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Nachdenken über das Verhältnis von Glaube und Vernunft
Die römisch-katholische Tradition ist in hohem Maße von Fehlformen der Frömmigkeit infiziert: der Nostalgie, des Satzpositivismus, des tabuisierten Heiligen und eines unfreien Glaubensgehorsams. All diese Haltungen schränken den vernünftigen Umgang mit Sinnfragen ein und provozieren die Frage: Wie in Gottes Namen können wir zu einer Vernunft finden, die sich dem Glauben öffnet und dennoch menschenfreundlich, frei und gegenwartsbezogen reagiert?
Hermann Häring arbeitet den Fundamentalismus als Versuchung und Problem vieler Religionen heraus – gerade in seinen verheerenden Formen. Genau darüber muss man heute auch in unseren Kirchen sprechen. Daraus zieht er Konsequenzen für die Ökumenefähigkeit der Kirchen wie zur Friedensfähigkeit von Religionen in einem säkularen Rahmen.
Aus aktuellem Anlass: Inhaltlich ergänzt um den Rücktritt des Papstes und die damit verbundenen Diskussionen.
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Seitenzahl: 196
Dieses Buch habe ich als Streitschrift konzipiert. Es hat den aktuellen Zustand der römisch-katholischen Kirche im Auge. Nach dem Rücktritt von Benedikt XVI. ist es aktueller denn je. Es ist meine Kirche, für deren Erneuerung ich auch hier eintrete. Dabei möchte ich die aktuelle Kritik, die in vielen Veröffentlichungen zu finden ist, vertiefen. Meine These lautet, dass Rom unter Benedikt XVI. der Versuchung des Fundamentalismus erlegen war, die dort schon auf eine Tradition von einhundertfünfzig Jahren zurückblicken kann. Ich möchte den Wurzeln dieser Verfälschung nachgehen und die Parallelen mit dem protestantischen Fundamentalismus beleuchten. Schließlich verweise ich auf einige Beziehungen zum gewalttätigen, in seiner Weise skrupellosen und brutalen Fundamentalismus, über den uns die Medien täglich informieren. In ihrer Tiefenstruktur sind die Zusammenhänge erschreckend, und der christliche Fundamentalismus kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
Dieses Buch hat seine Grenzen. Erstens konzentriert es sich auf den Katholizismus römischer Prägung. Mir ist bewusst, dass ich damit einen nur kleinen Ausschnitt des umfassenden Problems ins Visier nehme. Zweitens bezieht es sich kaum auf die unverzichtbare Fachliteratur, taugt also nicht für eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung. Dabei betone ich ausdrücklich, wie viel ich von den Kennerinnen und Kennern der Materie gelernt habe. Ich hoffe auf eine Gelegenheit, dies auch öffentlich zu dokumentieren. Drittens hängen den Ausführungen in Teilen noch die Spuren eines Referates an, das ich im März 2012 vor den Delegierten der Reformbewegung »Wir sind Kirche« halten konnte. Dieses Referat ist in der Gelben Reihe dieser Vereinigung erschienen. Ich danke dafür, dass ich für diese weitere Veröffentlichung darauf zurückgreifen konnte.
Schließlich danke ich dem Gütersloher Verlagshaus, in erster Linie Thomas Schmitz für seine Initiative und Ermutigung, ohne die dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Ein letzter Dank gilt meinem Sohn Markus, der das fertige Manuskript in einem Augenblick letzter Verzweiflung dem Orkus einer verwirrten Festplatte entrissen hat.
Tübingen, im Februar 2013
Hermann Häring
Diese Streitschrift ist gegen keine Person oder Glaubensgemeinschaft gerichtet. Ich schreibe als katholischer Christ und halte die christliche Botschaft für wichtiger denn je. Aber in großem Stil wird sie traditionalistisch verfälscht und für engstirnige Interessen missbraucht. Von diesem Vorwurf nehme ich den römisch-katholischen Kirchenapparat nicht aus. Vor einigen Monaten unterstellte der Kardinal von München, Reinhard Marx, reformorientierten Kritikern, sie verwechselten die Kirche mit einem Fußballclub, deshalb verstünden sie das kirchliche Regime nicht mehr. Dabei hat er Akteure und Adressaten verwechselt. Es sind nämlich die Kirchenleitungen, die an ihre eigentliche Aufgabe zu erinnern sind. Natürlich steht es »jedermann frei, mir zu widersprechen«, wie ein berühmter Autor kürzlich erklärte, denn eine jede Kritik enthält Elemente der Übertreibung und Einseitigkeit. Aber der Widerspruch sollte Argumente beinhalten, die das formulierte Problem wenigstens anerkennen.
Kirchenkritik kann vielfältig sein: systematisch erarbeitet oder tagesbezogen, humanwissenschaftlich oder speziell theologisch orientiert, Spiegel der unübersehbaren Fülle von Einzelproblemen oder auf eine Zentralfrage orientiert. Ich versuche, die Kirche in eine weltweit bedrohliche Bewegung einzuordnen, die meist als »fundamentalistisch« charakterisiert wird und von Gewalt gekennzeichnet ist. Genauere Begriffsklärungen werden noch zu leisten sein. Es geht um eine Gefahr, von der inzwischen die prophetisch-monotheistischen, aber auch die indischen Religionen zugleich infiziert und bedroht sind.
Im Zentrum der Überlegungen steht der ideologische und mentale Zustand christlicher Glaubensgemeinschaften. Das mag erstaunen, denn der Westen preist das Christentum gerne als Religion der gewaltlosen Liebe und vergisst, dass der Fundamentalismus ausgerechnet im Christentum seine Ursprünge hat. Seit etwa hundert Jahren sind Begriff und Kernimpuls in der Welt, seit etwa vierzig Jahren wird er stark von seinen aktuellen politischen Kontexten besetzt. In politisch labilen Ländern identifizieren sich breite Bevölkerungsschichten mit einer gewalttätigen Version ihres Glaubens, einem explosiven Amalgam von massiven politischen und sozialen, ethnischen und religiösen Interessen, die immer mehr zum Terrorismus neigen. In westlichen, den sogenannten christlichen Ländern wächst die Neigung, auf Gewalt prinzipiell und offensiv mit Gewalt zu antworten.
Für das Aufkommen des Fundamentalismus gibt es vielfältige Gründe und hinter dem Begriff steckt eine differenziertere Wirklichkeit. Zunächst tritt er als Reaktion auf die Moderne mit ihren kulturellen Differenzierungen auf und widersetzt sich umso intensiver gesellschaftspolitischen Entwicklungen, als die betroffenen Länder sich der Definitionshoheit von Religionen entziehen. Religionen versuchen sich zu behaupten, indem sie sich von neuen Selbstverständlichkeiten distanzieren. Deutlich erkennen lassen sich solche Phänomene etwa im bible belt der USA, ganz anders in den aggressiven und expansiven Verhaltensweisen der Al-Qaida oder bei muslimisch-nigerianischen Freiheitsbewegungen, am politischen Streit der Sikhs in Indien oder bei hinduistischen Befreiungsbewegungen, die Indien (einschließlich Pakistan, Bangladesh, Birma und benachbarte Gebiete) zu einem neuen und reinen Großindien erneuern wollen. Man kann aber auch bei hochkonservativen, »ultra-orthodox« genannten jüdischen Bürgern im Stadtteil Mea-Shearim oder bei der zeitgenössischen Siedlungsbewegung von Juden im palästinensischen Hoheitsgebiet in die Lehre gehen. Zu nennen sind schließlich erzkonservative Strömungen, die von Benedikt XVI. stark gefördert wurden. Wurde der Fundamentalismus nicht zu einer Grundhaltung der offiziellen römisch-katholischen Kirchenlehre und Kirchenpraxis? Was also sind des Kaisers wahre Kleider? Natürlich wird da keiner primitiven Gewaltideologie gehuldigt. Aber es fragt sich, wo und in welcher Intensität sich die Anteile von Gewalt und Intoleranz, von elitär missionarischem Bewusstsein und von Gesprächsverweigerung in diesem System verstecken.
Doch bringt uns Gewaltkritik allein nicht weiter, denn solche Auswüchse lehnen wir in der Regel ab und zur Selbstkritik bieten sie nur bedingten Anlass. Es gilt also tiefer zu graben und die Frage zu stellen, wo die Wurzeln religiöser Gewalt liegen. Warum lassen sich ausgerechnet die Religionen der Liebe, der Gerechtigkeit und der allgemeinen göttlichen Gegenwart für solchen Fundamentalismus einnehmen und missbrauchen? Worin liegt ihre geheime Verwandtschaft, was haben sie in ihrem Kern mit Religion zu tun und wo beginnt die schiefe Bahn, auf die die ethisch anspruchsvollen, zur Universalisierung fähigen Religionen geraten können und in massiver Weise geraten?
Es geht also um die verborgenen Wurzeln, um die unmerklich entstehenden Verhärtungen und Verkrustungen, aus denen sich die neuzeitlichen Bedingungen des Fundamentalismus entwickeln. Ich nenne hier schon zwei Gesichtspunkte, die solche Entwicklungen überhaupt ermöglichen.
Fundamentalismus hat immer mit der Verweigerung von Gespräch und Beziehungen zu tun; aus ihr erwachsen Autoritarismus, Verhärtung und wenigstens die Neigung zu Gewalt sowie die Unfähigkeit, Wettstreit und Konkurrenzen zu ertragen. Diese Grundhaltung geht allerdings in das Grundverhalten von Gemeinschaften ein und bestimmt deren Grundgestalt. Daraus folgt:
Fundamentalismus hat immer mit der Institutionalisierung von Sinn- und Lebensfragen zu tun. Nehmen wir einen kleinen Ritus, ein kurzes Gebet oder eine Bekenntnisformel: Eine jede Institution, und sei sie nur als Ausruf, als Frage oder als Problemanzeige entwickelt, bietet sich der nachfolgenden Generation schon als orientierende Antwort an, obwohl sie ursprünglich nur eine Situation erträglich, eine Begegnung festlich, ein Ereignis begehbar und besprechbar macht. So neigen komplexe Institutionen, die eine Lebenswelt durchdringen, zur Verselbstständigung. Aus Symbolen und Symbolisierungen werden Lehrsätze, aus der Autorität von Weisheit werden Ämter, aus sinnvollen Gewohnheiten wird ein göttliches Gesetz. Aus dieser Verselbstständigung kann Fundamentalismus erwachsen.
Schließlich ist nicht zu vergessen: Eine kreativ vollzogene Religiosität, in der Menschen ein weltumgreifendes unverfügbares Geheimnis mit Hingabe erkennen und ausagieren, kann nur im Ausnahmefall zum Dauerzustand werden. Deshalb fallen wir im Regelfall immer wieder auf Riten und Lehren, auf Alltagssitten und Erlerntes zurück. Wollen wir sie wirklich besitzen, müssen und können wir sie (wie bekannt) neu erwerben. Sofern ein kultureller Kontext stabil bleibt, inspirieren sie zur neuen Entdeckung von Sinn. Doch ist diese virtuelle Religiosität, wie sie bei Anhängern einer Religion eingeübt wird, nie zu verwechseln mit den Vollzügen, also dem immer neuen Ereignis selbst. Die institutionalisierten Codes bleiben ein Angebot, während Religionen sie gerne als fertige Antwort präsentieren. Doch diese Institutionen, und wäre es auch die katholische Kirche, sind weder Religion noch Religiosität oder der Glaube selbst. Der Katholizismus hat diesen Selbstvorbehalt seit der Reformation aus gesellschaftspolitischen Gründen schuldhaft vernachlässigt.
Das alles vorausgesetzt, kennen die Institutionen-freundlichen und selbst hochinstitutionalisierten Religionen vier Räume, in denen sie ihre Dienste entfalten, ihre Erfolge erzielen, aber auch immer zur Selbstherrlichkeit verführt werden. Dies geschieht dann, wenn sie sich an die Stelle des individuellen oder kollektiven Glaubensereignisses selbst setzen. Wie sich an Beispielen aus der christlichen Tradition illustrieren lässt, gibt es dafür folgende religiös konstitutive Räume:
1. Erinnerung an eine bleibende Vergangenheit (man denke an den großen »Beginn« der Weltschöpfung);
2. Bereitstellung von festgefügten Erzählungen, Bekenntnissen und Symbolen, die einer Religion ihre Identität verleihen (man denke an die Evangelien, insbesondere die gefährliche Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung und an das Apostolische Glaubensbekenntnis);
3. Exemplarische Einübung in die Erfahrung des Heiligen (man denke an Gottesdienste oder Sakramente wie Taufe und Eucharistie);
4. Einordnung in eine umfassende und ehrfurchtgebietende Ordnung von Werten und einer zu bewahrenden Schöpfung (man denke an die Goldene Regel, den Dekalog, das Gebot der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens, die Einordnung in die Vorgaben der Natur).
Nun ist, um es salopp zu sagen, keine Religion besser als die Menschen, die sie vertreten. Aus religiöser Innenperspektive ausgedrückt: Religionen bieten oft komplizierte institutionelle Gebäude (Erinnerungen, Sprachhandlungen, Ordnungsmodelle und Annäherungen an das Heilige), in denen sich Menschen einrichten, um in ihnen zu arbeiten und ihre Welt zu gestalten. Diese Räume wirken als Angebot, das die Atmosphäre bestimmt und mit ihren Bewohnern in Interaktion tritt. Die einen lassen sich zu neuer Kreativität stimulieren, die anderen sich beruhigen; manche laufen zu humaner, religiöser oder prophetischer Hochform auf, andere richten sich bequem ein als Nutznießer all dieser Tröstungen. Zunächst sei dies ohne Wertung gesagt, denn warum sollen nicht die Unterforderten sinnvolle Orientierungen suchen zu Reflexion, Handeln oder ästhetischer Gestaltung? Oder warum sollen Überanstrengte und zuinnerst Verletzte nicht Ruhe und Trost finden?
Ferner wissen wir, dass diese Schattierungen im Verhalten immer auch vom kulturellen Gesamtzustand einer Gesellschaft abhängen. Sie kann in sich ausgeruht sein und deshalb ihr Gleichgewicht genießen. Sie kann aber auch aus den Fugen geraten und deshalb entschiedenes Handeln, moralischen Rigorismus und neue Maßstäbe fordern. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Kultur kalt oder »heiß«, mehr statisch oder dynamisch orientiert ist, mehr aus ihrer Vergangenheit oder auf ihre Zukunft hin lebt.
Es verwundert nicht, wenn wir in diesem komplexen Gefüge der Gesamtbedingungen normalerweise die Institutionen als sinnvoll erfahren und den kulturellen Rahmen mit der Sache selbst verwechseln, denn Institutionen reduzieren Komplexität. Sie versprechen Stabilität und Kontinuität, strahlen ihren Eigenwert aus und verschieben die Akzente unmerklich von der Suche zur Genügsamkeit. Verantwortung und Eigeninitiative werden delegiert und die Institutionen bieten sich an. Der Glaubenseifer nähert sich der Glaubensgewohnheit, die Glaubensgemeinschaft einem Verein, das Vertrauenspotential des Glaubens einer Versicherungsgesellschaft gegen ihn. Dies ist der Augenblick, an dem sich die Kirchenleitungen, ihnen allen voran der Bischof von Rom, als die befugten Interpreten der Wahrheit anbieten. Es kommt, wenn man so will, zu Infektionen der Selbstherrlichkeit und der Machtbesessenheit, die in allen Religionen auftreten können. Deren Erreger arbeiten immer in uns und begleiten uns beständig. Ich habe den Eindruck, dass sie sich im Violett katholischer Bischöfe und im Zinnoberrot der Kardinäle besonders wohl und resistent fühlen. Zur Katastrophenstimmung besteht aber kein Anlass, denn ein gesunder Organismus weiß auch Immunstoffe zu produzieren, und das gemeine Kirchenvolk ist seit einiger Zeit damit heftig beschäftigt. Doch zwecks wachsender Immunität sollten wir genauer über die Versuchungen und Infektionen selbst nachdenken. Dies geschieht in sechs Kapiteln zu allgemeinen Fehlorientierungen (I), zum klassischen biblischen Fundamentalismus (II), seiner römischen Sonderform (III) und Tiefenstruktur (IV), zum Problem der Gewalt (V) und der Abhilfe, die uns ein säkulares Denken leisten kann (VI).
Die erste Fehlorientierung lautet Nostalgie, also eine gefühlsgeladene Hinwendung zum Vergangenen. Es ist eine Hochschätzung mit der Tendenz dazu, dieses Vergangene zu idealisieren, sodass sich das Gewesene und die Erinnerung daran verselbstständigen. In diesem Prozess ersetzt der Ausruf: »So war es!« die je aktuelle Normierung: »So sollte es jetzt sein.«
Eine Rückwendung in die Vergangenheit ist allen Religionen aus dem indischen Raum eingeschrieben. Ihr Gewicht hat sich deutlich erhöht, denn nahezu alle Kulturen und Gesellschaften wandeln sich in rasantem Tempo und entwickeln distanziertere Verhältnisse zu ihren Religionen. So lebt der Islam, dem wir täglich begegnen, aus einer religiös glorreichen, politisch stolzen und kulturell ungemein reichen Erinnerung, zugleich aus einer wichtigen Erfahrung: In einer Epoche des allgemeinen Glaubensverlustes schafft das unbeugsame Festhalten an den Ursprüngen Widerstandskraft gegen gesellschaftliche Demütigung, politische Unterdrückung und kulturelle Entfremdung. Die Christen Westeuropas blicken – oft mit Wehmut – auf eine volkskirchlich integrierte und religiös »funktionierende« Epoche zurück. Sonntags waren die Kirchen noch gut besucht und von machtvollen Gesängen erfüllt. Katholikinnen und Katholiken erinnern sich an triumphale Prozessionen, die stolzen Fahnen der Jugendverbände und an eine Glaubenslehre, die keine Lebensfrage ohne Antwort ließ. Heute leben Religionen geradezu definitionsgemäß aus einer je besseren Vergangenheit.
Diese religiöse Grunderfahrung verleitet zum Schluss, die Rückkehr zu früheren Überzeugungen und Forderungen, Praktiken und Gewissheiten brächte Erneuerung und Segen. War in unseren Gemeinden vor vierzig Jahren nicht unendlich viel mehr los? Bot die alte Liturgie nicht einen heilen, rundum stimmigen Kosmos von Erlösung, göttlicher Wahrheit und deren ausgewogener Feier? Gab es nicht viele vorsäkulare oder weniger säkularisierte Epochen, in denen die Seelsorge reibungslos funktionierte, die Klöster gefüllt waren und die Feste den Jahresrhythmus wie selbstverständlich strukturierten? Mag die Geschichtswissenschaft auch anderes berichten, die religiöse Gegenwartserfahrung ist auf Vergangenheit gepolt.
Um den Realitätssinn zu stärken und aus Gründen der Prävention sollten wir uns von Zeit zu Zeit solchen nostalgischen Träumen überlassen, sie aber konsequent zu Ende träumen. Denn unter der Decke des goldenen Scheins erscheinen bald die Probleme einer geschlossenen und repressiven Gesellschaft, für Katholiken auch die stickige Luft der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil (1962–65). Es gibt Gründe dafür, dass die Zeit danach in Windeseile zum Verfall der selbstherrlichen Kirchenkultur führte. Ich denke an eine rationalistisch ausgetrocknete Theologie, die wir »neuscholastisch« nannten, und eine unverstandene Liturgie mit dem toten Latein, das den Glauben faktisch ausschloss. Wir treffen auf eine unnahbare Kirchenstruktur, eine unterdrückende und psychologisch katastrophale Beichtpraxis, verstummte Frauen und eine rigide Sexualmoral, die mehr als eine Seele zerstörte. Man lese nur die Analysen von H. Oschwald Auf der Flucht vor dem Kaplan. Wie uns die Kirche den Glauben austrieb(2011) oder J. Ratzingers Bericht über die dritte Konzilssession (1964). Er spricht von der »Paraliturgie«, die die wahre Liturgie verdeckte, der »Einheit und Starrheit der Zeremonien«, gegen die die Reformation zu Recht eingeschritten sei, und von der »Mauer der Latinität«, ohne die der Gottesdienst »weder als Verkündigung noch als Einladung zum Gebet in Funktion treten kann« (16–22).
Gegen nostalgische Reaktionen ist keine der großen Weltreligionen gefeit, denn sie alle leben aus einer legitimen konstitutiven Geschichte des Anfangs, in dem sie sich geformt haben, der ihnen ihre Kernkriterien liefert und aus dem sie sich immer wieder erneuern. Deshalb beginnt Hans Küng seine Religionsanalysen konsequent mit den Fragen nach dem »Ursprung« und, eng damit verbunden, dem »Zentrum« ihres Glaubens. Man denke an das Leben und die Predigten des Buddha, die an Moses angelehnte Gründungsgeschichte des jüdischen Glaubens, an die Evangelien, die uns Leben, Tod und Auferstehung Jesu in mehreren Facetten vergegenwärtigen, schließlich an Muhammad und den Koran, der als Gottes unmittelbares Wort die unfehlbare Gründungsurkunde des Islam darstellt.
Diese Erinnerungen, die oft in einen Mythos vom reinen Beginn gefasst sind, sind für die Identität ihrer Religionen unabdingbar‚ sonst hätten sie gar nicht beginnen können. Recht verstanden waren es aber keine Zwangsjacken, denn eine jede der großen Religionen kennt in ihrer Frühphase enorme Anpassungsleistungen, höchst vielfältige, flexible, meistens vielschichtige Entwicklungen. Man denke nur daran, wie Paulus mit dem urjüdischen Erbe der christlichen Urbotschaft umging. Es sind Hinweise, mit denen zeitgenössische Christen tastend und mit hohem Respekt, aber auch aktiv verstehend und in gemeinsamer Kreativität umgehen sollten. Tradition, Kontinuität und kirchliche Einheit leben zwar aus der Vergangenheit, sind aber auf die Zukunft ausgerichtet.
Auch die kirchlich legitimierte, also die »offizielle« Tradition hat sich nicht wie aus Geisterhand oder durch göttliche Intervention entwickelt, sondern ist immer auch von Menschen gemacht, oft durch spezielles Interesse vorangetrieben, vielfach stilisiert und durch die Auswahl bestimmter Traditionselemente zustande gekommen. So anerkennt Rom in diesen Tagen nur noch, was römisch akzeptiert oder verordnet ist und sich bruchlos ins römische Kirchenbild und in die römisch verstandene Einheit dieser Kirche einordnen lässt. Seit Jahrhunderten bewahrt die Großinstitution Rom ihre Identität nur dadurch, dass sie all das rigoros ausscheidet, was nicht in ihre Monostruktur passt. In weniger scharfer Form zeigt sich dieser Mechanismus auch in den orthodoxen und anglikanischen Kirchen, in den wohl etablierten Kirchen der Reformation, aber auch in vielen Denominationen, in Frei- und Unabhängigen Kirchen auf allen Kontinenten. Und es ist keine Frage: In ihnen allen gilt das Überkommene und Erlernte, gelten die erfolgreichen Gebräuche, Gebets- und Lebensregeln als hoch geachtet. In weniger organisierten Religionen (etwa im buddhistischen Raum oder den zahlreichen Traditionen Indiens) konnte diese aktive Traditionsbildung kaum greifen, ihre Kontinuität haben sie deshalb nicht verloren.
Damit lehne ich übernommene Leitwerte nicht ab. Im Gegenteil, nichts kann unserer Kultur mehr Stabilität verleihen als eine Hochschätzung ihrer Geschichte. Aber im Blick auf den gegenwärtigen Struktur- und Werteumbruch gilt es, genauer hinzuschauen: Welche Traditionen sind zur leeren, nur noch beruhigenden Gewohnheit verkommen? Welche Werte sind (im Licht der jesuanischen Botschaft der Nächstenliebe, des muslimischen Appells an einen barmherzigen Gott oder der jüdischen Leidenschaft für eine gerechte Gesellschaft) neu herauszuarbeiten und zu aktualisieren? Wie können wir die Wurzeln für das religionsübergreifende, allen gemeinsame Weltethos stärken?
Gewiss, mit seinen nostalgischen Versuchungen steht das Christentum unter den Religionen nicht allein. Man muss nur einmal ein buddhistisches Heiligtum, einen hinduistischen Tempel oder einen Shinto-Schrein besuchen, einen Abend am Ganges in Varanasi, einen Morgen bei der Mönchsspeisung in Bangkok oder einen Tag in einem Reservat nordamerikanischer Indios, etwa der Hopi in der Navajo-Region verbringen. Die Übergänge von der vitalen Ursprungstreue, die man dort überall trifft, zur lähmenden Nostalgie des europäischen Christentums sind oft fließend und in täglicher Arbeit zu klären.
Wir alle, auch die katholischen Reformgruppen sind dagegen nicht gefeit. Inzwischen gilt das auch für den Umgang mit dem 2. Vatikanischen Konzil. Wir sind auf dem besten Weg, dieses Ereignis und die verabschiedeten Dokumente zu einem Mythos hochzustilisieren. Dabei hat es in seinen Texten das Dilemma zwischen Tradition und Gegenwart vermutlich nicht überzeugend gelöst. Aber dieses Konzil hat etwas viel Wichtigeres zustande gebracht. Es hat der Kirchengemeinschaft der Getauften einen Geist mitgegeben, der sie zur Erneuerung, zum aggiornamento, zum »Sprung nach vorn« (Johannes XXIII.) antreibt. Dass dieses Ziel nicht einfach wird, war vorauszusehen, denn schließlich war eine Blockade von vierhundertfünfzig Jahren beiseite zu räumen. Das musste Widerstände schaffen. Denn zuerst galt es, über konkrete Aktionspläne ein Programm zu finden. Wirklich mühsam wurde das Geschäft, als die beiden vergangenen Päpste in wachsender Entschiedenheit ihrer angestammten, inzwischen verhärteten Nostalgie frönten. Damit untergräbt sie systematisch ihre vom »Volk« eingeforderte Autorität. Denn je rasanter sich unsere Gesellschaft entwickelt, in Neuerungen sich geradezu überschlägt, umso klarer wird die Erkenntnis, dass die so schöne, uns einlullende Nostalgie zum schleichenden Tod dieser Kirche führt, sie zumindest in den Zustand einer zwar großen, aber isolierten Sekte treiben kann.
Die zweite Fehlorientierung nenne ich Positivismus der Worte und der Sätze. Wieder rühren wir an eine Dimension, die für Weltreligionen unabdingbar ist. Gleich, ob wir sie prophetisch, weisheitlich oder mystisch nennen, und gleich, ob sie auf die messianische Wiederkunft warten, die ewige Wiedergeburt einüben oder in tiefer Versenkung in das göttliche Ein-und-Alles eingehen – sie alle werden getragen und inspiriert von kostbaren Texten, seien es Erzählungen oder Belehrungen, Bekenntnisse oder Prophetien, Gebete oder mystische Rufe, die wir Gläubige alle lesen und lernen, meditieren und auslegen, uns liturgisch aneignen oder theologisch reflektieren. Daraus ergeben sich erarbeitete oder antrainierte Vorlieben für geheiligte, uns liebgewordene Formeln. Unversehens können sie an die Stelle dessen treten, was sie meinen oder zum Ausdruck bringen. Musterbeispiele dafür sind immer wieder zitierte Stücke aus den Veden oder der buddhistischen Tradition, der Koran oder die großen Glaubensformeln der christlichen Tradition. Gibt es Grenzen dieser Aneignung? Wann schlagen sie um in mechanische Repetition oder in die automatisierte Welt von verselbstständigten Vorstellungen und Projektionen?
Unbestritten ist, dass eine überlieferte Sprache und deren Inhalte Identität verleihen. Sie bilden für Weltreligionen ein unverzichtbares Kernelement. Mit ihnen schafft sich jede Religion ihren eigenen Kosmos von Mythen, Berichten und Bildern. Es entstehen ganze Welten von Wirklichkeitsdeutung sowie einer jenseitigen, auf Vergangenheit und Zukunft gerichteten Imagination. Sie alle transportieren Orte und Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste überall dorthin, wo diese Worte aufgeschrieben sind und vorgetragen werden. Man muss nicht mehr leiblich in Jerusalem sein, um diese Stadt zu sehen, nicht bei der Schöpfung der Welt gewesen sein, um sie mitzuerleben. Selbst historische Gestalten und Ereignisse sind immer so dargestellt, dass ihre universale Gegenwart durchsichtig und nachvollziehbar wird. Die erzählte Erinnerung etwa an Jesu Tod und Auferstehung führt zu seiner Gegenwartserfahrung in der sonntäglichen Eucharistie.
Kurz, eine jede Religion ist im Kosmos ihrer Schriften abgebildet, erhalten, beliebig verfügbar. Ohne die Thora wäre das Judentum nicht denkbar, ebenso wenig das Christentum ohne die Evangelien, der Islam ohne den Koran, der Buddhismus ohne den Pali-Kanon, die Weisheitsreligion Chinas ohne die Schriften ihrer großen Lehrer. Deshalb werden die zentralen Texte mit höchster Sorgfalt weitergegeben und gehütet, ausgelegt, gegebenenfalls mit wissenschaftlichen Methoden interpretiert und immer wieder vergegenwärtigt. Dies gehört zum Kerngeschäft derer, die dazu besonders ausgebildet und befähigt sind, seien es Mönche oder Nonnen, Prophetinnen oder Propheten, Fachleute einer wissenschaftlich arbeitenden Theologie. Ohne sie wäre eine Weltreligion nicht denkbar.
In allen Religionen sehen wir, dass heilige Texte über Jahrtausende ihre Kraft und ihre Bedeutung behalten können. Dies gilt auch für die biblischen Texte. Nach einer Phase ihrer Entstehung und Gestaltung sind sie bis heute auf Punkt und Komma so geblieben, wie wir sie heute noch lesen können. Zwar gingen sie mit Aufklärung, Geschichts- und Sprachforschung, schließlich mit der periodisch erneuerten Religionskritik durch früher unerhörte Fragefeuer und Interpretationswellen. Sie führten zu inneren Korrekturen, Differenzierungen und Klarstellungen, die viel Schrecken auslösten. Doch schließlich haben sie sich bewährt, denn allen Kassandrarufen zum Trotz (die bis heute nicht verstummt sind) erhielten ihre Aussagen schärfere Konturen und ihre geistliche Kraft zeigt sich intensiver denn je. Vor allem zeigte sich, wie einseitig die Bibel jahrhundertelang ausgelegt wurde. Dies war nicht falsch, aber eben verengt und von einem platonischen Kontext geleitet. Man suchte rational beschreibende Inhalte, transformierte Poesie in Doktrinen und nahm den Mythen ihre Kraft, indem man sie zu historischen Ereignissen banalisierte. Wir können dem Islam nur wünschen, dass auch er irgendwann durch dieses Reinigungsbad hindurchgeht, das Judentum und Christentum um Jahrhunderte weiterbrachte.
Die Folgerung, die ich daraus ziehe, ist eindeutig: Wir sollten die identitätsbildenden Texte der Religionen nicht einfach als rational beschreibendes Material gleichschalten und plätten, sondern mit allen Mitteln der uns verfügbaren Wissenschaften erschließen und ihre innere Differenziertheit