Heimkehr ins Dorf der Väter - Otto Köhlmeier - E-Book

Heimkehr ins Dorf der Väter E-Book

Otto Köhlmeier

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Beschreibung

Der Knabe wächst auf im Dorf der Barbaren, im ewigen Kreislauf von Zucht und Ordnung. Mit Weh verlässt er das Dorf, um in der Ferne zu lernen. In der Fremde hört er sie wieder, die Schreie der Großmutter, spürt er sie wieder, die Hiebe und Schläge, die ihn und seinesgleichen trafen. Die Schreie und Hiebe lassen ihn nicht mehr los. Und so kommt er wieder, der Knabe. Kommt zurück ins Dorf, das ihn mit Gewalt einst formte. Kommt wieder, um Fragen zu stellen. Und rechnet ab. Mit sich, seiner Geschichte, seinem Dorf.

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„Heimat ist nicht Raum.

Heimat ist nicht Freundschaft.

Heimat ist nicht Liebe.

Heimat ist Friede.“

Paul Keller (1873 – 1932. Schlesischer Schriftsteller und Publizist)

Das Kind, brav und unscheinbar, kahlgeschoren, spitznasig und mit viel zu großen Ohren, tauchte auf, kaum dass er es verlassen hatte, das Dorf, immer wieder. Und dieses Kind war er, ein Mann von nun bald fünfzig Jahr. Um das Kind, das er sah und das er war, krummbeinig durch den Mangel an Kalk und Liebe, sah er das Dorf, sein Dorf. Ein Dorf des Mangels. Ohne Kalk, ohne Liebe. Aber voll der Barbarei.

Und die Schreie, die er hörte, weit weg vom Dorf, das waren die Schreie der Großmutter. Und die Hiebe und Schläge, die er spürte, fern dem Dorf, das waren die Hiebe und Schläge des Pfarrers und des Lehrers, der Schindlers und der Greußings.

Lange brauchte es, an Zeit und Entfernung, bis er sie verstand, die Schreie der Großmutter, bis er sie spürte, die Hiebe und Schläge des Pfarrers und des Lehrers, der Schindlers und der Greußings.

Bilder, verdrängte, unscharfe, oft nur vom Herzen erfasste, prägten sich neu in seinem Kopf in der Fremde. Weit musste er gehen, zu sehen. Stehend vor dem Bild, sah er Flecke nur, Striche, Punkte, undefinierbare. Die Distanz erst gab Flecken, Strichen, Punkten eine Form, zeigte ihm, was sie zu bedeuten hatten, die Striche und Punkte und Flecken.

Möglich, dass die Entfernung Feinheiten verwischte, dass da manches dazukam, was gar nicht da war. Möglich, dass Hass und Liebe das Bild erst schufen, das dastand, einfach dastand und doch danach schrie, gesehen zu werden.

Er las in Büchern ... und er sah das Dorf. Er redete mit Menschen ... und er erschaute das Dorf. Ihm wurde erzählt von Schlachten, unendlichen und Kindern, gefressen, verzehrt von diesen Schlachten ... und was er sah, war das Dorf. Sein Dorf. Und sich, ein Kind, brav und unscheinbar, kahlgeschoren und krummbeinig, in eben diesem Dorf.

Als er gehen musste, vor dreißig Jahren, zu lernen in der Fremde, beutelte es ihn wie irr. Zerrissen all sein Denken und voller Ängste. Fieberdelirien quälten ihn, ähnlich den Schwindsüchtigen auf dem Totenbette. Winde stürmten durch seinen Schädel und peinigten ihn. Unmöglich ihm, sich vorzustellen weg vom Dorf, das ihn gemacht, wo Vater und Mutter, Bruder und Schwester. Unmöglich, zu leben in der Fremde, fern den Dingen, die ihm vertraut und ans Herz gewachsen. Wie nur reden, weit weg von der Sprache des Dorfes. Wie nur sein, ohne See und Rhein und Ried und Ache. An was nur halten sich, ohne die Worte, die gewohnten, die ewigen und selig machenden. Es beutelte ihn, den Knaben. Und doch beugte er sich dem Zwang. Nahm er hin das Nichtzuändernde. Und ging.

Dass man in der Fremde erst merke, wie schön die Heimat sei, liest man in Poesiealben. Weh dem, der keine Heimat hat, heißt es in Gedichten. Arm sei der, der ohne Vaterhaus, sagen weise Männer. Auch er, der Knabe, dachte so, damals, als er es verließ, das Dorf, vor dreißig Jahren. Zu sehr hatten sich die siebzehn Jahre seines Dörflerdaseins eingebrannt in seinen Leib, zu tief waren die Weisheiten des Dorfes verwurzelt in seinem Denken, als dass er voller Tatendrang losgegangen wäre, das Neue zu finden, das noch nie Erlebte zu leben. Und es dauerte, bis er erkannte, dass Heimat auch Fluch sein kann, eine Erinnerung, eine böse. Siebzehn Jahre hindurch wurd ihm eingebläut, dass sein Dorf das beste aller sei, dass es keines gäbe, ihm gleich, dass da kein Ort auf der Welt, der von solcher Güte und Reinheit wie es, das Dorf, sein Dorf. So brauchte es eine Zeit, bis er begriff, dass sein Dorf nicht Heimat ihm war, sondern ihn machte nur, wie das Dorf ihn brauchte. Dass er Ding nur war, damals, nicht Mensch.

Lange Jahre dauerte es, bis er den Schrei, den er hörte, damals, im Dorf, als Kind, bis er diesen Schrei, den er all die langen Jahre mit sich trug, fassen konnte. Er hörte ihn, immer und immer wieder, weg, weit weg vom Dorf, von jenem Platz, an dem die Großmutter ihn ausstieß, einstens, verfluchend sich und die Welt. Er hörte ihn, greller von Mal zu Mal. Und er presste ihm Herz und Lunge, schnürte ihm die Gurgel. Nur greifen, greifen, ihn greifen, das bedurfte der Zeit und der Fremde.

Seine Großmutter hatte sieben Söhne. Seine Mutter sieben Brüder. Zwei fielen an der Wolga. In Hitlers Krieg um Weizen und Öl. Er war gerade mal vier, damals und dabei, als die Großmutter die Todesnachricht vom ersten der beiden empfing. Er hörte sie schreien. Jenen Schrei, der jahrelang in seinem Ohr weiterschrie. Und er hörte sie sagen, die Großmutter, dass es jetzt noch sechs seien. Und dann, nach langer Stille, hörte er sie sagen: wie lange noch?

Er hörte sie sagen. Er hörte sie reden. Er sah sie ihren Mund bewegen. Er sah ihre Haut erschlaffen. Er sah ihren Körper einfallen. Er sah ihren Schmerz. Nur verstehen, verstehen konnte er nicht. Wie er vieles nicht verstand, im Dorf, wo es wenige nur gab, die zu verstehen hatten. Der Dicke war dick und der Dünne dünn. Wer hatte, der hatte. Wer nicht, selber schuld. Glück und Pech gab’s vielleicht noch an Erklärung. Aber dann war auch schon Schluss. Und das Gebet als Trost, die Kirche, den Pfarrer, den Segen.

Seine Großmutter war eine fromme Frau. Das Dorf, sein Dorf, ein frommes Dorf. Alles ging seinen Lauf, seinen geregelten, war gottgewollt. Geburt, Krankheit, Tod. Das Wasser, das alle paar Jahre vom See her das Dorf überflutete. Die Stürme, Gewitter, selbst die Kriege. Nichts konnte man tun, nichts. Wie es kam, musste es kommen. Mochten sie noch so schreien, die Bäume, die Äcker, die Viecher, die Menschen. Mochten die Mäuler vom Schrei noch so zerrissen und gesprengt sein, durch die Gassen schallen die Wehen und Klagen wie das Gebrüll des Schlachtviehs. Nichts half, nichts. Das Dorf ruhte und schwieg. Unterm Kreuz, unter der Knute einzelner, unter Worten, frommen und Sprüchen, bösen.

Er, das Kind, kannte nichts anderes. Geduldig trug er die Last, die er nie als solche empfand, sondern vielmehr als die Selbstverständlichkeit des Alltags, als Anpassung an eine gottgewollte, ewigwährende Ordnung. Die langen Schatten, die die Sonne überm Dorf verfinsterten, hatten für ihn keine Gesichter. Wie sollten sie. Da war keiner, der die Hyäne Hyäne nannte. Keiner, der sagte „verdammt“ und „verflucht“ und „Schluss“. In der Fremde erst erkannte er das Gewürm, das kriechende, das jahrelang seinen wehrlosen, ausgelaugten Rumpf zerfraß, das ihm Milz und Herz annagte, sein Hirn verspeiste. Weit weg vom Dorf erst erblickte er die Geier, kreisend über den Höfen und Wiesen, über den Menschen des Dorfes, wie sie sich im Fluge die Aufteilung der Beute zuriefen, wie sie sich verständigten: den und den und den und den. Das Kind, das er war, kannte kein Gewürm und keine Geier. Er nahm hin, alles, wie sie es immer schon hinnahmen, alle. Da war nicht die Zeit, Fragen zu stellen, nicht der Ort, zu zweifeln an der Ordnung, der ewig herrschenden, der gottgewollten. Zu müd des Knaben und der Dörfler Denken, zu zünden den Tag, den großen, der die Schatten vertreiben hätt können. Zu bleiern ihr Leid, fähig kaum mehr des Kriechens.

Angepasst sein Schritt dem trägen des Dorfes, marschierte der Knabe durch die Zeiten, sprachlos gekrümmt, wie die Straßenbiegung, ohne Schrei. In seinem ersten Schuljahr, dem letzten des großen Krieges, als sie das Schreiben und Rechnen erst erlernten, da mussten sie als Hausaufgabe viel zeichnen: Kreise, Striche, Häuser und manchmal, trotz des Krieges, Blumen und Bäume und Menschen. Einmal, da stellte ihnen der Lehrer das Thema: Die Söhne grüßen die Väter an der Front. Als er zuhause über seiner Tafel saß und mit Kreide zu zeichnen begann, kam sein Onkel, ein Bruder seiner Mutter, einer der sieben und schaute ihm zu. Und dann half der Onkel ihm und sie malten gemeinsam ihr Dorf. Und darüber ein mächtiges Hakenkreuz. Und hinter ihr Dorf, da malten sie ein russisches Dorf, wie es der Onkel nannte. Und vor dieses russische Dorf malte der Knabe einen Panzer mit seinem Vater, wie er dieses Dorf zerstört. Und dann zeichnete er mitten in sein Dorf rein sich, wie er seinem Vater zuruft: Siege, für uns. Die Worte musste ihm der Onkel schreiben, weil er es selbst noch nicht konnte. Sein Onkel lobte ihn und sagte, dass sich über sein Bild der Lehrer sicher freuen werde. Er war stolz, der Knabe. Später, als der Onkel schon gegangen war und die Großmutter aus dem Stall zurück kam, zeigte er ihr sein Bild. Die Großmutter sagte nichts. Sie nahm nur den Schwamm, der an der Tafel befestigt war und wischte über die Zeichnung. Er weinte, der Knabe. Und die Großmutter ging in ihr Zimmer, wortlos auch jetzt. Ein paar Minuten später kam die Großmutter wieder in die Stube, strich dem Kind übers Haar und sagte, dass sein Bild sehr schön sei. Dann setzte sie sich hin und half, das von ihr Zerstörte auszubessern.

Der Knabe begriff sie nicht, die komplizierten Gänge der Dorfeswege. Und keiner, der sie ihm wies, der entblätterte ihm das Dickicht der Lüge. Nichts. Nur eisiges Schweigen. Wolken ballten sich, wild und ungestüm, bäumten sich zum Schrei, der donnernd entsprang dem Himmelsgrund. Der Dunst überm Dorf krümmte sich unter der Wucht des Blitzgeplärrs zur rauen Fratze. Doch die Dörfler hielten sich dünn, würzten ihre Not einzig mit Gebeten. Verwahrlost starrten sie auf die Teller der Satten. Und dumpf blickten sie weg, wenn der Kinder Augen die ihren trafen. Die Fäuste ballten sie in den Hosentaschen nur, versteckt. Wenn Schreie kamen, dann blieben sie meist still, ohne Kraft. Da war kein Aufbegehren, kein Rauspressen der Wut, des Hasses. Es waren Schmerzensschreie nur, kleine, kaum hörbare. Schreie des Wehs, verbunden meist mit der Liebkosung, dem Küssen der Hand, die die Peitsche hielt, die zuschlug.

Mochten die Stürme noch so heftig übers Land ziehen: das Dorf blieb ruhig. Mochten die Kriege noch so toben und ihre Opfer verlangen, auch vom Dorf: das Dorf selbst schwieg. Wenige nur waren es, die die Stürme und Kriege wollten. Wenige aber auch, die dagegen was taten. Man wollte sie nicht, aber man nahm sie hin. Und weil gesagt wurde, sie seien gut, die Stürme und Kriege, waren sie eben gut. Kaum einer, der nein sagte. Und wenn er nein sagte, dann still, für sich, lautlos und unhörbar.

Tausende Male drängte sich kraftvoll der Mond aus der Dunkelheit. Tausende Male zerriss die Sonne ohne Erbarmen frühmorgens die Nacht. Tausende Winter rangen schon nieder die Bäume und Gräser. Aber tausende Male sprangen diese auf wieder, verjüngt. Nur die Dörfler lagen ewig nackt. Nie wurd satt ihnen der Atem. Dünn schien ihre Luft, als lebten sie auf Gipfeln, vierzig mal hundert und mehr Meter hoch. Nie wurd klar ihnen der Blick. Das Auge gesenkt, sahen sie nur das, was sie zu sehen wünschten. Und wenn sie mal hin fielen und auf der Schnauze lagen: aufstehen und sich abbeuteln. Es ist ja nur das Bein kaputt, ich hätt’ mir auch das Genick brechen können.

An den langen Winterabenden der Kriegstage, wenn draußen der Schnee lag und irgendwo, weit im Norden, vielleicht der Vater und er, der Knabe, drinnen saß, in der Küche, um den Ofen, mit der Großmutter, dem Bruder, der Schwester, dann musste die alte Frau Geschichten vorlesen aus den Büchern, die da waren. Aber da waren nicht viele. Ein Märchenbuch, dessen Geschichten die Kinder aber alle kannten. Das Alte Testament, dessen Geschichten sie aber nicht sonderlich begeisterten. Der jährliche Antoniuskalender, mit Geschichten um Gott und Glaube. Und der jährliche Bauernkalender, mit den Weisheiten ländlicher Erfahrungen. Und weil da nicht viel war an Büchern und gedruckten Geschichten, musste sich die Großmutter selber welche ausdichten. Und ob sie den Kindern Geschichten aus Büchern las oder ihre eigenen Geschichten erzählte, immer sprach sie leise, die Großmutter. Und jedes Mal wenn die Kinder schrien „lauter, lauter“ und „schneller, schneller“ und „mehr, mehr“, dann erklärte ihnen die Großmutter, dass sie ihren Atem für die Arbeit sparen müsse. Und die Kinder schwiegen dann und hörten ihr zu, der Großmutter, auch wenn sie ihre Geschichten leise erzählte und knapp.

Meist waren die Geschichten der Großmutter ernst, manchmal sogar traurig. Und öfters standen dem Knaben beim Zuhören Tränen in den Augen, wenn sie erzählte von der Kälte des Winters und der Hitze des Sommers, früher, zu ihrer Zeit. Besonders dann, wenn sie Geschichten vom Sterben erzählte. Vom langen Sterben, früher. Vom Sterben des Großvaters, ihres Mannes, der sich daran machte, wie an eine große, schwere Arbeit. Der wochenlang, monatelang starb, dabei auf der Lauer lag, Tag und Nacht, und mit ihm schrie, mit dem Tod, diesem kahlen Kerl. Der Knabe sah ihn dann vor sich, seinen Großvater, dieses Gerippe nur mehr, ohne Fleisch an den Gliedern, wie er fluchte, auf den Tod und die Großmutter, die er nicht alleine lassen wollte. Heut ist’s kein Sterben mehr, sagte sie dann öfters, die Großmutter. Und sie sprach dann weniger zu den Kindern denn zu sich selbst, wenn sie den kurzen Tod der Kälber und Schweine im Schlachthof mit dem kurzen Tod der Väter und Söhne auf dem Schlachtfeld verglich.

Sie war eine fromme Frau, die Großmutter. Aber trotz ihrer Frömmigkeit hatte sie nichts mit dem Dollfuß und schon gar nicht mit dem Hitler. Weil die ihren Buben Flausen in die Ohren setzen und sie ihr wegnehmen würden, erklärte sie den Enkeln, ihren Kindeskindern, die ihre Worte nicht verstanden. Die sie nicht verstehen konnten, nicht nur weil sie Kinder waren, sondern weil sie aufwuchsen als Kinder im Dorf, in dem die Menschen schwiegen, keiner was sagen wollte, wenige nur was zu sagen hatten. Und weil die Großmutter ihr Leben schon hinter sich hatte und ihren Atem sparen musste, blieb auch ihr Aufschreien still und ungehört. Denn ihre Söhne lachten nur, wenn die Alte, wie sie sie nannten, von den kommenden Übeln berichtete. So sagte die Alte bald gar nichts mehr und schwieg nur mehr in sich hinein, wenn ihre Buben da waren. Und schrie erst wieder, als sie ihre Todesnachrichten erhielt, aus dem fernen Russland, das sie erobern sollten, für irgendwen, den sie nicht kannte und mit dem sie nichts zu tun haben wollte, die Großmutter.

Ein Häufchen Sand lag neben dem Haus. Wenn der Gries sich besonders hart im Topfe eingefressen hatte, hieß die Großmutter den Knaben, einen Löffel vom Sand zu holen, damit sie die Pfanne sauber bekommen konnte. Ein Mal im Monat wurde von der Großmutter mit Sand und Kräutern ein feines Gemisch erzeugt, dass den Kindern zur Reinigung der Zähne diente. Sie selbst würde das nicht mehr brauchen, sie habe Zähne und Biss längst verloren. Aber er, der Knabe, er müsse darauf achten, sein Lebtag lang zubeißen zu können. Der Knabe mochte ihn nicht, den Sand in seinem Munde. Und so oft es ging, versuchte er, der Reinigung seines Gebisses zu entgehen.

Der Sandhaufen diente aber nicht nur häuslichen Zwecken, er war auch Spielplatz des Knaben. Mit seinen Händen baute er Straßen, grub er Tunnel, schuf er ganze Dörfer. Und mit einem Stück Holz fuhr er dann auf den Straßen und unter den Tunnels durch. Öfters kam auch der Nachbarbub, setzte sich ungefragt zum Knaben und spielte mit auf dem Sandhaufen. Der Knabe mochte das nicht. Denn der Nachbarbub aß den Sand. Immer wieder leckte er sich während des Spiels die Finger ab. Manchmal stopfte er sich eine ganze Hand voller Sand in den Mund und kaute und schluckte. Und sein Maul war dann dreckig und rundum mit Sandkörnern bedeckt. Nicht nur, dass der Knabe nicht verstand, dass es einen Menschen gab, der Sand zum Fressen gern hatte. Er hatte auch Angst um seinen Sandhaufen, meinte, der Nachbarbub könnte ihm diesen wegfressen. Die Angst des Knaben war unbegründet. Der Nachbarbub starb bald. Rachitis, hieß es. Der Knabe wusste nicht, was das bedeutete. Es war ihm auch egal. Er war froh, dass der krummbeinige Bub mit seinem Quadratschädel nicht mehr zum Spielen kam und ihm den Sand weg fraß. Die Worte der Großmutter, dass der Nachbarbub ein Opfer mehr in der riesigen Schar der Führeropfer und dass Armut und der Mangel ihn dahin gerafft, wollte der Knabe nicht hören. Er hielt sich die Ohren zu, als die alte Frau mit ihrer Litanei begann.

Der Soldat, verstümmelt durch den Krieg, liebt sein Bein, das eine, das ihm verblieb, pflegt und schützt es, wie seine beiden nie zuvor. Er, der Knabe, bar des Vaters, unterwegs im Nordosten Europas, bar der Mutter, tagein, tagaus Granaten drehend, beide im Auftrag der großen Volksgemeinschaft, hing an der Großmutter wie’s Neugeborene an der Brust der Stillenden. Er liebte sie, die alte Frau. Und doch hasste er sie. Ihre erzwungenen Gebete und Kirchgänge. Ihre unverständliche Sprache, manchmal. Ihr stilles Aufschreien. Aber er kannte nicht den Grund seines Hasses. Denn viel hätte er getan für die alte Frau, der Knabe, der nichts tun konnte, nur heranwachsen, trotz dem vielen Fehlenden, wie sie alle heranwuchsen im Dorf, damals, zu Invaliden und Krüppeln, zu Ausgelaugten, Ausgezehrten, rachitisch, Rücken und Gang gekrümmt und gebückt.

Als der Bruder des Knaben zur Welt kam, war der Vater nicht mehr da. Ein halbes Jahr zuvor wurde er zur Eroberung der Welt ins Feld gerufen. Der Bauch der Mutter war dick und ihr Gang mühsam. Dass es jeden Tag so weit sein könne, sagte die Großmutter und machte dem Knaben Angst, weil sie ernst schaute und weil die Mutter immer wieder stöhnte und manchmal auch aufschrie. Wenn sie in der Stube saßen, hatte die Mutter einen Blechkübel neben sich stehen und hin und wieder würgte es sie und sie kotzte in den Kübel hinein.

An einem Nachmittag im Spätherbst, als die Mutter besonders heftig schnaufte und stöhnte und aufschrie, befahl die Großmutter dem Knaben und seiner Schwester aus dem Haus zu gehen und drunten in der Wiese zu spielen. Die beiden Kinder taten wie ihnen befohlen. Aber sie spielten nicht. Wie starr standen sie vor der Haustüre und wagten kaum zu atmen. Immer lauter und heftiger fielen die Schreie der Mutter aus den Fenstern und Wänden. Der Knabe sah sie sterben, seine Mutter. Denn die Schreie hörten sich an wie die Schreie der Schweine, wenn diese geschlachtet wurden. Wenigstens zwei Stunden standen sie, der Knabe und seine Schwester. Blass. Beiden rann der Rotz aus der Nase. Und auch als die Schreie vorbei waren, wagten sie sich nicht ins Haus. Selbst als die Großmutter kam, sie zu holen und ihnen zu sagen, dass sie nun einen Bruder haben, beutelte es sie noch.

Er hatte kaum Freunde, der Knabe. Wohl, weil’s nicht die Zeit war für Freundschaften. Aber wann gibt’s die schon. Wegfreunde gab es einige. Schulkameraden. Nachbarkinder. Menschen, die neben ihm groß wurden und älter. Manche gar, denen er zuhörte, manchmal. Wie der Großmutter. Oder dem alten Jok, einem Knecht vom Greußinghof. Aber sonst. Auch er, der Knabe, war zufrieden mit dem Wenigen, das da war, meistens. Schließlich kannte er nichts anderes. Im Norden der See, im Osten und Westen Rhein und Ache, im Süden eine riesige Riedlandschaft. Dazwischen das Dorf, sein Dorf, ein Dorf wie viele andere Dörfer auch, in dem die Kinder gezüchtigt wurden, bis sie waren, wie das Dorf sie brauchte.

Und es bedurfte nicht viel der Züchtiger. Kirche und Schule, Pfarrer und Lehrer verrichteten ihren Dienst bei den heranwachsenden Dörflern. Die Schindlers, die Besitzer der Fabrik, der Strumpfe, wie sie im Dorf genannt wurde, und die Greußings, die Großbauern, die über all die Jahre Bürgermeister und Ortsgruppenführer und Kapellmeister und was es sonst noch gab, stellten, waren für die Restdörfler zuständig. Pfarrer, Lehrer, Schindlers und Greußings, damit hatte es sich. Mehr brauchte es nicht. Daneben gab’s nur mehr Namenlose, Gesichtslose. Menschen ohne Bedeutung. Blasse, Gekrümmte, Geknickte. Aber sie sahen sie nicht, ihre Blässe. Wollten sie nicht sehen. Ebenso wenig wie das Vieh die Kargheit des Bodens sah, nicht sehen konnte, weil es nichts anderes kannte als Kargheit. Und wie der Hund den Nebenhund hasst, hasste einer den anderen. Feige von hinten nach dem Nachbarn schnappend, suchte sich ein jeder den bequemsten Platz aus im Gespann, aber wenige nur merkten, dass sie dem Feinde den Karren zogen. Sie bekamen die Knochen vorgeworfen und leckten dafür noch dankbar die Ruten der Herren.

Er, der Knabe, war müde, all die Jahre, wie sie alle müde waren, ihr Leben lang. Nur spürte man sie nicht, die Müdigkeit, weil sie einfach da war, immer schon. Das Schlachten und Hungern, Blut und Tränen waren Selbstverständlichkeiten wie das tägliche Gebet, der Kirchgang, das Heilgebrüll. Wer wollte hoffen? Und auf wen, auf was? Man richtete sich nach dem was da war. Und weil’s nicht viel war, war’s ein Ausrichten nach oben. Und wenn zaghaft und unverständlich doch eine Stimme von unten kam, wenn sich doch einmal einer der Hunde kritisch rührte, blieb sie ungehört, die Stimme, weil eben unverständlich und zaghaft.

Drei Jahre waren vergangen, seit er seinen Vater das letzte Mal sah. Er war nun sechs und konnte sich seiner nicht mehr erinnern. Viel später erst erfuhr er durch ihn, den Vater, dass er in diesen Jahren im Auftrag des Führers in Norwegen, in Finnland, in Russland und wieder in Finnland unterwegs war und dann in Frankreich, in Kriegsgefangenschaft. In diesem, seinem sechsten Jahr, ging er mit seinem Bruder und seiner Schwester zur Adventfeier in die Kirche. Die Großmutter hatte es ihnen befohlen. Es war ein Spätnachmittag und es begann bereits zu dunkeln.

Schnee lag auf der Dorfstraße und vom See her blies ein kalter Wind. Als sie beim Hof vom Greußingbauern vorbeikamen, hörten sie aus der Tenne Kinderstimmen. Er, der Knabe, sein Bruder und seine Schwester schauten durch das Tennentor, das einen Spalt geöffnet war und sie sahen den Greußing Markus und den Schindler Thomas, die mit Bleisoldaten spielten. Bleisoldaten!, wer hatte schon so was? Der Greußing- und der Schindlerbub, die dicke Jacken aus Schafspelz umgehängt hatten und Kanonendonner machten. Die Bleisoldaten hatten sie in Schlachtreihen vor sich aufgestellt. Dann nahmen sie Murmeln – „Tonkügele“, wie sie genannt wurden – und rollten sie abwechselnd in die gegnerische Front. Dabei hielten sie sich die Nasen zu und machten den Kanonendonner. Sie sprachen sich mit General und Feldmarschall an und die Bleisoldaten fielen um wie die Fliegen. Und nach jedem Wurf schrien sie sich triumphierend die Verlustziffern zu. Wurf, schumm, vier. Wurf, schumm, sieben. Wurf, schumm, drei. Die Schwester, ein Jahr jünger als der Knabe, sah ihn und seinen Bruder an und sagte: kommt.

Sie gingen in die Kirche und bald nach ihnen kamen auch der Schindler Thomas und der Greußing Markus und sie alle beteten und der Pfarrer erzählte ihnen von den Siegen an den Fronten und von den unchristlichen Barbaren hinter diesen Fronten und hieß sie dann niederknien und für den baldigen Endsieg bitten. Dann gingen sie nach Hause. Als sie beim Hof des Greußingbauern vorbeikamen, sang der Knabe laut, so laut er konnte, hoffend, dass der Markus und der Thomas schon da seien und ihn hören und zum Spielen mit den Bleisoldaten einladen würden: die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen. Weiter kannte er es nicht, das Lied. Aber so laut er auch sang, nichts rührte sich. Nur der Bernhardiner vom Greußing begann zu bellen. Seine Schwester, die mit dem Bruder schon ein Stück voraus war, drehte sich um und sah ihn an: spinnst! Als sie Zuhause waren, schlug die Großmutter dem Knaben ins Gesicht, als seine Schwester erzählte, dass er dieses Lied gesungen habe.

Er, der Knabe, nahm ihn hin, den Schlag ins Gesicht, wie er all die Schläge davor und danach hinnahm. Hiebe und Schläge waren Strafen. Strafen, die der Knabe aber selten nur begriff. Er wusste nicht wofür, warum, weswegen er geschlagen wurde. Denn selbst die Schläge blieben stumm, ohne Erklärungen. Deshalb unterschieden sich die Schläge der Großmutter, an der er hing, kaum von den Schlägen des Lehrers oder Pfarrers. Auch gewöhnte er sich bald schon daran, an das Geschlagenund Getretenwerden. Seine Haut wurde dicker. Und nicht nur seine. Geduldig spuckten sie alle immer wieder das Blut aus, sooft ihre Schädel auch in den Dreck gestoßen wurden. Da wohnte keine Sehnsucht, in keinem. Wie Betttücher ihre Gesichter. Zerknittert vom Schlaf, Flecken geiler Züchtigung aufweisend, aber stumm. Ihr Denken breitgestampft zu schleimiger Masse, gepresst ihre Leiber an Mauern aus Lügen, versagten stumpf ihnen Aug und Zung. Umnebelt der Blick, die Sprache zwischen den Lippen noch faulend, trieben sie von Schlag zu Tritt, von Tritt zu Schlag. Weiß schlägt Schwarz. Schwarz schlägt Weiß. Immer wieder. Treiber und Getriebene, Henker und Opfer. Sie waren beides. Das Maul im Dreck, hielten sie die Muskeln in Gang. Still hob die Drohung, flammend fiel der Hieb. Selbst gepresst, pressten auch sie. Belogen tausende Male, logen sie wieder. An ihren Körpern brachte man ihnen das Schlagen bei. An die Körper anderer, Schwächerer, gaben sie es weiter, das Schlagen und Treten und Spucken. Und mit jedem Schlag wurd nicht nur die Haut dicker. Es wurd auch das Herz fester, härter. Und ward bald ein steinerner Klumpen.

An manchen Sonntagsnachmittagen der Kriegsjahre, wenn die Mutter und die Großmutter sich eine Stunde hinlegten, um sich von den Mühen der Woche etwas zu erholen, spielten der Knabe und sein Bruder Soldaten. Der Onkel kommandierte sie. Sie lernten im Gleichschritt zu gehen, lernten den Paradeschritt, Rechts- und Linksum machen und sie lernten das Gewehr, meist einen Besenstiel, zu präsentieren, wie das der Onkel nannte. Um die Mütter nicht aufzuwecken, übten sie unten, im langen Gang hin zum Stall. Und manchmal, da ließ sie der Onkel zum Marschieren Lieder singen. Und manchmal schrie er, der Onkel, dass ihnen Angst wurde, dem Knaben und seinem Bruder. Und wenn er merkte, der Onkel, dass sie Angst hatten, die beiden Buben, dann lachte er.

Bald machte den beiden Kindern das Soldatenspiel keine Freude mehr. Aber wann immer der Onkel da war und Zeit hatte, bestand er darauf. Weil man es nicht früh genug lernen könne, erklärte er ihnen. Und weil ihr Vater das von ihnen erwarte, sagte er. Als sie das Marschieren und Strammstehen und das Rechtsum und das Linksum und das Hochheben des Gewehres beherrschten, die beiden Buben, da lehrte ihnen der Onkel etwas Neues. Den Kampf. Dazu musste sich der Knabe auf der einen Seite des Ganges auf den Bauch legen und der Bruder auf der anderen Seite des Ganges. Und dann mussten sie auf dem Bauch aufeinander zu kriechen. Und dann, dann mussten sie kämpfen. Da er, der Knabe, größer war als sein Bruder, war meist er der Sieger.

Einmal, als er wieder einmal im Kampf mit seinem Bruder siegreich blieb und triumphierend lachte und sein Onkel, wie nach jedem Kampf, die Hände zu einer Trompete formte, in die er hineinblies und dann, die Stimme des Führers imitierend, ihn, den Knaben, zum großen Sieger ausrief, da wurde der Bruder derart wütend, dass er mit seinem Gewehr, dem Besenstiel, drei-, viermal wie wild auf den Kopf des Knaben einschlug. Er, der Knabe, merkte, wie es unter seinem Haar warm wurde. Als er mit seiner Hand hin griff, an diese warme Stelle, da war die Hand blutig. Er begann zu weinen und zu schreien und lief die Stiege hinauf und weckte die Mutter und die Großmutter. Die beiden pflegten ihn. Dann schimpfte die Mutter mit seinem Bruder. Und die Großmutter schimpfte mit seinem Onkel. Und die Großmutter verbot dem Onkel, künftighin mit den Kindern Krieg zu spielen. Wenn er das wolle, sagte sie, dann soll er raus gehen, der Onkel, ins Feld, wo seine Brüder seien, diese Selbstmörder. Aber die Kinder, die Kleinen, die würd er ihr nicht wegnehmen. Niemand. Das würd sie nicht zulassen.

Später, als die Mutter und die Großmutter in der Küche das Abendessen herrichteten und die Kinder mit dem Onkel in der Stube saßen, da schaute der Onkel den Knaben an, mit seinem blutig-weißen Linnen ums Haar und lächelte und sagte: „Noch so klein und schon ein so großer Feigling. Wenn dich dein Vater sehen könnt.“

Die Qual und ihr stilles Hinnehmen, die Zucht und das dumpfe Ertragen der Schläge und Tritte, Demut, Unterwürfigkeit und blindes Gottvertrauen zerfraßen das Dorf zur Ruine, hauten mit Wucht zum Wrack es. Kreuze ließen sie sich einbrennen auf ihre Rücken, die Dörfler, mit Haken dran, von den Schmieden der Barbarei, diesen Mordbrennern des Dorfes. Haken, an denen sie ihr Gewissen einfach aufhingen und abgaben, wie im Wirtshaus ihre zerbeulten Jacken und Hüte. Kreuze, die sie nicht mehr los werden sollten, die demutsvollen Allesgläubigen. Ihre Leiber ins Feld geworfen, in jene draußen wie in jene des Dorfes, trieben sie um, die Dörfler, gekrümmt zwar, aber toll von Siegesräuschen und Sehnsüchten. Die Schädel auf dem Schafott schon, priesen sie noch den Herrn und die Herren. Tragend auf ihren bloßen Rücken das Gewicht ihrer Kreuze, schonten sie noch ihren Grimm. Und schwiegen. Brach lagen des Dorfes Äcker, von Sonne beschienen einst, im Schatten der Untat nun, doch gelernt zu ertragen das Unerträgliche, blieben stumm die Dörfler.

Der jüngste seiner Onkel wurde vom Führer gerufen. In der Strumpfe, in der Fabrik, hatte er gerade seine Lehre als Schlosser beendet, war ein Geselle nun. Noch nicht achtzehnjährig, der Kindheit eben entwachsen, zog er fürs Vaterland in den Krieg. Er freute sich. Von den russischen Weibern redete er und dass er es denen geben werde.

Als er, mit fünf anderen Burschen aus dem Dorf, geholt wurde, begleiteten ihn der Knabe und die Großmutter zum Dorfplatz, wo die jungen Krieger von einem Wehrmachtslastwagen, der durch die Dörfer fuhr, mitgenommen wurden. Auch ein paar andere Dorffrauen standen am Platze und warteten. Die jungen Soldaten scherzten. Die Frauen schwiegen, einige weinten. Als der Lastwagen kam, saßen auf der Ladefläche an die zwanzig Burschen und johlten. Eine Flasche mit Schnaps machte die Runde und bestärkte sie in ihrem Siegesrausch. Der junge Onkel verabschiedete sich vom Knaben und seiner Mutter. Dem Knaben strich er durchs Haar und sagte, dass er brav sein und ihm bald folgen soll. Seine Mutter drückte er kurz an seine Brust. Die Großmutter zog ein vergoldetes Kettchen mit einem Kreuz aus ihrer Rocktasche und wollte es ihrem Sohne um den Hals legen. Der schämte sich, zog seinen Kopf zurück, nahm das Kreuz und stopfte es in seine Hose. Als der Lastwagen los fuhr, warfen die jungen Burschen ihre Hände in die Höhe, schrien Heil! und begannen zu singen. Die Frauen schwiegen und standen eine Zeit stumm da. Der Knabe zerrte an der Hand der Großmutter und drängte sie nach Hause, weil er Hunger hatte.

Weil das Dorf ein Dorf der Stummen war, war das Dorf auch ein Dorf der Stille. Selten nur gab es so was wie Unruhe. Und wenn, dann wurde rasch darüber weggegangen. Denn das Dorf der Stummen war auch eine Stätte der Gleichgültigkeit und des schnellen Vergessens. Mochten auch die Äcker und Wiesen, ja selbst die weite Landschaft des Riedes das Blut nicht mehr fassen, das vergossen wurde, nichts rührte sich, nichts. Stille, Ruhe, Gleichgültigkeit. Sie merkten gar nicht mehr, wie es floss, ihnen davon strömte, das Blut, das schon die Säuglinge des Dorfes ihren Müttern ins Gesicht spien, das die Burschen ihren Mädchen aus den Schamlippen pressten, sich dabei als ganze Kerle fühlend, das die Alten den Jungen kübelweise aus den Adern zapften, immer und immer wieder.

Sie alle waren Kinder des Dorfes. Und Kinder Gottes, wie ihnen der Pfarrer eintrichterte. Und weil sie der Meinung waren, dass alles auf der Welt Bestand hätt, gesicherten Bestand, blieb jeder an seinem Fleck. Dort, wo ihn der Schöpfer hingesetzt hatte. Denn dort würd er finden, was er brauch, immer und ewig. Und so blieben sie, ausgesetzt, ausgespien, hingekotzt, auf diesem Fleck am Arsch der Welt, alle und ihr Leben lang. Und wenn mal einer wegging, gerufen im Namen Gottes oder des Volkes oder irgendeiner anderen Lüge, dann ging er, in seinem Herzen das Dorf, um Rumpf und Beine schwarzes Hemd und schwarze Stiefel, und kam selten nur wieder. Und so gab’s auch keinen, der sagte, da draußen ist die Welt, da gibt’s auch was anderes. Und so gab es selten auch nur Tränen, denn alles hatte ja Bestand und ging seinen geregelten Lauf, den gottgewollten, vorbestimmten.

Wie der alte Glatzkopf, der hofft, dass ihm Haare wachsen, wie die Maus, die hofft, den Löwen besiegen zu können, so hofften sie, die Dörfler. Und legten ihr Schicksal in die Hände der Dorfoberen. Ein hoffnungsloses Hoffen auf die Erlösung und den Erlöser war’s. Sie schauten auf die Teller der Satten. Aber sie forderten nichts, nahmen nichts. So wuchs einzig ihr Hunger. Und ihre Hoffnung. In der sie sich treiben ließen. Von Tag zu Tag. Von Schlag zu Schlag. Von Tritt zu Tritt. Weil aber der, der sich von Hoffnung nährt, Gefahr läuft, Hungers zu sterben, wurden blass ihr Gesichter und bleich ihre Leiber. Aber gelehrt und gelernt, das Schicksal, das gottgewollte, zu erdulden, nahmen sie hin, alles. Und hofften weiter.

Einmal in der Woche trafen sich die zehn- bis vierzehnjährigen Kinder des Dorfes zum Pimpfnachmittag. Gern hätte er mitgemacht, der Knabe, wenn sie sich auf der Wiese hinter der Strumpfe im Laufen und Springen und Werfen übten. Stramm sahen sie aus, die größeren Buben, in ihren braunen Hemden, den Ledergürteln und Halstüchern. Vier, fünf Jahre müsse er noch warten, klärte ihn sein Onkel auf. Dann dürfe auch er ein Hitlerjunge werden, den Schwur auf den Führer leisten und das Fahrtenmesser tragen. Er solle nur schon fest üben. Die Lieder und den Eid und die guten Taten. „Hart, schweigsam und treu!“, lernte der Knabe mit und trommelte sich die Worte in seinen Schädel, wenn die Pimpfe vom Hordenführer zum Appell gerufen und ihre Losungen in den Wind schrien. Und „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ sang er mit, wenn er den größeren Dorfbuben in ihren Uniformen beim Marschieren und der Erprobung des Gleichschrittes zusah.

Gelehrig waren sie. Und hart. Die Kinder des Dorfes. Da gab’s keinen, der an Tränenpfützen trüb erschlaffte. Keinen, dessen Auge vollgerotzte Fässer weinte. Denn das, das wär ein Zeichen von Schwäche gewesen. Und wenn das Dorf etwas nicht erlaubte, dann war es Schwäche. Schwäche gegenüber sich selbst, allem und jedem. Gefragt war Stärke, war Barbarei. Sie war das Alltägliche. Auch wenn sie sich fast ausschließlich in den Köpfen und Herzen abspielte, still, schweigend. Da gab es keine zerquetschten, ausgelaufenen Augen, keine rausgerissenen, zerfetzten Gedärme, keine zertrümmerten Schädel. Die Schreie, die kleinen, wenn sie da waren, waren bald verbraucht. Der Atem reichte so kaum zum Leben. Da bedurfte es keiner Folterknechte, die das Schweigen erzwangen, die Münder stopften oder das denkende Etwas zermalmten. Das Dorf als solches genügte. Sein langsames Wachsen über Jahrhunderte. Seine Struktur, seine Anatomie. Der Pfarrer, der Lehrer, die Schindlers und Greußings. Mehr brauchte es nicht.

Die Götterweihen in der Kirche, die Fahneneide am Dorfplatz. Die Heilslehren des Lehrers, der Herrgottswinkel im Elternhaus. Dazu die Würgegriffe und Almosen der Schindlers und Greußings. In solch einem Meer von Lügen war kein Land in Sicht. Mit Gebetbüchern schlug man den Jungen ihren Willen breit, mit Liedern erstickte man ihr Denken. Das Kirchengebäude wurde zu ihrem Glauben, der Pfarrer zu ihrem Propheten. Und der lehrte sie, zu entsagen, zu verzichten, zu quälen sich. Und trieb ihnen ihr bisschen Unruhe aus. Den Dienst am Leben verkaufte er ihnen als Pflicht zum Sterben. Die Lehre von der Liebe verkehrte er und lehrte sie den Hass auf die Ungläubigen. Er predigte ihnen Gottvertrauen, aber der Blitzableiter der Kirche ragte hoch zu den Sternen. Er predigte Wasser ihnen, soff selbst aber Wein. Er sprach von Sünde und züchtigte ihre Leiber. Und seine sonntäglichen Reden schrien nach Rachsucht und Vergeltung, nach Mord und Totschlag. Bedrohlich läuteten sie, seine Glocken. Und zwangen jeden Dörfler in die Knie. Ein Ketzer, wer da den Blick nicht senkte, bei solch göttlichem Geläute. Wie der Ruf zur Treibjagd klang sein Halleluja, wenn er zum Kampf gegen die Ungläubigen rief. Die kleinste Regung nannte er Sünde. Und einen Sünder jeden Denkenden. Im Namen der Kirche und des Glaubens nannte er recht die Barbarei und unrecht das Leben. Da konnte nichts wachsen und gedeihen, konnte kein Zweifel sich rühren, bei dieser Fülle an Lüge und Zwang.

Trotz des Verbotes der Großmutter ging er, der Knabe, wenn die Langeweile ihn trieb, an manchen Tagen rüber zur Barackensiedlung, zu den Verschlägen hinter der Strumpfe, in denen die Zwangsarbeiter jene wenigen Stunden ihres kargen Daseins fristeten, in denen sie nicht zwangsarbeiteten. Meist waren schon zwei, drei andere Kinder da. Sie standen dann im sicheren Abstand zu dem mannshohen Zaun aus Stacheldraht, der die hässliche Anhäufung von Holzverschlägen – Hundshütten, wie sie sie nannten – begrenzte, geschützt durch einige Büsche und das hohe Gras und glotzten nur und schwiegen. Nur wenn der Greußing Markus, der Bub vom Ortsgruppenführer mal mit ihnen war, was selten nur vorkam, wurd es laut. Der wusste nämlich Bescheid über die Pollaken, wie die Zwangsarbeiter im Dorf genannt wurden. Er hatte sein Wissen von seinem Vater und aus den neuesten Jugendbüchern, die seine Familie von draußen, vom Altreich, kommen ließ. Und der Greußingbub war bestrebt, sein Wissen an die anderen Kinder weiterzugeben.

Am liebsten schlichen sie sich am frühen Abend hinter die Strumpfe. So gegen sieben. Denn das war die Zeit der Fütterung. Da kamen die Männer und Frauen in ihren Kartoffelsäcken und den Fetzen um die Füße aus der Fabrik raus, getrennt nach Geschlecht und in Zweierreihen. Einmal, da brach eine Frau aus der Gruppe zusammen. Der Hinteregger Hans, der Meusburger Herbert und er, der Knabe, schauten sich an und der Hans hielt sich die Hand vor den Mund und lachte. Aber die Frau lag nicht lange am Boden. Gleich ist der Fessler Karl, der die Arbeiter am Morgen rüberführte vom Lager in die Strumpfe und am Abend wieder zurück, da gewesen und hat der Frau befohlen, aufzustehen. Und wie sie nicht gleich aufgestanden ist, die Frau, hat ihr der Fessler mit seinen festen Schuhen so heftig in den Bauch getreten, dass sie laut aufgeschrien hat. Da hat der Hinteregger Hans nicht mehr gelacht.

Wenn dann die Arbeiter alle im Lager waren, fein säuberlich aufgereiht, ist der Kreibich mit seinem Leiterwagen gekommen, auf dem er eine große Blechbadewanne führte, aus der es dampfte. Und der Kreibich hat sich dann hinter seinen Wagen gestellt und hat laut „eins“ gerufen. Und der erste aus der Reihe der Arbeiter ist vorgetreten, ist zum Kreibich gegangen und hat ihm seine Blechschüssel hingehalten. Und der Kreibich hat dann mit einem Schöpfer in die Wanne reingelangt und hat der Einsernummer den Brei, oder was es war, auf den Teller geknallt. Und dann hat der Kreibich „zwei“ gerufen und der nächste aus der Reihe ist vorgetreten. Und so ist es dahingegangen. Beim ersten Mal als die Buben die Fütterungszeremonie heimlich beobachteten, zählte der Kreibich bis achtundsechzig. Dann, beim nächsten Mal, nur mehr bis fünfundvierzig. Und die Buben wetteten schon, ob der Kreibich nächste Woche noch bis dreißig oder nur bis zwanzig oder überhaupt nicht mehr zählen müsse. Sie täuschten sich schwer, die Kinder. Als sie eine Woche später wieder in der Nähe des Zaunes standen und glotzten, zählte der Kreibich bis fünfundsiebzig. Am Wochenend hätten sie eine neue Wagenladung voll gebracht, klärte sie tags darauf der Greußing Markus auf.

Die Untat fiel, knüppeldick. Wie der See als Werk der Hundstage jährlich ins Dorf flutete, kam sie. Gemartert lagen Wiesen und Bäume, zerschunden die Menschen. Doch kein Wort, vielstimmig, das durchschlug die Mauer des Grauens. Kein Zittern im Atem der Dörfler, das sich zum Beben verstärken hätt können. Still nahmen sie hin ihr Leiden. Würzten es zart mit Gebeten nur. Und sagten sich, dass es so wohl sein müss, weil’s immer schon war so. Sie bekreuzigten sich, sie küssten dem Herrn die nervigen Hände, sie sprachen ihr Amen und sie hatten ihr reines Gewissen, alle. Das narbige Antlitz, den Aussatz nannten sie schön. Sicher, ihr Wissen war löchrig. Doch wo der Schmerz wohnte, blickten sie nicht hin. Wo die Wunde klaffte, kehrten sie Mist drüber. Wo der Hunger umging, schrien sie: dank! Dank für Speis und Trank! Und hungerten.

Er, der Knabe, war viel allein mit Bruder und Schwester und Großmutter. Mittags, an einem Wochentag, stand die Großmutter in der Küche und hatte eine Binde Speck vor sich. Die Kinder saßen bereits um den Tisch und schauten mehr auf den Speck denn auf die Großmutter. Die alte Frau schnitt drei dünne Scheiben ab und schaute dann die Kinder an und dann wieder den Speck und sagte, dass es die letzte Binde vor dem Winter sei. Und nachdem sie nochmals die Kinder angesehen hatte, etwas länger als zuvor, lächelte sie und schnitt nochmals drei Scheiben vom Speck. Sie legte den Speck in die Pfanne, die auf dem Ofen stand und sagte, dass das ein gutes Essen gäbe. Als sie aßen, kam der Onkel. Die Großmutter fragte ihn, ob er mitessen wolle. Nachdem der Onkel bejahte, stand die Großmutter auf, holte den Speck wieder aus der Dunkelkammer und schnitt zwei Scheiben runter. Dann, schon zögernd, eine dritte. Und dann, nach längerem Zögern, ging die Großmutter zum Kasten und holte ein Ei. Sie sah es lange an und legte es dabei von einer Hand in die andere, ehe sie es zum Speck in die Pfanne schlug. Er, der Knabe, der älteste und größte der drei Geschwister, starrte auf den Teller des Onkels und in seinem Munde wuchs der Speichel. Als sie gegessen hatten, wusch die Großmutter das Geschirr und die Kinder trockneten ab. Der Onkel saß am Tisch und las aus der Zeitung Siegmeldungen von den Fronten vor. Die Großmutter, die einige Zeit zuhörte ohne was zu sagen, fragte den Onkel plötzlich und laut, ihm dabei in seine Vorlesungen fallend, ob er denn nicht in die Strumpfe müsse. Der Onkel verstand. Er faltete die Zeitung, stand auf, steckte die Zeitung ein und ging. Wortlos.

Tiefer noch als die Hiebe der Stöcke, als das Feuer der Brenneisen, prägten sich die Bisse des Hungers in der Dörfler Leiber. Zerschundene, nur Leere zermalmende Kiefer und Mägen. Selbst die Fliegen, im Stall ihren Appetit am Kot der Kälber anregend, wurden vom Abfall der Dörflermünder satter noch als deren Bäuche. Aber selbst der Dörfler Gedärme zeigten sich geduldig. Gedrängt, geprügelt, gelöchert von Entbehrung, unterdrückten sie ihr Krampfen und Knurren, nahmen still hin das Nichts.

Sie hungerten, die Dörfler, aber sie zweifelten nicht an ihrer Zukunft. Sie lagen darnieder, müde, zertrümmert, aber sie verloren nicht ihr bisschen Glaube. Er, der Knabe, hatte Angst, wie sie alle Angst hatten. Und doch war er nicht ängstlich, wie keiner ängstlich war im Dorf. Denn Angst, das wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Und Schwäche wurd nicht geduldet. Da war kein Aufschrei, der seinem lodernden Rachen zu entrutschen strebte. Die Lippen biss er sich wund, nicht zu weinen. Mit festem Griff klammerte er sich ans Gelehrte, an das, was das Dorf überlieferte, Generation um Generation, mochte unter seinem Griff die Hand erbleichen und das Blut unter seinen Nägeln ausfließen. Gedrängt und gezüchtigt hielt er freudeschlotternd hin seinen Schädel und Körper den Peinigern, den geliebten, gehassten. Wie der Stier unterm Schlachtbeil, so bückte auch er ins Joch des Unsterns sein Genick. Er kannte nichts anderes, der Knabe. Und was gut war für die Väter, die Großväter und die Großväter der Väter, das hatte auch gut zu sein für ihn, den Knaben. So wuchs er auf im Dorf, in dem die Kinder im Mutterleibe schon ergrauten, ungeboren schon herzlos wurden, zu Greisen verkamen. Im Dorf, in dem die Freude träge kroch und nur das Weh rasend umhertrieb und zustach, immerfort.

Damals, als das Wenige immer weniger wurde, als sie wohl nicht wirklich hungerten, aber doch nie satt wurden, damals, während der Jahre ohne den Vater, half die Großmutter öfters mal dem Lehrer im Garten. Für einen Krautkopf oder ein paar Kartoffeln. Der eigene Acker, auf kargem Boden, warf wenig nur ab, wenngleich sie ihn mit eigenem Schweiße nässten und düngten. Und vor den großen kirchlichen Festtagen, da schmückte die Großmutter, gemeinsam mit der Lehrerschwester, die Kirche. Dafür durfte sie im Herbst im Garten des Pfarrers einige Äpfel pflücken. Weil die Mutter im Greußing-Schlachthof Granaten drehte und die Großmutter die Kinder nicht allein lassen wollte, nahm sie sie meist mit in den Garten bei der Schule und in die Kirche, zum Altarschmücken. Ihn, den Knaben, seine Schwester und seinen Bruder. Aber sie mussten nicht in der Kirche warten, bis die Großmutter fertig war, sondern durften draußen auf dem Friedhof bleiben. Sie gingen dann von Grabstein zu Grabstein und weil keines von den drei Kindern lesen konnte, dachten sie sich aus, wer wohl unter welchem Grabstein liegen könnte. Und manchmal scharrten sie in Gedanken den einen oder anderen, Gerippe nur mehr, Staub schon fast, aus und spielten damit ihre Spiele. Und jedes der Kinder hatte seinen Grabstein, unter dem es einmal liegen wollte.

Einmal bei ihrem Spiel, an einem Frühlingsnachmittag vor Ostern, kam ihnen auf dem Friedhof der Pfarrer Scheible entgegen. In seinen Händen hielt er ein Buch, aus dem er las. Dabei bewegten sich leicht seine Lippen. Und manchmal zog er aus seinem Rock ein Tuch, mit dem er sich die Stirne abtupfte. Trotz der Zeiten war der Pfarrer Scheible dick. Und immer hatte er einen roten Kopf. Der Pfarrer grüßte die Kinder und fragte sie wieder nach ihren Namen, die sie ihm schon öfters genannt hatten, die er aber immer wieder vergaß. Dann nahm der Pfarrer den Bruder des Knaben und die Schwester des Knaben, die beiden Kleineren, an der Hand und spazierte mit ihnen über den Friedhof und erzählte ihnen vom bevorstehenden Osterfest. Zwei Schritte hinter dem Pfarrer und dem Bruder und der Schwester ging er, der Knabe. Nachdem er ihnen vom Erlöser und seinen Leiden berichtete, hieß der Pfarrer den Bruder und die Schwester des Knaben in die Kirche reinzulaufen, ein Vaterunser zu beten und an den Gekreuzigten zu denken.

Als die beiden weg waren, legte der Pfarrer Scheible seinen Arm um die Schulter des Knaben und spazierte mit ihm nochmals über den Friedhof. Dabei fragte er ihn, ob der Vater öfters schreibe und was er schreibe und was die Mutter und die Großmutter zuhause alles schwätzten und ob sie öfters Radio hörten und was sie hörten. Der Knabe erzählte dem Pfarrer Scheible von den seltenen Briefen des Vaters und er erzählte ihm von der Mutter und der Großmutter und dass es zuhause kein Radio hätt. Der Pfarrer Scheible tätschelte ihm mit seinen dicken Händen auf die Wangen und auf die nackten Oberschenkel und sagte, dass er ein braver Bub sei, ein braver Bub. Als sie ein Stück weitergegangen waren, der Pfarrer Scheible und er, der Knabe, der Arm des Pfarrers immer noch um die Schulter des Kindes gelegt, fragte er ihn plötzlich, der Pfarrer den Knaben, was er in seiner Hosentasche versteckt hätte. Das Kind schaute ihn an, den Pfarrer und sagte, dass da nichts sei in seiner Hosentasche. Aber der Pfarrer glaubte dem Knaben nicht und griff rein in seine rechte Hosentasche und suchte und griff links rein in die Hosentasche und suchte und dabei standen Schweißestropfen auf seiner breiten Stirn. Aber solange er auch suchte, der Pfarrer Scheible, er fand nichts. Da nahm er die Hände aus den Taschen des Knaben und tätschelte nochmals sein Gesicht und sagte nochmals, diesmal leicht schnaufend, dass er ein braver Bub sein, ein wirklich braver Bub.