Schanzenlos - Otto Köhlmeier - E-Book

Schanzenlos E-Book

Otto Köhlmeier

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Beschreibung

Die EU schreibt ein neues Projekt aus. Sie sucht das schönste Dorf Europas. Millionen an Fördermittel locken. "Diese Schanze lassen mir uns nicht entgehen!", meint der Bürgermeister. Und drängt sein Dorf in ein Wahnsinnsprojekt. Und stürzt es in Schulden. Eine bissig-böse Satire auf männliche Machtgelüste und europäisches Hoheitsdenken.

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Zum fünfzigsten Geburtstag von Anton, den sie liebevoll auch Toni nannten, saßen sie beisammen, die Alt-, Letzt- und Jetztbürgermeister des Ortes. Und redeten über Gott und die Welt. Vor allem aber sprachen sie über die Zukunft des Dorfes. Und waren sich einig darin, dass endlich was geschehen müsse. Weil viel zu lange nichts geschah. „Und Stillstand, Stillstand ist das Schlimmste, was passieren kann. Prost!“.

Willi war der älteste der vier, die da beisammen saßen. Sowohl an Jahren als auch an Amtszeit. Mehr als zwei Perioden hindurch – also mehr als zehn Jahre – lenkte er die Geschicke der Gemeinde. So lange, wie nach ihm keiner mehr. Und das ohne nennenswerte Vorkommnisse, also ohne dass sich etwas Besonderes tat. Ihm, dem Willi, folgte Bertl, der Bärtige, als Bürgermeister. Er brachte es auf nicht ganz drei Jahre in diesem Amt. Auch in diesen drei Jahren ging so gut wie nichts weiter. Nach dem Bertl saß der Toni, das Geburtstagskind, auf dem Bürgermeistersessel. Der Große, wie sie ihn ob seiner Körperlänge nannten – und nicht ob seines Geistes, denn der war mehr als bescheiden – der Lange also war auch nicht viel länger als Bertl im Amt. Etwas mehr als drei Jahre also … und erfolglos wie sein Vorgänger. Folglich drängte damals schon Johann, der vierte im Bunde nach. Ziemlich genau drei Monate war er nun in Amt und Würde, der Dampfplauderer, wie er von seinen Parteifreunden hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Johann redete gern und viel und versprach jedem und jeder alles, was man nur versprechen kann. Darum auch war es ihm ein Leichtes, seinen Vorgänger auszuheben.

Bei dieser Geburtstagsfeier für Toni – den Ausgehobenen, den letzten der Letztbürgermeister – war das Dorf fast vollzählig vertreten. Alles, was Rang und Namen im Ort hatte, folgte der Einladung. Eine Abordnung der Jagdgesellschaft war ebenso anwesend wie der komplette Vorstand des Kameradschaftsbundes. Sportverein, Kirchenchor, Feuerwehr … alle kamen. Die größte Abordnung stellte der Bauernbund, aus deren Reihen das Geburtstagskind stammte. Selbst aus der nahen Bezirksstadt waren zwei ranghohe Funktionäre anwesend und überbrachten Glück- und Segenswünsche.

Es war eine richtig schöne Feier, die da im Mehrzwecksaal der Gemeinde über die Bühne ging und die von den Musikanten und Heimatdichtern des Ortes festlich umrahmt wurde. Und die ersten Besucher traten bereits zufrieden und frohgelaunt von den vielen Schnäpsen, die es gratis gab - und die der Toni, das Geburtstagskind, hauptberuflich Obstbauer und Schnapsbrenner, zur Verfügung stellte - den Heimweg an, als Johann, der Jetztbürgermeister, bei der Kathi vier große Bier bestellte und seine drei Vorgänger an einen der leeren Tische im hinteren Bereich des Mehrzwecksaales bat.

„Meine Herrn!“, sprach der Johann gewichtig, hielt dabei sein volles Krügerl hoch und machte eine kurze Pause. „Prost!“, sagte er darauf und die drei anderen wiederholten sein „Prost“ und stießen mit ihm an. Nach einem kräftigen Schluck, dem Niederstellen des Glases und dem Wischen mit dem Handrücken über den Mund, schaute der Johann erst einmal tiefsinnig, fast geheimnisvoll, in die Runde. „Meine Herrn!“, setzte er dann nochmals an und blickte dabei noch tiefsinniger als zuvor, „es muss was geschehn!“. Der Toni blickte zum Bertl, der Bertl zum Willi, der Willi zum Toni und dann alle drei zum Johann. „Es muss was geschehn. Weil, wenn nichts geschieht, werden die Menschen unzufrieden. Stillstand, Stillstand ist das Schlimmste was passieren kann!“. “Naja“, murmelte der Willi. „Tja“, brummte der Bertl. „Ja, sicher“, sagte der Toni. Aber sonst sagten sie nicht viel. Auch, weil der Johann schon ansetzte: „Ich hab da eine Idee“, sprach er bestimmt. „Mir machen unsere Gemeinde zum schönsten Dorf Europas!“.

„Was?“, fragte der Willi. „Aha!“, meinte der Bertl. „Ja, wie denn, warum, wieso?“, staunte der Toni. Und alle drei schauten noch etwas verwirrter drein, als sie das ohnehin immer taten. „Zum schönsten Dorf des Landes!“, murmelte der Bertl in seinen Bart, griff nach dem Bierkrug und nahm einen kräftigen Schluck. Auch der Willi und der Toni tranken, überrascht und sprachlos ob der Ankündigung ihres Nachfolgers, des Jetztbürgermeisters. Und sicherlich dachten sie sich, dass es wieder einmal einer dieser großspurigen Sprüche des Johann war, die er immer wieder mal von sich gab, die aber nie Wirklichkeit wurden, die zumeist zwei, drei Tage später bereits Schnee von gestern waren: Die größte Lederhose der Welt, die er am Dorfplatz aufstellen wollte. Der Landeplatz für Außerirdische in den Saubacher Auen. Die Anreicherung der Teiche mit Salzwasser zwecks Delphintherapie … Alles Luftschlösser, Hirngespinste, die verworfen wurden, kaum dass sie angedacht waren. Und während der Willi, der Bertl und der Toni insgeheim dachten, dass die spinnerte Idee vom schönsten Dorf Europas einmal mehr der überhöhten Redelust ihres Nachfolgers unter reichlichem Biergenuss entsprang, zog dieser – der Johann – ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche und begann zu philosophieren.

„Meine Idee ist folgende“, begann er und strich dabei das vor ihm liegende Blatt Papier glatt, auf dem er sich „handschriftliche Aufzeichnungen“ – wie er beiläufig erklärte – gemacht hatte. „Mir vier – ich, der Willi, der Bertl und der Toni“, dabei schaute er jedem der Genannten fest ins Auge, „mir vier nehmen die Sache gemeinsam in die Hand. Weil mir vier, mir haben die Akzeptanz im Dorf. Ein jeder schätzt den Willi, ein jeder mag den Bertl, ein jeder hat Respekt vor dem Toni. Und ich, ich bin ja sowieso der Bürgermeister“. Darauf gab es nicht viel zu sagen. „Wo er recht hat, hat er recht“, nahmen die drei Angesprochenen das von Johann Gesagte wohlwollend zur Kenntnis. Und während sie zum Glas griffen und ob der großen Worte ihres Vorgängers einen kräftigen Schluck nahmen, fuhr dieser fort.

„Es gibt da ein Europa-Projekt, bei dem mir große Schanzen haben“. Natürlich meinte der Johann „Chancen“, aber wann immer er von Chancen redete, hörte sich das wie Schanzen an. „Und diese Schanzen gilt es zu nutzen!“. Und folglich meinte er damit weder die Initiierung eines Weitspringens im Dorf, noch die Durchführung einer Nordischen Kombination, oder gar die Austragung olympischer Winterspiele, sondern Schanzen im Sinne von Chancen. Und auch der Willi, der Bertl und der Toni verstanden dies so, denn auch sie verstanden unter Schanzen Chancen. Wie es überhaupt im Dorf Usus war, von Schanzen zu reden, aber Chancen zu meinen.

Johann kannte sich bei Europa-Projekten gut aus. Schließlich arbeitete er hauptberuflich – also neben seiner Bürgermeistertätigkeit – in der Landesregierung. Das heißt: er erledigte dort Botendienste. Vor einem Jahr erhielt der damals Arbeitslose den Job auf Grund massiver Interventionen der Ortsgruppe bei der Landespartei. „Mir müssen unseren Funktionären Schanzen und Perspektiven bieten“, schrieb und telefonierte man in die Landeshauptstadt. „Weil ohne diese gehen sie uns verloren, unsere Aktiven in den Gemeinden“. Schließlich fand man Gehör. Auch weil Ridi, die Abgeordnete aus der Nachbargemeinde, sich mit ihrem ganzen Gewicht – und das war nicht wenig – für Johann einsetzte. So bekam er den Job, der darin bestand, Akten, Protokolle, Notizen von einem Regierungsbüro ins andere zu tragen. Und wieder zurück. Und für die Büromitarbeiter die Vormittags- und die Nachmittagsjause zu besorgen. Bei dieser Tätigkeit kam ihm immer wieder mal der eine und der andere Begriff unter, las er da und dort von Vorhaben und Projekten, lauschte er in dem einen und anderen Büro Gesprächen über EU-Förderungen, über Einreichungen, Anträge, Finanzierungsmöglichkeiten. Manchmal, manchmal nutzte er sogar die Schanze, mit einem Mitarbeiter, der rangmäßig über ihm stand (wie etwa dem Georg, dem Schorsch - er bereitete unter anderem den Kaffee in den bzw. für die Büros zu), über diese Dinge zu reden. Und sich genauer zu informieren.

Johann wusste also über Europa-Projekte Bescheid. Das heißt, er wusste, dass es welche gibt. Und er wusste, dass sie eine riesige Schanze sind. Schließlich hat der Büroleiter bei den diversen Mitarbeiterversammlungen immer wieder betont, dass dem neuen Europa die Zukunft gehöre, dass das neue Europa ein Segen sei, das uns noch viel Freude und Marie bringen werde. Aus diesem Grunde auch besorgte sich der Johann die eine und die andere Unterlage. Und las sich rein, in die Materie. Auch wenn ihm das gar nicht so leicht fiel, denn Lesen war noch nie seine Stärke. Aber die Mühe hat sich ausgezahlt. Denn am Donnerstag, zwei Tage vor der Geburtstagsfeier für den Toni, fiel ihm ein Formblatt in die Hände, das ihn auf den ersten Blick faszinierte: „Europa sucht und fördert die schönsten Dörfer im ländlichen Raum“. Er warf einen zweiten, dritten, vierten Blick auf das Papier und verschlang es dann förmlich. Die längste Zeit studierte er das A4-Blatt und hätte doch fast auf die Vormittagsjause für die Büroleute vergessen. Aber Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein ließen ihn fünf vor Neun hochfahren und die üblichen Wurstsemmeln, Kässemmeln, Wurst-Käse-Semmeln und Leberkäseweckerln – teils mit, teils ohne Senf, manche mit, manche ohne Mayonnaise – besorgen. Wer sich jetzt fragt, wie sich der Johann ob seines offensichtlich nicht gerade ausgeprägten Intellektes all die Jausenbestellungen merken konnte … keine Sorge: Montag in der Früh ging die Bestellliste durch die Büros und wurde von Johann direkt in den Imbissladen ums Eck gebracht. So brauchte er nur täglich gegen neun im Laden sein und die vier Plastiksackerln mit den einzeln verpackten Jausenstärkungen abholen. Und dann seinen Marsch durch die Institutionen antreten.

An diesem Donnerstag jedenfalls, als ihm dieses Blatt „Europa sucht und fördert die schönsten Dörfer des ländlichen Raumes“ in die Hände kam und er darob beinah auf die Verpflegung der Landesregierung vergessen hätte, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Mensch!“, dachte er, „Mensch! Ist das eine Schanze für meine Gemeinde!“. Und nach der Verteilung der Vormittagsjause, die ob dieser Johann’schen Erkenntnis etwas rascher, zügiger, unpersönlicher ausfiel als gewöhnlich, setzte er sich erneut über das Blatt und begann – nachdem er es weitere drei, vier Mal durchlas und endlich und endgültig den Durchblick hatte – mit seinen handschriftlichen Aufzeichnungen, mit „meinem Zukunftskonzept für meine Gemeinde“, wie er diese Aufzeichnungen im Stillen nannte.

„Wie gesagt: Dieses Europa-Projekt eröffnet uns riesige Schanzen“, wiederholte der Johann seine zuvor gesagten Worte gegenüber seinen Bürgermeistervorgängern, die ihm am hintersten Tisch im Mehrzwecksaal des Dorfe gegenüber saßen und noch immer leicht irritiert dreinschauten. „Riesige!“, sprach er nochmals. Mit Betonung und Pause. Beim Rhetorikseminar des Bundes ländlicher Bürgermeister vor vierzehn Tagen hatte er genau das gelernt: durch Wiederholung und Betonung seinem Wort Bedeutung zu verleihen. Johann war stolz auf sich und ein leichtes Lächeln konnte er sich kaum verkneifen. Als die Wirkung seiner Worte nachzulassen drohte, fuhr er fort. Und er erklärte dem Willi, dem Bertl und dem Toni lang und breit, wie er die Sache angehen und die Schanze nutzen werde. Dazwischen musste die Kathi wenigstens sieben Mal eine Runde Bier bringen. Keiner der vier wollte sich lumpen lassen und hinterher die böse Nachred haben, dass er weniger bezahlt habe als sein Vorgänger oder sein Nachfolger. Und so wurde es spät nach Mitternacht, bis die Alt-, Letzt- und Jetztbürgermeister den Mehrzwecksaal als letzte Gäste verließen und doch schon ziemlich angeheitert ihre Heimwege antraten.

Am nächsten Morgen, zur Sonntagsmesse, war das Thema „Mir werden zum schönsten Dorf Europas“ bereits Tagesgespräch. Einmal, weil beim Festakt am Vorabend doch der eine und andere beim Bürgermeistertisch vorbeischaute, dies und das aufgriff, vereinzelt mitredete und dann das Gehörte und Diskutierte anderen weitervermittelte. Und andererseits, weil jeder der vier Bürgermeister die Neuigkeit natürlich stolz der Gattin und den Kindern und jedem, den sie erreichten, verkündeten. Vor der Messe wurde also heftig diskutiert und der Pfarrer musste das Glockengeläut ordentlich hochfahren, damit er gehört wurde und wenigstens die Frauen zum Gottesdienst eintraten. Der Großteil der Männer blieb am Kirchplatz beisammen und palaverte. „Das schönste Dorf Europas“. Für und Wider wurde abgewogen, hin und her wurde diskutiert. Mitten drin der Jetztbürgermeister, der Johann. Und neben ihm die Alt- und Letztbürgermeister, der Willi, der Bertl, der Toni.

Obwohl es ihm ob des blöden Kopfes vom Vortag nicht leicht fiel, gedachte Johann der beim Rhetorikseminar gemachten Erfahrungen, erhob seine Stimme und sprach: „Leute!“. Und nochmals: „Leute!“. Und er wartete, bis es ruhiger wurde am Kirchplatz und man nur mehr den leisen Gesang der Weiber aus dem Gotteshaus hörte. „Wenn mir diese Schanze nicht nutzen, dann sind mir selber schuld. Drei Millionen Euro … drei Millionen“, dabei streckte er – auch das ein rhetorischer Trick, den er vor zehn Tagen kennen gelernt hat – drei Finger der rechten Hand in die Höhe, um der Sache entsprechenden Nachdruck zu verleihen, „drei Millionen bringt uns das Ganze aus EU-Förderungen, wenn mir es geschickt und klug angehen“. Er machte eine kurze Pause, während der man den einen und anderen stumm nicken sah. „Und weitere drei Millionen“, diesmal der Fingerzeig mit der anderen Hand, „wenn mir als Europasieger hervorgehen“. Wieder eine Pause und diesmal kam es bereits zu zustimmendem Gemurmel. „Ganz schön“, „nicht schlecht“, „drei und drei, das wären ja sechs“ konnte man hören. Nun setzte der Toni, der Letztbürgermeister nach. Nicht ganz so gekonnt wie der Johann, denn beim Rhetorikseminar war er als Nicht-Mehr-Bürgermeister logischerweise nicht dabei, aber so schlecht dann doch nicht, wie man es üblicherweise von ihm gewohnt war: „Mir haben gestern lang und ausführlich diskutiert: der Johann, der Willi, der Bertl und ich. Und mir sind letztendlich zu der Entscheidung gelangt, dass dies eine Jahrhundertschanze ist, die mir unbedingt nutzen sollten. Solch eine Schanze kommt in hundert Jahren nicht mehr!“. Allgemeines Kopfnicken war zu erkennen und da und dort hörte man ein stilles „super“ und „bravo“ und „warum nicht“. Nur der Kleinbauer Franz, im Dorf ohnehin als Querulant verschrien, schien das allgemeine Wohlgefallen nicht zu teilen und wollte gerade zum Wort ansetzen, als ihm der Bertl zuvorkam und loslegte: „Freunde“, begann er. „Mir haben uns das wirklich gut überlegt. Und ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass damit ein Aufschwung in unserem Ort einsetzt, der wo was jedem zugutekommt!“. Nochmals wollte, während einzelne nach Bertls Worten bereits in die Hände klatschten und laut „Bravo“ sagten, der Kleinbauer Franz zum Gegenwort anheben, als sich Willi, der Altbürgermeister, meldete: „Ihr alle wisst, dass ich ein Mensch bin, der nicht zu schnellen und unüberlegten Entscheidungen neigt. Immer und immer wieder wäge ich das Für und das Wider ab. Aber hier gibt es kein Wider. Wer jetzt nicht für die Sache des Dorfes ist, der verdient es nicht, den Namen Dörfler zu tragen!“. „Bravo, Willi“, ertönte es. „Jawohl, richtig!“. „Jetzt oder nie!“. Fast euphorisch war die Stimmung und wenn man genau hinsah, konnte man bei dem einen und anderen so etwas wie ein feuchtes Auge erkennen. „Ein Freibier für jeden“, rief der Bürgermeister, die Gunst der Stunde nutzend. Er zeigte rüber zum Kirchenwirt und setzte sich in Bewegung. Und mit ihm fast alle der Männerrunde. Nur der Kleinbauer Franz und mit ihm der Edi, der Karl und der Fritz, der harte Kern der Oppositionspartei, blieb am Kirchplatz zurück.

Die Gaststube vom Kirchenwirt war gerammelt voll. Und die Stimmung bestens. Selbst viele der Dorffrauen ließen es sich an diesem Sonntag nicht nehmen, nach der Messe noch kurz vorbeizuschauen und sich über den Stand der Dinge zu informieren, ehe sie nach Hause hetzten, den Schweinebraten samt Semmelknödeln fertig zu machen. Der Johann, der Toni, der Bertl und der Willi waren bereits dabei, Arbeitsgruppen – „Projektgruppen“, wie sie der Bürgermeister nannte – einzuteilen. Entsprechend den handschriftlichen Aufzeichnungen des Bürgermeisters, die er am Vorabend seinen Vorgängern präsentierte und vortrug. Die „Gruppe Willi“ werde sich den Spezialgebieten „Handel, Wirtschaft, Frauen und Senioren“ widmen. Die „Gruppe Bertl“ solle das Gebiet „Tourismus, Kultur, Teichwirtschaft und Blumenschmuck“ abdecken. Für die „Gruppe Toni“ wurden die Bereiche „Landwirtschaft und Natur, Jugendschutz und Schnapsbrennerei“ vorgesehen. Und die „Gruppe Johann“ werde sich um die Belange „Sport und Familie, Zukunft und Geldbeschaffung“ kümmern. Kaum dass der Bürgermeister diese Gruppeneinteilung vorgetragen hatte, wurde es laut in der Gaststube des Kirchenwirtes. Da und dort rief einer raus, in welcher Gruppe er mitarbeiten werde. Hier fragte einer, ob man auch in zwei Gruppen mitmachen könne, weil ihn doch der Tourismus vom Bertl genauso interessiere wie der Schnaps vom Toni. Daneben schrie ein anderer, dass ihm der Chorgesang und die Blasmusik fehle. Und an einzelnen Tischen begann man bereits erste Ideen zu entwickeln: „Ein Badesee, eine Riesenrutsche und Tretboote gehören her!“. „Nix da. G’scheiter wär ein Veranstaltungszentrum mit allem Pipapo!“. „Warum nicht beides. Bei sechs Mille müsst das drin sein!“. Sein eigenes Wort konnte man kaum mehr verstehen, so laut war es in der Gaststube. „Moment, Moment, Moment“, rief der Bürgermeister, stand dabei auf und klopfte mit dem Kaffeelöffel gegen die Tasse. Und er wartete, bis es ruhig wurde. „Nicht so schnell, meine Herrschaften. Euer Interesse ehrt mich zwar, aber mir müssen ganz gezielt und besonnen vorgehen. Morgen, bei der Gemeinderatssitzung, zu der ich euch heute nochmals alle einlade, morgen werden mir den Beschluss fassen, uns an dem Europa-Projekt ‚Das schönste Dorf im ländlichen Raum’ zu beteiligen. Den EU-Antrag hab ich bereits ausgefüllt und der geht gleich nach dem Gemeinderatsbeschluss nach Brüssel. Und am Dienstag können mir losstarten. Um 19 Uhr, also um 7 Uhr am Abend, treffen sich alle Interessierten im Mehrzwecksaal und dann geht’s los. Diese Schanze werden mir uns nicht nehmen lassen. Und jetzt: noch ein Freibier für jeden!“. „Bravo, Bürgermeister!“, „Toll!“, „Super!“, „Klass!“. Manche klatschten sogar in die Hände und applaudierten. Und es dauerte einige Zeit, bis es wieder ruhiger in der Gaststube des Kirchenwirtes wurde.

Noch nie wurden so viele Besucher bei einer Gemeinderatssitzung gezählt wie an diesem Montag. Meist sind überhaupt keine Zuhörer anwesend. Hin und wieder mal zwei, drei. Ein paar mehr, wenn es um Themen geht, die die Dörfler unmittelbar betreffen. Wenn der Besamungszuschuss für Rinder und Schweine einmal im Jahr auf der Tagesordnung steht, dann sind es schon mal zehn. Oder wenn es darum geht, den Jagdpachtschilling unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung neu aufzuteilen. An diesem Montag aber strömen sie unablässig in den Mehrzwecksaal. Und es musste die vordere Zwischenwand heraus genommen werden, weil es an Platz mangelt und der Gemeindediener musste sich um zusätzliche Stühle für die Zuhörer kümmern. An die fünfzig Besucher waren sicher da, als der Bürgermeister Punkt neunzehn Uhr die Gemeinderatssitzung eröffnete.

Die neun Gemeinderäte des Dorfes waren heute vollzählig vertreten und saßen säuberlich aufgereiht am Sitzungstisch an der Front des Mehrzwecksaales. Nach der Begrüßung durch den Bürgermeister, der Feststellung der Beschlussfähigkeit und der Verlesung des letzten Protokolls – was, einmal mehr, ewig dauerte, weil, wie schon gesagt, das Lesen nicht gerade die Stärke des Bürgermeisters war – stand unter Punkt 4 das Europa-Projekt „Das schönste Dorf im ländlichen Raum“ auf der Tagesordnung. Nachdem zuvor, vor allem während der Verlesung des Protokolls, immer wieder ein Räuspern und Flüstern unter den Besuchern zu hören war - „der Milchpreis momentan, eine Sauerei!“, „einen ordentlichen Regen tät's halt wieder mal brauchen!“ - wurde es nun mucksmäuschenstill. Johann, der Bürgermeister, trug mit gewichtigen Worten das Anliegen vor, erklärte lang und breit den Ablauf und sein Konzept dazu und stellte schließlich den Antrag, der Gemeinderat möge beschließen, sich an diesem Europa-Projekt zu beteiligen. Der Antrag wurde mit acht zu einer Stimme angenommen. Nur der Kleinbauer Franz, der Vertreter der Oppositionspartei, enthielt sich der Stimme. „Somit ist der Antrag angenommen“, verkündete der Bürgermeister. Auf diese Worte geschah etwas, was bei Gemeinderatssitzungen absolut unüblich ist: die Zuhörer applaudierten. Laut und lange. „Super!“, „Bravo!“, hörte man. Und vereinzelt: „Kleinbauer, du Arsch!“. Und der Johann, der Bürgermeister, musste schließlich um Ruhe bitten, um mit der Tagesordnung fortfahren zu können. Noch standen sieben andere Punkte auf dem Programm. Aber diese sieben Punkte fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Denn die Zuhörer verließen nach der Beschlussfassung über die Teilnahme am Europa-Projekt geschlossen den Mehrzwecksaal und gingen, bestens gelaunt, rüber zum Kirchenwirt, auf ein Bier.

Die Auftaktveranstaltung zum Europa-Projekt, wie das Dienstag-Treffen vom Bürgermeister kurzfristig betitelt wurde, wurde zu einem richtigen Dorffest. Fast die Hälfte der Bevölkerung war vertreten und der Gemeindediener hatte alle Hände voll zu tun, Platz zu schaffen. Und der Verein der Dorffrauen, bestehend vorrangig aus den Gattinnen und Töchtern jetziger und ehemaliger Gemeinderäte, kam kaum mit dem Ausschenken von Bier und Wein und Saft nach. Johann hatte in der Landesregierung alle Hebel in Bewegung gesetzt und erreicht, dass er Overhead-Projektor, Flip-Chart, Papier, Filzstifte ausgeborgt bekam. Der Sohn vom Willi, ein Hobbymusiker, hatte sogar seine Tonanlage aufgebaut. Der Toni stellte vier Steigen Äpfel gratis zur Verfügung und der Bertl bot sich an, die Moderation zu machen, was aber von Johann mit den Worten „das mach ich selbst“ abgelehnt wurde.

Nachdem der Johann kurz begrüßt hatte, bat er den Toni, die Lichter auszumachen, was dieser auch tat. Nun zeigte der Johann seine „Präsentation“, wie er das nannte. Bilder, Tabellen, Statistiken, die er gestern und heute mit Stift auf Folien malte und die nun mit Hilfe des Overhead-Projektors an die Wand des Mehrzwecksaales geworfen wurden. Aus wie viel Ländern die EU besteht und wo Brüssel liegt und wie viel Geld die EU Jahr für Jahr vergibt und wie viel die zu erwartenden sechs Millionen Euro sind … wurde da anschaulichst mittels Diagrammen gezeigt. Manch einer der Dörfler staunte nicht schlecht ob dem, was ihm da vermittelt wurde. Auf der anderen Seite gab es aber auch einige, die – schließlich lag ein anstrengender Wochentag hinter ihnen – in tiefen Schlaf verfielen und nach rund dreißig Minuten relativ abrupt aus ihren Träumen gerissen wurden. „Licht an!“, rief der Johann und der Toni drehte die Lichter des Mehrzwecksaales wieder auf. „So“, sagte der Johann, nachdem es wieder hell war im Mehrzwecksaal, „jetzt geht es um die Gruppeneinteilung. Ich hab da vier große Blatt Papier aufgehängt. Das sind die vier Gruppen. Die Gruppe Willi, die Gruppe Bertl, die Gruppe Toni und die Gruppe Johann. Da vorne liegen Filzstifte. Jeder von euch tragt sich bei der Gruppe ein, in der er mitarbeiten will. Ihr könnt euch auch in zwei, drei oder allen vier Gruppen zur Mitarbeit eintragen. Also, auf geht’s!“. Nachdem es zuvor, bei der Johann’schen Präsentation, absolut still war (bis auf die zarten Schnarchgeräusche), kam jetzt Leben in den Mehrzwecksaal. Die einen überlegten laut, in welcher Gruppe sie wohl mitarbeiten sollen, andere waren sich bereits sicher, standen auf und gingen sich eintragen und wieder andere sprachen vom großen Durst, der sie quäle und deckten sich mit Getränken ein. Nachdem nach rund einer halben Stunde und zahlreichen Zwischenfragen die an Willi, Bertl und Toni, vor allem aber an den Johann gestellt wurden, die Gruppenblätter ziemlich vollgeschrieben waren, sich offensichtlich alle eingetragen hatten und der Großteil der Dörfler wieder auf ihren Plätzen saß, klatschte der Bürgermeister in die Hände und bat die noch herum stehenden Dörfler auch Platz zu nehmen. „Also. Jetzt hätten mir die Gruppeneinteilung beisammen. Die Gruppe Willi – Handel, Wirtschaft, Frauen und Senioren – trifft sich jeden Montag von neunzehn bis einundzwanzig Uhr. Die Gruppe Bertl – Tourismus, Kultur, Teichwirtschaft und Blumenschmuck – jeden Dienstag. Die Gruppe Toni – Landwirtschaft und Natur, Jugendschutz und Schnapsbrennerei – jeden Mittwoch. Und die Gruppe Johann, also meine Gruppe, die Gruppe Sport und Familie, Zukunft und Geldbeschaffung, die trifft sich jeden Donnerstag“. Wieder kam es zu einigen Diskussionen, denn der eine konnte am Montag nicht, weil da auch das Treffen der Freunde einer traditionellen Krippenbauweise in der Nachbargemeinde stattfand und der andere hatte am Mittwoch keine Zeit, weil an diesem Tag in der Bezirkshauptstadt der Englischkurs für Anfänger stattfand, an dem er, wie er stolz betonte, seit letztem Monat teilnehme. Der Bertl, nie um einen gute Idee verlegen, schließlich gründete er vor Jahren die heimischen Kulturtage und war stets um kreative Lösungen bemüht, wollte schon den Vorschlag machen, dass man die eine oder andere Gruppe doch auch zusammen legen könne. Doch kaum dass er ansetzte, traf ihn „der böse Blick des Bürgermeisters“, wie man das im Dorf nannte, wenn der Johann nicht durch seine Brille, sondern über den Rand seiner Brille hinweg sein Gegenüber ansah. Also schwieg der Bertl und der Johann meinte lapidar, dass der, der an einem bestimmten Tag nicht Zeit hätte, sich halt in einer anderen Gruppe eintragen solle. „Mir müssen jetzt effektiv arbeiten und uns nicht von Kleinigkeiten abbringen lassen!“, sagte er mit Nachdruck. Und nach einigem hin und her war das Problem der Gruppeneinteilung endgültig gelöst und rundum herrschte ein Gefühl der Zufriedenheit.

In dieses Gefühl der allgemeinen Zufriedenheit hinein setze der Johann nach. Auch das hatte er beim Rhetorik-Seminar gelernt: Zufriedenheit, Glücksgefühl bei den Zuhörern schaffen und dann wichtige Botschaften rüber bringen! „Mir haben gestern bei der Gemeinderatssitzung auf meinen dringlichen Antrag hin beschlossen, die sechs Millionen Euro, die mir von der EU zu kriegen haben, vorweg als Darlehen aufzunehmen, damit mir sofort und ohne Verzögerung zu arbeiten beginnen können“. „Wau!“, tönte es durch die Mehrzweckhalle. Und „Trotti!“ und „Wahnsinn!“ und „Bist deppert!“. Und manchem tat es sicherlich leid, dass er gestern die Gemeinderatssitzung frühzeitig verließ und dieses historische Ereignis nicht direkt miterleben konnte. „Weil“, fuhr der Bürgermeister fort, „weil das mit den EU-Geldern, auch wenn mir den Antrag heute schon weggeschickt haben, das kann Monate dauern, bis es kommt. Und mir müssen jetzt tun und arbeiten und nicht, wenn es zu spät ist. Hier und heute müssen mir unsere Schanze nutzen und nicht erst in einem Jahre, wenn das Europa-Projekt schon abgeschlossen ist!“. „Eh, klar“, „jawohl“, „richtig“ klang es aus den Zuhörerreihen. „Mir werden auf unseren Mehrzwecksaal samt Gemeindeamt und Parkplätzen und Inventar sowie auf unsere Gemeindeteichanlagen und unser Hoffnungsgrundstück in den Saubacher Auen ein Darlehen aufnehmen. Weil das aber noch nicht ganz reicht, haben mir Gemeinderäte, bis auf einen“ - wobei er dieses „bis auf einen“ ganz gezielt betonte - „bis auf einen beschlossen, dass jeder von uns ein Haftungsdarlehen von 10.000, -- Euro übernimmt!“. „Bravo“, riefen einzelne, „großartig“ andere und „der Kleinbauer Franz, der Arsch und Verräter“ wieder andere. „Weil das aber immer noch nicht ganz reicht“, fuhr der Bürgermeister fort, „hat der Gemeinderat beschlossen, dass auch jeder Gemeindebürger ein Haftungsdarlehen von 1.000,-- Euro übernimmt“. Es wurde still im Mehrzwecksaal des Dorfes. „Ich hab sechs Kinder und der Schwiegervater und die Schwiegermutter leben auch bei mir. Das wären ja 10.000, -- Euro, bist deppert!“, meinte der Leitner Karl. Und: „Wo soll ich 6.000, -- Euro auftreiben!“, rief der Schuster Fritz. Und: „Vor einem halben Jahr habt’s den Besamungszuschuss gekürzt und jetzt wollt’s auch noch Bares, spinnt’s!“, ereiferte sich der Schlosser Ferdl. „Nanana! Nix da! Hört zu!“, rief der Bürgermeister zu Besonnenheit. „Keiner braucht was zahlen!“, beruhigte er die Gemüter. „Es geht ja nur um eine Sicherheit für ein garantiert erfolgreiches Projekt. Erstens einmal wird nur der von euch für diese Sicherheit garantieren, der ein eigenes Einkommen hat. Und zweitens einmal, und das ist das Tolle dabei, wird jeder von euch, der die Ausfallshaftung übernimmt, am Gewinn des Projektes beteiligt sein. So wird das Ganze für jeden von uns zu einem riesigen Geschäft. Mir unterschreiben faktisch bloß ein Stück Papier, eine Ausfallshaftung, müssen keinen Groschen in die Hand nehmen und nach zwei, drei Jahren, wenn das Projekt läuft, streifen mir die Marie ein. So einfach ist das Ganze! Ohne jedes Risiko!“. Nach einigem hin und her beruhigten sich die Gemüter und die Dörfler hatten durch die Bank erkannt, welch Möglichkeit sich ihnen durch die Beteiligung bot. „Das ist wie eine große Aktiengesellschaft, die Ausfallshaftung ist nichts anderes wie eine Aktie, mir alle werden zu Aktionären“, legte der Willi, der Altbürgermeister, nach, der als gelernter Einzelhandelskaufmann und jahrelanger Betreiber des Dorfkaufhauses von den Dörflern als Kenner der Materie geachtet und geschätzt wurde und der mit seiner Wortmeldung die letzten Zweifler überzeugte. So mussten der Johann, der Toni, der Bertl und der Willi nur mehr die vorbereiteten Formblätter zur Leistung der Unterschrift austeilen und dann – nachdem die Dörfler ihren Namen zu Papier brachten – diese wieder einsammeln. Der Johann bedankte sich. Kurz, knapp, bündig, wie er es beim Rhetorikseminar gelernt hatte: „Ich denke, mir haben heute gemeinsam einen Meilenstein in der Geschichte unseres Ortes gesetzt. Und bin überzeugt, dass mir mit dieser Maßnahme einen bedeutenden Schritt Richtung Zukunft gehen. Möge unser Werk gelingen. Glück auf und gute Nacht!“. In den allgemeinen Applaus hinein holte er sich vom Ausschank eine Flasche Apfelbrand, der Toni, der Bertl und der Willi nahmen Schnapsgläser und gemeinsam gingen sie durch die Reihen und tranken mit den Dörflern auf ihr gemeinsames Projekt: auf das schönste Dorf im ländlichen Raum. Weil aber Wochentag war und die meisten Dörfler am nächsten Morgen früh aus den Federn mussten, lichtete sich der Mehrzwecksaal ziemlich bald. Nur der Willi, der Bertl, der Toni und der Johann blieben noch eine Zeit lang sitzen und tranken den einen und anderen Schnaps auf den großartigen Erfolg des heutigen Tages und das Gelingen ihres Werkes.

Die Arbeitsgruppen liefen bestens an. Nicht nur die, die sich bei der Auftaktveranstaltung eingetragen hatten, kamen. Vielfach brachten sie auch Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde mit, die am besagten Dienstag keine Zeit hatten. Und auch die wenigen Dörflern, an denen die Sache bisher spurlos vorüber ging, hatten in der Zwischenzeit von dem Europa-Projekt erfahren und gar mancher von ihnen kam nun ebenfalls zu den Arbeitsgruppen. Richtige Aufbruchstimmung herrschte im Dorf. Und wo immer sich zwei Dörfler und mehr trafen, wurden Ideen entwickelt, wie man zum schönsten Dorf im ländlichen Raum werden könnte.

Die „Arbeitsgruppe Willi“, die sich mit dem Themenkreis „Handel, Wirtschaft, Frauen und Senioren“ beschäftigte, wurde – wie schon der Name sagt – von Willi, dem ältesten der Altbürgermeister gelenkt und geleitet. Der Willi hatte sich deshalb zur Übernahme der Seniorenbelange überreden lassen, weil er selbst schon in ein gewisses Alter gekommen war, am linken Ohr leicht hinkte und bei den älteren Dörfler die besten Imagewerte hatte, wie eine im Vorjahr durchgeführte Umfrage belegte. Aus ähnlichen Überlegungen wurden ihm auch die Belange „Frauen“ zugeteilt. Willi hatte nämlich in seinen jüngeren Jahren den Ruf des Weiberers. Kaum eine der Dorffrauen, die – so munkelte man – nicht ein Gspusi mit ihm hatte. Aber geredet und gemunkelt wurd halt viel im Dorf. Und sicherlich war wenigstens die Hälfte von dem, was man sich so erzählte, falsch. Denn bei dem, was dem Willi alles so an Verhältnissen angedichtet wurde, müsste dieser schon längst über den Jordan gegangen sein.

Frauen und Senioren spielten aber in der Startphase der Gruppe Willi kaum eine Rolle. Mit der Ausnahme, dass in der Gruppe selbst relativ viele Frauen und Senioren dabei waren. Aber thematisch stand eindeutig der Wirtschaftsmoment im Vordergrund. Und die Frage, was man tun könnte, um diesen zu beleben. Und was die heimische Wirtschaft dazu beitragen könnte, dass man zum schönsten Dorf wird. Das Problem war nur, dass es diese Wirtschaft im Dorf kaum gab, dass die Dorfwirtschaft vor allem aus der Landwirtschaft bestand. Außer dieser gab es so gut wie nichts mehr. Da war noch der Gemischtwarenhandel vom Willi, der Kirchenwirt, die Schusterei vom alten Adi und die kleine Schreinerwerkstatt vom Holzner. Wobei der alte Adi schon auf die achtzig zuging und seine Schusterwerkstatt aus dem kleinen Kammerl neben der Küche bestand. Auch lieferte er längst schon keine Steuern mehr ab, denn wenn er in der Woche vielleicht einen Schuh eines Dörflers reparierte, dann verlangte er dafür nichts und man brachte ihm als Gegenleistung eine Binde Speck oder ein paar Eier vorbei. „Mit der Schusterei vom Fritz sollten mir in unseren Zukunftsüberlegungen nicht rechnen“, meinte denn auch der Willi, als die Arbeitsgruppe bei einem ersten Treffen eine Bestandserhebung über wirtschaftliche Stärken und Schwächen durchführte. Ähnliches galt für die Schreinerwerkstätte des Holzner. Und das nicht nur, weil der Holzner „an Zuagraster“ (ein Zugeraster) war, der sich vor acht Jahren am Dorfrand ein Häuschen baute und dort im Keller eine kleine Schreinerwerkstatt einrichtete. Auch weil der Holzner diese Schreinerwerkstätte nur nebenbei, faktisch als Hobby betrieb und hauptberuflich in der Bezirksstadt die Holzabteilung eines Baumarktes leitete. „Aber reden kann man mit ihm ja mal“, meinte der Willi, wobei nicht einmal er selbst so recht daran glaubte, denn der Holzner war ein ziemlicher Eigenbrötler, den man höchst selten im Dorf zu Gesichte bekam. Blieb noch der Kirchenwirt und das Geschäft vom Willi.

Die Gemischtwarenhandlung vom Willi war ein Laden, in dem man beinah alles erhielt, was man im Dorfalltag so brauchte. Mehr aber auch nicht. Und so nutzten viele der Dörfler den freien Samstag, um sich in den größeren Kaufhäusern der Bezirksstadt mit dem Notwendigsten einzudecken. Und schauten beim Willi meist nur dann vorbei, wenn sie in der Bezirksstadt etwas vergessen hatten oder wenn ihnen das eine oder andere Produkt ausgegangen war. Wenn also die Mama einen Kuchen backen wollte und drauf kam, dass sie einen bedeutenden Teil nicht Zuhause hatte: „geh, Franzl, lauf schnell zum Willi rüber und hol mir eine Germ!“. Oder wenn sich Besuch ankündigte und man merkte, dass kein Wein mehr im Haus: „renn kurz zum Willi und hol einen Doppler vom billigen Weißen!“. Das heißt: der Laden vom Willi war mehr eine Art Nachbarschaftshilfe und ging nicht besonders gut. Und ernährte ihn, seine Frau und seinen Sohn mehr schlecht denn recht. Und öfters saß er, der Willi, mit seinem Sohn, dem Hobbymusiker, der, so wie er selbst, im elterlichen Betrieb Einzelhandelskaufmann gelernt hatte, beisammen und redete mit ihm über mögliche Erneuerungen und Modernisierungen. Und öfters hatten sie tolle Ideen und tolle Pläne, aber auf einen grünen Zweig kamen sie nie, weil hinten und vorne das Geld fehlte. Und es ist durchaus verständlich, dass der Willi und sein Sohn sich Hoffnungen machten, dass ein Teil der Millionen aus dem Europa-Projekt in die Verbesserung der Versorgungsinfrastruktur des Dorfes, sprich in den Ausbau ihres Ladens fließen könnte.

Ähnliche Hoffnungen machte sich übrigens auch der Kirchenwirt-Sepp, der ebenfalls in der Wirtschafts-Gruppe mitarbeitete und sich zusätzlich auch noch in die Liste „Tourismus und Fremdenverkehr“ eintragen hat lassen. Der Kirchenwirt-Sepp betrieb den Dorfgasthof in vierter Generation. In der Zwischenkriegszeit – in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren – soll der Kirchenwirt ein beliebtes Ausflugslokal mit Fremdenzimmern, Tanzsaal und eigener Bäckerei gewesen sein. Aus allen Teilen des Landes und manchmal sogar aus dem Ausland sollen Gäste gekommen sein. „Sommerfrischler“. Von dieser Hochblüte war nichts mehr zu spüren. Der Schankraum und der Saal, in dem – seit es die Mehrzweckhalle gab – nur mehr selten Veranstaltungen durchgeführt wurden, wirkten ziemlich abgelebt, abgenutzt. Erneuerungen wurden in den letzten Jahren so gut wie keine durchgeführt. Und die ehemalige Bäckerei war ebenso verschwunden wie die Fremdenzimmer, in denen eine Zeit lang Flüchtlinge aus Afrika untergebracht waren, was aber von der Dorfbevölkerung rasch abgestellt wurde. Klar, dass unter diesen Gegebenheiten auch der Kirchenwirt-Sepp große Hoffnungen in das Europa-Projekt setzte und sich in Gedanken bereits die eine oder andere Neuinvestition in seinen Betrieb ausmalte.

Natürlich wurde in der Arbeitsgruppe Willi auch überlegt, ob nicht die Huber Resi, eine gelernte Friseuse, ein Wirtschaftsfaktor sei. Schließlich wusch sie fast allen der Dorffrauen den Kopf und drehte ihnen – durchaus gekonnt, aber eben schwarz – die Haare ein. Und auch ob der Max, der Herr Ingenieur, der Einzige im Dorf, der mit dem Computer umgehen konnte und einen Internetanschluss hatte, nicht in die Zukunftsüberlegungen der Wirtschaftsgruppe einfließen sollte. Schließlich ließ man es aber und einigte sich darauf, einen Leitsatz zu formulieren, der schließlich – nach der fünften Arbeitssitzung – folgendermaßen aussah: „Die Zukunft und Schönheit eines Dorfes wird ganz stark von einer starken und lebendigen Wirtschaft geprägt. Darum wollen mir uns mit aller unserer Kraft darum bemühen, die Wirtschaft in unserem Ort zu stärken und zu beleben. Jede und jeder“. Als dieser Satz beim nächsten Gesamttreffen aller am Projekt beteiligten Dörfer präsentiert wurde, gab es dafür große Anerkennung von allen Seiten.

Nicht ganz so produktiv und erfolgreich lief die Arbeit in der Gruppe „Tourismus, Kultur, Blumenschmuck und Teichwirtschaft“ an. Dies wohl auch deshalb, weil der Bertl, der Gruppenleiter, ein ziemlicher Sturkopf sein konnte. Schon beim ersten Treffen stellte er sich vorne hin und erklärte lang und breit, wie er vor fünfundzwanzig Jahren den Blumenschmuckwettbewerb im Dorf ins Leben rief und ausbaute. Und dass er sich den nicht nehmen lasse. Und dass der sowieso das Um und Auf des Europa-Projektes sei. Und dass er deshalb ein Konzept ausgearbeitet habe, wie man noch mehr Blumenschmuck im Ort machen könne. Als während Bertls elendslangem Vortrag einer der Gruppenteilnehmer – leise zwar, aber halt doch hörbar – zu seinem Nachbar flüsterte „der mit seinem Blumenschmuck“, lief der Schädel vom Bertl knallrot an. „Ich hab’s genau gehört!“, zischte er in die Ecke, aus der das Flüstern kam. Und es bedurfte der ganzen Überredungskunst des frühpensionierten Volksschullehrers und jetzigen Vizebürgermeisters – der, wie schon Name und Professionalität (Expädagoge und Freizeitpolitiker) verraten, ein Meister der Beschwichtigung und Konfliktlösung war –, dass der Bertl nicht seine Sachen zusammen packte und davon ging.

Der Bertl war ein Hansdampf in allen Gassen. Wenn ihn einer, der ihn nicht kannte, reden hörte von all den großartigen Sachen, die er in seinem Leben bereits vollbrachte, so musste dieser glauben, dass er den Nobelpreis auf dem Gebiete der Physik, Chemie und Medizin ebenso gewonnen haben musste wie den großen Staatspreis für Kunst und Kultur, einen Oskar und den Orden für Verdienste um Vaterland, Brauchtum, Blumenschmuck und Fischerei. In Punkto Dampfplauderei war er sicherlich der Einzige, der es mit dem Johann aufnehmen konnte. Der Unterschied zum Johann war der, dass er – der Bertl – das glaubte, was er sagte. Folglich war er auch überzeugt davon, dass Blumenschmuck „die einzige Schanze für das Dorf“ sei. Und pochte deshalb vehement darauf, diesen auszubauen und zu intensivieren. „Meine Idee ist die, dass mir zum Schwertliliendorf Europas werden!“. Wohl gab’s in der Gruppe ein paar ältere Weiber, die der Sache durchaus positiv gegenüberstanden … „wenn mir die Zwiebeln gratis kriegen!“. Doch insgesamt machte sich eher Unmut breit über diese „hirnbeschissene Idee“, wie sie von einzelnen genannt wurde. Und wieder bedurfte es des Einfühlungsvermögens und des ausgleichenden Verhandlungsgeschicks des frühpensionierten Volksschullehrers und jetzigen Vizebürgermeisters, dass die Sache nicht in die Hose ging, noch ehe sie richtig zum Laufen kam.

Während also die Gruppe „Tourismus, Kultur, Blumenschmuck und Teichwirtschaft“ mit großen Startschwierigkeiten und internen Kommunikationsproblemen zu kämpfen hatte, war das Problem in der Arbeitsgruppe „Landwirtschaft“ ein völlig anderes, nämlich das von Inaktivität und Resignation. Zwar bemühte sich der Toni, Letztbürgermeister und Gruppenleiter, mit all seiner Größe und Autorität eine positive Grundstimmung in die Gruppe zu bringen. Aber so sehr er sich auch bemühte, so richtig wollte ihm das einfach nicht gelingen. Schon der Einstieg in die Arbeit, als er aus gruppendynamischen Gründen die Anwesenden das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ singen ließ, ging völlig daneben. Wahrscheinlich auch deshalb, weil in dieser Arbeitsgruppe vorrangig ältere Männer saßen. Zwar verirrten sich neben den Altbauern auch der eine und andere jüngere seiner Zunft in die Gruppe und vereinzelt war auch Weibsvolk anwesend, aber das Durchschnittsalter lag doch weit jenseits der fünfzig. Und so konnte man von Beginn an manch EU-kritisches Wort hören und immer wieder die Zweifel und Ängste am Überleben des Bauernstandes. Selbst das Fass Most, das der Toni zu jeder Sitzung mitbrachte und gratis zur Verfügung stellte, konnte die Stimmung nicht so recht heben. Und erst als er sich eines erfolgreichen Animationstricks aus seiner Zeit als Führer der Landjugend erinnerte und die Kassette mit dem Lied vom lustigen Entlein der „Elxenbacher Dorfspatzen“ in den Recorder legte und die Gruppenteilnehmer bat, aufzustehen und mitzuklatschen, erhellten sich die Gemüter und stellte sich eine gewisse Bereitschaft zur Mitarbeit ein.

Wesentlich besser lief es in der vierten Arbeitsgruppe. Kein Wunder, kam doch der Johann, Bürgermeister und Gruppenleiter, mit ganz klaren Vorstellungen zu den einzelnen Sitzungen. Was ihm – das muss der Ehrlichkeit halber gesagt werden – natürlich wesentlich leichter fiel als den anderen Gruppenleitern. Schließlich saß er, der Johann, ja an der Quelle der Information. Und hatte, zwischen seinen Botengängen und Jausenbesorgungsaufträgen, genügend Zeit, diese Informationen zu nutzen und aufzubereiten. So kopierte er mal da, mal dort eine Seite aus einer Informationsbroschüre, machte sich hier eine Notiz und dort eine Anmerkung. Und für jedes Treffen hatte er für die Teilnehmer ein Blatt Papier vorbereitet, auf dem er den Ablauf exakt fixiert hatte. Von Punkt eins „Begrüßung der Teilnehmer“ bis Punkt vier „Fixierung des nächsten Treffens, Dank und Verabschiedung“. Einschließlich eines aktivierenden, der Thematik entsprechenden Einstiegsspruches im Sinne von „auch Abendstund hat Gold im Mund“ oder „Mir alle sind Dorf“. Und einer klaren, deutlichen Zielformulierung, die er – im Gegensatz zum Einstiegsspruch, den er ganz oben auf dem Blatt anbrachte – an das untere Ende des Blattes setzte und die da lautete: „Gemeinsam werden mir es schaffen!“. Oder: „Eine Schanze, die nicht genutzt wird, ist eine verlorene Schanze!“.

Zusätzlich verstand es der Johann bestens, die Gruppenteilnehmer zu motivieren und zu aktivieren. So ließ er – weil das Thema „Sport“ ja ein wichtiger Bestandteil des Projektes war – zu Beginn jedes Treffens die Hofer Leni, eine begeisterte Hobbytänzerin, mit den Gruppenmitgliedern leichte Aufwärmgymnastik machen. Was bestens ankam. Und manchmal stellte er sich selbst hin und praktizierte mit den Teilnehmern einfache Sprach- und Rhetorikübungen. Nichts Kompliziertes. Nur das, was er in dem Tagesseminar damals eben mitbekommen hatte. „Aah“ und „Eeh“ und „Sonne“ und so. Auch wenn sich der eine und andere ob dieser seltsamen Laute an den Kopf griff und hinter Johanns Rücken an die Stirn tippte und den Vogel zeigte, war der Großteil doch mit Eifer und Begeisterung dabei. Wohl auch deshalb, weil der Johann erklärte, dass das Reden ganz, ganz wichtig sei. Für alle und jeden. Und dass er selbst nur so weit kommen konnte, „weil ich mir immer und immer wieder darum bemüht habe“.

Auf der Basis solch eines anregenden, die Kreativität der Teilnehmer durchaus stimulierenden Klimas, entwickelte die Gruppe bald auch gute und brauchbare Ideen. Das vielleicht wichtigste und innovativste Projekt wurde auf Johanns Anregung hin geboren, der – als sich die Gruppe nach einer anregenden Aufwärmgymnastik einmal zu sehr vom Thema entfernte und sich in diesem und jenem verzettelte – die Teilnehmer, nicht böse, aber doch mit deutlichen Worten, daran erinnerte, bei der Sache zu bleiben. „Mir haben die Bereiche Sport und Familie. Bleiben mir dabei. Und verzetteln mir uns nicht“. Und er rief dazu auf, diese beiden Belange – Sport und Familie – miteinander zu verknüpfen, „zu vernetzen“, wie er sagte. „Ich mach mit meiner Familie eh einmal täglich Sport … zumindest mit meiner Frau!“, wollte sich ein Witzbold wichtig machen. Aber noch ehe die Botschaft bei den Gruppenmitgliedern ankam, traf den Zwischenrufer der böse Blick des Bürgermeisters. Und verschämt zog der Störefried den Kopf ein und schwieg. Und nur ein einzelner Teilnehmer konnte es sich nicht verkneifen und stieß, leicht verspätet, ein unterdrücktes „haha“ aus, als das vom Zwischenrufer Geäußerte endlich sein Gehirn erreichte. „Vernetzen mir unser großes Potential in den Bereichen Sport und Familie“, wiederholte der Johann. Und erklärte, nachdem einige Gruppenmitglieder verdattert dreinschauten, was Potential bedeutet. Das heißt: er versuchte es zu erklären. Ganz schaffte er es dann doch nicht. Jedenfalls schlug er, als sich die Wogen geglättet hatten, vor, die Erste Kinderolympiade der Neuzeit ins Leben zu rufen. Das musste man dem Johann lassen: einmal mehr hatte er die Einbringung einer Idee bestens vorbereitet und großartig eingesetzt. Absolut still wurde es nach dieser Ansage und man spürte förmlich, wie es im Kopf jedes einzelnen arbeitete. „Kinderolympiade?“, „Kinderolympiade?“ … „Kinderolympiade!“. Und es dauerte ein paar Sekunden, bis man es rundum murmeln hörte. „Eine grandiose Idee!“. Klar, dass das der frühpensionierte Volksschullehrer und jetzige Vizebürgermeister war, der auch in der Sport- und Familiengruppe mitarbeitete. Denn ‚grandios’ war ein Wort, das nur seinem Sprachschatz entspringen konnte. Kein anderer Dörfler, nicht einmal der in der Landesregierung beschäftigte und rhetorisch geschulte Johann verfügte über derlei feine Ausdrucksformen und solch geschliffene, messerscharfe Formulierungsmöglichkeiten. „Toll“, „Klass“, „Super“, sagten die anderen. Und gemeinsam begann man das von Johann vorgeschlagene Konzept rund um Sackhüpfen, Stiefelweitwerfen, Kürbisrollen und Zwetschkenkernspucken im Detail auszuarbeiten und zu Papier zu bringen.

Während die vier Arbeitsgruppen also werkten und wirkten – die einen mehr, die anderen weniger produktiv – und sich Woche für Woche zu Sitzungen trafen, versammelte der Kleinbauer Franz – der Anführer der Dorfopposition – sein kleines Häuflein Aufrechter ebenfalls um sich. Einmal in der Woche trafen sich auch der Edi, der Karl und der Fritz in der Stube vom Franz. Und besprachen – während die Frau vom Franz Brote strich und Most und Schnaps holte – den Stand der Dinge und die weitere Vorgehensweise. „Ein Wahnsinn“, klärte der Franz seine Mitstreiter auf. „Sechs Mille Kredit! Auf Jahrzehnte haben mir uns verschuldet!“. „Wenn’s aber ein Erfolg wird?“, warf der Karl ein. Der Karl, muss man wissen, war – zum Unterschied von den drei anderen – kein wirklicher Revolutionär. Vielmehr war er einer, der immer und stets auf Harmonie und Ausgleich aus war. Mit anderen Worten: ein falscher Hund, ein hinterhältiger, der einem ganz schön Honig ums Maul schmieren konnte. „Bloß nichts Böses sagen“, war seine Devise. „Und ja keinen beleidigen“. Aber hinten rum! Naja. In die Gruppe der Dorfopposition wurde er eigentlich nur mangels Alternativen aufgenommen. Bei der letzten Mitgliederwerbeaktion, bei der der Franz und seine zwei Getreuen gar manchen Hof im Ort, in dem sie Hoffnungskandidaten vermuteten, aufsuchten, war der Karl der Einzige, der sie nicht gleich schon mit Schimpf und Schande von seinem Grund und Boden vertrieb. „Kommt’s nur, setzen mir uns rein und trinken mir einen“, bat er sie ins Haus. Erst viel später erkannte der Franz, dass der Karl eigentlich einer von der anderen Seite war und viel eher zur dörflichen Regierungsmannschaft tendierte, von dieser aber nicht akzeptiert wurde, weil er einst ein Techtelmechtel mit Johanns Gattin hatte. „Er oder ich“, hatte der Johann damals der versammelten Führungsmannschaft hingeworfen. Und natürlich entschied sich diese für den Johann und lehnte die Mitgliedschaft von Karl mit Nachdruck ab. Seither hat der Karl „eine fürchterliche Wut auf die Bagasch“, wie er dem Franz, dem Edi und dem Fritz gegenüber betonte. Gleichzeitig wollte er es sich mit ihr aber doch nicht ganz verderben. Man wusste ja nie. Und so wär’s ihm durchaus lieber gewesen, die Oppositionsmannschaft hätte beim Europa-Projekt mitgearbeitet, statt sich dagegen zu stemmen. „Wie soll denn das ein Erfolg werden? Mir wissen ja nicht einmal, ob mir von der EU überhaupt einen Groschen kriegen!“, echauffierte sich der Franz. Aber der Karl ließ vorerst nicht locker: „Sollte man ihnen nicht wenigstens eine Schanze geben?“. „Schanze, Schanze, Schanze!“, mischte sich jetzt der Edi stimmgewaltig ins Gespräch. „Entweder mir sind Opposition oder mir sind nicht Opposition. Bloß am Montag auf den Tisch hauen und den Rest der Woche Händchen halten gibt’s nicht!“. Ob dieser deutlichen Worte vom Edi Richtung Karl schwieg dieser den Rest des Abends beleidigt und es brauchte fünf Schnäpse, ehe er seine „destruktive Haltung“ – wie der Edi sie nannte – endlich aufgab.

Der Edi war der Denker in der Gruppe der Dorfoppositionellen. Als Betriebsrat eines Stanzwerkes in der Bezirkshauptstadt war er immer wieder auf Schulungen und hatte sich dabei ein breites politisches Wissen angeeignet. Der Edi schrieb die ganzen Reden für den Franz, formulierte für ihn die Anträge im Gemeinderat und bereitete inhaltlich alles auf, was an die Öffentlichkeit, an die Dorfbevölkerung ging. Wohl schlichen sich, weil der Edi zwar ein gestandener Gewerkschafter aber kein Deutschprofessor war, in die Botschaften der Opposition immer wieder mal Tipp- und Rechtschreibfehler ein. Weil aber auch in den Aussendungen der heimischen Regierungspartei öfters mal zu einer Fersammlung geladen und zur Mühltrennung aufgefordert wurde, fiel das keinem im Dorf weiters auf. „Mir müssen ein Informationsschreiben an die Bevölkerung raus lassen!“, meinte der Edi. Der Fritz, der bis zu diesem Zeitpunkte nichts gesagt hatte und nur da saß, gab dem Edi recht: „Richtig!“. Und der Edi nahm daraufhin den Block, den er vor sich liegen hatte und den Kugelschreiben und schrieb dick und fett „Skandal“ quer über das oberste Blatt. „Einen Aufhänger brauchen mir, einen richtigen Aufhänger!“, betonte er dabei. Und gemeinsam begannen die drei – der Franz, der Edi und der Fritz – das „Informationsschreiben an die Bevölkerung unseres Dorfes“ zu formulieren und zu gestalten. Und nach dem fünften Schnaps und langem Zureden machte auch der Karl mit.

Als dieses Informationsschreiben in die Häuser des Dorfes kam, war die Hölle los. Das heißt: eigentlich war sie schon vorher los. Oder besser: wurde sie zuvor schon aufgeheizt, die Hölle. Denn noch an dem Tag, als der Edi das Blatt in der Bezirksstadt kopieren hat lassen und beim dortigen Postamt aufgab, hatte der Johann, der Bürgermeister, schon ein Exemplar davon in der Hand. Druckfrisch, sozusagen. Denn der Postamtsleiter war nicht nur ein Sport-, sondern auch ein Parteikollege. Und weil sich – wie es im ländlichen Raum so schön heißt – Kollegen kollegial verhalten, fühlte er sich geradezu verpflichtet, den Johann vorab von dieser „gemeinen Sauerei“ zu informieren. Besser, ich verletz ein klein wenig das Amtsgeheimnis, als ich geh das Risiko ein, dass mein Freund ob dieser Überraschung vom Schlag getroffen wird, sagte er sich.

Der Johann selbst war ob dieses Schreibens gar nicht so sehr überrascht. Er habe mit so was gerechnet, meinte er. „Mir kennen ja unsere Pappenheimer!“. Fast hatte man den Eindruck, als hätte er darauf nur gewartet, als wäre eingetroffen, was er heimlich erhoffte, so gelassen schien er. Und als gehörte die Vorgehensweise zu seinem Plan, bat er seinen Freund, den Postamtsleiter, die Aussendung noch einen Tag zurück zu halten, damit er die entsprechenden Schritte einleiten könne. Was der Parteikollege gerne machte. „Für dich Johann, immer!“. Für den nächsten Abend rief der Johann sein achtköpfiges Regierungsteam plus Willi, Bertl und Toni zusammen, hielt diesen das Pamphlet des Kleinbauers und seiner Freunde unter die Nase und erläuterte, was nun zu tun sei. Und er zog ein wunderschön gestaltetes Blatt Papier aus seiner Mappe, auf dem von Zukunft und Hoffnung und Sonnenschein die Rede war und machte seinen Mannen klar, dass dieses Blatt noch heute Nacht in jedes Haus des Dorfes zu tragen sei.

So fiel den Dorfbewohnern am nächsten Morgen an der Haustür ein Schreiben in die Hand, in dem unter der Überschrift „Einer glücklichen Zukunft entgegen!“ die bisher großartig geleisteten Arbeiten der Projektgruppen aufgelistet, die bereits fixierten Aktionen beschrieben und die Zukunft der Gemeinde in den schönsten Worten skizziert wurde. Einschließlich eines vom frühpensionierten Volksschullehrer und jetzigen Vizebürgermeister verfassten Gedichtes „Mütterlein“ und des herzlichen und aufrichtigen Dankes an alle, die bisher so engagiert und großartig zu dieser wunderbaren Sache beigetragen haben. Die meisten Dörfler waren zutiefst gerührt ob dieser Zeilen und dem Dank, der ihnen ausgesprochen wurde. Und in eben diese wirklich zu Herzen gehende Hochstimmung, die sich von Hof zu Hof ausbreitete und beinah über das ganze Dorf legte, wurde vom Postzusteller des Dorfes zwei, drei Stunden später ein Schreiben völlig konträren Inhalts ins Haus gebracht. Da war von Skandal und Verschuldung und Chaos die Rede. Wohl musste der eine und andere Dörfler vier, fünf Mal und öfters über das Blatt lesen, ehe ihm bewusst wurde, was da gespielt wurde. Dem Großteil aber war sofort klar, was für eine hundsgemeine Schweinerei da ablief.

Schon seit ewigen Zeiten nicht mehr waren im Gemischtwarenladen vom Willi und seinem Sohn an einem ganz gewöhnlichen Wochentag so viele Dörfler wie an diesem Mittwoch. Und der Schankraum vom Kirchenwirt war ebenfalls gerammelt voll. Kaum einen der Dörfler hielt es ob diesem hinterhältigen, lumpenträchtigen Schreiben auf seinem Hof. Wer nicht gerade in der Bezirksstadt bei seiner Arbeit war, drängte ins Dorfzentrum, sich auszutauschen, Druck abzulassen, seine Wut mit anderen zu teilen. „Die Sau, die elende!“, hörte man. „So ein fieser Dreckskerl!“. „Den Schwanz müsst man ihr abschneiden, der Bagasch!“. „Wenn mir die unterkommen, wenn ich einen von denen in die Finger krieg, Gott sei ihm gnädig!“. Wie gesagt: die Hölle war los im Dorf. Nicht nur die Mannsbilder griffen zu deftigen Worten, auch mancher der Dorffrauen entfuhren Begriffe, die man diesen niemals zugetraut hätte. „Einen Strick um die Eier und aufgehängt!“ und „Einen Stein um den Hals und in die Sickergrub!“ waren noch die harmlosesten der Ausdrücke.

Es war wohl kaum ein Zufall, dass der Johann, der Bürgermeister, an diesem Tag Urlaub hatte. Zwar meinte er gegenüber den Dörflern, dass er bei dem Stress in der Landesregierung einfach mal einen Tag zur Erholung brauche, doch war recht eigenartig, dass diese Erholung damit begann, dass er um sieben am Morgen, kaum dass der Kirchenwirt aufsperrte, schon an dessen Theke stand. Den Dörflern aber schien das keineswegs eigenartig. Im Gegenteil: Mitleid hatten sie mit dem armen, stressgeplagten Menschen. Nicht nur wegen des Stresses in seiner Arbeit, auch wegen dieses beleidigenden Schreibens, das ihn doch sicher schwer getroffen haben musste. Immer wieder traten welche näher, klopften ihm auf die Schulter und meinten „Sauerei“ und „Frechheit“ und „Gemeinheit“. Und sagten dann: „Kopf hoch“ und „ja nicht unterkriegen lassen“ und „jetzt erst recht!“.

Im Gemischtwarenhandel vom Willi standen der Bertl und der Toni an der Wurst- und Fleischtheke, hinter welcher der Chef, der Altbürgermeister, die Stellung hielt. Alle drei hatten sie eine Flasche Bier in der Hand und prosteten sich zu. „Gut ist’s gegangen“ und „ein schlauer Kopf ist er schon, der Johann“, philosophierten sie. Der frühpensionierte Volksschullehrer und jetzige Vizebürgermeister, der zu den dreien stieß, meinte, dass es solch eine Aufbruchstimmung im Dorf noch nie gegeben hätte und dass die Gunst der Stunde günstig sei, jetzt mit der Bevölkerung gemeinsam ganz Großes zu schaffen. Als sich diese Aufbruchstimmung im Laden des Willi aber immer mehr aufheizte und eine größere Gruppe bereits davon sprach, dem Kleinbauer, der Sau, den Hof anzuzünden, wusste der Vizebürgermeister, dass die Aufbruchstimmung zu weit ging und außer Kontrolle zu geraten drohte. Und wieder einmal setzte er all seine Fähigkeiten und Künste der Mediation ein und beruhigte die Gemüter. Und ging dann rüber zum Kirchenwirt, wo er sein beim Willi begonnenes Werk fortsetze.

Der Johann selbst hielt sich aus der ganzen Diskussion um dieses hundsgemeine Schreiben geschickt heraus. Vielmehr genoss er das Mitleid, das ihm – ob dieses beleidigenden Fetzen Papiers – von allen Seiten entgegenströmte. Es war genauso, wie es der Trainer beim Rhetorikseminar gesagt hatte: nie den Mitbewerber beschimpfen und schlecht machen – vielmehr sich von diesem beschimpfen und schlecht machen lassen … dann fliegen einem die Herzen zu! Und so sprach er – statt über den Kleinbauer und seine Mannen zu schimpfen – davon, dass „mir, die mir was weiterbringen wollen, halt immer Neider haben“ und dass es in der Natur der Sache läge, dass „mir große Männer öfters mal hinterrücks verlogen werden“. Und nutzte die Möglichkeit, den einen und anderen der Dörfler, der bisher noch nicht in einer der vier Arbeitsgruppen mitwirkte, für die nächsten Treffen zu gewinnen und die Dörfler nochmals und mit Nachdruck „von der Schanze, die mir haben“ zu überzeugen. Und hätte es an diesem Tag eine politische Umfrage im Dorf gegeben, der Johann hätte Werte eingefahren, wie man sie bisher bei Umfragen noch nie gekannt hatte. Und der Kleinbauer Franz hätte sich ob seiner Werte die Kugel geben müssen.

Weil es diese Umfrage aber nicht gab, schaute der Kleinbauer Franz am Nachmittag, als er nach einer anstrengenden Frühschicht ins Dorf heimkehrte, noch schnell auf ein Bier beim Kirchenwirt vorbei. Hoffend darauf, dass ob seines Schreibens den Dörflern ein Licht aufgegangen sei und er den einen und anderen Mitkämpfer für die Sache der Gerechtigkeit gewinnen könne. Wohl war er überrascht, dass im Dorf so viel Leben und der Schankraum vom Kirchenwirt so voll war. Weil er aber vom Schreiben der Regierungspartei keine Ahnung hatte, dachte er sich nichts weiter, trat relativ frohgelaunt an einen der Tische und fragte – der Form halber, wie er das immer tat – ob wohl noch ein Platzerl frei sei. „Nix da, schleich di!“, zog ihm der Kraxner Max, mit dem er sonst durchaus freundschaftlich verkehrte, den Stuhl weg. Der Kleinbauer Franz glaubte an einen Scherz, an einen Spaß, wie er öfters vorkam. Aber das Geschau, der Blick der Männer sah gar nicht danach aus. Im Gegenteil: „Verräter“, „Judas“, „Drecksau“ kam es. Und als der Kleinbauer Franz sich umdrehte und durch den Raum schaute, merkte er, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Und dass diese Blicke nichts Gutes verhießen, sondern von Hass und Abscheu erfüllt waren. „Was ist denn, was habt’s, was wollt’s …“ setzte der Franz an. Aber kaum dass er den Mund aufmachte, standen einzelne Dörfler – vom vielen Bier stark und leicht schwankend – auf und bewegten sich auf den Franz zu. Und der Vizebürgermeister hatte alle Hände voll zu tun, die Gemüter zu beruhigen und dem Kleinbauer Franz einen körperlich unversehrten Rückzug aus der Gaststube des Kirchenwirtes zu ermöglichen.

Zuhause stand die Frau vom Kleinbauer Franz am Küchenherd und wärmte – wie jeden Werktag während der Frühschichtwoche – für ihren Mann das Mittagessen auf. Dabei beutelte es ihren Körper und als sie sich umdrehte und dem Franz den Teller mit saurer Suppe hinstellte, merkte dieser, dass ihr Tränen in den Augen standen. Trotzdem wurde nicht viel geredet. Wort- aber nicht geräuschlos begann der Franz die Suppe zu löffeln. Sein Frau nahm von der Anrichte die dort liegenden Blätter und knallte sie dem Franz neben dem Suppenteller auf den Tisch, rannte dann mit einem Aufschluchzen aus der Küche und sperrte sich im Klo ein, wo sie – ohne dass sie weder dick noch dünn hätte müssen – mehr als eine halbe Stunde blieb. Der Franz löffelte weiter die Suppe und las dabei die vor ihm beziehungsweise neben seinem Teller liegenden Blätter. Sein eigenes Schreiben, das heißt, das vom Edi verfasste Schreiben las er ebenso nochmals durch wie das Schreiben des Bürgermeisters an die Bevölkerung des Dorfes. Und jetzt erst wusste er die bösen Blicke und das Geschimpfe beim Kirchenwirt richtig zu deuten. Er las das Bürgermeisterschreiben zwei, drei Mal und murmelte dabei in seinen nicht vorhandenen Bart rein. Und man musste schon genau hinhören, um sein „der falsche Fuffziger“ und sein „der verlogene Kerl“ verstehen zu können. Der Kleinbauer Franz blätterte weiter in den Papieren, die ihm seine Frau neben den Suppenteller hingeworfen hatte. Und er las die handgeschriebenen Zettel, auf denen es hieß, dass er sich in Acht nehmen soll, dass er ein hundsgemeiner Verräter sei, dass er sein Verhalten schon bald bereuen werde. „Mir lassen uns von dir unser schönes Dorf nicht madig machen, du Lump!“ und „Wenn mir dich in der Nacht derwischen!“, stand da in teilweise äußerst schwer leserlicher Handschrift. Und allmählich wurde ihm klar, dass diese Worte niemand anderem als ihm galten. Und ein klein wenig verstand er jetzt auch das Verhalten seiner Frau. Zwischen all diesen Meinungsäußerungen einzelner Dorfbewohner befand sich – ebenfalls handschriftlich – ein Schreiben seines Mitstreiters und Parteikollegen Karl, der ganz förmlich und offiziell – „Sehr geehrter Herr Kleinbauer! Sehr geehrte Herren des Ortsparteivorstandes“ – seinen Austritt aus der Partei kundtat und sich „mit Nachdruck und aller Entschiedenheit“ – von dem Schreiben, an dem er vorgestern Abend selbst mitgearbeitet hatte, distanzierte. „Weil das Ganze unter dem Einfluss von fünf Schnaps und unter Druck der Herren Franz, Edi und Fritz zustande kam“, wie er in seinem Schreiben klar stellte. Da – wie gesagt – der Franz ohnehin nicht sehr viel vom Karl hielt und ihn „als schwächstes Glied in der Kette der Opposition“ bezeichnete, tat ihm dieser Parteiaustritt nicht unbedingt weh. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, wie er seine Frau aus dem Klo rauslocken und ihr klar machen konnte, dass politische Arbeit – vor allem in der Opposition – kein Honiglecken sei und dass Politiker halt immer wieder und ganz zwangsläufig im Kreuzfeuer der Kritik stehen. Und während er fieberhaft überlegte, wie er seiner Frau die Butterseiten des politischen Tuns nahe bringen sollte, hörte er, wie draußen die Klotür entriegelt wurde. Der Franz stand vom Tisch auf. Seine Frau trat in die Küche, zog die Nase hoch und wischte sich mit den Handrücken die Tränen aus den Augen. Und beide fielen sich in die Arme und drücken fest ihre Leiber gegeneinander.

Nach diesem „Mittwoch des Verrates“ – als der er in die Dorfgeschichte einging – entwickelte sich im Ort ein Gefühl des gestärkten Miteinanders und der neuen Solidarität. „Mir sind Dorf – das Dorf sind mir!“ wurde zur allgemeinen Parole. Wer nicht durch Krankheit, berufliche Tätigkeiten oder andere dringliche Verpflichtungen verhindert war, war in den Arbeitsgruppen vertreten und trug das seine zum Projekt „Mir werden zum schönsten Dorf des ländlichen Raumes“ bei. Selbst dem Karl, diesem Opportunisten, der stets dort anzutreffen war, wo er den größten persönlichen Vorteil hatte, wurde – nachdem er der Kleinbauer-Gruppe öffentlich abgeschworen und sich vom Verräterschreiben per eidesstattlicher Erklärung distanziert hatte – die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Tourismus“ erlaubt. „Mir schließen keinen aus und ermöglichen jedem, dem mal ein Fehler unterlaufen ist, diesen wieder gut zu machen und in der Dorfgemeinschaft mitzuarbeiten“, hatte der frühpensionierte Volksschullehrer und jetzige Vizebürgermeister den internen Parteibeschluss gekonnt wortreich kundgetan.