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Nationalismus, Terror, Hass. Die Angst geht um in Europa. Der Vorsitzende der Patriotisch Sozialen wird ans Kreuz genagelt. Den Nationalisten gibt das noch mehr Aufwind. Christliches Abendland gegen Islam. Was sind schon Fakten? Hautnah erleben sie es mit: Frau Klein, die im Zweiten Weltkrieg ein Kind war. Herr Pribil, immer im Widerstand und plötzlich verliebt. Die Syrerin Sina, deren Mann verschwunden ist. Wech, David, Jennifer … ES hetzt in den sozialen Medien. Kann uns nur mehr ein neuer Führer retten?
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Seitenzahl: 465
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Eva Rossmann, 1962 geboren, lebt im Weinviertel/Österreich. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, ORF-Pressestunde, Ressortleiterin für Innen- und Europa-Politik, seit 1994 freie Autorin und Publizistin.
Sachbücher, Kriminalromane zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, Köchin, Drehbuchautorin, TV- und Radio-Moderatorin des ORF.
Bei Folio die preisgekrönten Mira-Valensky-Krimis, zuletzt: Gut, aber tot (2016).
www.evarossmann.at
EVA ROSSMANN
ROMAN
O Freunde, nicht diese Töne!Sondern lasst uns angenehmereanstimmen und freudenvollere.
Freude! Freude!
Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,Wir betreten feuertrunken,Himmlische, dein Heiligtum.Deine Zauber binden wieder,Was die Mode streng geteilt;Alle Menschen werden Brüder,Wo dein sanfter Flügel weilt.
Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz,Ode an die Freude
Kapitel [ 1. ]
Kapitel [ 2. ]
Kapitel [ 3. ]
Kapitel [ 4. ]
Kapitel [ 5. ]
Kapitel [ 6. ]
Kapitel [ 7. ]
Kapitel [ 8. ]
Kapitel [ 9. ]
Kapitel [ 10. ]
Kapitel [ 11. ]
Kapitel [ 12. ]
Kapitel [ 13. ]
Kapitel [ 14. ]
Kapitel [ 15. ]
Kapitel [ 16. ]
Kapitel [ 17. ]
Kapitel [ 18. ]
Kapitel [ 19. ]
Kapitel [ 20. ]
Kapitel [ 21. ]
Kapitel [ 22. ]
DANKE!!!
Sie haben ihn ans Kreuz geschlagen. Die Gäste sind schon gegangen, als Frau Klein es hört. Seit ihr Mann tot ist, dreht sie das Radio auf, wenn sie allein ist. Nicht, dass Jakob viel gesprochen hätte. Im Gegenteil. In den letzten Jahren war er zunehmend verstummt. So, als ob ein Teil von ihm bereits weggegangen wäre. Frau Klein sieht auf die Teller neben dem Geschirrspüler. Kuchenreste. Ulrike isst nie auf. Weingläser. Eines davon ist halb voll. Frau Klein weiß nicht, wer es stehen lassen hat. Sie trinkt es aus. Man lässt nichts übrig. Damit ist sie aufgewachsen. Damals hat es auch weniger gegeben, was man übriglassen hätte können. Sie geht ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein.
Will ich wissen, wie es aussieht, wenn einer ans Kreuz geschlagen worden ist? Sie zögert, bevor sie auf Zwei drückt. Sie werden es nicht zeigen. Sie sollte das Geschirr in den Geschirrspüler geben und sich dann eine Tasse Tee machen. Julius Sessler interessiert sie nicht weiter. Auch wenn sie erst gestern über ihn geredet haben. In der Geist-Gottes-Pfarre. Es war mehr als ein Gespräch, eine Diskussion, eigentlich schon ein Streit. Sie hat zugehört, weil so etwas selten ist bei den Damen vom Sozialkreis. Julius Sessler sei ein wahrer Christ, hat Frau Ziegler gesagt. Julius Sessler sei ein Hetzer, hat Frau Weinwurm geantwortet. Jetzt war er ein Hetzer. Oder ein wahrer Christ. Wie Jesus ans Kreuz geschlagen. Bringt ihn das Gott näher?
Frau Klein konzentriert sich. Sie hat nicht wahrgenommen, worüber in den Fernsehnachrichten gesprochen wurde. An ihrem dreiundachtzigsten Geburtstag.
Mein dreiundachtzigster Geburtstag, denkt sie.
Sie wundert sich, dass ihr nicht mehr dazu einfällt. Dass es keine Emotionen auslöst. Kein Bedauern, kein Staunen. Keinen Triumph. Man könnte schließlich triumphieren, wenn man so viele überlebt hat. Jetzt auch Julius Sessler. Und den eigenen Mann. Nein, bei ihm sicher kein Triumph. Niemals. Eher ein Gefühl, als ob sie etwas verlegt hätte, das darauf wartet, wiedergefunden zu werden. Sie muss nur ordentlich suchen. Es ist nicht verloren. Er ist nicht verloren. Auch wenn sie seine Sachen vor Monaten zur Caritas gebracht hat. Auch wenn sie natürlich weiß, dass er einen Schlaganfall gehabt hat, nur einen.
Mitten aus dem Leben gerissen, hat der Fernsehdirektor am Grab gesagt.
Jakob war dreiundachtzig. Wie sie. Was weiß der Fernsehdirektor schon davon, wie ihr Mann in den letzten Jahren immer seltener das Haus verlassen hat, wie seine Schritte klein und zögerlich geworden sind, wie er sich immer schwerer entscheiden konnte. Cordsamthose oder Anzughose. Weil Jogginghose für ihn nie in Frage kam, auch nicht daheim. Das ist eine Frage der Haltung, hat er gesagt.
– … Haltung bewahrt, sagt jemand im Fernsehen.
Frau Klein sieht eine schlanke Frau mit blonden Haaren, die von zwei großen Männern in dunklen Anzügen flankiert wird. Sie kennt die Frau nicht. Sie tut ihr leid. Den beiden neben ihr kann man nicht entkommen. Frau Klein seufzt und schüttelt den Kopf. Wenn sie schon fernsieht, dann sollte sie sich konzentrieren. Das ist wohl die Witwe von Julius Sessler und die beiden stützen sie. Für Kinder sind sie zu groß. Zu alt, korrigiert sich Frau Klein. Wahrscheinlich Parteifreunde. Jetzt ist ein Hügel im Bild, der Frau Klein bekannt vorkommt. In dieser Gegend ist sie aufgewachsen. Hügel in der Nähe von Wien.
– … wo Unfassbares geschehen ist, hört sie.
Offenbar auf dem Hügel. Golgatha zwischen Rebzeilen und Sonnenblumenfeldern. Schwenk auf ein Wegkreuz, ein kleines, mit einer verwitterten Christusfigur. Seit ihre Augen gelasert worden sind, sieht sie wieder annähernd scharf. Zwei Finger fehlen dem Jesus. Bleich schaut er ins Land. Stellvertretend jetzt auch für Julius Sessler, den guten Christen oder Hetzer.
– … zurück ins Studio.
Dort wird diskutiert. Eine Frau und fünf Männer.
Frau Klein geht zurück in die Küche.
– Jetzt kann ich endlich glauben, dass euer Christus gestorben ist. Es war im Fernsehen.
– Du kannst nie ernst sein.
– Es gibt doch keinen schöneren Tod für ihn, oder? Weißt du nicht, wie sie ihn genannt haben? Jesus zwei. Cem lacht.
David sieht ihn an und schüttelt den Kopf. – Kannst du dir vorstellen, wen sie verdächtigen?
– Die ganze lange Liste. Islamisten zuerst. Und dann die Linken. Alle Ausländer. Angefangen bei den Flüchtlingen. Mit den Israelis sind die Rechten jetzt ja recht gut. Zumindest mit den orthodoxen Juden, die gegen die Moslems kämpfen. Natürlich auch uns Serben. Die Türken sowieso.
– Sei vorsichtig. Ein Serbe mit türkischem Vornamen ist doppelt verdächtig.
– Was kann ich für meinen Namen? Der beste Freund meines Vaters heißt Cem. In Österreich heißt ja auch nicht jeder Franz oder Karl oder Josef. Was ist mit Kevin und Leonardo, oder Angelique? Ich kenne eine Celine Schulz.
– Opfer. Sie spielen das seit Monaten. Alle sind gegen sie, aber nur sie sind für das Volk.
Cem nickt. – Dann ist doch logisch, dass er freiwillig am Kreuz gestorben ist, oder? Um das christliche Abendland zu retten.
– Sag das lieber nicht laut. Nicht alle werden das witzig finden.
David nimmt eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und setzt sich zu Cem an den Küchentisch. – Du auch?
– Bier.
– Kein guter Muslim.
– Tarnung, mein Freund. Ich trinke, um das christliche Abendland in Sicherheit zu wiegen.
– Du bist Musiker, die haben Narrenfreiheit.
– Du versuchst, bei der Lügenpresse zu landen. Da hört sich die Freiheit auf. Wie war es bei deiner Großmutter?
– Nett. Familie eben.
– Minus deine Mutter.
– Immer minus meine Mutter. Oma ist dreiundachtzig und hat einen Verehrer. Das muss man sich vorstellen. Er ist zweiundneunzig und sieht sie verliebt an. Übrigens ein interessanter Typ. Ehemaliger Rechtsanwalt, wenn auch nur mit einer Mini-Kanzlei. Noch früher war er Deserteur. Hat im Zweiten Weltkrieg nicht bis zum Ende mitspielen wollen. Soll Sabotageakte gegen die Deutschen gemacht haben. Und Kommunist gewesen sein.
– Ich dachte, deine Oma ist so katholisch.
– Wo die Liebe hinfällt. Ich werde ihn interviewen.
– Schon vergessen, du schreibst Online-Nachrichten zusammen.
– Und? Ich kann auch was anderes.
– Wärst du ein richtiger Journalist, dann wärst du jetzt hinter dem Mörder von Salzer her.
– Sessler.
– Politik interessiert mich nicht.
– Typisch Serbe. Und Mörder ist unlogisch. Einer allein kann einen nicht ans Kreuz nageln.
– Ich bin Österreicher, mindestens wie du. Du bist Halbitaliener.
– Wer weiß. Mam hat mir schon an der Wiege gesungen, dass sie keine Ahnung hat, wer mein Vater ist.
– Sie war mit dem Giuliani verheiratet.
– Was ja bekanntlich viel sagt. Er hat sich scheiden lassen, weil sie gesagt hat, das Kind ist nicht von ihm.
– Du siehst aus wie ein Italiener. Würdest du dich nur ein Ding mehr drum kümmern, du könntest sogar gut aussehen.
– Sie kann etwas mit einem anderen Italiener gehabt haben.
– Sag ich doch, Halbitaliener. Du könntest dir einen Bart wachsen lassen. Die Mädels stehen auf so was.
– Damit ich aussehe wie ein Taliban? Kann schon sein, dass eure Mädels auf so was stehen, Bruder.
– Hipster. Darauf stehen sie. Unsere. Du hast keine Ahnung.
– Sie stehen auf vegetarische Musiker. Gib es zu, du bist nur Vegetarier, weil Musiker allein nicht reicht.
– Sonst sagst du, ich bin Vegetarier, weil ich nicht zugeben möchte, dass ich kein Schweinefleisch essen will. – Die haben ihn echt ans Kreuz geschlagen?
– Also doch. Du glaubst auch, es waren mehrere.
– Ja, Mann! Motherfucking österreichische Journalist: Esse kein Schweinefleisch, muss Jesus zwei an Kreuz nageln, gemeinsam mit serbische und türkische und alle andere Brüder in Moslem-Glauben. Weltherrschaft für Islam, du verstehen?
David nimmt einen Schluck Weißwein. – Wir sollten uns nicht darüber lustig machen.
Cem sieht ihn an, klopft ihm auf die Schulter. – Bleibt uns was anderes übrig? Ich kann einen Song schreiben. Über Völkerverständigung. Wird sicher peinlich. Ist der Wein gut?
– Ich hab noch nie schlechten getrunken.
Cem lächelt. Wenn er so lächelt, haben seine braunen Augen grüne Sprengsel und David fühlt, wie es wäre, sich in ihn zu verlieben. Wenn er eine Frau wäre. Sonst läuft da nichts, obwohl nicht alle glauben wollen, dass es eine funktionierende Wohngemeinschaft zweier junger Hetero-Männer geben kann.
– Du bist schon unglaublich. Trinkst nur guten Wein, kennst den Unterschied zwischen Mozzarella und diesem anderen weichen weißen Zeugs, aber hast bloß drei Jeans, und alle sind gleich.
– Burrata. Ich kann nur eine auf einmal anhaben. Wozu also der Stress mit dem Einkaufen? Es sind gute Jeans. Und ich fühle mich wohl in ihnen.
– Wenn du nach Brüssel gehst, wirst du einen Anzug brauchen.
– Du redest wie Oma. Sie will mit mir einkaufen gehen.
– Was sagt Großmutter zum Mord am Ersatz-Jesus?
– Hat noch niemand gewusst, als wir bei ihr waren. Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass sie die Patriotisch Sozialen mag. Ist was für Hardcore-Christen und andere Fans des Abendlandes.
– Sie ist doch dauernd in dieser Pfarre.
– Die sind nicht alle so. Außerdem, die Patrioten sind ultra.
– Die PSP hat über dreißig Prozent der Stimmen gehabt, also ein Drittel ultrarechts in deinem Österreich?
– Dachte, du bist mehr Österreicher als ich? Sie ist nur so viel in der Pfarre wegen Opa. Sie ist ihm dort näher. Er hat sich um die finanziellen Angelegenheiten gekümmert. Er war der katholischere. Die haben dort Flüchtlinge. Eine hat Oma zur Geburtstagsfeier eingeladen. Sina.
– Ist sie attraktiv?
– Kannst du auch mal an etwas anderes denken?
– Also ja. Wie alt?
– Mitte zwanzig, denke ich. Syrien. Damaskus, um genau zu sein.
– Keine Landpomeranze, gut so. Mit Kopftuch?
– Ohne.
– Ich kenn einen Ägypter, der hat sich eine geflohene Frau gekauft. So eine mit Kopftuch, weil er glaubt, die sind unterwürfiger. Ihre Familie hat sie ihm gegeben, es war schon Verlobung. So kriegt sie die Staatsbürgerschaft und die Familie etwas Geld.
– Die ägyptische Staatsbürgerschaft?
– Idiot. Die österreichische. Seine Familie ist schon lange da. Üblicherweise schicken sie die Söhne zurück, damit die Familie ihnen daheim eine passende Frau aussucht. Geld haben sie genug. Import, Export. Die Syrerinnen gelten als besonders schön.
– Sina ist verheiratet. Ihr Mann hat auf den Sohn aufgepasst. Er heißt Zini. Eigentlich Zinédine, wie der Fußballer. Kannst du dich erinnern, wie er einen mit dem Kopf gerammt hat? Wie ein Ziegenbock.
– Böser Rassist. Das war ein Weltfußballer, und der andere hat ihn geärgert. Zinédine Zidane ist jetzt Trainer bei Real Madrid. Das alles hat dir diese Sina gleich erzählt? In welcher Sprache?
– Mischung aus Englisch und Deutsch. Sie hat in Damaskus am Goethe-Institut einen Deutschkurs gemacht.
– Das gibt’s dort? Die Deutschen bringen denen Deutsch bei, bevor sie zu ihnen flüchten? Das ist effizient.
– Vor ein paar Jahren, vor dem Krieg.
– Der Ersatz-Jesus wollte die Grenzen dichtmachen und Leute wie deine Sina zurückschicken, von wegen christliches Abendland. Ich muss jetzt los. Kommst du nach?
David schüttelt den Kopf.
– Du solltest dir die Haare wachsen lassen, sagt Cem. – Gefällt Sina sicher.
– Hau ab.
– Wir spielen bis elf. Danach sind diese Elektro-Roma dran. Nicht einmal schlecht. Macht eben jeder Geld mit seiner Ethno-Scheiße.
– Ihr spielt keine Ethno-Scheiße, sondern Balkan-Jazz-Rock. Beim Essen würde man es Fusion nennen.
– Du immer mit deinem Essen. Nennen wir es halt gequirlte Ethno-Scheiße. Du solltest sie sehen, die Frauen, wie sie sich gut vorkommen, weil sie uns gut finden. Die Grünen und die Multi-Kulti-Typen, null Ahnung von Musik, aber sie wissen, was angesagt ist in ihren Kreisen. Die Fünfzigjährigen, in ihren Öko-Bio-Superfair-Klamotten, zu eng anliegendes buntes Baumwollzeugs, mit Pech auch noch mit lustigen Sprüchen auf dem Busen. Göttin steht da, oder Mir geht’s gut, oder so was. Die würden mich in aller Barmherzigkeit abschleppen.
– Hast noch nie was anbrennen lassen.
– Aber so weit ist es mit mir noch nicht gekommen.
David steht vor dem Spiegel im Badezimmer. Am Rand sind blinde Flecken. Er muss in die Knie gehen, um seine Stirn zu sehen. Früher waren die Leute kleiner. Der Spiegel und der Rest der Wohnungseinrichtung sind von viel früher. Billig, Wohnblock gerade noch innerhalb des Gürtels. Gebaut unmittelbar nach dem Krieg. Seither ist alles gleich geblieben. Nur dass die damals junge Frau jetzt alt ist und ins Heim musste. Sie zahlen die Miete an ihre Tochter. Vierhundert Euro pro Person, für ein kleines Zimmer und eine gemeinsame Küche. Klo am Gang. Die Geflüchteten treiben die Mietpreise in die Höhe. Oder sind es doch die vielen deutschen Studenten? Längere Haare und einen Bart. David sieht sich an. Fände Sina das attraktiv? Unsinn. Er würde aussehen wie aus einem schlechten Jesus-Film. Noch einmal Jesus. Was es wohl für sie bedeutet, dass man den Sessler ans Kreuz geschlagen hat? Sina kümmert mich nicht. Sehr gerade ist sie gesessen, wie eine Prinzessin im Exil. Vielleicht haben sie ihr gesagt, dass sich das bei uns so gehört. Und wie sitzen sie bei ihr daheim? Vorgebeugt über einer Schüssel Couscous im Zelt? Sie ist aus einer Hauptstadt. Damaskus. Soll sehr schön sein. Sehr schön gewesen sein. Ich könnte für Sina kochen. Ausnahmsweise österreichische Küche. Kein Schweinsschnitzel, natürlich kein Schwein. Aber Tafelspitz mit Schnittlauchsauce. Danach Dukatenbuchteln. Oder doch italienisch? Vielleicht käme italienisch besser. Pasta fresca coll’ due tipi di pomodori e peperoncino … sardisch. Mam ist in Sardinien. Angeblich. Familie. Sina hat Familie. Ich kann auch für die Familie kochen. Was ihr Mann für ein Typ ist?
Die Patrioten werden die Islamisten verantwortlich machen. Jeder, der aus Syrien kommt, kann ein getarnter Islamist sein. Egal, auch wenn sie vor den Islamisten davonrennen zu uns. Eine besonders geschickte Tarnung. Selbstmordattentäterinnen. Sina mit Sprengstoffgürtel. Wer hat den Typ ans Kreuz genagelt?
22:12
ES
Wir trauern um Julius Sessler, der sein Leben in den Dienst unseres Landes gestellt hat. Einen, dem es nicht um Profit im Schatten der internationalen Großkonzerne ging, einen, der sich mutig gegen die Mächtigen auf die Seite des Volkes stellte. Der für unsere Kultur eingetreten ist. Sie haben ihn verhöhnt. Aber er hat gesiegt. Die einfachen Menschen erkennen, wer für sie ist. Er wurde zum Führer einer internationalen Bewegung, der Angelpunkt einer Sehnsucht nach Heimat, nach der Bewahrung des Eigenen. Jetzt haben sie den Patrioten ans Kreuz geschlagen. So weit kann Hass und Spaltung gehen.
Hat er sterben müssen, damit wir leben können?
22:14
Doktor H.
Unsere Frauen sind auf der Straße nicht mehr sicher. Wir werden aufpassen müssen, dass die Lügenpresse nicht weiter ihr abgekartetes Spiel spielt, uns heuchlerisch vortäuscht, dass die Gefahr von Menschen wie Julius Sessler und den Patrioten droht. Die anderen sind es, die hassen, die töten. Uns und unsere Vorfahren und was ihnen heilig war.
22:15
Tamara Selig
Vielleicht waren es die eigenen Patrioten, weil damit wird er jetzt auch noch Märtyrrer.
22:16
Doktor H.
Genau wie ES schreibt. Man wird verhöhnt, wenn man das Gute will, es heißt übrigens Märtyrer. Besser, Sie hätten in Deutsch aufgepasst.
22:16
G-Freund
Die Schlampe is net aus Österreich. Oder die Araber haben ihr das Hirn rausgevögelt.
22:17
Comandante
Sessler hat sich zu Jesus zwei stilisiert. Der Retter der Armen und Ohnmächtigen, der Messias der Geknechteten. Eigentlich konsequent, dass er am Kreuz gestorben ist. Hätt ich einem Patrioten gar nicht zugetraut.
22:18
Siegfried
Hau ab, Kommunist, dreckiger! Glaubst du, wir wissen nicht, wer du bist? Wahrscheinlich hast du ihn am Gewissen! Du willst sie alle reinholen und uns ausrotten!
22:19
Comandante
Wir kämpfen für das Menschenrecht auf Asyl, gegen nationalistischen Hass. Und unser Kampf geht weiter. Ich kann nicht sagen, dass ich um Sessler trauere. Er hat die Verhetzung angeführt! Nicht Menschen, die zu uns geflohen sind, sind das Problem. Sondern Politiker wie er. Und Medien, die dieser Rattenfängerei folgen. Beschimpfungen und Drohungen halten uns nicht auf.
22:19
Friedrich Fasthuber
Meine Familie hat Österreich nach dem Krieg mit aufgebaut. Wir waren immer stolz auf unser Land. Wir wollen nicht, dass es die radikalen Islamisten kriegen. Wir müssen uns wehren, wenn es noch geht. Die Mörder müssen gefunden werden! Und eingesperrt! ODER NOCH MEHR! KEINE GNADE! DIE HABEN AUCH KEINE!
22:19
Tamara Selig
Was bei euch sozial sein soll, dass muss mir erst einmal einer erklären. Wenn man nicht eurer Meinung ist, dann ist man eine Schlampe. Kann mir irgendjemand sagen, was euch von den islamischen Extremisten unterscheidet? Ich bin gegen jede Form des Extremismus!!!
22:19
Freedom Fighter
Wer ist ES??? Du versteckst dich auf Facebook!! Ich fordere Facebook auf, diesen frauenfeindlichen und rassistischen Eintrag zu löschen!
22:19
Gerolf
Keiner darf mehr seine Meinung sagen jeder darf unsere Frauen angehen antatschen und schänden. Wir brauchen eine patriotische Armee bevor es zu spät is!!!
22:20
Tamara Selig
Von was laberst du da? Ich brauch keinen, der mich beschützt. Und wenn, VOR euch!
22:21
Doktor H.
Wovon. Es heißt wovon. Gehen Sie heim zu den Ihren.
22:21
ES
Ich fordere die Behörden auf, die dringenden Verdachtsmomente gegen den sogenannten Comandante (sein wirklicher Name ist mir bekannt) zu überprüfen. Er feiert den Mord an Julius Sessler. Er hat oft genug bewiesen, dass er alle hasst, die für ein befreites Österreich sind.
Wir müssen uns wehren. Für unsere Kinder und Enkelkinder, unsere Familien, sie werden es sonst schwer haben in der Zukunft. Täglich passieren schreckliche Dinge bei uns. Julius Sessler ist Opfer einer Verschwörung gegen das christliche Abendland. Wir alle sind Opfer dieser Verschwörung. Alle, die schon immer in diesem Land gelebt haben. Die es nach dem Krieg aufgebaut haben. Die Trümmerfrauen, mit ihrer eigenen Hände Kraft. Männer, die ausgehungert zurückgekommen sind aus der Gefangenschaft. Und die trotzdem Mut gehabt haben. Damals haben Politiker noch ein Ziel gehabt, und das war nicht, sich selbst zu bereichern und der EU in den Hintern zu kriechen: Unser Österreich wiederauferstehen zu lassen aus Krieg und Schutt.
22:22
Tamara Selig
WOHIN soll ich gehen????
22:22
Gerolf
Wir checken, was ein jüdischer Name ist. Hau dich nach Israel, aber wahrscheinlich treibst du es mit den Feinden? Dann sollen dich die Taliban ficken. Dann siehst du, was du hast.
22:23
Doktor H.
Ich wehre mich gegen die Verunglimpfung des israelischen Volkes, es kämpft wie viele von uns gegen schlechte Einflüsse von außen, Unterwanderung, Umvolkung, gegen jene radikalen Glaubenskrieger, die alles töten, was ihren Führern nicht passt.
22:24
Freedom Fighter
Bist du ES, Doktor???
22:24
Fanmeile
Hat er sterben müssen, damit wir leben können? – Das ist doch von Falco. Muss ich denn sterben, um zu leben.
22:25
Doktor H.
Nein, aber ich schätze klare Meinungen.
22:25
Spaßvogel
Nagelt ES ans Kreuz!!!
Wech lächelt sein Handy an. Das Hintergrundbild. Seine Tochter. Sie lehnt neben ihrem Pferd und lächelt zurück. Es ist schon wieder drei Wochen her, dass sie gemeinsam unterwegs gewesen sind. Reiten in Tschechien. Sie hat es sich gewünscht. Blonde lange Haare und blaue Augen. Wech sucht Ähnlichkeiten mit sich selbst. Er findet wenige. Vielleicht das Kinn. Und die Ohren. Er ist dunkel und gedrungen, sie schmal und hell. Er findet aber auch gar keine Ähnlichkeiten zwischen ihr und seiner Exfrau. Das freut ihn.
Es ist alles ruhig. Sie haben ihre Arbeit wie geplant erledigt. Man bereitet vor, man teilt ein, man wickelt ab. Man muss wissen, wem man trauen kann. Und wen man fest im Griff hat. Wech hat es gelernt auf den Baustellen in Dubai, im Libanon und in Syrien.
Die Araber sind ein stolzes Volk, er hat es seinen Leuten immer wieder erklärt. Wenn du ihnen nicht den Herrn zeigst, dann tanzen sie dir auf der Nase herum. Sie halten sich für etwas Besseres. Er hat gut gearbeitet. Er war Polier und Baustellenleiter. Er hat viel Geld verdient für seine Firma und er hat ihr geholfen, noch mehr zu sparen. Weil er immer ein Gefühl dafür gehabt hat, wie man die dort anpacken muss. Trotzdem haben sie ihm dann gekündigt. Auftragsmangel, hat es geheißen. Aber er weiß es besser. Er ist angeeckt bei den österreichischen und deutschen Kollegen, die keine Disziplin gehabt haben. Man trinkt keinen Alkohol in diesen Ländern. Aber nicht die Säufer hat die Firma hinausgeworfen, sondern ihn. Er war der Spaßverderber. So hat man es ihm gedankt. Jennifer. Seine Tochter. Sein jetziger Job. Mehr als ein Job. Er hat es für sie getan. Und weil er seine neue Aufgabe mag. Da kann er dahinterstehen. Er ist jetzt Offizier. Die beiden Araber waren gerne mit dabei. Er hat es gesehen. Auch wenn man ihnen nie trauen darf. Er weiß zu viel über sie, tickende Zeitbomben, aber gut unter Verschluss. Und er ist es, der am Zünder sitzt.
Jennifer wollte in diese seltsame Schule gehen und Pferdewirtin werden. Was das für ein Begriff ist, bewirtet sie Pferde? Aber wahrscheinlich ist Bäuerin zu wenig schick, um die Schule zu bewerben. Die ganze Schule war schick und voller pferdeverrückter Mädchen. Die Schule lässt es sich zahlen, dass die Mädels glücklich sind. Jennifer war dann trotzdem nicht glücklich dort. Also ist sie zurück an ein normales Gymnasium gewechselt und ihr Pferd bei einem Bauern eingestellt. Er will Jennifer glücklich machen. Und er wird es schaffen.
Wo, verdammt, hat er seine Zigaretten hingelegt? Er will nachdenken und eine rauchen. Er kann die Zigaretten nicht bei Lotte vergessen haben, natürlich hat er bei Lotte nicht geraucht. Niemand raucht mehr, heutzutage. Es hätte ihr nicht gefallen. Auch nicht auf dem Balkon. Obwohl: Er hätte hinausgehen können und eine rauchen und vielleicht wäre sie dann nachgekommen und sie hätte ihn angesehen, während Rauchkringel in die Luft … Jemand hat ihm einmal gesagt, er habe ein interessantes Gesicht. Ein bisschen wie Humphrey Bogart. Wann war das? Er kann sich nicht mehr erinnern. Eine Frau. Warum kann er sich auch an sie nicht mehr erinnern, nur an das, was sie gesagt hat? Es muss jedenfalls nach den großen Filmen gewesen sein, Casablanca und so. Casablanca ist 1942 rausgekommen. So etwas merkt er sich. Aber in Österreich ist der Film erst ein paar Jahre nach dem Krieg populär geworden. 1942 war er siebzehn. Da hat ihm keine so etwas gesagt. Da hätten sie ihn beinahe gekriegt. Aber er war schneller. Ihm kommt vor, das ist auch aus einem Film. Er mit Humphrey-Bogart-Gesicht, ein ganz junger Humphrey Bogart allerdings, und zwei Kopf größer. Bogart war ja so klein, dass sie ihn auf ein Podest gestellt haben, wenn er im Film jemand küssen sollte. Er ist eingerückt, um sie zu täuschen. Aber bald war er sich nicht mehr sicher, wer da wen getäuscht hat. Niedergebrannte Dörfer, er sieht sie in Schwarzweiß, eine eingestürzte Scheune, davor ein Fahrrad, dem der Lenker fehlt. Richard Pribil holt tief Luft. Er war kein Held. Er hat nichts getan, als sie die Dorfbewohner zusammengetrieben haben. Was hätte er tun können? Sie haben einander nicht angesehen. Da war weniger Schuld- als Schamgefühl. Menschen sollten Menschen so etwas nicht antun. Wie kindisch, seine Sabotageversuche davor. Was für ein Theater, das Flugzettelverteilen, geheim und verboten, Gleichgesinnte an Gleichgesinnte, natürlich konnte man dafür sterben, aber er ist lieber eingerückt. Bevor sie ihn geholt hätten, so oder so. Und das im Dorf konnte er nicht verhindern. Lotte war ein Kind zu dieser Zeit. Hätte er sie früher kennengelernt … Was wäre dann gewesen, Alter? Bleib realistisch. Du konntest nie gut mit Frauen. Du konntest zu gut mit Frauen. – Bin ich jetzt weiser? Vielleicht ist Lotte gerade im richtigen Augenblick gekommen. Sie wirkt nicht, als ob sie Hilfe bräuchte. Sie lebt ihr eigenes Leben. – Hanna habe ich nicht helfen können, nicht auf Dauer. Und Fini lebt jetzt in Thailand. Sie hat es sich verbessert mit ihrem zweiten Mann. Keine Anwaltskanzlei mit Fällen, die nicht viel eingebracht haben. Von der Gerechtigkeit kann man nicht abbeißen, hat sie gesagt. Und was soll das schon sein, Gerechtigkeit? Das, was du dafür hältst? Dann hat sie diesen Bauunternehmer kennengelernt, fünfzig Lastwagen, und was sonst noch alles. Hat sie die Scheidung gewollt? War er es?
Richard Pribil sieht durch das hohe Altbaufenster hinunter auf den Park. Es war schon damals nicht besonders dramatisch, heute ist es Vergangenheit. Nicht mehr wichtig. Wichtig ist, es besser zu machen. – Alter, du bist zweiundneunzig. Na und? Warum nicht jetzt damit anfangen, sonst ist es womöglich wirklich einmal zu spät. Seine Zigaretten. Er sollte eine rauchen, das hilft auch gegen die Arthrose in den Knien. Sein Arzt bestreitet das, aber was weiß der schon.
Frau Klein ist auf der Terrasse und stellt sich auf die Zehenspitzen. Sie mag Wien bei Nacht. Auf Zehenspitzen kann sie hinter dem Lichtermeer eine Ecke des Stephansdoms sehen. Vorausgesetzt, man weiß, wo man suchen muss. Der Blickkontakt zum Dom. Deswegen hat er diese Wohnung genommen. Zumindest hat sie das immer vermutet. Jakob hat gemeint, eine Verbindung zur „Bodenstation“ Gottes könne nicht schaden, aber es sei in erster Linie eine vernünftige Investition. Das Geld werde ohnehin immer weniger wert. Das war, als er pensioniert wurde. Frau Klein rechnet nach. Sie war nie so gut im Rechnen wie ihr Mann. Vor achtzehn Jahren. Es kommt ihr vor, als wäre es viel länger her. Wer hat bloß den Unsinn aufgebracht, dass mit dem Älterwerden die Zeit schneller vergeht? Manchmal schleppt sie sich dahin wie endlos. Der Tag, an dem sie Jakob im Abiturientenkurs gesehen hat, der ist nah. Ein schlanker, großgewachsener junger Mann mit ernstem Gesicht, der sich freiwillig in die erste Reihe gesetzt hat. Sie hätte sich nie getraut, sich neben ihn zu setzen. Sie saß mit Betty in der dritten Reihe, gleich beim Fenster. Es ging auf eine schmale staubige Gasse hinaus. Und auf dem Fensterbrett saß eine Amsel. Oder war es eine Taube? Frau Klein weiß, dass die Zeit die Erinnerung verändert. Vielleicht war alles ganz anders. Aber sie sieht es so vor sich. Jakob saß neben einem kleinen Dicken, er kann auch nicht viel älter als neunzehn gewesen sein, aber er hatte schon schütteres Haar am Hinterkopf. Betty hat ihn Mops genannt und gekichert, sie waren alle nervös am ersten Tag. Es hat zwei Wochen gedauert, bis sie zum ersten Mal mit Jakob allein gesprochen hat. Sie sind einander in der Eingangstür begegnet. Sie haben einander angesehen.
Das Telefon läutet. Frau Klein sieht sich irritiert um. Früher hatte ein Telefon einen festen Platz. Jetzt muss man dem Läuten nachgehen. Wohnzimmer. Halbdunkel. Das Display leuchtet auf dem Couchtisch.
– Rami weg.
– Sina? Bist du es?
– Ja. Naturlich. Rami weg. Panik in der Stimme.
– Haben sie ihn abgeholt? Das dürfen sie nicht. Sie haben gesagt, dass das nicht passiert. Ihr habt eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit, so heißt das. Es dauert, aber ihr werdet Asyl bekommen. Das sagen sie auch in der Pfarre.
– Nur weg. Niemand weiß.
– Vielleicht ist er etwas trinken gegangen.
– Rami? Und hat Zinédine gelassen bei Oma?
– Welche Oma?
– Alte Frau, Nachbarn, Mukhtar, aus Irak. Nicht wichtig! Wichtig: Rami weg!
– Hat er irgendetwas gesagt?
– Nein. Auch kein Blatt. Kein Schrift. Ich weiß nicht.
– Beruhige dich.
– Kann nicht ruhig!
– Du musst morgen zur Polizei.
– Polizei? Hat nichts getan, Rami! Gut Mann!
Frau Klein seufzt. Sie fühlt ihr Herz schlagen. Hat sie ihr Blutdruckmittel genommen? Das Haus, in dem Sina lebt, ist drei Straßenbahnstationen entfernt. So spät am Abend fährt die Straßenbahn nur mehr selten. Und was sollte sie helfen können? – Zini, was sagt er?
– Zini sagt, Papa hat ihn zu Oma gebracht, Papa sagt, muss weg.
– Wie lange?
– Wann? Am Abend.
– Nein, wie lange wollte er wegbleiben?
– Zini weiß nicht.
– War Rami nervös? Hatte er Angst?
– Zini sagt, war wie immer. Aber Zini hat Fußball schauen. Da er merkt nicht viel. Was soll ich tun?
– Versuch zu schlafen. Wir können nichts tun vor morgen.
– Entschuldigung. Ist spät.
– Nein, es ist gut, dass du angerufen hast. Ich komme morgen Vormittag.
– Wann?
– Nicht zu früh. So um elf. Wenn er früher kommt, ruf mich an.
– Ja. Danke. Gut Nacht. Entschuldigung.
– Gute Nacht.
Sina steht zwischen den Mülltonnen und der Hollywoodschaukel. Sie ist nach unten gegangen, um zu telefonieren. Sie wollte nicht, dass Zini mithört. Sie ist sich nie sicher, wie viel er auf Deutsch versteht. Die Lehrerin lobt ihn, auch wenn er in Englisch besser ist. Er hat schon im Kindergarten Englisch gehabt, darauf haben sie Wert gelegt. Damals. Dort. Elitekindergarten. Ihr Vater war sehr stolz auf seinen Enkel. Nur das Beste sollte er bekommen. Jetzt hilft es. Sie hätte mehr als diesen einen Deutschkurs am Goethe-Institut besuchen sollen. Aber da hat ihr Vater gefunden, dass einer reicht. Schließlich sollte sie ja bloß ein bisschen mit seinen Geschäftsfreunden sprechen können. Die Deutschen haben viel gebaut in Syrien, Straßen, Häuser. – Vater. Sie hat schon eine Woche keine Verbindung zu ihm. Er wollte nicht weg, er hat gesagt, er sei zu alt dazu, und Mama auch. Er hat gesagt, er hat überall Freunde. Man muss sich arrangieren. Arrangieren mit Heckenschützen? Mit verrückten Mördern? Als sie auf die Schule von Zini geschossen haben, sind sie fort. Wo ist Rami? Er hat geschworen, sie nie im Stich zu lassen. Damals vor der Hochzeit. Als sie im Büro ihres Vaters gearbeitet hat und er seinen Job in Beirut aufgegeben hat, um bei ihr zu sein. Ein anderes Leben. Sina sieht, wie eine Ratte hinter der Mülltonne hervorkommt. Sie ist graubraun und hat einen endlos langen glatten dunklen Schwanz. Sie hebt die Schnauze. Wittert. Sina steht stocksteif. Seit sie auf der Flucht waren, hat sie Angst vor Ratten. Die Ratte macht einige schnelle Schritte. Apfelschale. Sie setzt sich und frisst. Man könnte sie jetzt erschlagen. Aber Sina hat noch nie ein Tier erschlagen. Wo ist Rami? Er geht nicht weg, ohne ihr etwas zu sagen. Es gibt Männer, die tun das. Sie glauben, ihnen fällt die Decke auf den Kopf. Sie können nicht daheim sitzen und warten. Oder Deutsch lernen und warten. Oder auf dem Sozialamt anstehen und warten. Immer warten. Es gibt ein kleines Kaffeehaus. Da treffen sich die Männer. Sina schaut nach oben. Zum Fenster im ersten Stock. Kann sie Zini alleinlassen? Er ist schon acht. Unmöglich. Zuerst Rami und dann sie. Rami hat gesagt, dass er vielleicht schon bald wieder einen Job haben wird. Als Koch, hat er gesagt. Rami hat Rechtswissenschaften studiert, in Damaskus und in Beirut. Aber dort hat er dann die Chance bekommen, das zu tun, was er wirklich liebt. Fotografieren. Er hat Kurse gemacht und für internationale Presseagenturen gearbeitet. In der Küche hat er bloß während des Studiums gejobbt, zum Geldverdienen. Trotzdem hat er in seinem Lebenslauf angegeben, dass er Fotograf und Koch ist. Koch geht immer, hat er gelacht.
– Du darfst nicht arbeiten, bis wir den Bescheid haben, hat Sina gesagt. – Es ist zu gefährlich, schwarz zu arbeiten. Sie kontrollieren alles. Wer weiß, was sie mit uns machen, wenn du gegen die Regeln verstößt. Und außerdem: Willst du danach Schnitzel backen?
– Sie lieben exotische Küche, hat er geantwortet. – Wer weiß, wann ich die Chance kriege, wieder zu fotografieren. Aber was das Kochen angeht, so habe ich meine Verbindungen.
Man soll ihm seine Träume lassen. Sie hat ihn von Anfang an geliebt für seine Träume. Dafür, dass er nicht den starken Mann gespielt hat, der immer weiß, wo es langgeht. Ihrer Mutter hat er gleich gefallen. Vater hatte Bedenken. Kein Vermögen, die Familie Bauern und Arbeiter. Rami wollte Anwalt werden. Am Abend hat er in Restaurants gejobbt, tagsüber hat er studiert. In Beirut ist ihm weniger das Geld als die Motivation ausgegangen. Die libanesischen Studenten glauben, sie sind etwas Besseres, hat er ihr erzählt. Die glauben, dass alle Syrer dumme Bauern sind. Er hat aushilfsweise bei Reuters als Fotograf gearbeitet. Hat einen Fuß in die Tür gekriegt. Und ist dann trotzdem zurück. Wegen ihr. Sie haben davon geträumt, zu reisen. Dass er als Fotograf von anderen Ländern, anderen Menschen erzählen kann. Sie wollte schreiben. Sie hat sich immer schon Geschichten ausgedacht. Sie ist gefährlich fantasiebegabt, hat ihr Vater gesagt. Damals war sie vierzehn, fünfzehn. Tante Doora hat ihn spöttisch angesehen: Was für dich schon gefährlich ist, du Tölpel. Auch damals war nicht alles gut. Man musste sich ruhig verhalten und anpassen. Aber Rami waren seine Träume ohnehin wichtiger als Politik. Ihr Vater hat mit den Assads und den Regierungsleuten gute Geschäfte gemacht. Gebaut wird immer. Sogar jetzt. Da fallen Bomben und dort versuchen sie wiederaufzubauen. Rami hat die Aufstände und dann den Krieg fotografiert. Wieder für Reuters. Und für andere Agenturen. Sie hat Todesängste ausgestanden, wenn er unterwegs war. Ihr Bruder war von Anfang an bei den Aufständischen. Hat sich im Fernsehen und am Computer alles über die Freiheitsbewegungen reingezogen, kurz wurde er richtig gläubig, dann hat er von der aufgeklärten Revolution der Bürger geredet. Freie Menschen in einem freien Land, dafür wollte er kämpfen. Niemand konnte Omar hindern. Er war bei allen Demonstrationen. Sina lächelt. Für sie war er eine Art von Held, sie hätte sich so etwas nicht getraut. Sie war jung verheiratet. Rami hat ihren Bruder sehr gemocht. Auch wenn sie sehr unterschiedlich waren. Omars Tod hat Mutter das Herz gebrochen. Sie sagt, dass sie nur dort bleiben kann, wo sie als Familie gelebt haben. Wo ist Rami?
Sina schaut hinauf zum erleuchteten Fenster, dann zu Boden. Die Ratte ist weg. Sie nimmt den weiteren Weg rund um die Hollywoodschaukel. Sie will sich nicht an den Mülltonnen vorbeidrücken, irgendwo ist sie noch, die Ratte. Und da sind auch andere Ratten. Hollywoodschaukel. Eine Spende. Damit sie im Hof schaukeln können und ein bisschen Freude haben. Sina muss lächeln. Ihre Tante hatte eine Hollywoodschaukel. Sie hat alte amerikanische Filme geliebt. Der Nachbar hat das dekadent gefunden. Tante Doora hat ihn nur von oben herab angesehen und gesagt, lieber dekadent als dumm. Damals ging das noch. Tante Doora ist jetzt in Berlin. Monatelang war sie in einem Quartier mit Hunderten von Geflüchteten. Man muss dankbar sein. Wo wären sie ohne die Deutschen, ohne die Österreicher gelandet? Aber sie tun so, als ob alle gleich wären. Syrer, Iraker, Afghanen. Als ob selbst alle Syrer gleich wären. Als ob alle geflohenen Syrerinnen gleich wären. Tante Doora war immer etwas Besonderes. Sie hat ihre Hollywoodschaukel über die italienische Botschaft bekommen. Sie war mit der Frau des Botschafters befreundet. Sie war findig. Und gut vernetzt. Sina geht die schmale Treppe nach oben. Es riecht nach billigem Reinigungsmittel. Scharf und mit künstlichem Zitronenaroma. Die Nachbarin putzt beinahe ununterbrochen. Sie sagt, sie will den Österreichern zeigen, dass bei ihnen immer alles ganz sauber ist. Sie sagt, sie hat gehört, dass die Leute glauben, alle Araber sind schmutzig und kennen sich mit der Hygiene nicht aus. Sina atmet durch den Mund und öffnet leise die Tür. Sie muss wirklich dankbar sein, sie haben es gut. Sie haben Zimmer und Küche und sogar eine Dusche nur für sich allein. Wenn auch noch immer keinen Asylbescheid. Seit eineinhalb Jahren warten sie jetzt. Wo ist Rami?
Ihr Sohn Zinédine sieht sie mit großen Augen an. Er sitzt am Küchentisch.
– Ich kann nicht schlafen.
– Alles ist gut, sagt Sina. – Papa kommt gleich.
Frau Klein wacht mit trockenem Mund auf. Draußen ist es hell. Der Segen des Schlafmittels. Es ist nur ein leichtes, hat der Arzt gesagt. Als Jakob begonnen hat, sich in der Nacht herumzuwerfen, hat sie begonnen, Schlafmittel zu nehmen. Er wollte keines. Sie wollte schlafen. Aber keine getrennten Schlafzimmer. Dafür war es zu spät. Zwei Mal ist Jakob aus dem Bett gefallen. Einmal hat sie es gleich gemerkt, einmal deutlich später. Auf dem Beipackzettel steht, das Schlafmittel macht abhängig. Es gehört zum Unangenehmen am Älterwerden, dass die anderen denken, es sei ohnehin schon egal. Abhängig von einem Schlafmittel? Liebe Frau Klein, Sie sind dreiundachtzig! Frau Klein dreht sich langsam auf den Rücken. Was auch unangenehm ist: Man steht so schwer auf. Früher ist Frau Klein aus dem Bett gesprungen. Sie war wach und mitten im Tag. Jetzt dauert es, bis sie ihre Arme und Beine gestreckt hat, bis sie fühlt, dass ihr Rücken halbwegs entspannt ist. Es dauert, sich aufzusetzen und die Beine auf den Boden zu stellen. Sie muss fühlen, dass sie nicht schwindlig ist. Dass sie auch heute noch funktioniert. Sie tappt auf die Toilette. – Nicht gleich in der Früh mit dem Unerfreulichen beginnen. Es ist positiv, dass sie nicht inkontinent ist. Offenbar hilft das Turnen. Oder sie hat Glück. Betty trägt eine Windel, sie weiß es von Frau Silbermeier. Natürlich würde Betty es nie zugeben. Sie ist keine Greisin, sie sind gleich alt. Aber zumindest in der Nacht braucht sie eine Windel. Sie bestellt sie im Versandhandel. Sie hat nicht daran gedacht, dass sich auf der Post vieles herumspricht.
Gymnastik. Alt werden verlangt Disziplin. Die großartige Erika Pluhar hat es einmal gesagt. Die hat allerdings leicht reden, ist fünf Jahre jünger als sie. Frau Klein putzt ihre Zähne, sie hat sich rechtzeitig für Implantate entschieden, auch wenn sie teuer waren. Jakob hat gut verdient und eine schöne Pension gehabt. Kein Leben in Luxus, aber eines in Wohlstand. Manche glauben, der Fernsehsender habe ihm Millionen gezahlt. Nur weil ihn alle kennen. Zumindest die Leute, die schon länger leben. Sie möchte nicht zahnlos im Krankenhaus liegen. So wie es bei Jakob war. In seinen letzten fünf Tagen, aber zu diesem Zeitpunkt war er ohnehin schon mehr dort als da. Er hat niemanden mehr erkannt. Auch sie nicht. Es ist Juni und es ist ein warmer Tag. Gymnastik auf der Terrasse. Von ihr aus sieht man nicht nur auf den Stephansdom, zumindest wenn man weiß, wo er ist und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, es gibt auch kein direktes Gegenüber. Niemand kann ohne Verrenkungen beobachten, dass Frau Klein turnt. Sie tut es in einem langen T-Shirt, das ihr David geschenkt hat. Champion steht drauf.
Sina. Jetzt erst fällt es ihr wieder ein. Rami. Ihr Mann. Ist er zurückgekommen? Sie wollte in die Pfarre, aber erst am Nachmittag. Sie wollte zum Friedhof, der ist ganz in der Nähe. Die Pfarre betreut Flüchtlinge. Sie hilft bloß ein wenig mit. Sina war ihr gleich sympathisch. Sie könnte auch eine Italienerin sein, so wie sie aussieht. Schade, dass sich ihre Tochter von diesem Italiener getrennt hat. Oder hat er sich von ihr getrennt? Mary hat nie eine dauerhafte Beziehung geschafft. – Das ist euer Vorbild, hat sie gesagt. So was schreckt ab. Ein Leben lang gemeinsam. Jakob und sie waren seit dem Abiturientenkurs zusammen. Leicht war es nicht immer, aber man hat eben gekämpft. Nicht einfach alles hingeschmissen. Carlo Giuliani war ein toller Mann, warum hat ihre Tochter den nicht festgehalten? Frau Klein glaubt immer noch, dass David sein Sohn ist. Dass ihre Tochter ihrem Mann nur eins auswischen wollte, als sie behauptet hat, der Sohn sei nicht von ihm. Sie ist so. Leider. Wer Schuld daran hat? Immer wieder hat sie mit Jakob darüber gesprochen. Maria Theresia hätte eine Mutter gebraucht, die nicht ihren wilden Jugendjahren nachtrauert, hat er gesagt. Im Scherz. Aber doch nicht ganz. Wilde Jugendjahre. Bloß, weil Jakob ernst war und sie gern gelacht und geflirtet hat. Sie sind, statt in die Schule zu gehen, auf einen Ball nach Wien gefahren. Ihre Mutter hat die Entschuldigungen geschrieben. Ihre Mutter hat junge Leute geliebt. Und ihre Freunde haben ihre Mutter geliebt. Es war nicht viel Geld da, aber alle sind sie auf der Bettbank gegessen und haben Schlagermusik gehört und immer gab es etwas zu essen und zu trinken. Es waren die Fünfzigerjahre, man wollte endlich Spaß haben. Was ist daran verwerflich? Ist es verwerflich, davon zu erzählen? Maria Theresia. Er hat sich mit dem Namen durchgesetzt, aber es hat nichts genützt. Alle nennen sie Mary.
Wie Sina wohl zu Hause gelebt hat? Bevor der Krieg begann? Wahrscheinlich ist das anders in Syrien. Im Islam haben die Frauen nicht so viele Möglichkeiten, heißt es. Aber auch Sina lacht gern. Obwohl sie es schwer hat. Natürlich muss man helfen. Trotzdem. Sina hätte auch jemand anderen anrufen können. Sie ist dreiundachtzig. Frau Klein schaut unschlüssig auf ihr Smartphone. – Sina vertraut dir. Sina braucht dich. Sei froh, dass du gebraucht wirst. Sie wählt Sinas Nummer. Sie geht nicht dran. Frau Klein versucht es wieder. Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar.
Sie braucht Kaffee, bevor sie weggehen kann. Ihr Blutdruck ist zu hoch, aber in der Früh zu niedrig. Sie ist jetzt beunruhigt, sie drückt die falsche Taste am Kaffeeautomaten, den sie von ihrem Sohn zu Weihnachten bekommen hat. Aurel. Der war immer brav, obwohl sie auch ihm die Geschichten aus ihrer Jugend erzählt hat. Mittelschulprofessor ist er geworden. Jakob wollte Geschichte studieren, sein Sohn hat es getan. Nur dass Ulrike nie aufessen kann. Und überhaupt, sie hat diesen unzufriedenen Ausdruck um den Mund. Genuss ist ein Fremdwort für sie. Der Kaffee läuft über die Tasse. Frau Klein zieht sie weg, sie verbrennt sich die Finger am heißen Kaffee. Das kann jedem passieren, der im Stress ist. – Ich bin im Stress, sagt sie halblaut. David wollte ihr eine Katze schenken, damit sie Gesellschaft hat und jemand, mit dem sie reden kann. Warum sollte sie mit einer Katze reden, aber nicht mit sich selbst? Außerdem will sie keine Verantwortung für ein Tier übernehmen. David. Das ist es. Sie ruft ihn an und er geht nach dem zweiten Läuten dran.
– Sinas Mann ist verschwunden.
– Guten Morgen, Oma.
– Oh. Entschuldigung, guten Morgen, lieber David. Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt.
– Es ist halb zehn. Ich bin kein Student mehr.
– Du hast … du kannst dir deine Zeit einteilen, meine ich.
– Du meinst, ich habe keinen richtigen Job.
– Nein, das natürlich nicht. Ich weiß, dass du hart arbeitest. Ich wünschte nur, ich dürfte dir helfen.
– Ich will nicht zum Fernsehen, nur weil Opa dort war.
– Ich verstehe das schon. Sicher. Und jetzt gehst du ohnehin nach Brüssel. Du hast immer schon sehr gut reden können. Aber ich weiß nicht, ob ich es gut finden soll, wenn du Politiker wirst.
– Ich bin dort als Praktikant. Bei einem Parlamentarier. Ich werde nicht Politiker, das kann ich dir versprechen. Ich will Journalist sein, nur eben nicht so wie Opa. Brüssel ist gut, um Kontakte zu knüpfen.
Frau Klein kichert. – Lobbyist in eigener Sache?
– Sozusagen. Man sollte Oma nie unterschätzen, denkt er. Sie weiß viel mehr, als es den Anschein hat. Eine kleine, zarte, alte Frau. Aber mit einem wachen Verstand. Nur manchmal irritierend ausufernd. – Sina. Du hast etwas von Sina gesagt.
– Du bist doch noch nicht ganz wach, oder?
David streckt sich und sieht auf das Glas mit Chiliflocken. Cem hat vor ihm gefrühstückt. Dass es Menschen gibt, die schon zum Frühstück Chili brauchen. Er braucht bloß Kaffee. Gute Croissants wären fein. Aber die, die man üblicherweise in Österreich bekommt, sind scheußlich. – Was ist mit Sina?
– Ihr Mann ist weg.
David spürt, wie er munter wird. – Er hat sie verlassen?
– Nein, er ist verschwunden. Sie hat mich in der Nacht angerufen. Sie ist ganz verzweifelt, sie sagt, so etwas macht er nicht.
– Habt ihr bei der Fremdenpolizei angerufen? Die schieben Leute ab, auch wenn sie schon ewig bei uns sind. Aber dann hätten sie wohl auch Sina und ihren Sohn abgeschoben. Ich kenne wen, der kennt sich da aus. Ich frage ihn. David spürt, wie er wieder müde wird. Die gestrige Nacht war lang. Er hat den Großteil davon am Laptop verbracht. – Weißt du, dass sie den Sessler ans Kreuz geschlagen haben? Den Obermacher der Patrioten. Sie haben das wirklich getan, ihn ans Kreuz genagelt.
– Da war keine Polizei. Rami hat den Sohn zur Nachbarin gebracht und gesagt, dass er fortmuss. Ich habe es in den Nachrichten gehört. Im Fernsehen haben sie es nicht gezeigt, das heißt, sie haben nur den Hügel gezeigt, auf dem es offenbar passiert ist. Bei mir in der Gegend. Ich meine, dort, wo meine Großeltern her sind. Weinviertel. Du kannst dich an deine Uroma nicht mehr erinnern … Eine komische Sache.
– Komisch?
– Eigenartig, wollte ich sagen, wer tut so etwas? Auch wenn mir dieser Sessler nie sympathisch war. Er war so ein Tausendprozentiger, wenn du verstehst, was ich meine. Anderswo hätte er eine Sekte gegründet.
– Das hat was. Eine Partei zu gründen bringt mehr.
– Und was tun seine Anhänger? Die glauben, dass er sie rettet. Da ist mir der Herrgott schon lieber. Ich mag diese Patrioten nicht. Die lügen, wenn sie sich sozial nennen. Richard sagt, die stiften überall Unfrieden und sie wollen die europäische Idee zerstören.
– Dein Richard ist Kommunist.
– Er ist nicht „mein“ Richard. David kann nicht sehen, dass sie dabei lächelt und denkt: Es gibt sie, die guten Seiten meines Lebens. – Und er ist nicht mehr dabei, seit die Russen den Prager Frühling niedergeschlagen haben. Das war lang, bevor du geboren wurdest. Er ist schon länger kein Kommunist mehr, als du lebst.
– Ich habe nichts dagegen.
– Wer, meinst du, hat ihn ans Kreuz geschlagen?
– Im Netz ist wieder einmal von Islamisten die Rede.
– Kein Wunder bei den Anschlägen.
– Oma, heute nennen sie jeden Durchgeknallten einen Islamisten. Der letzte Attentäter war ein Verehrer des Ku-Klux-Klans und hatte Hitlerbilder in der Wohnung.
– Jedenfalls war Sessler sehr anti.
– Anti?
– Anti-Islam. Kannst du nachsehen, was mit Rami los ist?
– Rami?
– Sinas Mann.
– War er radikal? Nicht anti, sondern pro? Islam?
– Quatsch, David, nimm mich nicht auf den Arm. Der ist sicher kein Radikaler.
– Ich hole dich ab, okay? Wir fahren zu Sina. Ich muss erst später in die Redaktion.
– Die können dir überhaupt keine Vorschriften machen, du bist bei denen nicht angestellt.
David seufzt. – Wenn ich einen fixen Job will, dann können sie alles Mögliche verlangen, auch wenn sie es nicht zahlen.
– Du solltest dir doch von mir helfen lassen.
– Oma!
– In Ordnung. Ich brauche noch ein bisschen, aber in einer halben Stunde kannst du mich abholen.
Sina sucht nach Nachrichten. Das Smartphone ist zu klein dafür. Ramis Laptop und Ramis Fotoapparat waren die ersten Dinge, die auf der Flucht verloren gingen. Verloren. Die Türken haben sie einfach genommen. Ohne Erklärung. Rami sieht nicht aus wie einer, der kräftige Männer niederschlägt.
Sie kann zu schlecht Deutsch. Die Augen tränen. Die Schrift ist so klein. Und die Bilder sind es auch. Aber wenn Rami irgendetwas zugestoßen ist, dann steht das vielleicht im Internet. „Flüchtling erschlagen in Wien aufgefunden.“ „Araber bewusstlos im Straßengraben. Wer ist dieser Mann?“ Warum sollte ihn jemand angreifen? Er hat keinem etwas getan. Er sei leider kein Macher, hat Vater gesagt. Sie hat er für ihren starken Willen kritisiert. Sie war eine, die nie stillsitzen konnte. Wie sie gelaufen ist, einfach so, wenn alles aus ihr rausmusste. So lange, bis sie keinen Atem mehr hatte, bis mit der Luft auch die Wut weg war. In den Hügeln rund um das Haus ihrer Großeltern. Ein Mädchen macht das nicht, hat es geheißen, und sie hat sie wieder gehört, die Geschichte von Zenobia, der Königin von Palmyra. Sina kommt von Zenobia, dieser sagenhaften Königin, die sie schon als Kind nicht ausstehen konnte. Weil eine mit so einem Namen natürlich nicht wütend sein darf. Sie darf auch nicht zu laut lachen und schon gar nicht darf sie mit dem Sohn vom Mechaniker heimliche Blicke tauschen. Zenobia hätte auch nie in der Nacht ferngesehen. Was soll das für eine Königin sein, wenn sie nichts macht und nichts darf? Sina wartet, während die nächste Seite lädt. Sie haben ihnen Internet-Verbindungen geschenkt. Das war sehr nett. Man kann sich nicht beschweren, dass sie nicht besonders schnell sind. Das sagenhafte Palmyra. Als die Daesh Palmyra überfallen haben, waren sie gerade auf der Flucht. Man hat Gerüchte gehört. Man hat die Nachrichten in den europäischen Medien herumgereicht und weitererzählt. Es schien, als wäre Europa viel mehr über die Zerstörungen in Palmyra entsetzt als über die Zustände in Homs. In Homs wurde ihr Bruder getötet. Nicht von den Daesh, die sie hier IS nennen, „Islamischer Staat“ – als ob diese Mörderbande für den Islam stünde –, sondern von Regierungstruppen. In Homs hatte der Protest gegen Assad begonnen. Omar hat gesagt, der wird aufgeben, der hat in London studiert.
Sina starrt auf ihr Telefon. Ob sie Frau Klein anrufen soll? Sie will die alte Dame nicht gegen sich aufbringen. Sie ist nett, sie hat sie zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Dass man in diesem Alter noch feiert. Wäre sie nicht hingegangen, Rami wäre nicht verschwunden. Oder sie hätte zumindest gewusst, wohin er gegangen ist. Rami hat keine Geheimnisse vor ihr. Sie hat auch keine vor ihm. Auf der Flucht lässt sich nicht viel geheim halten. Du klebst aufeinander. Entweder es hält, oder es bricht. In der Pizzeria, in der er aushilft, war er auch nicht. Wenn sie schlafen, geht Rami an drei Tagen dorthin und wäscht ab. Schwarz. Sie hat dem Mann klarzumachen versucht, dass er nicht unzuverlässig ist, sondern verschwunden. Ist es an ihren fehlenden Worten gelegen, dass sie den Eindruck hatte, er macht da keinen Unterschied? Rami darf nicht arbeiten. Sie sind dankbar, dass der Mann, dessen Namen sie sich nie merkt, ihn trotzdem lässt. Und ihm auch etwas gibt für seine Arbeit. Wenn jemand von der Behörde kommt, muss er durch die Hintertür verschwinden. Sie haben das geübt. Bisher ist niemand gekommen. In der Nacht tut sich das keiner an. Oder lügt der Mann aus der Pizzeria und Rami war doch dort und sie haben ihn geholt? Weil er nicht arbeiten hätte dürfen? Rami hätte auf Zini aufpassen sollen. Er hat ihn Oma Mukhtar gebracht. Er hat Oma Mukhtar nichts gesagt, nur dass er bald zurückkäme. Oder Oma Mukhtar hat nichts mitbekommen. Sie sitzt die meiste Zeit herum und sieht belämmert drein. Sie sollte nicht auf Kinder aufpassen. Sie sagen, sie hat Schlimmes miterlebt. Sina hat den Verdacht, die war immer schon so. Der Krieg und die Flucht. Als Ausrede für alles. Sina legt das Mobiltelefon weg. Man muss etwas tun.
Die Männer üben Krieg. Wech lehnt sich belustigt zurück. Welchen Krieg? Das ist letztlich egal. Krieg ist Krieg. Es gibt genug, das bekämpft werden muss. Er hat einen Auftrag. Auch wenn er ein friedlicher Mensch ist. Er will nichts lieber als in Frieden und Sicherheit leben. Genug Geld haben, damit Jennifer glücklich ist. Einem so schönen Wesen steht Glück zu. Er war nie schön. Ihre Mutter hat er einst für schön gehalten. Er war ein Narr. Ihr Gesicht ist aufgedunsen. Aperol Sprizz am Vormittag, Gin Tonic am Nachmittag, Bier, Wein, alles, was da ist, am Abend.
Der eine kocht Mittagessen, ganz passabel. Er taugt mehr zu so etwas als zum Kriegerischen. Wech hat keine Ahnung, warum ihn der Kommandant einberufen hat. Man kann ihn nicht fragen. Er weiß nicht, wer der Kommandant ist. Die Befehle erteilt der Vizekommandant. Befehle. Er meldet dem Kommandanten. Faschierte Laibchen hat er immer schon gerne gegessen. Er hat ihm zu erklären versucht, wie ein guter Kartoffelsalat geht. Seine Mutter hat den besten Kartoffelsalat der Welt gemacht. Er hat ihr dabei geholfen. Du musst viel Öl nehmen und wenig Essig, dafür viel Salz und Zucker und Senf. Du tust warme Suppe dazu oder von mir aus auch Wasser. Wech hat auf die Zutaten gedeutet. Was Senf auf Arabisch heißt, weiß er nicht. Sein Gegenüber hat genickt und gelächelt, als wäre er in einem Kochkurs.
– Verstanden?, hat Wech gebrüllt, damit keine falsche Kameradschaft aufkommt. Man muss ihnen zeigen, wer das Sagen hat. Sonst gibt es ein Problem. Er kennt das noch von den Baustellen. – Zwiebel ganz fein, hat er gebrüllt. – Kartoffeln heiß schälen und spaltln. Was heißt spaltln auf Arabisch?
– Ich verstehe nicht, hat der auf Arabisch geantwortet.
Der will ihn zum Narren halten. Aber Wech will lieber guten Kartoffelsalat als ein Exempel statuieren.
– Im Internet ist eine Figur aufgetaucht, die nennt sich ES, erzählt David. Seine Oma sitzt neben ihm. David hätte sich den Mercedes nie leisten können, er kann sich nicht einmal die Betriebskosten leisten. Ihm wäre ein Kleinwagen lieber. Aber die Großeltern haben ihm den Wagen geschenkt, als Opa es nicht mehr geschafft hat, ihn ohne Schrammen in die Tiefgarage zu fahren.
– Was meinst du mit Figur?, fragt Frau Klein. Manchmal kann sie David nicht folgen. Sie fahren zu Sina. Er könnte sie öfter fahren, hat er gesagt, immerhin sei das Auto von Opa.
– Du weißt nicht, wer oder was dahintersteckt im Internet. Du gibst dir ein Profil und postest.
– Aber „es“ ist selten, es wird ein „er“ oder eine „sie“ sein.
– Oder eben „ES“. Ich glaube, das hat jemand von den Patriotisch Sozialen eingerichtet. Es klingt so.
– Wie klingen die?
– Wütend. Auf alles, was anders ist. Du weißt schon. Auf die Ausländer, auf die EU, auf die, die anderer Meinung sind.
– Ja. Aber keiner hat einen Grund, auf Sina wütend zu sein.
– Die sind es einfach. ES hat gepostet, vielleicht musste Sessler sterben, damit wir leben können.
Frau Klein schüttelt den Kopf. – Das klingt nach deutschen Heldensagen. Ich habe sie nie gemocht. Wir haben sie in der Schule lernen müssen.
David wirft seiner Großmutter einen raschen Blick zu. – Dass du in die Schule gegangen bist, als der Zweite Weltkrieg war. Ich habe davon im Geschichtsunterricht gelernt, aber du hast es erlebt.
– Ich war ein Kind damals. Aber ich weiß, wie wir in die Luftschutzkeller sind. Und dass wir trotzdem lernen mussten. Wenn Fliegeralarm war, mussten wir runter in den Keller. Dort hat es dann so eine Suppe gegeben. Sie hätte dir nicht geschmeckt.
– Was war da drin?
– Keine Ahnung. Die Reste. Von allem. Aber sie war warm. Meine Mutter war gut im Organisieren, wir hatten immer was. Bei allen war das nicht so. Ich kann mich erinnern. Auch wie wir auf den Hügel gerannt sind, bergauf, und uns niedergeworfen haben, als die Flieger kamen. Tiefflieger.
– Habt ihr euch gefürchtet?
– Sicher. Aber vor allem sind wir gerannt. Eigenartig, denkt Frau Klein. Ich kann mich ans Rennen erinnern, aber nicht mehr an die Angst.
– Hat es noch Juden gegeben?
– Nein. Damals nicht mehr.
– Habt ihr euch nie gefragt, wo sie hin sind?
– Es gab bei uns sowieso nicht viele. Ich weiß noch, dass meine Eltern ihre Ahnenpässe hatten. Und dass sie sehr erleichtert waren, dass bei uns nichts Jüdisches dabei war. Ruth ist mit ihren Eltern nach Belgien gegangen, daran kann ich mich erinnern.
– Hast du später von ihr gehört?