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Eine Tote im Freud-Museum hält einer Stadt den Spiegel vor: Die Vergangenheit lässt sich auf Dauer nicht verdrängen. Im Vorzimmer der ehemaligen Praxis Sigmund Freuds sitzt eine Tote und niemand weiß, wer sie ist. Diese Nachricht erreicht die Lifestyle-Journalistin Mira Valensky und sie kann wieder einmal nicht anders, als ihr Ressort vernachlässigen und dem Fall nachgehen. Als es dann einen zweiten Toten gibt, einen Psychiater, steigt das Medieninteresse. Ist es Doppelmord aus Eifersucht? Gibt es einen Zusammenhang zur "Psycho-Szene"? Oder reichen die Wurzeln dieser Morde viel weiter zurück? In einer Flüchtlingsberatungsstelle findet Mira Name und Herkunft der Toten heraus und wird schließlich mit der Biografie einer aus Wien stammenden Frau konfrontiert und damit mit den Geschehnissen in dieser Stadt in den Jahren von 1938 bis 1942.
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Seitenzahl: 395
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Freudsche Verbrechen
Eva Rossmann
Ein Mira-Valensky-Krimi
Lektorat: Franz Schuh
Erste Auflage 2001
© FOLIO Verlag, Wien • Bozen 2001
Alle Rechte vorbehalten
Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen
Druck: Dipdruck, Bruneck
ISBN 3-85256-163-9
eISBN 978-3-99037-002-5
Ich rührte ein Stück eiskalte Butter in die Fischsauce. Gismo sah interessiert zu. Der Duft des Branzino trieb mir das Wasser im Mund zusammen. „Du kriegst die Gräten“, versprach ich meiner Katze.
Das Telefon läutete. Ein paar Beschäftigungen gibt es schon, bei denen ich nicht unterbrochen werden will. Eine davon ist Kochen. Ich ignorierte das Geklingel. An diesem Abend hatte ich mir Ruhe und ein gutes Essen verdient. Die Serie „So wohnen Österreichs Prominente“ war abgeliefert. Meine gemütliche Küche hatte so gar nichts von dem bemühten Hochglanz, den ich in den meisten der Promi-Wohnungen gefunden hatte. Ob sie immer so lebten? Ob sie sich extra für meine Story Mühe gaben, ihre Wohnungen aussehen zu lassen wie Ausstellungskojen in einem Einrichtungshaus? Eigentlich war es mir egal. Als Lifestyle-Journalistin zu arbeiten hat Vorteile. Einer davon ist, dass sich die meisten Aufträge ohne allzu großes Engagement erledigen lassen.
Es läutete immer noch. Zwei Minuten, mehr nicht, schwor ich mir und nahm den Hörer ab.
„Ich bin’s, Ulrike“, klang es atemlos vom anderen Ende.
Ulrike? Ich konnte mich an keine Ulrike erinnern.
„Ja?“
„Ich weiß nicht, wer mir sonst helfen kann. Du musst kommen, sofort, du hast ja Erfahrung mit solchen Dingen.“
Das brachte mich auch nicht weiter. Ich schwieg.
„Ulrike, deine Schulfreundin, wir haben uns beim Klassentreffen …“
Ulrike, mit der ich sogar einige Jahre in einer Bank gesessen war. In einem Mädchengymnasium, an das ich mich nicht mehr so genau erinnern wollte. Zwanzig Jahre Abstand. Daran konnte auch kein Klassentreffen etwas ändern.
„Bei uns liegt eine Tote. Und ich bin ganz allein. Die Polizei habe ich schon angerufen. Aber weil du ja mit den Volksmusik-Morden zu tun gehabt hast …“
„Wo ist das, bei ‚uns’?“
„Im Freud-Museum. Ich arbeite im Freud-Museum. Das habe ich dir ja erzählt.“
„Wo ist das?“
„Du warst noch nie im Freud-Museum?“
Ich fand, es war nicht der Zeitpunkt, um über meine Bildungslücken zu diskutieren. Ich drehte die Gasflamme ab, stellte die Pfanne noch warm in den Kühlschrank, ignorierte Gismos beleidigten Blick und lief wenig später die acht Treppen von meiner Altbauwohnung nach unten. Eine Tote im Freud-Museum. Mein kleiner Fiat stand zum Glück nur ein paar Meter vom Hauseingang entfernt. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Frau auf Freuds Couch liegen, mit leeren Augen, einer dramatischen Fülle von langem, rotem Haar, das sich mit dem Weinrot der Liege schlug, und einem Einschussloch mitten auf der Stirn. Ich sollte meine Phantasie zügeln. Es war viel wahrscheinlicher, dass eine alte Amerikanerin einen Herzanfall bekommen hatte. Egal, ich würde sehen, ob ich meiner Schulfreundin helfen konnte. Und wenn zu meiner Motivation auch etwas Sensationsgier und ein klein wenig berufliches Interesse gehörte, was war dabei? Mein schöner Branzino in eigener Sauce. Eigentlich war ich ja für ein bequemes, beschauliches Leben.
Ulrike erwartete mich schon am Eingangstor zum Museum.
„Ich habe es nicht mehr ausgehalten mit der Toten allein. Die Polizei ist noch immer nicht da. Und ich muss dich ohnehin hereinlassen. Das Tor ist zugesperrt, man kann natürlich auch mit der Gegensprechanlage öffnen, aber …“
Ich folgte meiner verstörten Schulfreundin in den ersten Stock. Ein gutbürgerliches Stiegenhaus, etwas eleganter als das in meinem Wohnhaus, aber durchaus vergleichbar. Sie schloss die Museumstüre auf.
„Sie liegt im Vorzimmer.“
Ich sah mich um. „Wo?“
„Nicht im Museumsvorzimmer, in Freuds Vorzimmer. Komm.“
Lindgrünes Holz, Bastbespannung an der abgewohnten Garderobe, einige Hüte und Mützen, ein Spazierstock. Der Raum sah aus, als hätte ihn Doktor Freud gerade eben für einen kurzen Besuch bei einem Patienten verlassen. Ulrike stand hinter mir und flüsterte: „Da ist sie.“ Auf dem ledernen Überseekoffer an der Schmalseite des Vorzimmers saß eine schlanke junge Frau in Jeans, einem blauen Sweatshirt und Turnschuhen. Sie schien auf ihn zu warten. Ihr Kopf war nach vorne gesunken, offenbar war ihr die Zeit zu lang geworden. Die blauen und grünen Teile des butzenscheibenartig zusammengesetzten Glasfensters hinter ihr zauberten Lichtreflexe auf ihren brünetten Pferdeschwanz. Die Arme lagen locker rechts und links vom Körper, sie schienen sie in ihrem Schlaf zu stützen. Neben ihr stand ein kleiner Rucksack, gelb und mit Sicherheit um Jahrzehnte jünger als das Vorzimmer.
„Sie ist sicher tot?“ Ich flüsterte auch.
„Ich habe sie geschüttelt und dann habe ich gesehen, dass sie ganz blau am Hals ist. Und dann habe ich sie wieder hingelehnt. Und dann habe ich …“
Ich ging ganz nahe zu der jungen toten Frau hin. Eine unwirkliche Szene. Teil einer Inszenierung. Erlebnismuseum. Heutzutage will man ja aus allem ein Erlebnis machen, egal ob im Schwimmbad, beim Essen, im Urlaub oder eben in einem Museum. Es fiel mir leicht, sie zu betrachten. Blaue Flecken am schlanken weißen Hals, erst dann sah ich ihre weit geöffneten Augen. Braune Augen wie aus Glas.
Mir wurde kalt, überdeutlich nahm ich wahr, wie sich an Rücken und Armen jedes kleine Härchen aufstellte. Der Eindruck des Unwirklichen war verschwunden. Realität war, dass diese junge Frau bis vor kurzem noch gelebt hatte.
„Wer ist sie?“
Ulrike zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, ich habe sie, glaube ich, schon einmal im Museum gesehen, aber keine Ahnung, wer sie ist. In den letzten Tagen lief hier ein japanisches Kamerateam herum, und das war neben dem Normalbetrieb schwierig genug.“
Ich kramte nach einem Taschentuch und öffnete vorsichtig den Zippverschluss ihres Rucksacks.
„Das darfst du nicht“, protestierte Ulrike.
„Wir müssen wissen, wer sie ist. Wir müssen die Angehörigen verständigen. Wer weiß, wann die Polizei auftaucht.“ Vorsichtig sah ich mir das wenige, das sich im Rücksack befand, an. Ein Stadtplan. Sie war wohl keine Wienerin gewesen. Eine Haarbürste. Eine angebrochene Packung Taschentücher. Ein Lippenstift, der schon lange in dem Rucksack zu liegen schien. Keine Geldtasche. Kein Terminkalender. Kein Ausweis. Vorsichtig zog ich den Zipp wieder zu. „Du warst ganz allein, als du sie entdeckt hast?“
Ulrike lehnte in der Türe zum Museumsvorraum und ich bemerkte erst jetzt, wie bleich sie war. Ich führte sie nach draußen. „Können wir uns irgendwo hinsetzen?“
Sie deutete auf einen Nebenraum. Der Museumsshop. Sie ließ sich auf den Sessel hinter der Kassa fallen, ich zog mir den zweiten Sessel heran.
„Also“, begann sie, „wir haben hier im Shop Inventur gemacht. Wir sind länger geblieben als üblich. Zu dritt. Das Museum sperrt ja schon um fünf. Und als wir fertig waren, ist mir eingefallen, dass mich ein Student gebeten hatte, ein paar Seiten aus unserem Katalog für ihn zu kopieren. Also gingen die zwei anderen und ich versprach ihnen, die Schlussrunde zu machen. Ich habe kopiert und dann bin ich durch die Museumsräume gegangen. Und da habe ich sie gefunden.“
„Und mich gleich angerufen?“
„Nein, zuerst habe ich versucht, unsere Chefin zu erreichen. Aber sie war nicht da. Dann habe ich die Polizei angerufen und dann dich. Gefunden habe ich sie um 19 Uhr 44. Ich habe auf die Uhr gesehen, ich weiß, dass so etwas wichtig ist.“
Ich nickte. Keine Ahnung, ob das wichtig war. „Und es war niemand mehr im Museum? Niemand hatte die Chance, das Museum durch einen anderen Ausgang zu verlassen? Oder sich zu verstecken?“ Liebe Güte, vielleicht war der Mörder jetzt noch im Haus.
Aber Ulrike schüttelte den Kopf. „So groß ist das Museum nicht. Nach fünf ist jedenfalls niemand mehr gekommen. Kann sein, dass ein paar Besucher länger geblieben sind, weil wir noch da waren. Wir haben nicht darauf geachtet. Aber verstecken kann man sich hier fast nicht. Am ehesten noch in der Toilette, aber da habe ich nachgesehen. Und wir haben eine Alarmanlage, die auf Bewegungen reagiert. Ich habe sie für einige Minuten eingeschaltet. Nichts.“
Also war sie doch nicht so durcheinander. In der Schule war sie dafür berühmt gewesen, bei jeder Kleinigkeit die Nerven wegzuwerfen. Gut, Menschen verändern sich. Ich konnte nun nichts anderes tun, als mit ihr auf die Polizei zu warten.
„Gibt es irgendwo ein Fenster, das auf die Straße hinaus geht?“
Ulrike führte mich in einen anderen Ausstellungsraum. Bilder einer jungen Frau mit intelligentem, lebendigem Gesicht. „Anna Freud“, las ich. Durch die hohen Fenster sah ich auf die Berggasse.
„Ich habe einen Bekannten bei der Kriminalpolizei. Zuckerbrot. Er ist Leiter der Mordkommission. Ich rufe ihn an.“
Ein roter Renault, der mit quietschenden Bremsen in zweiter Spur hielt. Dahinter ein Golf Kabrio. Zu allem Überfluss auch noch schwarz. Den Typen, der aus dem Renault sprang, kannte ich. Zu prähistorischen Zeiten hatte ich ihn sogar einmal näher gekannt, jetzt arbeitete er als Kriminalreporter beim „Blatt“. Dem größten Sudelblatt, das es in unserem schönen Land gab. Der andere war eindeutig sein Fotograf. Der Ton der Türklingel ließ uns beide zusammenzucken. „Nicht aufmachen“, sagte ich, „die Medien sind vor der Polizei da.“ Ulrike sah mich fragend an. „Das ist üblich, sie hören den Polizeifunk ab. Und manchmal sind sie eben schneller. Da kommen sicher bald noch ein paar.“ Ich hatte Recht. Die nächsten drei Kollegen trafen gleichzeitig mit der Polizeitruppe ein. Der Dauerklingelton riss ab. Blaulichter, Blitzlichter, eine kurze, aber heftige Diskussion zwischen den Reportern und den Polizeibeamten. Dann wieder die Türklingel. Ulrike ging zur Gegensprechanlage.
„Polizei, Mordkommission. Sie haben uns angerufen. Bitte machen Sie auf.“
„Ich will aber keine Medien.“
„Die bleiben draußen. Versprochen.“
Ulrike drückte auf den Summer. Wir gingen den Polizeibeamten entgegen.
Es war Zuckerbrots Kommission. Schon wollte ich erleichtert auf Zuckerbrot zugehen und ihm das wenige, das ich bisher wusste, erzählen. Da sah ich, wie sein Gesicht förmlich erstarrte. „Was machen Sie hier?“
„Ich bin eine Schulfreundin.“
Er wandte sich an Ulrike. „Sie ist vom ‚Magazin’. Wissen Sie das?“
Ulrike sah ihn mit erhobenem Kinn an. „Ja. Und sie ist meine Schulfreundin. Und da Sie so lange nicht gekommen sind und ich ganz allein war, habe ich sie angerufen. Sie kennt sich ja aus mit Mord und solchen Sachen.“
Zuckerbrot seufzte. „Zeigen Sie mir die Tote.“ Und zu mir gewandt: „Sie warten im Vorzimmer. Wenn Sie nicht gehen wollen. Was besser wäre.“
„Die Tote liegt im Vorzimmer.“
Zuckerbrot sah sich um.
„In Freuds Vorzimmer.“
„Sie jedenfalls bleiben in diesem Vorzimmer.“
„Also im Museumsvorzimmer“, kommentierte Ulrike.
Offenbar hatte sie sich von ihrem Schock ganz gut erholt. Zuckerbrot dirigierte sein Team zum Tatort. Ich hatte die Tote ohnehin schon gesehen. Und seit meiner Story über das Leben und das Sterben der Stars der volkstümlichen Unterhaltungsmusik kannte ich mich aus mit der Spurensicherung. Die Prozedur würde lange dauern und jedenfalls für mich keinen unmittelbaren Sinn ergeben. Ich schlenderte durch die Räume. Viele Bilder von alten Männern. Oder sahen sie mit ihren steifen Krägen und ernsten Gesichtern älter aus, als sie waren? Bücher, Gruppenfotos. Sigmund Freud mit Frau, mit Kollegen. Würdig und mit weißem Bart. So, als hätte es einen jungen Sigmund Freud gar nicht gegeben. Warum nur wollte man sich immer an die alten Männer erinnern? Oder hatten sie sich als junge Männer bloß nicht bedeutend genug gefühlt, um ständig für Porträtfotos zu sitzen? Ich gebe zu, viel wusste ich nicht über Freud. Natürlich, er war „der Vater der Psychoanalyse“ und es gab freudsche Versprecher und er musste als Jude in der Nazizeit fliehen. In dieser Wohnung also hatte er gelebt und gearbeitet. Heute war in dieser Wohnung eine junge Frau ermordet worden. Ein Zufall? Oder hatte jemand den Ort bewusst gewählt? Als eine Art psychoanalytischer Inszenierung vielleicht?
Besser, an das Nächstliegende zu denken. Ich sollte mit meinem Chefredakteur telefonieren. Mord im Freud-Museum. Allemal eine Doppelseite in unserer nächsten Ausgabe wert. Natürlich meldete er sich bereits nach dem zweiten Klingeln. Mobiltelefone waren für Menschen wie ihn erfunden worden.
„Aha, Sie sind wieder über einen Mord gestolpert“, ließ er vernehmen. So als ob ich vor mich hin spazierte und dabei dauernd auf Leichen stieße.
„Meine Schulfreundin hat sich an die Volksmusikmorde erinnert.“
„Lassen Sie mich morgen wissen, was es mit dem alten Freud und der jungen Toten auf sich hat.“ Das klang selbst für seine Verhältnisse übertrieben lässig. Schmierenschauspieler, der einen Chefredakteur mimt. Sicher war er in Gesellschaft. Wahrscheinlich in einem der Wiener In-Lokale. Ich dachte kurz an meinen Branzino. Keine Zeit für Hunger. Für Genuss schon gar nicht.
Ich setzte mich wieder in den Museumsshop und sah mich um. Bücher in hohen Regalen, in Deutsch, Englisch, Französisch. Einige wenige Souvenirs. Wer war die Tote? Gerade als ich aufstehen wollte, um ein paar der Bücher näher zu betrachten, kam Ulrike. „Ich soll auch warten.“
„Was haben sie dich gefragt?“
„Das, was du mich auch schon gefragt hast. Außerdem habe ich ihnen eine Liste mit den Museumsmitarbeiterinnen gegeben. Sie wollen sie morgen vorladen. Und ich soll auch ins Präsidium.“
Ulrike versuchte wieder, die Leiterin des Museums zu erreichen. Aber die hatte offenbar noch keinen Handy-Tick. Beim Vorsitzenden der Freud-Gesellschaft hatte sie mehr Glück. Aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung. Nur zwanzig Minuten später war er da. Primarius für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Offenbar mit einem Faible für die Psychoanalyse. Auf seinem Gebiet jedenfalls galt er als Koryphäe. Sein Museum, sein Freud, sein Mord. Er nahm das alles sehr persönlich. Zuckerbrot reagierte genervt und zog ihn von uns weg. „Wir hätten Sie ohnehin verständigt“, versuchte er den Primararzt zu beruhigen. „Kannten Sie die Frau?“ Wir lauschten. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte der Vorsitzende der Freud-Gesellschaft den Kopf geschüttelt. Sehen konnten wir ja von unserem Exil im Museumsshop aus nicht, was im Vorzimmer vorging.
Es dauerte geraume Zeit, bis die Tote abtransportiert wurde. Die Journalistenmeute auf der Straße wartete. Viel mehr als den üblichen Blechsarg und seine Träger würden sie nicht zu Gesicht bekommen. Da war ich im Vorteil. Und ich legte keinerlei Wert darauf, dass sie dahinter kamen. Die nächsten zwei Stunden lang durchsuchten Zuckerbrots Leute Raum für Raum des Museums. Groß war es ohnehin nicht. Gegen Mitternacht begannen sie den Tatort im Vorzimmer zu versiegeln. Der Protest des Primarius war unüberhörbar. „Denken Sie an unser Publikum. Wir können nicht sperren. So tragisch der Mord auch ist. Haben Sie nicht ohnehin schon alle Spuren? Ich bitte Sie, was macht das für ein Bild? ‚Freud-Museum wegen Mordes geschlossen.‘ Das darf nicht sein.“
„Sie können den Rest aufsperren. Aber das Vorzimmer müssen wir uns morgen noch einmal genau ansehen. Sie wollen doch sicher, dass der Mord aufgeklärt wird?“
„Natürlich, aber …“
„Was, aber?“
„Der Hauptteil des Museums ist ja nur durch den Vorraum zugänglich. Und die Toiletten auch.“
„Tut mir Leid.“
Zuckerbrot kam in den Museumsshop. „Sie beide können jetzt auch gehen.“
Ich sah ihn an. „Mich wollen Sie gar nichts fragen?“
„Sie sind keine Zeugin.“
Er hatte noch einen kleinen Wutanfall, als ich ihm von der Rucksack-Untersuchung erzählte. Ulrike schaltete die Alarmanlage ein und schloss ab.
„Sie fahren jetzt am besten heim, da können Sie wahrscheinlich am wenigsten anrichten“, sagte Zuckerbrot zu mir, als wir alle gemeinsam die Treppe mit dem reich verzierten schmiedeeisernen Geländer hinuntergingen. Ich würde nun wohl doch meinen Kollegen begegnen.
Blitzlichtgewitter, ein paar erstaunte Ausrufe, als sie mich entdeckten. Gut, mein Chefredakteur hatte es also doch der Mühe wert gefunden, eine unserer Fotografinnen zu verständigen. Sie war die einzige Frau im Journalisten- und Fotografenpulk. Kriminalberichterstattung war immer noch weitgehend Männersache. Dass ihnen ausgerechnet eine Kollegin aus dem Lifestyle-Ressort zuvorgekommen war, schien einige von ihnen daher doppelt zu treffen. Und diesen Anblick hatte ich mir entgehen lassen wollen? Ich grinste triumphierend, winkte Zuckerbrot lässig zu und zog Ulrike um die nächste Straßenecke. „Komm, wir gehen was trinken.“
Im neunten Bezirk kannte ich mich nicht gut aus. Aber schon fünfzig Meter weiter war ein kleines Kebab-Haus, das noch offen hatte. Die Wirtin kehrte den Boden. „Nur auf ein Glas“, sagte ich, „wir haben es notwendig.“
Sie lächelte. „Geht in Ordnung. Was wollen Sie?“
Wir bestellten zwei Achtel Rotwein. Er war besser, als ich befürchtet hatte. Ich fragte Ulrike noch einmal, wer die Tote sein könnte.
Sie schüttelte ratlos den Kopf.
„Was kann sie bei euch gewollt haben?“
„Na das Museum besichtigen. Es gibt Leute, die interessieren sich für das Freud-Museum. Allerdings sind wenige aus Wien darunter.“ Das war eindeutig gegen mich gerichtet.
„Ich wusste, dass es das Museum gibt. Aber ich war eben noch nie dort.“
„Die meisten Besucher kommen aus dem Ausland. Aus den USA, aus England. Dort ist Freud ein Begriff und nicht bloß der freudsche Versprecher. Österreich und Psychoanalyse … das sind nahezu Gegensätze.“
„Also war sie aus dem Ausland?“
„Woher soll ich das wissen? Ich glaube allerdings, dass ich sie schon einmal bei uns gesehen habe.“
„Gibt es Leute, die öfter kommen?“
„Ja, auch wenn du es nicht glaubst.“
„Könnten deine Kolleginnen sie kennen?“
„Woher soll ich das wissen?“ Sie seufzte.
Wir tranken und sahen durch die große Scheibe auf die Straße. Fast kein Verkehr mehr.
Plötzlich packte mich Ulrike beim Arm. „Sie kann in der Bibliothek gewesen sein.“
„War Zuckerbrot dort?“
„Nein, ich bin in der Aufregung nicht auf die Idee gekommen. Sie ist nicht im Museumstrakt, sondern in der ehemaligen Privatwohnung Freuds. Und sie hat heute offen gehabt.“
„Wir gehen zurück.“
Zehn Minuten später schaltete Ulrike die Alarmanlage wieder aus und führte mich durch einen engen Gang in die Bibliothek. Bücher bis zur Decke und in der Mitte ein langer Tisch mit harten Sesseln. Kein Buch lag herum, kein Blatt Papier. Kahle Sauberkeit. Fehlanzeige.
Ulrike deutete auf einige gestapelte Bücher. „Das sind die Exemplare, die sich unsere Besucher zum Weiterlesen auf die Seite legen lassen. Jetzt müssten wir nur mehr wissen, falls sie da war, welches Buch sie gelesen hat und ob sie darin weiterlesen wollte.“
„Und es gibt niemanden, der das weiß?“
„Diese Woche hat Tomas Dienst. Wenn die Bücher bloß hier in der Bibliothek gelesen werden, verlangen wir keinen Ausweis. Wir wissen nicht, wer da kommt und liest. Aber vielleicht hat er mit ihr geredet. Wir sind ja kein Massenbetrieb.“
„Also weiß er, wer sie ist?“
„Keine Ahnung. Wir hatten bis heute das japanische Kamerateam, das hat uns ganz schön auf Trab gehalten.“
„Ruf ihn an.“
„Jetzt?“
„Meinst du, dass ihm ein Mord im Museum egal ist?“ Ich streckte ihr mein Mobiltelefon entgegen. Sie blätterte in ihrem Telefonbuch und wählte. Tomas konnte sich erinnern, zwar nicht an einen Namen, aber an ihr Äußeres. Doch schon bei der Nationalität war er sich unsicher. Englischsprachig sei sie gewesen, vermutete er. Aber vielleicht sei er auch nur deshalb der Meinung, weil sie sich ein englischsprachiges Buch ausgeliehen habe. „Freud’s Women“. Da sei er sicher. Dann folgte ein wahres Feuerwerk an Fragen.
„Vielleicht eine Amerikanerin“, sagte ich, als mir Ulrike das Telefon zurückgab.
„Nicht unbedingt. Viele lesen originalsprachige Bücher. Aber es kann schon sein.“
Wir fanden den Band als drittobersten im Bücherstoß. Ich suchte wieder einmal nach einem Taschentuch, wickelte es um meine Hand und blätterte vorsichtig. Ich weiß nicht, was ich zu finden gehofft hatte. Enttäuscht wollte ich das Buch schon wieder zur Seite legen, als ich die Ecke eines eingelegten Zettels bemerkte. Mit spitzen Fingern schlug ich es auf der markierten Seite auf.
„Birkengasse 14“ stand auf dem Zettel. Und darunter: „Birkengasse 14?“ Und darunter noch einmal „Birkengasse 14“ mit ein paar Schnörkeln. Als Abschluss gab es eine ganze Reihe von Fragezeichen. Wir sahen einander an.
„Der Zettel kann schon lange im Buch liegen“, meinte Ulrike.
Ich konnte sie dennoch nicht davon abhalten, Zuckerbrot jetzt und auf der Stelle von unserem Fund zu erzählen. Morgen früh wäre mir früh genug erschienen. Ausnahmsweise war Zuckerbrot einer Meinung mit mir. Er versprach, sich die Sache morgen anzusehen und gab Ulrike den Auftrag, bis zu seinem Eintreffen niemanden in die Bibliothek zu lassen. Das hatte sie davon.
Ich brachte Ulrike heim und sah im Stadtplan nach. Birkengasse, eine Gasse in Währing, einem der Bezirke am nordwestlichen Stadtrand, mit immer mehr Grün, je näher man der Stadtgrenze und dem Wienerwald kam. Wenigstens ansehen wollte ich mir das Haus mit dieser Adresse.
Die Birkengasse war eine ruhige, schmale Wohnstraße, links und rechts vollgeparkt mit Autos. Die Straßenlaternen warfen ein mildes Licht auf die hohen Bäume vor den Bürgerhäusern. Drei-, vierstöckige Gebäude, meist von einem kleinen Garten umgeben. Dahinter lagen die Ausläufer des Erzherzog-Karl-Parks. Eine gute Wohnadresse. Vor einigen Jahren hatte ich in dieser Gegend eine Mietwohnung besichtigt. Sie war mir dann aber doch zu teuer gewesen. Birkengasse 14. Ich hielt in zweiter Spur und stieg aus. Ein dreistöckiges Gebäude, gelb verputzt. Ein gepflegter Vorgarten mit einem Beet voller Frühlingsblumen, ein grün gestrichener Metallzaun mit einem großen Tor vor der Garageneinfahrt und einer kleineren Tür, von der ein gepflasterter Weg zum Hauseingang führte. Alles strahlte Wohlstand und Sauberkeit aus. Das Garagentor war geschlossen. Längst waren die Bewohner des Hauses heimgekommen. Kein Mensch zu sehen. Auf dem Mülleimer hinter dem Zaun saß eine große rote Katze mit dickem Kopf. Ich lockte sie und sie starrte mich unbewegt an. Es war ein milder Abend für Mitte April, gerade richtig für einen abenteuerlustigen Kater. Ich drehte an dem Türknopf der kleinen Gartentüre. Sie war versperrt. Diskret eingelassen in einem gemauerten Pfeiler ein Klingelbrett mit Namen. „Rosa Nawratil“ stand da. Der ursprüngliche Name daneben war mit „Fallada+Zitz+Mayer“ überklebt. Offenbar eine Wohngemeinschaft, wahrscheinlich Studenten. Vielleicht hatte die Tote eine Wohnung gesucht? Ich las weiter: „Mag. Obermüller“, „Fam. Fleischmann“ und dann, doppelt so groß wie die anderen Schilder, „Ministerialrat Bernkopf“. Der Herr Ministerialrat hatte also, wenn ich rechnen konnte, gleich zwei Wohnungen.
Im Erdgeschoss brannte noch Licht, sonst waren alle Fenster dunkel. Kein Wunder, es war halb zwei in der Nacht. Über dem Hauseingang prangte ein Löwenkopf mit aufgerissenem Maul, die hohen Fenster waren mit glatten Stuckwülsten verziert. Der Kater sprang geräuschvoll von der Mülltonne auf einen umgedrehten Metalleimer. Ich zuckte zusammen. Was wollte ich hier? Höchste Zeit, heimzufahren.
Morgen würde ich die Leute aus der Wohngemeinschaft fragen, ob jemand von ihnen den Zettel im Freud-Buch vergessen hatte. Oder ob sie eine junge Frau kannten, die vielleicht ein Zimmer gesucht hatte. Und dann würde ich meine Story schreiben und damit Ende. Mehr konnte ich zur Aufklärung des Mordes im Freud-Museum nicht beitragen. Dafür war schließlich die Polizei zuständig, Zuckerbrots fleißige Mordkommission. Auch wenn sie heute Abend ganz schön lange gebraucht hatte, bis sie am Tatort erschienen war.
Am kommenden Wochenende sollte der Tanzpalast eröffnet werden. Das waren meine Geschichten. Ein riesiges Tanzlokal, in das niemand unter fünfunddreißig eingelassen werden sollte. Eine Marktlücke, mit Sicherheit. Da beinahe die gesamte Prominenz und erst recht die Schickimickis von Wien das Zulassungsalter schon überschritten hatten, würde die Eröffnungsparty zu einem unvermeidlichen Objekt meiner Berichterstattung werden. Man denke sich bloß: Der ehemalige Bürgermeister, Burgtheaterschauspielerinnen, die Gattin des größten Wurstfabrikanten und jede Menge Menschen, die nach Publicity gierten, auf einer Tanzfläche.
Leider aber war ich neugierig. Wer, verdammt noch einmal, war die Tote in Freuds Vorzimmer?
Mein Herz raste. Ich schreckte aus dem Schlaf auf. Die Beine waren verkrampft. Es ist nichts, Mira, sagte ich mir, gar nichts. Ich war schweißgebadet. Der Radiowecker stand auf 4 Uhr 55. Durchatmen. Das war kein Herzanfall, ich war viel zu jung für einen Herzanfall. Aber das Herz klopfte immer schneller. Und die Beine waren vor Anspannung fast gelähmt. Wenn es dich jetzt erwischt, wird es Tage dauern, bis dich jemand findet. Ruhig durchatmen. Ich kannte das ja schon und noch nie war ernstlich etwas passiert. Und die Zeit war auch immer dieselbe: fünf Uhr in der Früh. Durchatmen. Und aufstehen. Auf und ab gehen, bis das Herz wieder normal schlägt.
Ich kletterte vorsichtig aus dem Bett, jeden Moment gewärtig, dass ich zusammenbrechen könnte, dass die Beine nachgeben, dass das Herz von hundert auf null geht, dass mir eine Ader im Hirn platzt und vor meinen Augen alles schwarz wird.
Ich tappte zitternd ins Wohnzimmer und nahm einen großen Schluck aus der Whiskey-Flasche. Mein Lieblingswhiskey, irischer Jameson. Ich ging im Licht der ersten Dämmerung im Zimmer umher, noch immer mit heftig schlagendem Herzen. Ich sah aus dem Fenster um mich abzulenken. Dass um diese Uhrzeit schon Menschen auf der Straße waren … Ich nahm noch einen Schluck. Warm rann mir der Whiskey in den Magen. Ich entspannte mich allmählich. Warum hatte ich das, was ich „meinen Zustand“ nannte, ausgerechnet heute Nacht wieder bekommen? Die Tote im Freud-Museum. Wahrscheinlich. Aber ich hatte gar nicht den Eindruck gehabt, dass mich die Sache sonderlich aufgeregt hätte. Ich war doch robust, konnte leicht mit etwas fertig werden. Und so wollte ich auch weiterhin erscheinen. 39 Jahre alt, Single, mit langem schwarzen Haar, einen Meter zweiundsiebzig, vierundsiebzig – manchmal auch sechsundsiebzig, aber das ging ja niemanden was an – Kilo schwer. Immer bereit für einen Scherz, ein gutes Essen und mit einem Faible für die Verlockungen der Umgebung von Venedig. Das war ich, nicht dieses bibbernde Elend um fünf Uhr morgens.
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