die Parteidisziplin fordern: „Nieder mit den parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muss zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ‘Rädchen und Schräubchen‘ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewussten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische Bestätigung muss ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozial-demokratischen Parteiarbeit werden“.35
Wenn im nun folgenden Punkt von “Sozialistischem Theater“ die Rede ist, so darf dieser Begriff nicht als parteipolitische Doktrin im Sinne des zum Schluss des letzten Abschnittes angeführten Lenin-Zitates verstanden werden, sondern als Versuch, entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen auch in der Kunst, speziell am Theater, gerecht zu werden.
Wie schon in den vorherigen Abschnitten dreht sich der zentrale Moment auch hier um die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Politik, nach der Funktion des Theaters grundsätzlich.
Dabei sind im Groben zwei Zugänge, zwei Ausgangspunkte feststellbar. Wobei sich diese zwangsweise immer wieder überschneiden. Der eine ist der eher wissenschaftlich-ästhetische Zugang Brechts, das von ihm so bezeichnete “Epische Theater“ oder “Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“. Der andere Zugang ist der des “Proletarischen Theaters“ eines Piscators, der Agiprop- und Proletkultbühnenbewegung.
Was beiden immanent ist, das ist der Rückhalt beider Gruppierungen in der Ideologie des Marxismus-Leninismus, das Ausrichten und Orientieren kulturell-künstlerischen Tuns an dieser materialistisch-dialektischen Weltanschauung.
Damit reichen aber auch beide Richtungen weit über die in den beiden letzten Abschnitten erhobenen Ansprüche, Theater “nur“ als moralisch-idealistische Anstalt, als Spiegel, der der Gesellschaft vorgehalten wird zu sehen, hinaus.
„Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muss die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren. Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern auch sich in der Lust schulen, ihn zu befreien“.36
Brecht will als Stückeschreiber und Theatermann gesellschaftliche Prozesse erkenn- und durchschaubar machen und die Lust auf Veränderung wecken.
„Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflussbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum) ...
Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen“.37
Ähnliches verfolgt Piscator. Er sieht Theater als Mittel zur revolutionären Aktivierung der Arbeiterklasse, zur Umgestaltung der Verhältnisse. Aber nicht wie beim moralisch-idealistischen Theater durch Humanisierung, moralische Besserung, durch Veredelung des Einzelnen, sondern durch Erzeugung eines revolutionären Willens beim Zuschauer. Die gesellschaftliche Diskrepanz soll mittels des Theaters zu einem Element der Anklage, des Umsturzes und der Neuordnung gesteigert werden.
„Wir können weder ideale noch ethische noch moralische Impulse in die Szene einbringen lassen, wenn ihre wirklichen Triebfedern politisch, ökonomisch und sozial sind“.38
Theater sei nicht zu verstehen als Spiegel der Zeit, sondern als Instrument, die Zeit zu verändern. Nach Piscators Meinung ist es ein wesentlicher Unterschied, ob ein Theater ein Zeitproblem in Kunst verwandle, oder ob es mit künstlerischen Mitteln dazu beitrage, ein politisch entscheidendes Resultat zu erzielen.
Piscator schließt hier nahtlos an die “Feuerbach-These“ von Karl Marx an: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“.39
Marx wie Piscator und Brecht geht es also nicht wie den moralisch-ethischen Theatermachern um ein Aufzeigen und Interpretieren der Wirklichkeit, sondern um die Veränderung dieser.
Um die Entwicklung hin zu einem “Sozialistischen Theater“, zu einem “Arbeitertheater“ in seiner Komplexität richtig einschätzen zu können, muss der Gesamtbereich im historischen Kontext, unter den konkreten ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit gesehen werden.
Wie diese sich für die Arbeiterschaft gegen Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten und welchen Einfluss sie auf die Kultur und das Kunstverständnis dieser Schicht hatten, das umreißt Clara Zetkin in ihrem 1911 verfassten Aufsatz “Kunst und Proletariat“:
„Es könnte ein Hohn dünken, zugleich von Kunst und Proletariat zu sprechen. Die Lebensbedingungen, welche die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihren Lohnsklaven schafft, sind kunstfeindlich, ja kunstmörderisch. Kunstgenießen und noch mehr Kunstschaffen hat zur Voraussetzung einen Spielraum materieller und kultureller Bewegungsfreiheit, einen Überfluss materieller Güter, leiblicher, geistiger und sittlicher Kräfte über das Notwendige, das bloß Materielle hinaus. Aber materielle Not und damit auch Kulturarmut ist das Geschick der Ausgebeuteten und Beherrschten gewesen, seitdem Klassengegensätze die Gesellschaft zerklüfteten“.40
Diese Sätze machen nicht nur deutlich, unter welchen Bedingungen sich die Arbeiterschaft ihren Weg zur Kunst, ihren Weg zum Theater suchen musste, sie erklären auch die Notwendigkeit der Suche nach einer neuen Form des Theaters.