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Warum sich die Kirche mit der Gegenwart versöhnen muss
- Eine Streitschrift wider Rückständigkeit und Unfehlbarkeitswahn und für eine moderne, offene Kirche
- Ein Appell an die Kirchen, einen neuen, weltethisch fundierten Weg einzuschlagen
Wer soll uns auf das aufmerksam machen, was zum Himmel schreit, wenn nicht die Kirchen? Als weltweit agierende Repräsentanten des Christentums fällt den Kirchen für das 21. Jahrhundert eine eminent kulturelle und hochpolitische Aufgabe zu. Allerdings dürfen sie ihre moralischen Absichtserklärungen nicht mehr von ihrem Verhalten abspalten. Sie werden so wirken, wie sie faktisch sind. Sie sind glaubwürdig oder sie werden entlarvt. Denn im interreligiösen und interkulturellen Vergleich bleibt ihnen nur noch ein unverstellter Ausgangspunkt. Der säkulare und kritische Diskurs einer weltweiten Zukunft lässt keine schlechten Beteuerungen und Inszenierungen mehr zu. Dieses Buch zieht daraus besonders für die katholische Kirche die fälligen Konsequenzen.
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Seitenzahl: 233
Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen
Im dankbaren Gedenken an den großen Theologen Edward Schillebeeckx OP (1914 - 2009), dessen Arbeit für die Kirche den Großen verborgen blieb, von den Kleinen aber verstanden und dankbar angenommen wurde.
Als sich nach der offiziellen Wiederaufnahme des antisemitischen Bischofs Williamson in die katholische Kirche ein Schrei der Empörung erhob, beklagte sich Papst Benedikt über die »sprungbereite Aggressivität«, mit der man ihn böswillig angegriffen habe. Vermutlich hat er die Gründe der Empörung nicht verstanden. Vielleicht war er nach 27jähriger Tätigkeit im Vatikan einem Denk- und Reaktionsschema verhaftet, das den Blick auf jede außerklerikale Wirklichkeit verstellt, denn er arbeitete und arbeitet im Zentrum eines durch und durch klerikalen Systems. Dieses Buch untersucht zentrale Elemente dieses Klerikalismus, geht deren Entstehung nach und beschreibt die Auswirkungen, die er heute auf die krisengeschüttelte katholische Kirche hat. Das Buch geht davon aus, dass in der gegenwärtigen Situation der bloße Ruf nach Reformen, versehen mit plausiblen Argumenten, nicht genügt. Wer Reformen will, muss sich die Mühe machen, sich in die Köpfe der katholischen Kirchenführer zu versetzen und ihre Ideologien aufzuspüren, die sich seit Jahrhunderten aus vielfältigen Elementen aufgebaut haben. Dass dieses Buch dazu nur ein Anstoß sein kann, versteht sich von selbst.
Ich habe redlich versucht, komplizierte Zusammenhänge, die bisweilen wie aus einer anderen Welt stammen, verständlich darzustellen. Ob das gelungen ist, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden. Das Buch will also keine wissenschaftliche Abhandlung ersetzen. Zwar meine ich, dass ich keine unbegründeten Thesen in die Welt setze, aber Literaturverweise habe ich auf ein Minimum beschränkt. Insbesondere verzichte ich auf Quellenangaben bei kirchlichen Dokumenten, die inzwischen in der ausgezeichnet versorgten Website des Vatikan (vatican. va) abrufbar sind. Auch verschone ich die Leser mit genaueren Hinweisen zu manchen Urteilen und Interpretationen, die ich in meinem vorhergehenden Buch zu Benedikt XVI. näher ausgeführt, dokumentiert und begründet habe (Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt. Mit einem Vorwort von Hans Küng, Gütersloh 2009). Schließlich wird auf die nähere Dokumentation von neueren Ereignissen verzichtet, die in den Medien allgegenwärtig, unbestreitbar, aber wissenschaftlich noch nicht dokumentiert sind; denn sie dienen in der Regel als Illustration unbestreitbarer Stimmungen und Probleme.
Schon im Vorfeld haben mir Freunde erklärt, manche Ausführungen könnten wie die Urteile und Forderungen eines selbstgerechten Besserwissers wirken, der die Kirche schon aufgegeben hat. Schließlich habe die Kirche immer wieder die Kraft gehabt, sich von innen her zu reformieren. Sollte dies der Fall sein, bitte ich jetzt schon um Vergebung. Ich kann nur versichern, dass ich die Hoffnung auf eine Selbsterneuerung nicht aufgegeben habe. Aber man muss etwas für sie tun, und nicht immer kam sie von oben. Ferner versichere ich, dass auch ich nicht den Stein der Weisen gefunden habe. Dieses Buch will nicht mehr sein als ein Beitrag zum Nachdenken und zur Diskussion. Wir sollten aber verhindern, dass nach all den Erschütterungen wieder eine Zeit stiller Resignation beginnt. Ein guter Freund drückt das so aus: »Ich habe überhaupt den Eindruck, das große Durchlüften des Hauses ist vorbei, Hausputz hat nicht stattgefunden, der gröbste Dreck ist unter den Teppich gekehrt und jetzt kann die Zeit der ruhigen Häuslichkeit zurückkehren: Ofen anheizen, Kerzen anzünden und der ›stillen Zeit‹ entgegenleben.« Nein, das kann nicht die Lösung sein. Wir bedürfen einer unstillbaren Leidenschaft. Diese sollte nicht ruhen, bis unsere Kirche bei all ihren Schwächen wieder zu einer solidarischen und zeitgemäßen Form zurückgefunden hat. Yves Congar sprach schon während des Konzils von einer »armen und dienenden Kirche« (Mainz 1965). Im November 1965 schlossen 40 Konzilsbischöfe in den Domitillakatakomben einen Pakt, in dem sie sich auf vorbehaltlose Solidarität mit den Armen der Welt verpflichteten, und 1989 fasste der große, inzwischen verstorbene Theologe Edward Schillebeeckx sein Kirchenbild mit der Erwartung zusammen, dass die Geschichte des Menschen endlich als »Geschichte Gottes« wahrgenommen wird (Freiburg 1990). Es gibt also viel zu denken, zu arbeiten und für eine erlöstere Kirche zu tun.
Tübingen, 15.11.2010
Hermann Häring
18. April 2005: Die Kardinäle sind zum letzten Gottesdienst versammelt, bevor man die Türen zum Konklave verriegelt. Der Kardinaldekan, in der papstlosen Zwischenzeit höchster Amtsträger der katholischen Kirche, ergreift das Wort und sein finaler Befund klingt niederschmetternd. Viele Christen seien »umhergeworfen von einem Extrem zum andern, vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus ; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus«. Er klagt über neue Sekten, den Widerstreit der Meinungen, den Betrug der Meinungsführer und fasst seine Klage mit den inzwischen klassischen Worten zusammen: »Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.« Zwar bleibt dieser Satz höchst unklar und ohne weitere Begründung, aber das Signal Joseph Ratzingers ist eindeutig: Wir gehen schrecklichen Zeiten entgegen, und selbst die Kirche erliegt diesen widergöttlichen Versuchungen. Wer gemäß dem Credo der Kirche einen klaren Glauben bekenne, der werde oft zum Fundamentalisten gestempelt. Der Relativismus, der sich »vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung« hin- und hertreiben lässt, erscheine dagegen als zeitgemäße Haltung. Von denen, die er hier als Kontrahenten indiziert, hat er keine hohe Meinung.
Die Kardinalsmehrheit widerspricht ihm nicht. Im Schnitt sind die Anwesenden 71 Jahre alt, Ratzinger selbst wurde gerade 78; zwei Jahre später würde er in diesem Gremium sein Wahlrecht verlieren. Sie alle erinnert Ratzingers Klage an ihre vertrauten, meist vorkonziliaren Jugendjahre, in denen die Kirche noch in Ordnung schien. Zügig treffen sie ihre Wahl und schon am nächsten Abend gewinnt diese Apokalypse höchste Legitimität, denn der sie formuliert hat, ist jetzt Papst.
Wen aber ruft Papst Benedikt XVI. zur Ordnung? Zunächst klingt das Wort von der Diktatur des Relativismus ja wie eine Kampfansage an die Welt.1 Aber genau besehen greift er das »Denken vieler Christen«, also auch vieler Katholikinnen und Katholiken, an. Und wie der Papst selbst sieht die Top-Elite seines Kirchenapparats nur noch schwarz, denn die Bedrohung kommt von innen. Sie sprechen von der verunsicherten »Welt«, meinen aber die eigene Kirche.
Bis in die Wortwahl hinein ist diese Kritik weder neu noch kreativ, man kann sie eher als reaktionär qualifizieren. Denn Wortwahl und Unterstellungen sind dem Kurialstil des 19. Jahrhunderts entnommen. Man findet sie schon in der berühmten Irrtümerliste von 1864 mit ihrer antidemokratischen Tendenz.2 Dort werden Irrlehren sorgfältig inventarisiert und projiziert. Man schießt Pfeile ab auf Pantheismus, Naturalismus und Rationalismus, auf Sozialismus und Kommunismus, auf Liberalismus und Indifferentismus, auf Demokratie, liberale Staatsauffassungen und Meinungsfreiheit, diese Verfehlungen alle säuberlich in gemäßigte und in strengere Formen unterteilt. Verworfen werden verschiedene Ausprägungen der Kirchenkritik und einer laxen Ehemoral. Nur von Revolutionsangst getriebene, restaurativ gesonnene Fürsten konnten 1864 damit zufrieden sein.
Seit jener Zeit ist Rom, von wenigen Zwischenphasen abgesehen, wie versessen auf Modernitätskritik und massiv kommt sie unter Papst Benedikt zurück. Dem Denken der Moderne mit seinen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen wird die Solidarität aufgekündigt, statt sie kritisch zu begleiten. Seit 100 Jahren wird endlos gemahnt, verwarnt und verurteilt. En passant und in ernsten Erwägungen wird der Zeitgeist zum gefährlichen Gegner aufgebaut. Aber je mehr die Moderne sich dieser Kritik entzieht, der offiziellen Kirche also entgleitet und bedenklich viele Kirchenkreise infiziert, umso kompromissloser wird das Neue diskriminiert. Von Verlustängsten verfolgt würgt Rom jedes Interesse an Erfahrung, Gewissensfreiheit und einer kritisch verantworteten Schriftauslegung ab. Seit 1907 spricht man von der Irrlehre des Modernismus und formuliert für sich selbst eine antimodernistische Grundideologie. Seitdem gilt dieser »Modernismus« als die entscheidende Bedrohung der Kirche, als »Zusammenfassung aller Häresien« überhaupt. Die »wilde zügellose Jagd nach Neuem« wird streng und mit aller Energie bekämpft.3
Von Anfang an hat dieser Antimodernismus pathologische Formen und wird zum rettenden Bollwerk gegen Naturwissenschaften und Religionskritik hochstilisiert.4 Doch schon während des 1. Vatikanischen Konzils (1869 - 70) ist man dem befeindeten Rationalismus näher, als man denkt. Die Theologie bildet ein rationalistisch-rigides Lehrsystem aus. Es wird »Neuscholastik« genannt und lässt keinerlei geschichtlichen Wandel zu. Die Piusbrüder sind ihr noch immer verfallen. Sie presst die Wahrheit des Glaubens in überzeitliche Syllogismen und beruft sich wider besseres Wissen auf die Kontinuität der Kirche, die man als » Theologie der Vorzeit« umschreibt.5 Seit den 1960er Jahren wird das Denken der Kirchenväter für dieselben Ziele instrumentalisiert.
Doch fragen wir selbstkritisch: Hat Rom mit seiner Modernitätskritik langfristig nicht recht bekommen, die Aushöhlung des christlichen Glaubens, die Prozesse von Säkularisierung und Entkirchlichung nicht richtig vorausgesehen ? Gewiss, die Gefahren der Moderne werden heute weithin erkannt und bis in die Politik hinein intensiv thematisiert; dazu muss man kein Christ oder religiöser Mensch sein. Aber zu deren Bewältigung trug und trägt der Antimodernismus nur wenig bei. Viel wichtiger ist dagegen eine kirchenpolitische Überlegung: Innerkirchlich ließ der Erfolg des antimodernistischen Revirements nicht lange auf sich warten. Denn nachdem der Kirchenstaat machtpolitisch zerfiel und 1870 zerschlagen wurde, setzte ein verunsichertes Kirchenvolk samt ihren Führern auf eine geistig-ideologische Macht. Der vormals absolutistisch regierende Fürst des Kirchenstaats wurde zu einem geistig unfehlbaren, moralisch überlegenen, die Welt belehrenden Hirten erhoben, der in »höchster Vollmacht« nicht nur für die katholische Kirche handelt, sondern dem alle Kirchen und alle Gläubigen Gehorsam zu leisten haben. Inzwischen hat sich diese Vorstellung als Illusion enthüllt. Gleichwohl hält Benedikt XVI., der sich nicht zum Patriarchen des Abendlandes degradiert sehen will, an der Fülle dieser Ansprüche fest. Mehr noch, mit Nachdruck versucht er, seinen kulturpolitischen Anspruch auf ethische Positionen, auf eine kirchenzentrierte Deutung Europas und auf Einzelentscheidungen europäischer Staaten auszudehnen.6
Allerdings muss man wissen: Trotz all seiner Ambivalenz hat dieses Kirchenregime in Sachen Ordnungs-, Macht-und Ideologiepolitik bis vor 60 Jahren Erfolge erzielt. In wachsender Stringenz wurde die katholische Kirche auf ihre römische Spitze hin konzentriert. Das verschuf ihr eine ungeahnte, international und kulturell wirksame Schlagkraft. Und jetzt schon sei hinzugefügt: Dank digitaler Medien erreicht diese Konzentration seit der Jahrtausendwende eine neue Qualität. Für viele Katholiken gilt das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 noch immer als ein Alleinstellungsmerkmal erster Güte, denn mit jeder europäischen Krise ist dessen Mythos gewachsen. Man denke an Bismarcks Kulturkampf, die politische Erschütterung des Ersten Weltkriegs und die moralische Katastrophe des Nationalsozialismus. Der Mythos vom Fels der Wahrheit hat sich gehalten, und doch wurden in den 1950er Jahren die innerkirchlichen Konflikte unerträglich.7
Deshalb kann der Stimmungsumschwung nicht erstaunen, der 1958, unmittelbar nach dem Tode Pius’ XII., einsetzt. Johannes XXIII. kündigt 1959 ein biblisch, ökumenisch und auf die Gegenwart orientiertes Reformkonzil an. Weit über Westeuropa hinaus versetzt diese Erwartung die katholische Kirche in eine ungeahnte Euphorie. Ein Erneuerungswille und eine Erneuerungshoffnung brechen auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg bei einzelnen Theologen allmählich Gestalt gewannen und sich auf gesellschaftlicher Ebene erst seit 1968 durchsetzen sollten. So wird das 2. Vatikanische Konzil zum Projektionsort vieler Erneuerungswünsche und zum Austragungsort zukunftsweisender Kontroversen zu biblischen, philosophischen, pastoralen und humanwissenschaftlichen Fragen. Eine solche Gesprächskultur hatte die katholische Kirche bislang noch nie erlebt. Prompt setzte sie viele in Angst und Schrecken. Das aggiornamento, also die »Verheutigung« der Kirche und deren Begegnung mit der so verabscheuten Moderne, wird zum großen Programm, »Volk Gottes« zum unerwarteten Schlüsselwort einer neuen Identität. Es leitet ein tiefes Umdenken ein.
Was ist aus dem Konzil, diesem großen Hoffnungsträger, geworden? Schon die dramatischen Richtungskämpfe von damals nehmen spätere Reformverweigerungen vorweg. Eine autoritär agierende und am Papstmonopol orientierte Tradition sieht keinen Gesprächsbedarf. Kurienkardinäle fragen fassungslos, worüber das Konzil denn debattieren soll. Außer einigen mariologischen Fragen sei die Glaubenslehre doch voll entfaltet. Die dramatischen Auseinandersetzungen von damals werden später verdrängt und nur von einigen Querdenkern offen beschrieben. 8 Viele Kompromisstexte des Konzils, damals aus der Not geboren, führen zu den späteren Polarisierungen. Paul VI. (1963 - 78), der Johannes XXIII. nachfolgt, ist selbst von konservativer Haltung, versucht aber aufrichtig, zwischen den Parteien zu vermitteln. Dennoch bricht sich erneut ein starrer Antimodernismus mit seiner misstrauischen Wagenburgmentalität Bahn.
Seit 1978, dem Amtsantritt von Johannes Paul II., werden die Polarisierungen aktiv vorangetrieben. Edward Schillebeeckx wird im Dezember 1979 nach Rom zitiert, Hans Küng zur Jahreswende die Lehrerlaubnis entzogen, der Beschluss mit enormem Druck auf die Bischöfe durchgesetzt. Kein einziger Bischof Deutschlands wagt es, am 6. Januar die Unterschrift für ein argumentationsschwaches Verurteilungspapier zu verweigern. Mit wie viel Sympathie als liberal geltende Wortführer diese Richtungsänderung verfolgten, kann man bei Karl Lehmann (damals noch Hochschullehrer in Freiburg) sehen, der auch späteren Widerstand immer wohlkalkuliert dosierte.9 Man war die Dauerdiskussionen eben leid, stempelte die Kritiker zu Querulanten und fiel in der Überforderung auf autoritäre Einheitsideale zurück. Joseph Ratzinger, seit 1977 Erzbischof in München, wurde 1981 zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt und baute den Einfluss dieses Amtes konsequent im Sinne konservativer Grundpositionen aus. Die Zensurierung der Befreiungstheologie in den Jahren 1984/85 führte nur noch zu einem schwachen Widerstand. Seine unnachsichtigen Diktate in Sachen Schwangerschaftskonfliktberatung führten im November 1999 zu einem ernsten Konflikt.10 Mit der Erklärung Dominus Iesus vom August 2000 bricht Ratzinger endgültig eine einvernehmliche Kommunikation nach innen und nach außen. Erstaunlich viele Reaktionen provoziert die römische Stellungnahme zu Fragen der Homosexualität vom Juli 2003; die Geduld ist aufgebraucht.11 Seitdem werden die Polarisierung stetig verschärft und die Kommunikation durch eine monokratische Amtsführung zunichte gemacht. Die endgültig zusammenbrechende Pastoral12 und die Unfähigkeit der aktuellen Bischöfe zu weiterführenden Initiativen lassen keinen Aufschub zu.
Wer aber kann und wer soll handeln? Seit 1980 schälen sich innerhalb der Gesamtkirche, also auch in Deutschland, drei deutlich profilierte Richtungen heraus. Dabei wird nicht so sehr auf allgemeine Emotionen, sondern auf theologische Argumentationen geachtet:
(1) Die reaktionär konservative Richtung, die sich allen Gesprächen über Neuerungen verweigert, ist nahezu identisch mit dem vorkonziliaren neuscholastischen Konservatismus. Bestimmt wird sie heute von den »Piusbrüdern« und anderen fundamentalistischen Gruppierungen. 13 Diese Gruppen sind autoritär, antidemokratisch und antiökumenisch, bisweilen antisemitisch, wie sich zum allgemeinen Entsetzen bei Bischof Richard Williamson zeigt, den Rom wieder in die Kirche aufgenommen hat. Sie alle kritisieren die aktuelle Kirchenführung und lehnen zentrale Konzilstexte ab, denn für sie hat das Konzil den absoluten, ausschließlichen und zu keiner Toleranz bereiten Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche aufgegeben. Einige Untergruppen erkennen die Päpste seit Johannes XXIII. nicht mehr an.14 Diese Gruppen sind nicht nur als Gradmesser für das innerkatholische Meinungsspektrum, sondern auch deshalb ernst zu nehmen, weil sie auf Papst Benedikt einen großen Druck auszuüben wissen.(2) Die streng konservative Richtung ist deshalb interessant, weil sie aus den Progressiven der 1950er Jahre hervorgegangen ist.15 Zwar leugnet sie Autorität und Lehrinhalte des Konzils nicht, aber sie misst die Konzilsdokumente letztlich am ungeschichtlichen Glaubensverständnis der vorkonziliaren Epoche. Aus ihnen spricht keine Begeisterung für das Konzil, sondern eher dessen tapfere Duldung. In diese Richtung ist Papst Benedikt voll eingebunden. Mehr noch, er hat sie nachdrücklich geprägt. 16 Problematisch an seiner Amtsführung ist nicht sein Neokonservatismus, sondern die Tatsache, dass er als Glaubenspräfekt und als Papst seine persönlichen Überzeugungen rigoros, ohne argumentative Auseinandersetzung und mit autoritären Mitteln durchsetzt. Das kann nicht sein Amtsauftrag sein. Die Verdächtigung und innerkirchliche Benachteiligung Andersdenkender gehört zu den Waffen dieses Kampfes, der – wie schon angedeutet – aus geradezu apokalyptischen Vorstellungen lebt.17 Vermutlich ist Papst Benedikt das Opfer seiner eigenen Ängste mit aller daraus folgenden Inkonsequenz. Er fordert die Teilnahme des Kirchenvolkes, indem er ruft: Tut, was ich sage! Aber so verhindert er partizipative, wenn nicht gar demokratische Strukturen. Er interpretiert jede Kritik als Streitsucht und Aggressivität.18 Mit freundlichen Worten setzt er sich für eine innerchristliche Versöhnung ein und spricht zugleich vielen Kirchen ihre kirchliche Würde ab. Überzeugend plädiert er für Toleranz und interreligiöse Offenheit, verortet aber Nichtchristen in einer »objektiv schwer defizitären Situation«.19 Er installiert die Rationalität und das rational argumentierende Gespräch als Grundregel globaler Kommunikation. Aber faktisch identifiziert er die Vernunft, die er dann »Logos« nennt, mit dem Mensch gewordenen Logos, also mit Jesus Christus. Den Christen verkündet er einen universalen Logos, die christlichen, in ihrer Wurzel jüdischen Glaubensinhalte will er aber streng an deren griechische, schon lange vergangene Kulturform binden.20 An solchen Inkonsequenzen scheitern die meisten seiner Initiativen, ganz zu schweigen von seiner theologisch unhaltbaren Weigerung, Frauen zu Ordination und kirchlichen Ämtern zuzulassen.21 Seine Reaktionen, zwischen Neokonservatismus und reaktionären Forderungen eingeklemmt, führen zu einem Windmühlenkampf gegen die Moderne, dem das Wort vom aggiornamento ein Gräuel ist. Im Vorwort zu einem Buch über den Exorzismus schreibt J. Ratzinger: »Über der Entfesselung böser Kräfte, dem ungestümen Einbrechen des Teufels und dem Auftauchen so vieler Plagen und Übel, erhebt sich der Herr, der höchste Richter über den Verlauf der Geschichte.«22 Dämonen sind also auszutreiben und Papst Benedikt hat sich ans Werk gemacht.(3) Die kritisch Progressiven bilden weder eine geschlossene Gruppe noch werden sie als solche erlebt. Sie schöpfen aus biblischen und ökumenischen, aus gesellschaftskritischen und interreligiösen Quellen, aus einem leidenschaftlichen Engagement gegen Ungerechtigkeit, Gewalt, ethnische und sexistische Diskriminierung, in wachsendem Maße für die Bewahrung der Schöpfung. In der Praxis geht es um Frauen und Männer, die ihren Glauben in christlichen Gemeinden leben, dort ihre geistlichen Erfahrungen sammeln. Sie praktizieren vor Ort und oft ohne theoretischen Überbau, wozu das Konzil sie aufgerufen hat. Aversionen gegen kirchliche Strukturen sind ihnen an sich fremd, aber seit den 80er Jahren finden sie von Bischöfen und Papst immer weniger Anerkennung, ohne diese einfordern zu können. Von Rom werden sie massiv gerügt und umfassenden Zensuren unterworfen. Aber anders, als die römische Propaganda glauben macht, arbeiten sie mit hohem pastoralem und spirituellem Erfolg weiter. Sie haben auch in europäischen Ländern eine starke Ausstrahlung, weil sie Christus in den Unterdrückten und Verlorenen erkennen. Diese Gruppen sind als Ergänzung anderer reformwilligen Gruppen wichtig. Sie zeigen die Grenzen und Gefahren einer Wohlstandskirche, die zu den wirklich bohrenden Fragen christlicher Existenz oft nicht mehr vordringen kann. Dagegen widmet das neue kirchliche Gesetzbuch (1983) den »Laien« zwar einige Paragraphen und grundsätzlich wird ihnen ein Priester-, Hirten- und Prophetenamt zuerkannt. Sie erhalten sogar das Recht und die Pflicht, ihre für notwendig erachtete Kritik der Kirchenleitung mitzuteilen.23 Aber bei diesen Grundsatzaussagen ist es geblieben. In der Praxis wird ihre Arbeit eher zur Kenntnis genommen als geschätzt.Diese Entwicklung, die den Geist der Konzils ignoriert, hat zum Phänomen einer »Kirche von unten« geführt, die aus sehr vielfältigen, kritisch handelnden und argumentierenden Gruppierungen besteht, sich aber in ihren Reformforderungen immer mehr zusammenschließt. Sie alle sind von der Frage umgetrieben, ob die kommende Generation kirchliche Praxen und Impulse überhaupt noch aufnimmt. Dabei scheinen Papst und Bischöfe zu übersehen: Nicht bei einer verschwindenden Klerikerklasse, sondern bei diesen Christen und ihrem Engagement liegt die kirchliche Zukunft. Ohne sie bliebe nur eine Sekte übrig, die sich nur noch um ihre eigene, vormoderne Rechtgläubigkeit sorgt. Für die katholische Kirche wäre das eine Katastrophe. Aus diesem Grund ist keine Zeit zu verlieren.
Die Hoffnungen Papst Benedikts und seines Vorgängers haben sich inzwischen als Illusion erwiesen. Der autoritäre Weg des Antimodernismus hat schon vor Langem seine Glaubwürdigkeit verloren. Der französische Theologe Yves Congar nennt schon 1954 die Glaubenskongregation (damals noch Heiliges Officium genannt) die »höchste Gestapo, unbeugsam, deren Beschlüsse nicht diskutierbar sind«.24 So vergiftet war die Atmosphäre, die man zur Förderung des christlichen Glaubens aufrechterhielt, schon damals.
Was aber ist heute aus dem Konzil, dem großen Hoffnungsträger der 60er Jahre geworden? Wie konnte es gelingen, die großen und epochalen Impulse des Konzils seit gut dreißig Jahren so dramatisch zurückzustutzen, die Zahl der kirchlichen Amtsträger so schrumpfen zu lassen und die Kirche in eine Polarisierung zu treiben, wie wir sie seit Jahrhunderten nicht mehr erlebten? Warum gelingt es weniger denn je, mit den Bischöfen in ein offenes Gespräch zu kommen und den Bann ihrer Sprachlosigkeit zu überwinden?
Der Kern des Problems liegt in dem monologischen, bibelfernen und ideologisch verfälschten Denken, von dem sich die Hierarchie leiten lässt. Aber mit emotional geprägter, soziologisch formulierter Kritik und mit gesellschaftspolitischen Gegenentwürfen ist es nicht getan. Um diesen Knoten zu lösen, reicht kein Widerstand von außen, vielmehr müssen wir die theologischen Fehlentwicklungen von innen her begreifen. Das verlangt von allen Reformwilligen theologische Denkarbeit. Nur so lässt sich ermessen, wie der Widerspruch gegen das hierarchische Kirchen- und Gesellschaftsbild wirksam zu formulieren ist.
Einige Kernüberzeugungen dieser verhärteten und von Angst besetzten Theologie sollen in diesem Buch besprochen werden. Angesichts der aktuellen Kirchensituation ist das Potenzial der vorkonziliaren Theologie endgültig erschöpft. Sie verdient nicht mehr den Vertrauensvorschuss, den Katholikinnen und Katholiken ihr Jahrhunderte lang gewährten. Deshalb muss sie sich endlich von Schrift und urkirchlicher Lebenspraxis, von einem aktuellen Menschenbild und der religiösen Weltsituation her beurteilen lassen. Sie muss sich der Frage stellen: Warum ist das nachkonziliare Experiment »Erneuerung« als gemeinsames Unternehmen gescheitert?25 Doch liegt in diesem Scheitern vielleicht der erste Erfolg. Dies gilt umso mehr, als Papst Benedikt der Gesamtkirche seine sehr persönlichen, um nicht zu sagen privaten Konzepte aufzwingen will. Seinen Definitionsansprüchen ist zu widersprechen, denn angesichts der aktuellen Kirchensituation sind sie mit der christlichen Botschaft nicht mehr zu vereinbaren. Gegen seinen Willen hat sich aber ein neues Kirchenbewusstsein entwickelt, das in der aktuellen Krise seine Stunde hat.
Die vier Kernthesen des Buches lauten:
Entgegen offizieller Sprachregelung haben die konziliaren Impulse in vielen Teilen der katholischen Kirche eine tiefgreifende und nachhaltige Wirkung erzielt. Dies lässt nach wie vor auf die überfällige Erneuerung der Kirche hoffen.Die Erneuerung der Kirche hat biblischen, ökumenischen und emanzipatorischen Maßstäben zu folgen. Trotz des massiven hierarchischen Widerstands haben die Vorkämpfer kirchlicher Reformen das Recht und die Pflicht, ihren Weg klug, besonnen und konsequent fortzusetzen. Sie beabsichtigen keine quantitativ triumphale Ausweitung der Kirche, sondern deren qualitativ orientierte, innere und strukturelle Reform.
Im falsch verstandenen Gehorsam gegenüber Rom hintertreibt die Hierarchie mit Härte und Konsequenz die vom Konzil initiierten Reformen. Das hat für die Gesamtkirche katastrophale Folgen, die weithin sichtbar sind. Die hierarchisch gesteuerten Blockaden sind biblisch unhaltbar, illegitim und einer antimodernen Ideologie verhaftet. Diese Ideologie ist in ihrem Kern zu entlarven und in der Kirchenpraxis zu entkräften. Unter den gegebenen Umständen haben die Wahrheits- und Leitungsansprüche der katholischen Hierarchie ihr inneres Recht verloren.Die aktuelle Situation eines implodierenden Kirchensystems erlaubt kein geduldiges Warten und Argumentieren mehr. 45 Jahre nach Konzilsabschluss ist der Vertrauensvorschuss gegenüber der Hierarchie erschöpft. Für die Katholikinnen und Katholiken, die sich bislang zu einer letzten Loyalität verpflichtet wussten, hat die Zeit zum eigenständigen Handeln begonnen. Dies geschieht im Interesse der Zukunft der Kirche. Die Hierarchie hat selbst zu entscheiden, ob sie ihr Verweigerungsverhalten aufgibt, das die christliche Botschaft verfälscht, oder die Gesamtkirche in den Ruin treibt.Nicht die kirchlichen Reformkräfte, sondern die Hierarchie spielt seit Jahrzehnten mit dem Feuer. Sie riskiert einen massiven Bruch mit der wahren Vergangenheit, die in der christlichen Botschaft, im vorbehaltlosen Dienst und in der Solidarität mit den Suchenden und Verlorenen begründet ist.Die Reformkräfte bestehen auf einer Kontinuität mit den Impulsen, die auf dem letzten Konzil neu entdeckt wurden und vielerorts zu einer diakonischen und spirituellen Lebenspraxis geworden sind. Unter dieser Inspiration können Gemeinden neu aufblühen und die christliche Botschaft in die Welt tragen. Innerkirchliche Gruppierungen, von einfachsten Bibelkreisen bis hin zu großen Ordensfamilien, können den Reichtum des Christlichen ungehindert und gegenwartsnah ausstrahlen. Es liegt an der Hierarchie selbst, ob sie diesen Aufbruch als Frucht des Heiligen Geistes akzeptiert, statt erneute Spaltungen zu provozieren.
In mehreren Durchgängen sollen diese Thesen erhärtet werden.
Kapitel 1 beschreibt die körperzentrierte Identifikation des Papstes mit Christus; diese Identifikation nimmt die Kirchengemeinschaft als Leib Christi nicht mehr ernst.Kapitel 2 stellt dar, warum sich die kirchliche Hierarchie gegenüber den Fragen der Gegenwart hermetisch abriegelt ; sie ist einem geschichtslosen Begriff von Wahrheit verpflichtet, der zu keiner Selbstkorrektur fähig ist.Kapitel 3 zeigt die unheilvollen kirchlichen Vorstellungen von Heiligkeit und Sakrament; sie treiben in die Kirchengemeinschaft einen unseligen Keil, diskriminieren Frauen und missbrauchen die Sexualität zur Durchsetzung klerikaler Ordnungskonzepte.Kapitel 4 untersucht die Unfähigkeit der Hierarchie, mit anderen Kirchen und Religionen wirkliche Dialoge zu führen. Die Gründe dafür liegen im Trauma, das die Hierarchie durch den neuzeitlichen Macht- und Kompetenzverlust erlitten hat.Die aufgeworfenen Fragen werden unter dem Leitwort einer Kirche zusammengefasst, die ihren mittelalterlichen Klerikalismus hinter sich lässt. Sie muss sich endlich auf eine Gesellschaft einlassen, die auf die Botschaft Jesu mehr denn je angewiesen ist.Für alle Darlegungen gilt: Die katholische Kirche ist nicht identisch mit dem hierarchischen System, das die Gesamtkirche durch viele Jahrhunderte effektiv, wenn auch autoritär repräsentierte. Denn die Kirchenleitungen erhalten ihren Auftrag schon lange nicht mehr vom Gottesvolk. Die kirchliche Herrschaftselite hat sich im Mittelalter verselbstständigt und im 19. Jahrhundert ihre Chance zu einer neuen Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern verpasst. Inzwischen haben sich zahlreiche Gemeinden solide theologische, biblisch verantwortete, spirituell gewachsene und gesellschaftskritisch sensible Positionen erarbeitet. Aus der Perspektive ihres Glaubens können sie sachgemäß über die Gegenwart urteilen und sich für die Bedürftigen einsetzen, in der Freiheit von Christenmenschen leben. Also sind sie auch dazu befugt und beauftragt, diese im Glauben gewonnene Freiheit in ihrer Kirche und als Kirche zu verwirklichen. Alle Gläubigen, auch Bischöfe und Papst, sind dazu eingeladen, an diesem Projekt mitzuarbeiten.
Später taucht dieses Wort in vielfältigen Variationen auf: Rudolf Lill, Die Macht der Päpste, Kevelaer 2006.
Gemeint ist der Syllabus Errorum, der insgesamt 80 Irrtümer seiner Zeit benennt, teilweise erfindet und alle verwirft (DS 2901-2980).
Eingeleitet wird die Kampagne im Juli 1907 mit einem Dekret des Sanctum Officium, das im Stil des genannten Syllabus 65 Irrtümer nennt. Verurteilt werden: die Befreiung der Exegese vom Lehramt [8 Irrlehren], Fragen zu Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift [11 Irrlehren], die Bedeutung von Offenbarung und Dogma [7 Irrlehren], Gottheit und Heilswerk Christi [12 Irrlehren], Sakramente [13 Irrlehren], Verfassung der Kirche [6 Irrlehren], Unveränderlichkeit der Lehre [8 Irrlehren] (DS 3401-3466). Man kann sich leicht vorstellen, zu welcher Denunziationskultur eine solche buchhalterische Inventarisierungssucht führt. Zwei Monate später veröffentlicht Pius X. die Enzyklika Pascendi Dominici gregis (DS 3475-3500). In der genannten Enzyklika findet man Gift und Galle speiende Sätze von den Feinden, die »am Busen und im Schoße der Kirche« lauern, sich als »Reformatoren der Kirche aufspielen«. Die »im Taumel ihrer hochmütigen Arroganz« und »in zügelloser Jagd nach Neuem« die apostolischen Überlieferungen verachten. Selbst die romtreuen Herausgeber des offiziellen Lehrkompendiums »Denzinger« haben diese peinlichen Worte unterschlagen. Vgl. auch: Hubert Wolf, Judith Schepers (Hg.), »In wilder zügelloser Jagd nach Neuem«. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche, Paderborn u.a. 2009.
Prägend für einige Generationen von Priestern und Theologen wurde der Antimodernisteneid, den Pius X. 1910 anordnete (DS 3537-3550); vgl. Hubert Wolf (Hg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum geschichtlichen Vorfeld des II. Vaticanum, Paderborn 1998. Offiziell wurde er 1967 abgeschafft. Das seit 1968 verpflichtende Credo des Gottesvolkes hat die wesentlichen Inhalte des Antimodernisteneides übernommen; vgl. Papst Paul VI., Das Credo des Gottesvolkes, Leutesdorf 1968.
Josef Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, Münster 1872.
Markante Beispiele sind die wiederholten päpstlichen Stellungnahmen zu medizin- und sexualethischen Fragen (Präimplantationsdiagnostik, Klonverbot, Kondomverbot, bedingte Abtreibung, voreheliche Sexualität, Homosexualität, Geburtenregelung), die Interventionen zu Eherecht, Stellung der Frau und zu Antidiskriminierung. Gemäß Benedikts oft sanfter Sprachregelung sieht er es als seine Aufgabe, »die Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten; die Vernunft immer neu einzuladen, sich auf die Suche nach dem Wahren, nach dem Guten, nach Gott zu machen ...« (Ansprache, die für den Januar 2008 an der römischen Universität Sapienza geplant war). Zur Gesamtbeurteilung: Alan Posener, Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft, Berlin 2009.
Zu nennen sind seit gut 100 Jahren zahllose Zensuren gegen Theologen, groß angelegte Kampagnen gegen die historisch-kritische Methode, Misstrauensbekundungen gegen Kultur und Wissenschaft. Man denke an die Disziplinierung der Nouvelle Théologie (1950), die Verbannung von Teilhard de Chardin in die USA (1951), die Verurteilung der Arbeiterpriester in Frankreich (1959).
Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen, München 2002, 524-580.
Daniel Deckers, Der Kardinal. Karl Lehmann. Eine Biographie, Düsseldorf 2002. Besonders enthüllend ist die dort beschriebene, selbstverständlich geheime Rolle Lehmanns beim Lehrentzug Küngs (216-224). Ohne ihn wäre, wenn man Deckers glauben darf, der Coup vom 18. Dezember 1979 nicht gelungen. Vgl. dazu auch Hans Küng, Umstrittene Wahrheit. Erinnerungen, München 2007, 598-601.
Rolf Eilers, Zehn Jahre donum vitae. Ringen um den Lebensschutz, Bonn 2009.