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Unzeiten. Vier Menschenschicksale aus vier Jahrzehnten. Sommer Johanna. Alleinerzieherin aus dem ärmeren Osten des Landes, arbeitet sich den Winter über im reicheren Westen zu Tode. Herbst Harald. Ein Meister des textilen Gewerbes, erlebt den Niedergang der Branche und geht daran elendiglich zugrunde. Winter Karl. Ein junger Mann, Kind noch fast, ein Produkt des Zufalls, ungeliebt und ungeachtet, opfert sich im Namen Gottes. Lenz Daniel. Ein Knabe, von den Eltern behütet und beschützt, ferngehalten vom Leben, findet dieses in der Sucht. Letztendlich begegnen sich alle vier im Höllenfeuer Lucifers. Wo sie erkennen und zu leben beginnen. Endlich.
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Seitenzahl: 193
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Sie ist schon seit langer Zeit gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft. Möge ihr Gerechtigkeit widerfahren! Möge sie zertrümmert werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zu Grunde ging, wo der Zynismus gedieh, wo der Mensch durch den Menschen exploitiert wurde! Mögen sie von Grund aus zerstört werden, diese übertünchten Grabstätten, wo die Lüge und die Unbilligkeit residierten!
Heinrich Heine: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. 1854.
Sommer
Herbst
Winter
Lenz
Am Montag, in aller Früh, stand die Sommerin in Leoben auf dem Bahnhofsplatz. Neben ihr ein Koffer und eine Reisetasche. Vor einer Stunde schon kam sie mit der Lokalbahn aus ihrem Dorf und wartete jetzt auf den größeren Zug, der sie rausführen sollte, weit in den Westen.
Kurz vor sieben war’s erst. Aber zwischen Halle und Schienensträngen herrschte bereits reges Leben. Schüler entstiegen den Zügen, die kamen. Und Männer und Frauen. Besonders Männer. Die einen lernten hier in der Stadt, die anderen verdienten sich hier ihre Groschen. Die Sommerin stand allein, drüben, auf dem Bahnsteig mit der Nummer drei. Neben ihr der Koffer und die Reisetasche.
Kalt war’s. Die Sommerin stieg von einem Fuß auf den anderen. Und rieb sich zwischendurch die Hände. Ob‘s recht war, die Stelle anzunehmen? Doch, doch. Was auch sollt sie hier? Warten, bis einer dahergekommen wär und gesagt hätt: he, Sommerin, ich hab da eine Arbeit für dich! Nein, nein. Wer weiß, wie lang das noch gedauert hätt. Und was das für eine Arbeit gewesen wär. So hatte sie was Festes, wenigstens für vier Monat. Zwar war‘s nicht allzu viel, was sie da verdienen sollt. Aber dafür hätt sie ja Kost und Logis frei. Sie würd schon was auf die Seit bringen. Und Stubenmädchen, so streng könnt das wohl nicht werden.
Ohne Kraft bemühte sich die Sommerin beiseit zu schieben die Gedanken, die sie quälten. Aber es gelang ihr nicht. Nicht richtig. Dass da was sei, drängte es sich immer wieder vor, was kommen würd. Bald schon. Als wär der Himmel in dunkle Tücher gehüllt, so finster schien der Sommerin alles. Trüb nur und schwach leuchteten ihr die Lichter des Bahnhofs. Am liebsten hätt sie umgedreht, wär sie zurückgefahren, heim in ihr Dorf.
Eine halbe Stunde später saß die Sommerin in einem Zugabteil. Ihr gegenüber eine ältere Frau aus Graz. Dass sie ins Salzburg‘sche fahren würd, zu ihrer Tochter und ihren Enkeln, den vieren, die zwischen drei und zwölf seien und brav und süß und lieb, fiel es aus ihrem Maul, unaufhörlich. Und dann, nachdem die Alte die Sommerin fragte, wohin sie denn fahren würd und wozu und die Sommerin ihr knapp antwortete: na so was, zehn Tag vor Weihnachten wegfahren von Zuhaus, in die Fremde und so weit und für so lange Zeit! Jaja, sagte die Sommerin nur und schwieg dann wieder. Die alte Dame erzählte weiter. Aber die Sommerin hörte nicht, was sie da redete, sah nur das Auf und Ab der Lippen ihr gegenüber. Denn die Sommerin hatte mit sich selbst genug zu tun und nicht die Ruhe für das Geschwätz von Weibern.
Dreiundzwanzig war sie. Ein junges Ding noch und doch schon älter als alt. Mit fünfzehn, gleich den ersten Tag nach ihrer Schulzeit, begann sie ihre Lehre als Verkäuferin. Im einzgen Laden des Dorfes. Der Schmollgruber führte alles, was fürs Leben im Dorf notwendig war. Alles. Von Butter und Mehl über Haushaltsgeräte bis hin zum Wintermantel. Die Sommerin wägte Obst, half beim Anprobieren, verkaufte Nachttöpfe und Rasendünger und führte, in jenen Minuten, in denen sich keiner der Dörfler zum Einkaufen fand, auch noch das Schmollgruber‘sche Kassabuch. Einmal die Woche fuhr sie rein in die Stadt und besuchte die Berufsschule. Weil sie nach ihrer Lehrzeit nichts anderes fand, weil‘s schwer ist in der Gegend als Frau überhaupt Arbeit zu finden, blieb sie weiter beim Schmollgruber, die Sommerin. Für wenig Geld, das gerade zum Überleben reichte. Weil da nicht viel war an Geld, aber doch das bisschen Bedürfnis nach Unterhaltung, ließ sich die Sommerin ihre kleinen Vergnügungen öfters bezahlen. Von diesem oder jenem Burschen des Dorfes, die alle viel, viel mehr verdienten als sie. Dies fiel ihr nicht allzu schwer, weil sie ja ein hübsches Ding war, wie ihr immer wieder versichert wurde. Mit zwanzig war die Sommerin schwanger. Meine Güte, wie schnell so was passiert. Sie war bestimmt alles andere als leichtsinnig, aber es passierte eben. Der Bursch wollte nichts wissen von seiner Vaterschaft, sie nichts von Wegmachen und der Schmollgruber meinte, er könn nicht zwei durchfüttern und sprach von Schande, obgleich er selbst es oft genug bei der jungen Sommerin versucht hatte. Also lebte die Sommerin drei Jahre von Karenzgeld und Familienbeihilfe. „Faules Luder“, hieß es im Dorf. „Lässt sich vom Staat aushalten“. Einzig die Mutter, die zu ihr hielt. Die hatte jetzt auch den Buben, während sie, die Sommerin im Zug saß und weit weg fuhr und für lange Zeit.
Draußen, vor dem Fenster des Abteils, wurd das Weiß immer weißer und dichter. In Schladming standen die Häuser bereits bis zur Nase im Schnee. Früher als gewohnt kam dieses Jahr der Winter. Und heftiger. Als hätt er nur gewartet auf das Kommen der Sommerin, setzte er sich gefräßig auf Dächer und Wiesen, gieriger mit jedem Kilometer, den es weiter in den Westen ging. Einzig einige Raben trotzten hin und wieder den weißen Massen, draußen, vor dem Fenster, hinter dem die Sommerin saß. Die ältere Dame aus Graz strickte und sprach immer wieder auf die Sommerin ein. Aber die Sommerin hörte kaum die Worte, die rauspurzelten da aus dem Maul ihr gegenüber. Ihr Denken galt nicht dem Jetzt. Das Denken der Sommerin weilte im Gestern. Und im Morgen. Bei ihrem Buben und wie‘s wohl werden würd, vier Monate fern ihm, eine ganze Tagesreise lang. Und es hatte nichts Schönes, ihr Denken ans Morgen.
Die Sommerin blickte öfters auf die Uhr. Aber langsam nur verstrichen die Minuten und ewig dauerten die Stunden. Der Weg streckte sich länger als die Kilometer sagten. In Bischofshofen stieg die Dame aus Graz in einen anderen Zug um. Die Sommerin trug ihr den Koffer zur Türe. Die Dame bedankte sich, lachte und wünschte ihr, der Sommerin, viel Spaß in den Bergen. Die Sommerin versuchte zurückzulachen. Aber es gelang ihr nicht. Sie verzog nur ihre Lippen zu einem höflichen Grinsen. Schmerz fraß in ihr. Er war‘s, der lachte. Nie hätt sie gedacht, dass er so wehtun könnt, der Zwang des Weggangs. Wie froh war sie doch, vor zwei Monaten, als sie den Brief erhielt, in dem es hieß, dass sie, die Sommerin, die Stelle erhalten würd. Aufgeschrieen hat sie vor Freude. Den Buben hat sie auf den Arm genommen und ist mit ihm durchs Zimmer getanzt. Weil sie nicht an Wunder glaubte, die Sommerin, hat sie schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass ihr soviel Glück widerfahren könnt. Nachdem sie es zuvor schon Monat um Monat um Monat probierte. Wie oft hatte sie sich aus Leoben Zeitungen kommen lassen. Zeitungen, aus allen möglichen Gegenden. Und ist abends gesessen. Und hat die Stellengebote gelesen. Und hat Papier und Feder genommen und geschrieben. Und selten nur kam Antwort. Und wenn, dann hieß es stets: leider. Wie sollt sie, bei soviel Pech, noch an ihr Glück glauben? Aufgeschrieen hat sie drum vor Freude. Und den Buben auf den Arm genommen und mit ihm durchs Zimmer getanzt. Und jetzt saß sie im Zug und Schmerz und Leid und Weh fraß in ihr.
Zwischen Bischofshofen und Zell am See saß die Sommerin allein in ihrem Abteil. Aber obwohl ihr nun niemand mehr gegenübersaß, der einredete auf sie, obwohl da nur das eintönige Rattern des Zuges war, gelang es ihr immer noch nicht, ihr Inneres zu beruhigen. Wie Blei hing Sehnsucht an ihr, ließ nicht ab. Dass sie nicht gehen hätt sollen, quälte es sie. Dass irgendwas passieren würd, irgendwas Schreckliches.
Obwohl die Sommerin noch nie so weit im Westen war, hatte sie keinen Blick für das Neue. Täler zogen draußen vorbei, wild. Und Berge, so hoch, dass man meinte, sie müssten droben die Sonn kratzen, die dünn am Himmel stand. Aber die Sommerin hatte kein Aug dafür. Und wenn sie doch zum Fenster raus sah, war er blind nur, der Blick, der ihr Dorf nur erschaute, das Haus der Mutter, ihren Buben, der sie mit großen Augen anstarrte.
Um die Bilder zu vertreiben und weil sie hungrig war, ging die Sommerin nach Zell am See in den Speisewagen. An einem kleinen Tischchen nahm sie Platz. Sie blätterte in der Karte, die da lag. Weil sie sich aber vorgenommen hatte, zu sparen und die Preise wenigstens dreimal so hoch waren wie im Dorfgasthaus daheim, hatte sie keinen Hunger mehr. Sie bestellte eine Flasche Bier. Sie blieb lange sitzen, die Sommerin. Und trank nur kleine Schlucke, um sich eine zweite Flasche zu ersparen. Kitzbühel. Wie oft hatte sie Menschen reden hören von diesem Kitzbühel, Jetzt war sie da, die Sommerin. Aber müd nur war ihr Blick raus aus dem Fenster. Was auch. Ein Bahnhof, hässlich wie alle Bahnhöfe. Ja, wenn sie die Märchenprinzessin wär, auf die er hier nur warten würd, ihr Königssohn, dann säh die Sache anders aus. Aber an Märchen glaubte die Sommerin schon lange nicht mehr. Und an Prinzen schon gar nicht. Also war ihr auch Kitzbühel einerlei, kaum einen Blick wert.
Kurz nach Innsbruck ging die Sommerin zurück in ihr Abteil. Draußen begann es bereits zu dunkeln. Beinah zwei Stunden noch hatte sie im Zug zu sitzen, zu warten, warten, nichts zu tun. Im Abteil saß ein Mann um die fünfzig. In Anzug und Krawatte. Er stand auf, als die Sommerin eintrat, fuhr sich durch Haar und grüßte. Die Sommerin grüßte zurück, setzte sich auf ihren Platz und schwieg. Kalt sei’s, sprach der Mann, in einer Sprache, ungewohnt der Sommerin. Kalt, jaja, nickte die Sommerin. Er bot ihr eine Zigarette an. Die Sommerin lehnte ab. Obwohl sie die Zeitung nahm, die neben ihr lag und reinstarrte, ohne wirklich zu lesen, spürte sie, wie der Blick des Mannes auf sie gerichtet war, wie er sie mit seinen Augen auszog. Widerlicher Kerl, plärrte sie ihn an, Aber sie sagte nichts, natürlich nicht, tat nur weiter so, als wär sie vertieft in ihre Zeitung.
Ötztal, Landeck, St. Anton. Der Zug hielt in Dörfern, von denen die Sommerin ihr Lebtag noch nie was gehört hatte. Obwohl es draußen jetzt schon finster war, erhellte das Weiß des Schnees gespenstisch die Dunkelheit. Mehr als fünfhundert Kilometer war die Sommerin jetzt schon fern ihrem Buben, aber so schnell der Zug auch fuhr, ihre Sehnsucht wurd sie nicht los. Als es in den Tunnel ging, der kein Ende nahm, der sich unendlich zog, versuchte die Sommerin mit Zwang, Ruhe zu finden. Sie legte ihren Kopf zurück und presste die Augen zu. Und vertrieb auch die Bilder im Schädel, indem sie im Rhythmus des Zugratterns mit schrie: vier Monat nur, vier Monat nur, vier Monat. Und vielleicht hätt sie wirklich eingeschlafen, die Sommerin, hätt da nicht - noch eh der Tunnel zu Ende war - die Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, dass sie gleich in Langen am Arlberg eintreffen würden. Die Sommerin stand auf, zog sich ihren Mantel über, nahm erst den Koffer und trug ihn zur Zugstür, dann die Reisetasche, trug sie zur Zugstür und wartete dann. Mit dem Ende des Tunnels hielt der Zug. Draußen brannten wenige Lichter. Die Sommerin öffnete die Türe, stellte ihren Koffer raus und dann ihre Tasche. Sie hatte hinter sich die Türe kaum wieder geschlossen, als der Zug, der sie herbrachte, auch schon weiterfuhr. Grußlos, ohne irgendetwas zu hinterlassen. Die Sommerin stand tief im Schnee. Allein. Der Bahnhof war kaum größer als der Bahnhof daheim, in ihrem Dorf. Die Sommerin nahm Koffer und Tasche, stapfte durch den Schnee über ein zweites Bahngleis und trat in den Raum, in dem Licht brannte. Der Warteraum war weiß getüncht und kalt und leer. Hinter einem Fenster saß ein Mann in Uniform. Die Sommerin klopfte ans Fenster. Der Mann öffnete. Wann der Bus nach Zürs fahren würd, fragte sie. Der Mann lachte: „Für eine Urlauberin sind‘s aber früh dran, Fräulein“. Dass sie nicht zur Erholung sondern zum arbeiten da sei, sagte die Sommerin. “Achso“, lachte der Mann wieder, „ja, dann“. Und dann erklärte er ihr, dass die Saison erst in sechs Tagen beginnen würd, nämlich das Wochenend vor Weihnachten. Und dass außerhalb der Saison nur dreimal am Tag der Bus rauf fahren würd, nach Zürs und Lech. Und dass sie noch eineinhalb Stunden warten müsse, wenn sie den letzten von heut noch nehmen möcht. Ähnlich wie bei dem Mann im Zug, fiel es der Sommerin auch beim Mann hinterm Fenster schwer, seiner Sprache zu folgen, sie zu verstehen. Trotzdem bedankte sie sich.
Die Sommerin setzte sich auf die Bank, schlug den Mantelkragen hoch, steckte ihre Hände in die Taschen und wartete. Der Raum war nicht geheizt. Wohl, weil noch nicht Saison ist, dachte die Sommerin. Sie fror. Als die Kälte trotz Mantel und Weste und Kleid und Unterhemd auf der Haut zu schmerzen begann, stand sie auf und ging, den Wänden entlang, den Raum ab. Mal so rum, dann wieder anders rum. Die Uhr, die den Warteraum beherrschte, hüpfte nach sechzig Sekunden laut zur nächsten Minute und verriet so der Sommerin, ohne dass sie auf das Ziffernblatt zu sehen hatte, den Gang der Zeit, die sie hier noch abzusitzen und -gehen hatte. Noch vierundsechzig Minuten, noch dreiundsechzig, zweiundsechzig. Gleich war’s sieben. Zu Haus würd sie den Buben jetzt füttern und dann waschen und dann ins Bett bringen. Und dann würd er sie, wie jeden Abend, bitten, ihm eine Geschichte vorzulesen, Und sie würd sich hinsetzen, auf sein Bett und würd aus den Büchern, die sie in der Stadt für ihn kaufte, lesen. Die Sommerin musste im Warteraum des Bahnhofes Langen am Arlberg plötzlich daran denken, wie schwer sich ihre Mutter mit Lesen tat. Und sie hörte ihren Buben nach seiner Mutter schreien. Und ihr war’s, als presste sich eine Träne in ihr Aug. Mit dem Mantelärmel fuhr sich die Sommerin über die Wangen und ging dann weiter, Schritt für Schritt für Schritt, die Kälte und die Schreie zu vertreiben.
„Jetzt können‘s dann einsteigen, Fräulein“, rief der Mann hinterm Fenster. „Danke“, sagte die Sommerin, nahm Koffer und Tasche und ging aus dem Warteraum. Sie stieg in den Bus, der am vorderen Bahnhofseingang stand. „Nach Zürs“, sagte sie und zog ihre Geldbörse aus der Tasche. Sie zahlte den Fahrpreis und bat den Chauffeur, er mög sie doch bitte beim Zürser-Hof aussteigen lassen.
Außer dem Chauffeur und der Sommerin war kein Mensch mehr im Omnibus. Steil ging es den Berg rauf. Kaum schien sich der Bus von der letzten Kurve zu beruhigen, ging’s schon in die nächste. Der Sommerin war’s, als würd ihr gleich schlecht werden. Nicht nur die Straßenwindungen waren es, die sie quälten. Eine seltsame Schwere, die sie bisher nicht kannte, brach in ihr Herz. Als hätte sie einen ganzen Eimer voll Wasser getrunken, so drückte ihr Leib. Sie presste die Stirn ans kühle Glas der Busscheibe neben ihr und versuchte die Bilder zu verscheuchen, die ihr die Brüste pressten. Wieder waren es Bilder, die ihr ein Kind zeigten, ihren Buben, hunderte Kilometer fern ihr.
Die Ketten des Busses knirschten das eine Mal im harten Schnee, rasselten das andere Mal auf den apern Stellen der Straße. Eine ganze Zeit ging’s dahin, in völliger Dunkelheit, eh einige Lichter eine Ansiedlung verrieten. Der Bus hielt. „So, da wären wir“, sagte der Chauffeur. Er half der Sommerin den Koffer aus dem Bus zu heben, eh er diesen weiterfuhr, leer, wohl ins nächste Dorf.
Die Sommerin stand vor einem riesigen weißen Klotz mit hunderten von dunklen Löchern. Nur wenige Fenster waren beleuchtet. Vier Monate wirst hier werken, in diesem Palast, sagte sich die Sommerin. Sie nahm Koffer und Tasche, schob sich mit dem Hintern die gläserne Eingangstür auf, schritt erst über Fliesen durch einen Vorbau und dann über Teppichböden in eine mächtige Halle. Niemand war zu sehen. Die Sommerin stellte Koffer und Tasche mitten in der Halle ab. Sie öffnete ihren Mantel. „Hallo“, rief sie schüchtern. Nichts rührte sich. „Hallo“, rief sie lauter als zuvor. In einer der vielen Türen erschien eine junge Frau, noch Mädchen fast. „Grüß Gott. Bitte?“. Dass sie morgen hier zu arbeiten beginnen sollt, sprach die Sommerin und suchte dabei in ihrer kleinen Handtasche nach dem Brief, den sie erhalten hatte, vom Hotel Zürser-Hof, vor zwei Monaten. Aber noch eh die Sommerin den Brief rausziehen konnte, war das Mädchen mit einem „Moment bitte“ verschwunden. Wieder stand die Sommerin allein in der riesigen Halle. Sie blickte hoch. Die Sommerin war sicherlich nicht klein gewachsen. Aber wenigstens zwei, wenn nicht gar drei von ihr hätten, der Höhe nach, da reingepasst. Und die einzelnen Wände waren so weit entfernt voneinander, dass man in diesem Raum ohne weiteres Ball spielen hätt können, wären da nicht die dicken Polstersessel überall gestanden. Dieser eine Raum hier, ein einzger Raum, ist größer, viel größer, als die ganze Wohnung der Mutter, das ganze Haus, in dem wir zu dritt leben, dachte sich die Sommerin. Und staunte. „Der Herr Direktor kommt gleich“. Das Mädchen von vorhin tauchte auf, sprach diesen einen Satz und war wieder verschwunden, Weil die Somrnerin schon müde war, überlegte sie sich, ob sie sich nicht hinsetzen sollte. Weil sie aber meinte, dass das einen schlechten Eindruck machen könnt, blieb sie stehen. Zehn Minuten stand sie sicher, allein in der Halle, neben Koffer und Reisetasche, eh der Herr Direktor kam. Die Sommerin war überrascht. Er war ein Mann, der Herr Direktor, kaum älter als sie selbst. Dreißig höchstens. Sein Gesicht war braungebrannt. „Ah, sie sind also die … na ...“. Die Sommerin nannte ihren Namen. „Jaja, eins der Zimmermädchen. Ich weiß“. Er redete schnell, der Herr Direktor, wirkte nervös. Er sagte, dass die Zimmer während der letzten Tage alle frisch tapeziert worden wären und dass darum jetzt, eine Woche vor die Gäste kämen, alles sauber geputzt werden müss. Und dass ihr, der Sommerin Revier, der zweite Stock sei. Und dass im übrigen ihr die Frau Rainer, die für die Gästezimmer zuständig sei, alles weitere erklären würd. Und dann sagte er noch, dass ihre Schlafstatt unterm Dach läg. Und weg war er, der Herr Direktor, noch eh die Sommerin die Zeit und den Mut fand, dies und jenes zu fragen, was zu fragen sie sich vorgenommen hatte.
Die Sommerin sah sich um. Weil sie aber nirgends eine Tür fand, die aussah wie eine Lifttüre und weil da niemand war, den sie fragen hätt können, nahm sie Koffer und Reisetasche und begann die eine Seite der Marmortreppe hochzusteigen, die links und rechts der Halle je einen Anfang hatte. Im ersten Stockwerk setzte sie Koffer und Tasche ab und verschnaufte. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und legte ihn über die Reisetasche. Dann nahm sie erneut ihr Gepäck in die Hände und setzte weiter einen Fuß über den anderen, Stufe für Stufe. Achtzehn, hatte sie gezählt, als sie im zweiten Geschoß ankam, für dessen Sauberkeit sie künftighin verantwortlich sein sollte. Wieder stellte die Sommerin Koffer und Tasche ab. Sie ging einige Schritte den Flur rein und suchte den Lichtschalter, den sie auch fand. Meine Güte. War das ein Gang. Lang, lang, so lang, dass das andere Ende fürs Aug der Sommerin nur mehr halb so breit schien, wie jenes Ende, an dem sie stand. Türen waren da, links und rechts, unendlich viele Türen. Dazwischen Grünzeug. Und, an den Wänden, Bilder. Die Sommerin öffnete eine der Türen. Sie knipste das Licht an. Eine nackte Glühbirne erhellte den Raum. All die Gegenstände - Bett wohl und Kasten und Tisch und Stühle - waren in der Mitte des Zimmers zusammen geschoben und mit weißen Tüchern verdeckt. Auf dem Boden lagen Tapetenreste. Wenn alle Zimmer so aussehn, gibt’s viel zu tun, die kommende Woche, dachte sich die Sommerin eben, als sie, von einer lauten Stimme angefahren, aufschreckte. „Was machen’s denn hier?!“. Die Sommerin drehte sich um. Eine Frau stand vor ihr, einen Kopf wohl kleiner als sie, und doch so groß und kräftig, dass die Sommerin zu stottern begann. Das Zimmermädchen sei sie, das neue, das Zimmermädchen, hier, für diesen Stock hier. „So“, sagte die Frau. „Na, dann kommen‘s“. Die Sommerin drehte das Licht im Zimmer ab, schloss die Tür, nahm Koffer und Tasche und schnaufte hinter der Frau weitere zwei Stockwerke hoch. „Das ist ihr Zimmer. Und da drüben ist Bad und Klo“, sprach die Frau. Und dass es morgens um halb sieben Frühstück gäb und dass um sieben mit der Arbeit begonnen würd.
Die Kammer der Sommerin war eng. Auf der einen Seite, unter einer holzvertäfelten Dachschräge, befand sich ein Bett. Ihm gegenüber ein Kasten. Und unter dem Fenster stand ein kleines Tischchen mit Stuhl. Fertig. Die Sommerin stellte Koffer und Tasche ab, setzte sich aufs Bett und heulte. Heftig schüttelte es sie. Und lange dauerte es, bis sie sich erfangen hatte, bis sie beruhigt hatte ihr über Stunden gemartertes Inneres. Sie erhob sich, legte Koffer und Tasche auf jenen Platz, auf dem sie eben selbst noch saß und begann ihre Sachen im Kasten zu verstauen. Bald elf war’s, als sie endlich fertig damit war, ihr Kleid auszog, in den Bademantel schlüpfte und sich waschen ging.
Als sie im Bett lag, die Sommerin, fiel ihr ein, dass sie dringend einen Wecker bräuchte. Wie sollt sie um sechs erwachen, nach dem Tag heut? Sie sah, wie sie am nächsten Morgen zwei Stunden zu spät zur Arbeit kam, wie die Frau von vorhin sie anplärrte und wie der Direktor sie zurückschickte, heim in ihr Dorf.
Sie schlief schlecht, die Sommerin, diese erste Nacht an ihrem neuen Arbeitsplatz. Heftig waren die Träume, die sie da träumte. Zwischen der Sorg um ihren Buben und der Angst vor dem morgigen Morgen rannte sie hin und her, ihre Qual. Immer wieder starrte die Sommerin auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Zwei. Drei. Halbfünf. Um sechs stand sie auf, ohne wirklich geschlafen zu haben. Draußen war’s noch finster. Trotzdem erblickte die Sommerin, als sie aus dem Fenster sah, Berge, schneebedeckte, so hoch, wie sie sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
Die Halle war leer, wie am Abend zuvor. Aus einer offenen Tür drang aber das Klappern von Geschirr und der Geruch frisch gebrühten Kaffees. Die Sommerin trat ein durch diese Tür. An einem Tisch saßen bereits zwei Frauen, die frühstückten. Die Sommerin ging hin zu ihnen, stellte sich vor und fragte, ob sie Platz nehmen dürf. Die beiden Frauen waren Wäscherinnen. Und Büglerinnen. Beide kamen sie aus Kärnten. Die Sommerin berichtete von ihrem gestrigen Kommen und wie schlecht sie schlief heut Nacht. Ach, das legt sich, da wirst dich schon dran gewöhnen, sagten die beiden Frauen, die bestimmt schon über dreißig waren. Und das x-te Mal schon auf Saison, wie sie erzählten.