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Die Grand Opéra des 19. Jahrhunderts stellt sich als ein Vexierbild dar. Auf den ersten Blick zeigt sie sich als Vergnügungsapparat zur Erzeugung visueller und emotionaler Sensationen. In dieses Bild aber schreiben sich die Züge eines Seismografen ein, der die gesellschaftlichen Erschütterungen im Zeitalter der Revolutionen präzise verzeichnet. Die Schnittlinie beider Ansichten durchquert die Grand Opéra als "Kraftwerk der Gefühle" (A. Kluge). In ihm kehren die verdrängten Erfahrungen und Traumata von Terror, Umbruch und Rebellion als fremde Leidenschaften wieder. Sie bieten die Chance der Wiederaneignung und Transformation der in die Gegenwart ragenden Vergangenheit. Das Buch untersucht die Szene der Grand Opéra und geht den Spuren ihres Nachlebens in Inszenierungen und Werken des zeitgenössischen Musiktheaters nach. Mit Gastbeiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein. Die Arbeit des Forschungsprojekts "Das Theater der Wiederholung" von Günther Heeg wird mit einem zweiten Band zum Reenactment fortgesetzt.
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Seitenzahl: 358
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
Günther Heeg
Fremde Leidenschaften Oper
Das Theater der Wiederholung I
Mit Beiträgen von Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein
Recherchen 161
© 2021 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Redaktion: Lea Fucks, Gina Krewer, Meera
Theeßen Covergestaltung und Satz: Tabea Feuerstein
Korrektur: Judith Schäfer
Umschlagabbildung: Philippe Chapéron: Dekorationsentwurf zur Schlussszene von
Giacomo Meyerbeers Oper Le Prophète, 1897
Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-369-9 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-376-7 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-356-9 (EPUB)
Recherchen 161
Günther Heeg
Das Theater der Wiederholung I
Mit Beiträgen vonMerle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein
MitarbeitLea Fucks, Gina Krewer, Meera Theeßen
Günther Heeg
Vorwort
I Grand Opéra
Günther Heeg
Fremde Leidenschaften
Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung
I Traum und Trauma
Die Grand Opéra als Traumproduzent und Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen
II Die Revolution (in) der Grand Opéra
Giacomo Meyerbeers Le Prophète
Merle Tjadina Fahrholz
Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor mittelalterlicher Folie
Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin
Anselm Gerhard
Tragödie mit den Mitteln der Farce
Stilbrüche und Gattungsmischung in MeyerbeersLes Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts
II Vincenzo Bellini
Günther Heeg
Trauer- und Traumarbeit im Belcanto
Die Stuttgarter Inszenierungen von Vincenzo Bellinis Opern Norma, La Sonnambula und I Puritani
III Richard Wagner
Günther Heeg
»Das deutscheste von allen Wagner-Stücken« öffnet sich dem Fremden
Barrie Koskys Inszenierung von Richard WagnersDie Meistersinger von Nürnberg
IV Bertolt Brecht/Kurt Weill
Günther Heeg
Die Oper als Herausforderung des epischen Theaters
Günther Heeg
Kapitalismus/Gefühle
Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper
Günther Heeg
»Ändere die Welt, sie braucht es.«
Rede auf Peter Konwitschny, den Antichristen der Freunde der toten Oper, zum Antritt der Bertolt Brecht Gastprofessur der Stadt Leipzig
V Bernd Alois Zimmermann
Günther Heeg
Stimmen im Lärm der Zeit
Peter Konwitschnys Theaterarbeit mit B. A. Zimmermanns Oper Die Soldaten
VI Helmut Lachenmann
Klaus Zehelein
»Mit den Ohren schauen und mit den Augen hören«
Eine Annäherung an Helmut Lachenmanns»Musik mit Bildern«: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Autorinnen und Autoren
Gravitationszentrum dieses Buchs ist die Gattung der Grand Opéra aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Anziehungskraft ihres Umgangs mit den Leidenschaften, mit Geschichte und Fremdheit wirkt auch in den nachfolgenden Untersuchungen zu Werken und Inszenierungen von Richard Wagner bis Helmut Lachenmann nach.
Gefeiert durch das 19. Jahrhundert hindurch, sind die Werke von Giacomo Meyerbeer, Jacques Fromental Halévy, Daniel-François-Esprit Auber und anderer im 20. Jahrhundert aus den Spielplänen verschwunden. Das geschah in Deutschland vor allem aus dem Grund, dass die bekanntesten Vertreter der Grand Opéra Juden waren. Auch nach 1945 blieb eine Rückbesinnung auf sie aus. Beschwiegen blieb, dass die Komponisten der Grand Opéra im europäischen Repertoire bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs führend vertreten waren.1 Erst in den Jahren vor der Jahrtausendwende setzte in der Forschung und in den Opernhäusern selbst eine Wiederentdeckung der Grand Opéra ein. Anselm Gerhards bahnbrechende Arbeit über Die Verstädterung der Oper2 im 19. Jahrhundert bereitete einer Fülle internationaler Publikationen und Editionen zu einzelnen Komponisten und Aspekten der Grand Opéra den Weg. Ebenso erfreulich ist die parallel verlaufende künstlerische Auseinandersetzung mit deren Werken. Inszenierungen von John Dew, Jossi Wieler und Sergio Morabito, Peter Konwitschny und Tobias Kratzer sind hier exemplarisch zu nennen. Zusammen mit der Forschung und dem Engagement der Häuser sowie der Sängerinnen und Sänger sind sie ein Zeichen dafür, dass in den Grands Opéras ein von der Geschichte Unabgegoltenes zu entdecken und für die Gegenwart fruchtbar zu machen ist. Dem will diese Arbeit auf den Grund gehen.
Auf dem Grund liegt zunächst der Antisemitismus in seiner modellhaften Ausprägung auf dem Gebiet der Kunst. Über dieses reicht er weit hinaus in den unmittelbaren politischen und sozialen Hass hinein. Der Antisemitismus bildet die Folie, vor der sich die künstlerisch-politische Praxis der Komponisten der Grand Opéra, allen voran die Opern von Giacomo Meyerbeer, abhebt. Mit ihm fängt alles an.
Diese Erfahrung machte auch der Autor dieses Bands. In dem ihm zur Konfirmation geschenkten Buch Du und die Musik konnte er Anfang der sechziger Jahre lesen:
[I]n Giacomo Meyerbeers Werken wurde diese Gattung [der Grand Opéra – G. H.] peinlich. Ohne Frage waren seine Opern geschickt gemacht. Besonders in den Hugenotten gibt es packende Theaterszenen. Aber der Mangel an echter Erfindung ließ sich schon damals beim besten Willen nicht überhören. Deshalb konnten sich Schumann, Wagner und andere Großmeister nicht genug in seiner Verurteilung tun. Wir Heutigen überlassen die Opern Meyerbeers den Archiven.3
Ergänzt man noch, dass die Anmerkungen zur Biographie Meyerbeers mit dem Satz beginnen: »Stammte aus einer reichen Bankierfamilie«4, so findet sich hier wenige Jahre nach der Shoa in einem massenhaft verbreiteten Bildungsband für Jugendliche die Grundfigur des Antisemitismus in der Auffassung von Kunst wieder. In idealtypischer Weise vorgeprägt wurde sie von Richard Wagner. In dem 1850 zuerst unter Pseudonym veröffentlichten Pamphlet Das Judentum in der Musik5 und in seiner grundlegenden kunsttheoretischen Abhandlung Oper und Drama6 von 1852 hat Wagner auf schäbigste und unsäglichste Weise den geistigen Vatermord an seinem Förderer Meyerbeer vollzogen, um sich die Konkurrenz vom Leibe zu schaffen und den Platz an der Spitze der Opernkomponisten zu erobern. Zugleich hat er ein grundlegendes antisemitisches Stereotyp aufgegriffen und zum Modell ausgebaut. Es kann als Passepartout für das Ressentiment aller (vermeintlich oder tatsächlich) Zukurzgekommenen und gesellschaftlich Ohnmächtigen gegenüber denjenigen gelten, denen sozialer Rang und höchste Anerkennung (vermeintlich) unberechtigterweise allein durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe zufliegen, die von Lug und Trug lebt. Damit die Ummünzung des sozialen Konfliktstoffs ins Ethnische und Moralische gelingen kann, bedarf es einer rassistischen Zuschreibung und einer Entwertung der Arbeit der rassistisch stigmatisierten Gruppe. Wagner unternimmt das aus seiner Sicht in idealtypischer Weise:
Der Jude, der an sich unfähig ist, weder durch seine äußere Erscheinung, noch durch seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben, hat nichtsdestoweniger es vermocht, in der verbreitetsten der modernen Kunstarten, der Musik, zur Beherrschung des öffentlichen Geschmacks zu gelangen.7
Der Jude ist rassistisch dingfest gemacht und als Nichtskönner entlarvt. Wie aber gelingt es ihm – in Gestalt seines prominentesten Repräsentanten Meyerbeer –, jahrzehntelang das Pariser Publikum zu betören und den »öffentlichen Geschmack« zu manipulieren? Die wegweisende Antwort im Hinblick auf die Ausgestaltung des Antisemitismus gibt Wagner in Oper und Drama:
Das Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem ›Effekte‹ zu verstehen haben, so ist es wichtig, […] dass wir uns […] des näherliegenden Worts ›Wirkung‹ hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff ›Wirkung‹ immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor. […] Wollen wir bezeichnen, was wir unter diesem Wort [Effekt – G. H.] verstehen, so dürfen wir ›Effekt‹ übersetzen durch Wirkung ohne Ursache.
In der Tat bringt die Meyerbeersche Musik […] eine Wirkung ohne Ursache hervor.8
Pure Effekthascherei ist es in Wagners Augen, womit der Jude die Menschen manipuliert und betrügt. Um die Wirkung als »Effekt« abzuwerten, macht Wagner einen folgenreichen Gegensatz auf zwischen Oberfläche und wesenhafter Tiefe. Dem bloß Äußerlichen und Oberflächlichen, dem »geschickt« (siehe das Zitat von Herzfeld oben) auf Wirkung Berechneten, dem »Gleichgültige[n] und Triviale[n]«9, der Lieblosigkeit einer kalten Leidenschaftlichkeit und nicht zuletzt dem nur Nachgemachten, »[N]achgeplapperte[n]« in der »nachäffenden Sprache unserer jüdischen Musikmacher«10 stellt Wagner das Ursprüngliche und Ursächliche eines »allgemeingültige[n] menschliche[n] Gehalts«11, das Echte und Edle, »die tiefste seelenvolle Sympathie«12, ein originales Schöpfertum und den unmittelbaren Ausdruck wahrer Leidenschaft entgegen.
Wagners Beschreibungen und moralische Bewertungen der Eigenschaften von Menschen, die (angeblich) ein »oberflächliches« Leben führen, sind feste Bestandteile im Repertoire antisemitischer Zuschreibungen geworden. Ihren emotionalen Drive beziehen sie aus der angsterfüllten Abwehr moderner Zeiten. Der Erosion substantieller Versicherungen und der Kontingenzerfahrung einer aufgeklärten Gesellschaft, der sozialen Dynamik der industriellen Revolution und dem raschen Wechsel kultureller Ausdrucks- und emotionaler Verkehrsformen setzt Wagner die trotzige Behauptung eines (angeblich) immer noch intakten Substantiellen, Eigentlichen, Ursprünglichen und Tiefempfundenen entgegen. Je mehr aber die Zeit über die Behauptung fundamentaler Gewissheiten hinweggeschritten ist, umso stärker richtet sich der Hass der fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft gegen diejenigen, die daran vermeintlich Schuld tragen: die Juden. Das ist die historisch-emotionale Dynamik, die Wagners Antisemitismus antreibt.
Meyerbeer treffen Wagners Invektiven nicht. Er hat in und mit der Moderne zu leben gelernt. Letzte Sinnbegründungen und fundamentalistische Verankerungen von Charakteren, Leidenschaften und musikalischem Ausdruck sind in seinen Grand Opéras nicht anzutreffen. Gleichwohl sind sie nicht ohne Gehalt. Sie machen Sinn – zumeist mehrfachen – im Zuge einer gezielten und differenzierten Wiederaneignung und Transformation von Bruchstücken der Vergangenheit in einer konkreten historischen Situation. Ohne Ursprungssehnsucht und teleologische Heilsversprechen wird Geschichte für Meyerbeer zu einem Potential, das sich in die Gegenwart einbringen und wiederholen lässt, um sie zu überschreiten.
Wiederholung ist das entscheidende Stichwort für Meyerbeers Rückwendung zur Geschichte, ihre Aneignung in der Gegenwart und deren Transformation. Das geht einher mit Sören Kierkegaards Beschreibung der Wiederholung als ein Erinnern »nach vorwärts«13. 1843 prognostiziert Kierkegaard, dass die Wiederholung künftig eine wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: »Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.«14 Die Wiederholung ist in einer Zeit der aufgegebenen Letztbegründungen und Heilsgewissheiten die einzige säkulare kulturelle Praxis, die im Rückgriff auf die Bruchstücke der Vergangenheit den Horizont der Gegenwart zu überschreiten vermag. Zugleich ist die Wiederholung eben wegen eines fehlenden substantiellen Kerns ein Vorgang der Kostümierung und Maskerade, also ein theatraler Akt. So hat es Gilles Deleuze in seiner paradigmatischen Studie Differenz und Wiederholung15 dargestellt, die 125 Jahre nach Kierkegaard auf dessen Vorhersage zurückkommt. Giacomo Meyerbeers zur gleichen Zeit wie Kierkegaards Abhandlung entstehende Opern lassen sich als ein Theater der Wiederholung verstehen. Ihnen gelingt es, beträchtliche Zeit vor Bertolt Brecht, ihre Gegenwart zu historisieren und aus der Konstellation von Zeiten und Räumen, die in ihnen zusammentreffen, Gehalt und Wirkung zu erzielen. Ohne Rekurs auf eine längst obsolete »Tiefe« gewinnen sie der »Oberfläche« des Spektakels, das die Grand Opéra auch ist, jenen profanen Sinn ab, der in unserer von fundamentalistischen Bewegungen heimgesuchten Gegenwart erneut gebraucht wird. Das Theater der Wiederholung in der Grand Opéra zu entdecken und seine Bedeutung für die Gegenwart darzustellen ist das erste wesentliche Ziel dieses Buchs.
Das andere ist die Offenlegung der Stellung zum Fremden und zu den Leidenschaften in der Grand Opéra. Der Titel dieses Buchs Fremde Leidenschaften Oper weist darauf hin, dass die Leidenschaften, die sich auf der Opernbühne Gehör verschaffen, nicht – wie es weitverbreiteter Ansicht entspricht – der leidenschaftliche Ausdruck der handelnden Figuren sind, die auf unmittelbare Resonanz stoßen in den Herzen der Zuschauenden und Zuhörenden. So noch hat es Wagner gesehen und sein (Vor-)Urteil hat sich hartnäckig gehalten: »Der Gesang ist […] die in höchster Leidenschaft erregte Rede: Die Musik ist die Sprache der Leidenschaft. […] Sehr natürlich« spricht Wagner deshalb von dem »Gesange als dem lebhaftesten und unwiderleglich wahrsten Ausdrucke des persönlichen Empfindungswesens«16. Die Vorstellung, dass Leidenschaften nicht der natürliche Ausdruck einer schönen Seele sind, ist Wagner ein Gräuel. Nahezu mit Fassungslosigkeit beschreibt er in Oper und Drama daher, dass die berühmte Arie »Roi du ciel et des anges« am Ende des 3. Akts von Meyerbeers Le Prophète »eine[.] dem Volksgesange abgelauschte[.], zu rauschender Fülle gesteigerte[.] hymnenartige Melodie«17 – keine schlechte Beschreibung im Übrigen –, nicht der leidenschaftliche Seelenausdruck eines »hochbegeisterte[n] Held[en]« ist, »der sich aus innerster Entzückung in jene Melodie ergießen musste«18, sondern eine manipulative Wiederholung von musikalischen Topoi früherer, religiös-ekstatischer Leidenschaften, die der zerrissene Held in Meyerbeers Oper in dem Augenblick einsetzt, als er mit dem Rücken zur Wand steht, um eine aussichtslose Lage noch zu wenden.
Die Vorstellung einer nicht an den persönlichen Ausdruck gebundenen Leidenschaft ist Wagner fremd. Das Fremde aber erregt seinen angstbesetzten Abscheu. In der rituellen Ausübung des jüdischen Glaubens in der Volkssynagoge erscheint ihm »die Fratze des gottesdienstlichen Gesangs«19, die er nicht anders als mit herabwürdigender Abwehr verfolgen kann:
Wer ist nicht von der widerwärtigsten Empfindung, gemischt von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karikatur widerlicher zu entstellen vermag, als es sich hier mit vollem naiven Ernst darbietet.20
Viel unbewusste Leidenschaft ist im Spiel in dieser Suada, vor allem aber die Angst vor dem Fremden, die in Hass umschlägt. Durch das Fremde sieht Wagner seine Idee vom unmittelbaren persönlichen Ausdruck einer Leidenschaft der Seele in Gefahr. An diese Idee gebunden ist die Souveränität eines heldischen Subjekts, dem nichts an und in sich fremd ist. Von daher rühren die Angst und der Hass, mit denen jeder (vermeintliche) Angriff auf die Souveränität dieses Subjekts verfolgt wird. Die Verteidigung der bis heute weitverbreiteten Vorstellung vom persönlichen Ausdruck der Leidenschaften durch die Protagonist:innen der Opernszene, so lässt sich daraus folgern, ist kein harmloses Festhalten an einer ästhetischen Gewohnheit, sondern eine ästhetisch-politische Entscheidung, die zum Ausschluss und zur Verfolgung des Fremden führt.
Leidenschaften im leidenschaftslosen bürgerlichen Zeitalter sind auch auf der Opernbühne nicht der subjektive Ausdruck der handelnden Personen, sondern artikulieren sich im Rahmen einer Geschichte der Leidenschaften, die von Vergessen und Verdrängung, von unbewusster Wiederkehr, traumatischer Symptomatik und bewusster Wiederaneignung gezeichnet ist. Sie sind nicht einzelnen Personen zu eigen, sondern erscheinen immer an einem anderen Ort und – entsprechend der Beziehungs-Geschichte der Affekte – zwischen den dramatis personae. Leidenschaften in der Oper sind somit für ein singendes wie ein zuhörendes Subjekt, die um Ausdruck ringen, fremde Leidenschaften. In ihrer Fremdheit aber bieten sie die Chance, die Geschichte der Leidenschaften, in die die Einzelnen verstrickt sind, in der Wiederholung zu erfahren und als fremde Leidenschaften im Eigenen anzunehmen. Eben diese Erfahrung lassen sich in der Grand Opéra und besonders in den Opern von Giacomo Meyerbeer machen. Die Aktualität dieser Erfahrung der Leidenschaften in der Grand Opéra darzulegen ist das zweite wesentliche Ziel des Buchs.
Das Theater der Wiederholung, das Fremde und die Leidenschaften bilden den dreifachen Fokus der Untersuchungen zur Grand Opéra. Sie bildeten die leitende Trias der Untersuchungen, die der Grand Opéra im DFG-Forschungsprojekt Das Theater der Wiederholung unter der Leitung des Autors gewidmet waren. Diese Trias bestimmt auch die Perspektive der nachfolgenden Vorträge des Autors zu Opern und zeitgenössischen Inszenierungen von Vincenzo Bellini, Richard Wagner, Bertolt Brecht und Kurt Weill sowie Bernd Alois Zimmermann. Die für dieses Buch exemplarisch herangezogenen Arbeiten von Jossi Wieler und Sergio Morabito zu den Opern Norma, La Sonnambula und I Puritani von Vincenzo Bellini, von Barrie Kosky zu Richard Wagners Meistersingern und von Peter Konwitschny zu Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten zeigen, wie sehr das zeitgenössische Musiktheater, bewusst oder unbewusst, das Theater der Wiederholung und die Fremde der Leidenschaften in der Grand Opéra in der Gegenwart produktiv zu machen versteht.
Große Freude bereiten dem Autor die Gastbeiträge dreier ausgewiesener Koryphäen auf dem Gebiet der Grand Opéra und des zeitgenössischen Musiktheaters. Mit ihrem Fachwissen und ihren Erfahrungen aus der dramaturgischen Praxis bereichern sie das Buch in außerordentlichem Maße.
Merle Fahrholz, Chefdramaturgin der Oper Dortmund, behandelt in ihrem Beitrag Ein bürgerlicher Gesellschaftsentwurf vor mittelalterlicher Folie zu Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin (1829) den Historismus der auf Walter Scotts Ivanhoe zurückgehenden »Große[n] romantische[n] Oper« und zeigt die vielfältigen Bezüge der mittelalterlichen Handlung zu den zeitgeschichtlichen Problemlagen und Herausforderungen der bürgerlichen Gesellschaft wie die nationalstaatliche Einigung und das Verhältnis königlicher und bürgerlicher Souveränität auf. Obgleich keine Grand Opéra dem Namen nach, trägt Der Templer und die Jüdin viele ihrer Züge und bedeutet eine willkommene Spiegelung der französischen und deutschen Zustände.
Anselm Gerhard, Professor für Musikwissenschaft und Direktor des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Bern, rekurriert mit dem Titel seines Beitrags Tragödie mit den Mitteln der Farce bewusst auf Karl Marx’ Satz: »Hegel bemerkt irgendwo, dass alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.«21 Marx’ historische Konstellierung von Tragödie und Farce im Zeitalter der Revolutionen von 1789 bis 1848/49 kann als Nukleus eines Theaters der Wiederholung gelesen werden. Anselm Gerhard greift diese Anregung auf und untersucht zur Überprüfung, Differenzierung und Erweiterung dieses Konzepts »Stilbrüche und Gattungsmischung in Meyerbeers Les Huguenots und anderen Opern aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts«.
Klaus Zehelein, langjähriger Intendant der Oper Stuttgart und Dramaturg der Stuttgarter Aufführung von Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997), unternimmt in seinem Beitrag »Mit den Ohren schauen und mit den Augen hören« eine Annäherung an Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern«. Im Fokus seiner Ausführungen stehen dabei nicht nur der Rückgriff auf Andersens Märchen und seine Rekontextualisierung mit Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin, sondern vor allem die sinnlich-haptische Hervorbringung von Gefühlen und Leidenschaften durch eine Musique concrète instrumentale jenseits der Repräsentation eines subjektiven Ausdrucks. Sie bildet den Fluchtpunkt einer Entwicklung, die mit Meyerbeer und der Grand Opéra begann.
Ich danke Merle Fahrholz, Anselm Gerhard und Klaus Zehelein sehr herzlich für die Veröffentlichung ihrer Arbeiten in diesem Buch.
Judith Schäfer und Nicole Gronemeyer vom Verlag Theater der Zeit danke ich für die umsichtige Endredaktion und die Betreuung des Buchs.
Fremde Leidenschaften Oper wäre nicht zustande gekommen ohne die Mitarbeit von Lea Fucks, Gina Krewer und Meera Theeßen vom Centre of Competence for Theatre (CCT) der Universität Leipzig an diesem Band. Mit ihrer Klugheit, ihrem Engagement und ihrer Freundlichkeit haben sie nicht nur die Texte redigiert, sondern auch inhaltlich lektoriert und so dazu beigetragen, das Buch besser zu machen. Ich danke ihnen von Herzen für ihre Arbeit.
Leipzig, im Juni 2021
Günther Heeg
1
Allein die Pariser Oper verzeichnet im Jahr 1882 489 Aufführungen von Aubers
La Muette de Portici
bislang, 1000 Mal ging der Vorhang bis 1903 für Meyerbeers
Les Huguenots
auf, 573 Mal für
Le Prophète
vom selben Komponisten bis 1912, auf 500 Aufführungen brachte es Halévys
La Juive
bis 1886. Nach Lacombe, Hervé: »The ›machine‹ and the state«, in: Charlton, David (Hrsg.):
The Cambridge Companion to Grand Opera
, Cambridge 2003, S. 21 – 42, hier S. 22.
2
Gerhard, Anselm:
Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts
, Stuttgart 1992.
3
Herzfeld, Friedrich:
Du und die Musik. Eine Einführung für alle Musik
, West-Berlin 1960, S. 239. Der Musikpublizist Friedrich Herzfeld (1897 – 1967) veröffentlichte 1941 die erste Biografie über Wilhelm Furtwängler als Hagiografie aus allen Versatzstücken der Ideologie des Nationalsozialismus:
Wilhelm Furtwängler. Leben und Wesen
, Leipzig 1941. Kritisch dazu Herzfeld, Gregor: »Friedrich Herzfelds erste Monografie«, in: Riethmüller, Albrecht/Herzfeld, Gregor (Hrsg.):
Furtwänglers Sendung. Essays zum Ethos des Kapellmeisters
, Stuttgart 2020, S. 125 – 138.
4
Herzfeld, F.:
Du und die Musik
, S. 370.
5
Freidank, K. [i.e. Richard Wagner]: »Das Judentum in der Musik«, in:
Neue Zeitschrift für Musik
, 3. und 9. September 1850, 1869 erweitert als selbständige Publikation unter Wagners Namen erschienen. Wagner, Richard:
Das Judentum in der Musik
, Leipzig 1869, im Folgenden zit. n. Wagner:
Über das Judentum in der Musik. Politische Schriften
, Bremen 1998.
6
Wagner:
Oper und Drama
, Stuttgart 2008.
7
Wagner:
Das Judentum in der Musik
, S. 19.
8
Wagner:
Oper und Drama
, S. 101.
9
Wagner:
Das Judentum in der Musik
, S. 20.
10
Ebd., S. 21.
11
Ebd., S. 22.
12
Ebd., S. 20.
13
Kierkegaard, Sören: [
Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius
], in: ders.:
Werke II
, hrsg. v. Liselotte Richter, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 7.
14
Ebd., S. 22.
15
Deleuze, Gilles:
Differenz und Wiederholung
, München 1992, zuerst Paris 1968.
16
Wagner:
Das Judentum in der Musik
, S. 18.
17
Wagner:
Oper und Drama
, S. 104.
18
Ebd.
19
Ebd., S. 22.
20
Ebd.
21
Marx, Karl: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Ders./Engels, Friedrich:
Ausgewählte Schriften in zwei Bänden
, Bd. I, Berlin 1971, S. 222 – 316, hier S. 226.
Günther Heeg
Die Grand Opéra als Theater der Wiederholung
Die Hochzeit der Grand Opéra in Paris fällt in die Zeit zwischen zwei Revolutionen, der Julirevolution des Bürgertums von 1830 und der proletarischen Februarrevolution 1848 gegen die Herrschaft dieses Bürgertums und seines Souveräns, des »Bürgerkönigs« Louis Philippe. Die kurze Zeitspanne dazwischen, die Zwischenzeit der Julimonarchie, bringt den Take-off einer enormen Beschleunigung der Zeit selbst in der rasanten Veränderung des ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens. Zwar lässt sich in Frankreich in den Jahren der Julimonarchie (noch) nicht von einer mit England vergleichbaren industriellen Revolution reden, die Akkumulation des Kapitals findet noch nicht so sehr in der Produktion, sondern überwiegend in der Zirkulationssphäre statt. Im Finanzsektor, an der Börse und in riskanten Spekulationen vollzieht sich die schnelle Anhäufung und auch der Verlust von immensen Summen. Eine Goldgräbermentalität breitet sich rasch aus und jeder, der über etwas Kapital verfügt, hofft, etwas vom Gewinn für sich zu erlangen. So entsteht neben der alten Aristokratie die neue Klasse des bürgerlichen Finanzkapitals. Dessen Physiognomie hat Honoré de Balzac, der genaue Porträtist der sozialen Charaktermasken der Julimonarchie, in den Romanen seiner Comédie humaine nachgezeichnet. Für sie allesamt scheint zuzutreffen, was Karl Marx und Friedrich Engels am Ende dieser geschichtlichen Periode 1848 im Kommunistischen Manifest für den Geist der Bourgeoisie festgehalten haben:
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.1
Von der »Gefühllosigkeit« einer Zeit unter der von allen sinnlichen Qualitäten abstrahierenden Tauschprinzips und ihrer »Nacktheit« in Hinsicht auf das Bedürfnis nach »buntscheckiger« Kostümierung und Luxus vermitteln die Lithographien und Gemälde des Zeitgenossen Honoré Daumier einen guten Eindruck.
Honoré Daumier:
Gargantua
, erschienen in:
La Caricature
, 16. Dezember 1831.
Seine Karikaturen der Angehörigen der neuen herrschenden Klasse, der Abgeordneten, Richter, Banker und Börsianer, zeigen teils von der Jagd nach Geld ausgemergelte und vertrocknete Gestalten, teils vollgefressene Bäuche, fast stets im tristen Schwarz-Weiß-Grau des bürgerlichen Habits und überdies von überwältigender Spießigkeit.2
Politisch wird die Herrschaft der Finanz-Bourgeoisie von einem Liberalismus begleitet, der nicht nur das »nackte Interesse« des Marktes und der »baren Zahlung« proklamiert, sondern durchaus bürgerliche Freiheiten gegenüber dem Regime der katholischen Restauration bringt. Die Religionsfreiheit und in diesem Zusammenhang die (in der Französischen Revolution von 1789 bereits erfolgte, nun erneute) Gleichstellung der Bürger:innen jüdischen Glaubens3 gehört ebenso dazu wie die politischen Mitwirkungsrechte, die Stärkung der Rechte der Abgeordnetenkammer gegenüber der Exekutive.
Den politischen, ökonomischen und sozialen Freiräumen, die sich die neue Klasse geschaffen hat, steht die Masse der Bäuer:innen, Handwerker:innen und Arbeiter:innen gegenüber, deren Lage sich, wie Hungerrevolten in dieser Zeit immer wieder zeigen, durch die Julirevolution nicht geändert hat. Die Februarrevolution von 1848 richtet sich deshalb nicht nur gegen den Bürgerkönig Louis Philippe, sondern auch gegen die Herrschaft des Finanzbürgertums. Wie unterschwellig explosiv die soziale Lage zur Zeit der Julimonarchie war, zeigt sich am Zusammenleben einer seit dem Beginn des Jahrhunderts auf das Doppelte angewachsenen Bevölkerung von 1 Million Einwohner:innen auf beschränktem Raum (35 Quadratkilometer) und in engen Straßen – noch vor der Boulevardisierung der Stadt durch Georges-Eugène Haussmann im Zweiten Kaiserreich.
Eine solche Stadt will unterhalten sein. 28 Theater in Paris sind bemüht, dem Bedürfnis des Vergnügens, der Unterhaltung und der Ablenkung seiner Bewohner:innen nachzukommen. Die Theater sind dabei unterschiedlich privilegiert. 1806 wurden alle Theater unter staatliche Kontrolle gestellt und 1807 durch den Innenminister eine hierarchische Ordnung eingeführt. Nur die Opéra, die Comédie-Française, die Opéra comique und das Théâtre de l’Impératrice wurden zu grands théâtres erklärt. Allein der Opéra war es darüber hinaus erlaubt, ganze Werke vollkommen in Musik und Ballette in einem dezenten und gehobenen Stil aufzuführen. Präziser wurden die Anforderungen an die Opéra von staatlicher Seite aus in den folgenden Jahren in den cahiers des charges festgelegt. Heute würde man von Zielvereinbarungen zwischen dem Staat, hier vertreten durch das Innenministerium, und der jeweiligen Direktion der Opéra sprechen, in denen staatliche Unterstützung von der Erfüllung vereinbarter Aufgaben durch die Opéra abhängig gemacht wurde. Generell war es Aufgabe der Opéra, dem öffentlichen (nationalen) Interesse zu dienen und das kulturelle Image Frankreichs in der Welt zu stärken.4 An diesen kultur- und nationalpolitischen Aufgaben änderte sich auch mit dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel nichts, den Anselm Gerhard als »Verstädterung der Oper« beschrieben hat.5
Wenngleich die hierarchische Einordnung der Opéra und die damit verbundenen Eintrittspreise sie nicht für ein proletarisches Publikum attraktiv machten, sondern die gehobenen Schichten in den Blick nahm, machte die geschilderte soziale, ökonomische und politische Dynamik nach der Julirevolution eine vollkommene Umgestaltung sowohl der Gattung der Oper als auch der Institution der Opéra notwendig. Die klassische französische Form der Oper, die tragédie lyrique, mit ihren mythologischen und antiken Heldinnen und Helden im höfischen Dekor, weicht einem neuen Typus von Oper: Die Grand Opéra entsteht. Allerdings erhebt sich diese nicht wie Phönix aus der Asche der Restauration als eine neue Gestalt aus einem Guss. Die Grand Opéra ist Stückwerk, zusammengefügt aus den Versatzstücken vieler künstlerischer Genres, und ihre Genese ist mehr der finanziellen Not durch einen abrupten Einbruch der Publikumsgunst geschuldet. Bereits 1816 macht der Direktor des Königlichen Haushalts darauf aufmerksam, dass die Varieté- und Jahrmarktstheater ebenso wie die Vaudeville- und Melodram-Theater sowie die Opéra-Comique voll in der Publikumsgunst stehen, während die grands théâtres der ersten Kategorie oftmals leer sind.6 Das neue städtische Publikum goutiert besonders die visuellen Sensationen, die in den Theatern der zweiten Kategorie Furore machen. Ein wesentliches Bauteil, das zum Stückwerk der Grand Opéra beiträgt, sind die Anleihen, die sie bei den Dekorationen und Effekten der Volkstheater macht. So wie die bürgerliche Revolution von 1830 nicht ohne die Volksmassen zustande gekommen wäre, so kommt auch die Umgestaltung der Oper zur Grand Opéra nicht ohne den Rückgriff auf die theatralen Volksbelustigungen aus.
Die weiteren Elemente, die sich zum Stückwerk einer Grand Opéra zusammenfügen, hat Louis-Désiré Véron, der erste Direktor der neu gestalteten Opéra, so beschrieben:
Un opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques ; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet. Il faut que les chœurs y jouent un rôle passionné, et soient pour ainsi dire un des personnages intéressants de la pièce. Chaque acte doit offrir des contrastes des décorations, des costumes, et surtout des situations habilement préparés.7
An der Grand Opéra ist alles groß und überdimensioniert. Die monumentalen Dekorationen, die die Vergnügungssucht des Publikums und seinen Wunsch nach Träumen und Ablenkung befriedigen, die prunkvolle Ausstattung der Kostüme und Requisiten, eine große Masse an Chorist:innen und Komparserie, eine visuelle Choreographie der Handlung wie in einem Ballett und eine Kontrastdramaturgie, die in schneller Folge wechselnde Schicksalslagen herbeiführt.
Eine solche Umgestaltung der Gattung Oper unter dem Primat des Visuellen setzt eine Veränderung des Apparats Oper voraus. Mit der Ernennung des Arztes und Journalisten Véron, der sein Vermögen mit Hustenpillen gemacht hatte, setzt dieser Umbau ein. Véron war zwar vom Staat angestellt, er arbeitete aber mit der Opéra wie in einem Franchise-Unternehmen auf eigene Rechnung.8 Mit einem satten Gewinn zog er sich 1835 aus dem Geschäft Opéra zurück. Keiner seiner Nachfolger konnte danach mehr Gewinn mit der Opéra machen. Das lag an den ständig wachsenden Produktionskosten, u. a. an den rasant steigenden Gagen für die Sänger:innen, den Kosten für das ganze Corps aus Orchester, Ballett, Chor und Figurant:innen bis hin zum Sicherheitspersonal und besonders für die aufwendigen Dekorationen. Zur Ausgestaltung der Bühnenbilder genügte nun kein einzelner Ausstatter mehr, sie wurde im großen Stil arbeitsteilig organisiert. Hinzu kam, dass sich die Probenzeiten durch das multi- und transmediale Zusammenwirken unterschiedlicher Künste und Gattungen und die Feinabstimmung zwischen ihnen auf Monate hinaus verlängerte. Diese Produktionsweise brachte es mit sich, dass die Zahl der wichtigsten Grands Opéras überschaubar war.9 Dafür blieben sie bis über die Jahrhundertwende hinaus mit hohen Aufführungszahlen im Repertoire.
Für die Dramaturgie der Grand Opéra entscheidend war es, jemanden zu finden, der in der Lage war, immer neue Libretti mit ständigen starken Kontrasten und unerwarteten Wendungen zu finden. Auch in dieser Hinsicht war Véron erfolgreich: »Je ne crains pas de le dire ici, M. Scribe est de tous les auteurs dramatiques celui qui comprend le mieux l’opéra«10, setzt er die Aufzählung der unabdingbaren Zutaten für eine gelungene Grand Opéra fort. Eugène Scribe ist in der Tat der Librettist der Grand Opéra. Bekannt wurde er zuvor als Librettist der Opéra comique. Die Handlung wird dort durch private Intrigen, durch immer neue überraschende Wendungen in Gang gehalten. Erst liebt er sie, als sie endlich seine Liebe erwidert, bringt ein dummes Missverständnis, angeblich ein anderer Mann, ihn dazu, sein Glück bei einer anderen zu suchen. Sie wiederum rächt sich mit einem anderen Mann, der wiederum die Trostgeliebte des Mannes liebt und so fort. Der ständige Wechsel der Situationen hält das Publikum in Atem. Scribe hat nun die privaten Intrigen, die für vergnügliche Wendungen sorgen, auf die großen und ernsten politischen Sujets der Grand Opéra übertragen, wo sie dramatische Gestalt annehmen und das Publikum in immer neue Seelenzustände versetzen.
Für Abwechslung, eskapistisches Träumen, narzisstische Selbstfeier und sinnliches Vergnügen war alles getan in der neuen Gattung der Grand Opéra und ihrem institutionalisierten Apparat. Kein Zweifel: Die Grand Opéra ist ein Vergnügungsspektakel. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Anzeichen dafür sind die Sujets der Grand Opéra, die in historischem Kostüm von gesellschaftlich-politischen Umbruchszeiten, Religionskriegen, sozialen Auseinandersetzungen und Pogromen kündigen. Von ihnen hat Theodor W. Adorno behauptet, sie würden in der Grand Opéra »hergerichtet, personalisiert und […] dabei neutralisiert, indem von der Substanz der Konflikte nichts übrig blieb«.11 Dem ist zur Hälfte zuzustimmen. Das Spektakuläre ist die Substanz der Grand Opéra. In ihm aber haben sich in der verstellten Form des Traumas und Symptoms die leidenschaftlichen Erfahrungen verkapselt, die jene der Zeitgenoss:innen sind. In fremden Dekorationen, Kostümen und Handlungen kehren sie wieder und warten darauf, dass sie zur Kenntlichkeit entstellt und neu erfahren werden.
Es ist Giacomo Meyerbeer, der »Meister der Grand Opéra«12, der, mit ungeheurer musikalisch-szenischer Präzision und Intuition in die Dramaturgien von Scribe eingreifend und sie entscheidend verändernd, uns diese Erfahrung erneut machen lässt. Meyerbeer ist sowohl der exemplarische Repräsentant der Grand Opéra, der alle Register des Opernspektakels zu ziehen weiß und dieses Spektakel auch bedient. Aber er ist auch der komponierende Szeniker und szenisch denkende Komponist, der dem Spektakulären seine Kehrseite abgewinnt und zu Einsichten verhilft, die die Oberfläche aus Narzissmus, Eskapismus und Sensationen nicht ohne weiteres freigibt. Das Besondere der Opernkunst Meyerbeers ist nun, dass diese Einsichten nicht unter oder jenseits der Oberfläche in einem Reich der »Tiefe« zu suchen ist, das Richard Wagner mit antifranzösischem wie antisemitischem Ressentiment als das »echte« deutsche Wesen gegen die Oberfläche der bloßen »Effekte« des »Jüdischen« in die polemische Schlacht schickte.13 Sondern dass die Entstellung des Spektakulären der Oberfläche nur in und durch sie hindurch geschehen kann. Meyerbeer nimmt die Gefühle, Leidenschaften und Triebenergien, die sich ans Spektakel klammern und in ihm eine Form des Ausdrucks zu finden glauben, ernst. Er nimmt sie an und verwirft sie nicht. Erst durch diese Annahme werden sie erfahrbar, bearbeitbar und, in the long run, veränderbar. Meyerbeer erteilt dem polemischen Ausspielen von vermeintlicher inhaltlicher Tiefe gegen vermeintlich oberflächliche Äußerlichkeit eine implizite Absage. Er wirkt damit einer Politik der Feinderklärungen entgegen, die aus der polemischen Abwertung resultiert und die in der deutschen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte verheerende Wirkung entfalten wird. Politiken der konfrontativen Entgegensetzung und Feinderklärungen den Boden zu entziehen ist die ästhetisch-avantgardistische Strategie des Musiktheaters von Giacomo Meyerbeer. Das ist die Ursache seiner heutigen Wirkung.
Um sie zu ermessen, ist es unabdingbar, die Stellung von Meyerbeers Grand Opéras zur Geschichte zu untersuchen und sie in den Horizont des ästhetischen Historismus des 19. Jahrhunderts zu stellen, dem sie entwachsen sind – entwachsen im doppelten Sinn des Entstehungsgrunds wie der Übersteigung des Horizonts. Das folgende Kapitel erkundet daher die Genese des ästhetischen Historismus aus dem veränderten Verständnis von Zeit und Geschichte im Zeitalter der Revolutionen. Vor allem aber fokussiert es die Gefühle und Leidenschaften, die in diesen Zeiten am Werk sind.
Die Umwandlung der Pariser Opéra, die sie zur Institution der Grand Opéra macht, wird durch die Julirevolution ins Werk gesetzt. An deren Beginn steht ein scheinbar absurdes Ereignis. Am ersten Abend der Julirevolution, der Bourbonenkönig Karl X. hatte bereits abgedankt, beginnen die Revolutionäre in unterschiedlichen Stadtvierteln ohne Absprache gleichzeitig auf die Turmuhren zu schießen, um die Zeit zu unterbrechen und den Tag anzuhalten. Paradigmatisch verdichtet sich in dieser von Walter Benjamin berichteten Episode14 die Erfahrung eines Zeitbruchs, der Bruch mit der tradierten Gewissheit historischer Kontinuität. In der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck)15 oder »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg)16, zwischen Spätaufklärung und Französischer Revolution, feudal-absolutistischer Herrschaft und bürgerlicher Gesellschaft, verändern sich die bislang gültigen Anschauungen von Zeit und Geschichte fundamental. Die Vorstellung von Zeit entbindet sich aus der Koppelung an die geordnete Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn die Gegenwart nicht länger aus der Vergangenheit und Zukunft, aus beiden gleichsam organisch hervorgeht, ist die Zeit freigesetzt. Jede:r kann sie ergreifen, sie sich zu eigen machen und sie gestalten. Alles ist möglich, auch jede mögliche neue Ordnung. Dem Möglichen entschieden Einhalt zu gebieten war das Bestreben aller restaurativen Kräfte in Europa nach dem Ende Napoléons. Vergebens. War die Restauration der Bourbonen zwischen 1815 und 1830 der Versuch, die Große Französische Revolution von 1789 ungeschehen zu machen, so macht das Schießen auf die Turmuhren von Paris in einer spontanen symbolischen Aktion deutlich, dass das Ancien Régime der Zeit, die immergleiche Rückbindung des Kommenden an das Vergangene, abgelaufen und die Zukunft offen ist. Es ist der historische Augenblick, die Zeit zu beschleunigen und die Zukunft selbst zu gestalten, wie es bereits Maximilien de Robespierre in seiner Rede Sur la Constitution 1793 als Aufgabe der Revolutionäre proklamiert.17
Jacques-Louis David:
Der Schwur im Ballhaus
(
Le serment du Jeu de paume
), 1791. Lavierte Federzeichnung, 66 x 101,2 cm, Musée National du Château.
Die reale Möglichkeit der Selbstermächtigung der Bürger:innen ist der Auslöser eines Enthusiasmus, der die Einzelnen aus ihren alltäglichen Geschäften und Verrichtungen heraus- und über sich selbst hinaustreibt ins Erhabene und in Richtung auf eine sich selbst bestimmende Menschheit hin. Im Enthusiasmus, den die Französische Revolution auslöst, hat Immanuel Kant 1798 ein »Geschichtszeichen« gesehen, das »eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat«18. Von diesem Enthusiasmus zeugt der Entwurf zu einem (nicht ausgeführten) Gemälde von Jacques-Louis David: Le serment du Jeu de paume (Der Schwur im Ballhaus) (1791). Dieser Enthusiasmus in der allegorischen Gestalt der Freiheit beflügelt auch die bürgerlichen Revolutionär:innen von 1830, die in Eugène Delacroix’ berühmtem Bild La Liberté guidant le peuple (Die Freiheit führt das Volk) auf und über die Barrikaden hinwegschreiten – hinweg auch über Körper der am Boden liegenden erschossenen Arbeiter:innen, ohne deren Kampfesmut die bürgerliche Revolution nicht zustande gekommen wäre.
Eugène Delacroix:
Die Freiheit führt das Volk
(
La Liberté guidant le peuple
), 1830. Öl auf Leinwand, 260 x 325 cm, Musée du Louvre Paris.
Der Enthusiasmus, die »Teilnehmung am Guten mit Affekt«19, ist die Leidenschaft der Revolutionär:innen im Augenblick, in dem sie sich anschicken, Geschichte selbst zu gestalten. Es ist aber auch der Augenblick einer Erschütterung, in der die revolutionär Handelnden ins Nichts blicken, weil sich der »Erwartungshorizont« der Zukunft nicht aus dem »Erfahrungsraum« der Vergangenheit entwerfen lässt.20 Die geschichtliche Kontinuität ist außer Kraft gesetzt, die Revolutionär:innen haben einen leeren Raum der Möglichkeiten vor sich und nichts, was ihnen Orientierung geben und den Weg weisen könnte.
Der Enthusiasmus der Revolutionär:innen, die auf die Turmuhren schießen, um den Tag festzuhalten, an dem eine neue Zeit beginnt, geht einher mit einer tiefen emotionalen Erschütterung durch den Verlust aller tradierten Orientierungen, Gewohnheiten und erfahrungsgesättigter Planungen. An den bürgerlichen Revolutionen tritt zutage: Die Vergangenheit ist nun tatsächlich vergangen und bietet keine Anhaltspunkte mehr für die Zukunft. Geschichte ist nicht länger selbstverständliche traditionsgespeiste Lebenswelt, sondern im Kollektivsingular als die Geschichte ein von der Gegenwart entferntes bzw. in der Gegenwart erst noch zu gestaltendes Objekt. Im leeren Raum der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft stürzen die sinnstiftenden Weltbilder und Religionen in sich zusammen und hinterlassen eine doppelte traumatische Erfahrung: die der Kontingenz eines zufälligen Lebens ohne metaphysischen wie sozialen Halt und teleologisches Versprechen und die eines singulären Todes, der in keinem religiösen, metaphysischen oder politischen Weltbild als »ein Tod für etwas« mehr Sinn macht. Diesen metaphysisch trostlosen Tod hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Tod auf der Guillotine im Terreur der Französischen Revolution am Werk gesehen. Über ihn heißt es im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« in der Phänomenologie des Geistes: »[E]s ist […] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser.«21
Derselbe Hegel hat gleichwohl bis zu seinem Lebensende den revolutionären Impetus verteidigt, Geschichte nach eigenen Ideen zu gestalten: »Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut«,22 so Hegel über die Französischen Revolution.
Die grundlegende Ambivalenz in der Beschreibung und Bewertung der revolutionären Ereignisse macht klar: Der historische Moment, in dem Geschichte erstmals von Menschen gemacht werden könnte, ist emotional aufgeladen mit zwei entgegengesetzten extremen Gefühlen: Begeisterung und Entsetzen. Sie befeuern die Ereignisse als kollektive soziale Gefühle in diese und jene Richtung. Die enthusiastische Selbstüberhebung ist begleitet von der Ent-Setzung der Subjekte durch die Erfahrung von Kontingenz und vom Entsetzen über den Terror der Revolution. In der Zeit zwischen den Revolutionen von 1830 und 1848, der Zeitspanne der Julimonarchie, treten diese sozialen Emotionen nicht als solche erkennbar und manifest hervor, sondern wirken als Traumata, geschlagen von der Enttäuschung des revolutionären Traums (von) der Freiheit und der Gewaltdynamik einer Gesellschaft im Umbruch unter der Oberfläche des politisch-gesellschaftlichen Lebens subkutan weiter. Die Begeisterung verschwindet im Alltag der Geschäfte der bürgerlichen Klasse, die sich anschickt, die Herrschaft zu übernehmen. Die Kluft, die zwischen beiden, dem einstigen Enthusiasmus und der grauen Gegenwart, klafft, tritt zutage, wenn man das Bild La Liberté guidant le peuple von Delacroix neben die bürgerlichen Raffer- und Spießerkarikaturen von Honoré Daumier hält. Auch das Trauma revolutionärer Erschütterung wird verdrängt. Die Erinnerung an den gleichgültigen Tod im Terreur der Französischen Revolution, an das gesichtslose Sterben in den Napoleonischen Kriegen, an Gewalt und Verfolgung während der politischen Restauration und an die Unsicherheit der Existenz in einer Zeit beschleunigter Veränderungen, all das findet keinen Platz in einer Gesellschaft, die der Devise folgt »Enrichissez-vous!«23 Aber die verdrängte Erfahrung eines singulären Todes auf der »Sandbank der Endlichkeit«24 und der Treibsand der Gefühle der Begeisterung und des Entsetzens wirken fort im Unbewussten der Zeitgenoss:innen und kehren wieder in anderer Gestalt und an anderem Ort: in einer neuen Leidenschaft für (die jüngst aus der Gegenwart entfernte) Geschichte. In Geschichte, oder präziser gesagt in einem hochwirksamen ästhetischen Kondensat, einer imaginären Ersatzgestalt, entdecken, finden, erfinden die Bürger:innen des gerade erwachten Zeitalters auf verstellte, ja pervertierte Weise erneut den Traum und die Traumata ihrer von Vergangenheit heimgesuchten Gegenwart. Die ästhetische Kompensationsform von Geschichte ist der ästhetische Historismus, das vorherrschende Paradigma der Künste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in (West-)Europa. Die Grand Opéra ist ein privilegierter Ort seines Erscheinens wie seiner Transformation.
Um den Aufstieg des ästhetischen Historismus zum herrschenden künstlerischen Paradigma im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu verstehen, ist es hilfreich, sich den Hunger nach (Lebens)Sinn in einer aufgeklärten Zeit ohne transzendenten religiösen und metaphysischen Trost an der Abfolge der weltanschaulichen Sinnstiftungssysteme vom 18. auf das 19. Jahrhundert vor Augen zu stellen. Nachdem die Aufklärung, vor allem in der Gestalt von Kant, den Glauben an die Metaphysik und transzendente Gewissheiten als bloßen Glauben kenntlich gemacht hat, wird die Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel zum immanenten Legitimationsgrund einer von Metaphysik entzauberten Welt. Sinn sucht sie, wie Hegel, in einem Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, das den Gang der Geschichte auf eben diesen Zweck hin gestaltet und durchwirkt. Mit der Entzauberung der Geschichtsphilosophie selbst, durch den philosophischen Materialismus des Vormärz und den real-ökonomischen Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft geht die Sinnstiftung an die Geschichtsschreibung über, die unter dem Rubrum des Historismus das vorherrschende Weltbild und Verfahren der Welterklärung zum Ausdruck bringt.25 Ihre Absicht ist zum einen die auf reine Faktizität gestützte Erklärung jeder Epoche aus sich selbst, d. h. ohne ihre philosophische Einbettung als Teil eines dialektisch angelegten Geschichtsverlaufs. Zum anderen soll die Erforschung der Geschichte der einzelnen Zeitalter der Gegenwart erklären, wie sie geworden ist und durch die Darlegung ihres historischen Gewordenseins Sinn stiften. Die Sinnfälligkeit der historischen Erklärung der Gegenwart aus ihrer Vor-Geschichte26 ist aber angewiesen auf die Konsistenz und Überzeugungskraft von Geschichtserzählungen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und an die sinnliche Augenfälligkeit historischer Zeiten, die sich vergegenwärtigen lassen, um der Einheit eines zusammenhängenden Welt-Zeit-Raums Plausibilität zu verschaffen. Das ist der historische Augenblick für den Auftritt der Künste.
Die Geschichtsschreibung des Historismus kommt nicht aus ohne Formen und Modelle des literarischen Erzählens und der Rhetorik, um die Abfolge der historischen Fakten und Ereignisse in eine sinnvolle Anordnung zu bringen.27 Weit mehr noch aber als auf dem wissenschaftlichen Gebiet der historistischen Geschichtsschreibung, zu dem nur ein kleinerer Kreis von Leser:innen Zugang findet, wird die Verbindung von Historismus und Kunst im Reich der Künste selbst populär. In Gestalt eines ästhetischen Historismus28 spielen die Künste in Erzählungen, Novellen und Romanen, in den Historienbildern der Malerei und ganz besonders in den bewegten Geschichtsbildern von Theater und Oper ihr Potential zur Vergegenwärtigung von Abwesendem aus. Der ästhetische Historismus in den Künsten entwickelt jeweils unterschiedliche Verfahren, die Vergangenheit in der Gegenwart plastisch erlebbar zu machen und sie, wie es mit einem bis heute geläufigen Topos heißt, zu »verlebendigen«29. Die Metapher der Verlebendigung impliziert ein religiöses Begehren. Das Tote und Vergangene soll zu neuem Leben erweckt werden. Die Sinn versprechende Kette der Zeiten und Zeitalter soll nicht reißen, alle sollen sie der Gegenwart der Zeitgenoss:innen zur Verfügung stehen. In dieser quasireligiösen Operation der »Verlebendigung« eröffnen sie einen neuen Sinnhorizont in sinnarmer Zeit. Zugleich spielt der Sinnhorizont des ästhetischen Historismus eine zentrale Rolle bei der Modellierung der Gefühle und Leidenschaften am Beginn des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Er ist die Gussform, in der die Träume und Traumata des Zeitalters, wie immer verstellt, auch ihren Ausdruck finden.
Der schottische Adelige Sir Walter Scott, der mit seinen historischen Romanen ein Genre begründet und eine Welle an Schilderungen vormoderner Zeiten ausgelöst hat, entwirft in seinem paradigmatischen Roman Ivanhoe