FREUNDE, DIE KEINE SIND - Suman Lederer - E-Book

FREUNDE, DIE KEINE SIND E-Book

Suman Lederer

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Beschreibung

Suwarna, ein einfaches indisches Mädchen, weder arm noch reich, lebt ein normales Leben in Indien. Sie liebt das Leben und ihre Freunde. Nach einem einschneidenden Ereignis in ihrem jungen Leben kommt sie mit ihren neunzehn Jahren zu ihrer Mutter nach Deutschland, wo sie ein unbeschwertes Leben lebt und aufblüht. Anschließend geht sie nach Österreich und lernt dort ihren Mann kennen. Sie gibt auch nach schicksalhaften Erfahrungen nicht auf, geht ihren Weg und erreicht irgendwann einen sehr guten Stand in ihrem Beruf. Einige Jahre später zieht die Familie aus beruflichen Gründen für einige Zeit nach Jakarta. Leider zieht so ein Glück, neben vielen positiven Erlebnissen, manchmal auch Negatives an, am stärksten Neid. Eine Gruppe von Frauen kommt aus unterschiedlichen Beweggründen zusammen, und zielt mit Unterstützung einiger Personen, die es auf die internationalen Kontakte von Suwarna abgesehen haben, auf Suwarnas gesamtes Netzwerk auf den beliebtesten privaten und beruflichen Netzwerkseiten. Nach der ersten erfundenen Geschichte will man nicht zurück, also wird weitergemacht. Das Ergebnis: konstruierte Vorwürfe gegen Suwarna, konstruierte Zeugen, massives Eindringen in ihre Privatsphäre, versuchte Rufschädigung durch manipulierte Geschichten, die daraus resultierende Zertrümmerung und Verbreitung ihrer Privatsphäre, Verrat durch ihre eigenen Freunde und Verwandten, Zerstörung jeglichen Vertrauens, und leider das Kennenlernen dieser dunklen Seite der menschlichen Natur. Einer der Hauptzwecke des ganzen Verrats - das Netzwerken! Suwarnas Geschichte ist ein autobiografischer Roman, der sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart abwechselt und sich sehr subtil in den Genres Krimi noir, Psycho-, und Verschwörungsthriller bewegt.

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FREUNDE, DIE KEINE SIND

NETWORKING

VERSCHWÖRUNG

VERRAT

Suman Lederer

© 2020 Suman Lederer

Autorin: Suman Lederer

Umschlaggestaltung, Illustration: tredition GmbH

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-347-08023-2 (Paperback)

ISBN: 978-3-347-08024-9 (Hardcover)

ISBN: 978-3-347-08025-6 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Cogito, ergo sum“

„Ich denke, also bin ich“

-René Descartes (1596-1650)

Ich danke meinen Schwiegereltern und meiner Mutter, die sich in meiner Abwesenheit immer um meine beiden Männer so gut gekümmert haben, dass ich unbesorgt wegfahren konnte.

Ich danke unserem Sohn, der mit seinen sieben Jahren mit mir so selbstbewusst über alles Mögliche diskutiert, dass meine Gehirnzellen stets wach und wachsam bleiben müssen.

Vor allem danke ich meinem Mann, der mich über alles liebt, den ich über alles liebe, und der mir alles ermöglicht. Ohne ihn wäre die Idee dieses Buches gar nicht erst entstanden.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Suwarna

2 Deutschland, Indien

3 Neu-Delhi

4 Bengaluru

5 Neu-Delhi

6 Mumbai

7 Neu-Delhi

8 Bengaluru

9 Neu-Delhi

10 Mumbai

11 Jakarta

12 Deutschland

13 Wien

14 Bengaluru–Mumbai–Bengaluru

15 Österreich

16 Mainz

17 Bonn

18 Österreich

19 Jakarta

20 Karlsruhe, Mannheim

21 Karlsruhe

22 Karlsruhe

23 Jakarta

24 Österreich

25 Wien

26 Österreich

27 Wien

28 Paris

29 Rom

30 Paris

31 Bali

32 Neulengbach

33 Die Mongolei

34 Jakarta und die Welt

35 Jakarta, der Anfang

36 Neulengbach

37 Jakarta

38 Wien

39 Jakarta

40 Jakarta

41 Neulengbach

42 Paris

43 Jakarta

Epilog

Prolog

April 2020

„Wisse, dass alles, was Du gerade in deinem Leben hast und wo Du gerade im Leben bist, nur vorübergehend ist und Du bist genau dort, wo Du sein sollst. Du bist in diesem Moment angekommen, um zu lernen, was Du lernen musst, damit Du die Person werden kannst, die Du sein musst, um das Leben zu schaffen, das Du wirklich willst. Selbst wenn das Leben schwierig oder herausfordernd ist – besonders wenn das Leben schwierig und herausfordernd ist – ist die Gegenwart für uns immer eine Gelegenheit zu lernen, zu wachsen und besser zu werden als jemals zuvor.“

– Hal Elrod in Miracle Morning

Suwarna schrieb diese Zeilen in ihr Heft und las sie immer und immer wieder. Ich muss diese Zeilen irgendwie verinnerlichen, dachte sie. Es ist so schwierig. Vielleicht klappt es, wenn ich sie laut sage. Sie sagte die Zeilen laut, mehrmals. Es machte Sinn, aber es war so schwer, sie anzunehmen, zu akzeptieren und wirklich zu verinnerlichen. Vielleicht sollte ich sie Maximilian schicken. Damit könnte ich mich selbst ein wenig unter Druck setzen, sie anzunehmen. Also schrieb sie Max auf WhatsApp eine Nachricht mit dem Text und dem Zusatz „Bitte lies dir diese Zeilen durch, sie klingen sinnvoll, ich werde versuchen, sie zu verinnerlichen“.

Danach las sie sich die Zeilen wieder einige Male laut vor. Irgendwann klappte es bestimmt!

Es war der erste Tag, an dem sie früher als sonst aufgestanden und hinuntergegangen war, zum Joggen. Sie hatte früher in ihrem Leben immer wieder mal Phasen gehabt, in denen sie angefangen hatte zu joggen, nicht viel, nur so eine halbe bis Dreiviertelstunde. Eine Zeitlang hielt sie damit durch, bis Verschiedenes dazwischenkam, dann hörte sie auf. Nach eineinhalb Jahren ging sie wieder joggen.

Es hatte in der Nacht geregnet, und die Straßen waren noch nass. In Jakarta waren die Gehsteige meistens sehr rutschig, wenn sie nass waren. Deshalb musste sie vorsichtig sein, das wusste sie. Also war es kein richtiges Laufen, eher langsam joggen, dann eine Zeitlang gehen, dann wieder ein wenig joggen. Für den Anfang war das ganz gut.

In der Nacht zuvor hatte sie sich überlegt, am nächsten Morgen joggen gehen würde bestimmt helfen, einen Neuanfang zu machen, ohne alle, wirklich ohne alle! Für das Networking, oder das Netzwerken, hatten sie die Freundschaft mit ihr, oder Verbindung, oder was auch immer das war, so einfach auf Abstellgleis gestellt. Sie sollten alle so viel netzwerken wie sie wollten, sich mit so vielen Leuten aus ihrem Netzwerk vernetzen, wie sie wollten, und miteinander glücklich werden, ohne sie!

Das Laufen, Gehen, dann wieder Laufen für eine halbe Stunde tat ihr gut. Die Morgenbrise, die nassen Bäume und Pflanzen, zwischendurch im Grünen die schönen bunten Blumen, alles sah irgendwie so frisch und schön aus, das tat ihr auch gut!

Viel geschwitzt, einen etwas höheren Puls gekriegt, ein bisschen Bewegung, hoffentlich bald andere Gedanken, und nicht mehr an sie alle denken! Gut gemacht, klopfte sie sich gedanklich selbst auf die Schulter.

1.

Suwarna

2020

Suwarna war vierundvierzig Jahre alt, einen Meter vierundsechzig groß, hatte dunkelbraune Augen, schwarze, lange Haare, eine braune Hautfarbe – weder zu dunkel noch zu hell – und durchschnittliche Körpermaße. Sie sah aber eher aus wie fünfunddreißig, oder höchstens Ende dreißig. Na ja, das hatte Vor- und Nachteile, war ihr bewusst, da sie schon immer jünger aussah als ihr tatsächliches Alter. Manchmal dachte sie, vielleicht gebe es dadurch irgendwelche Nachteile in ihrer Arbeit, man würde oder könnte sie nicht ernst nehmen, aber diese Überlegung hatte sich im Laufe der Zeit zum Glück nicht bestätigt.

Ihr Vater hatte ihr seit ihrer Kindheit die wichtige Bedeutung von Disziplin in jedem Lebensbereich beigebracht. Nach einer Abweichung zwischendurch im Leben kehrte sie wieder zurück zum Ursprung, zu ihrem erlernten disziplinierten Leben. Ihre Mutter hatte sie nie davon abgehalten, das zu tun, wonach ihr war, ob Tischtennis oder Badminton spielen, joggen gehen, malen, einen Tanzkurs besuchen, zur Nachhilfe gehen – Suwarna war es freigestellt, sich zu überlegen, was ihr gefiel und es mit ihr zu besprechen, und anschließend durfte sie daran teilnehmen. Ihrer Mutter war es sehr wichtig, dass Suwarna ein abgeschlossenes Studium und einen Job haben und finanziell unabhängig sein sollte.

Gearbeitet hatte sie in der Privatwirtschaft bei internationalen Großkonzernen sowie als Dozentin an Fachhochschulen. Sie hatte zwischendurch einmal sogar die Gelegenheit bekommen, bei den Vereinten Nationen zu arbeiten. Bereits mehrere Jahre war sie freiberuflich für einen internationalen Großkonzern tätig, seit einigen wenigen Jahren von Jakarta aus. Sie arbeitete von zu Hause. Eigentlich konnte sie von überall arbeiten, ob Strand, Café, Bahnhof, Flughafen, Flieger, was sie manchmal auch tat.

Suwarna wusste alles, was sie tat, zu genießen, wenn sie im Urlaub war, genoss sie den Urlaub in vollsten Zügen, wenn sie bei der Arbeit war, genoss sie das Arbeitsleben, wenn sie mit Freunden war, genoss sie ihre Zeit mit ihnen voll und ganz, beim Faulenzen genoss sie das Faulenzen, denn das durfte auch nicht zu kurz kommen. So war sie, Suwarna.

Sie sprach immer ziemlich leise und erhob ihre Stimme kaum. Es kam in ihrem Leben natürlich zwei- oder dreimal vor, dass sie ihre Stimme erhob, aber da mussten sich die Leute sehr angestrengt haben, um diese Reaktion von ihr hervorzurufen. Sie war stets freundlich und höflich zu allen Menschen, unabhängig von ihrem sozialen oder wirtschaftlichen oder hierarchischen Status.

Sie war fleißig, sehr organisiert – es schien fast so, als ob sie mit dem Talent zu hervorragendem Zeitmanagement auf die Welt gekommen wäre, sehr strukturiert in ihrem Denken, manchmal diplomatisch und manchmal sehr direkt, hilfsbereit – jeder könnte auf seine Art und Weise helfen, ihre Hilfsbereitschaft bezog sich oft auf zuhören und Ratschläge geben, sie hörte allen und allem gern zu, gab gute Ratschläge, wenn sie gefragt wurde.

Sie war sehr wissbegierig, las Bücher aus verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen, hatte jedoch kein bestimmtes Hobby, trieb nur manchmal Sport, reiste unheimlich gern in andere Länder – wer nicht –, traf sich gern mit Leuten, redete sehr gern am Telefon mit ihren Freunden von überall aus der Welt – das war früher mal –, sie war insgesamt ein fröhlicher Mensch.

Ihre Deutschkenntnisse waren ausgezeichnet, am Telefon hielten die meisten Suwarna für eine Muttersprachlerin und waren dann beim ersten Treffen überrascht sie zu sehen. Nach ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland hatte sie einen teilweise etwas härteren Unterton entwickelt, der aber nicht immer und nicht allen negativ oder überhaupt auffiel.

Genau aufgrund dieser Charakterzüge und Fähigkeiten – hinzu kam noch die Erwartungshaltung der Leute ihr gegenüber – hatte sie manchmal ungewollt Schwierigkeiten mit Menschen, nicht mit allen, nicht mit dem Großteil, aber schon noch hier und dort.

Wenn man sie sah, hatte man automatisch und ohne groß darüber nachzudenken bestimmte Erwartungen – das Schubladendenken, dem man oft automatisch nachgeht – aber ihr Verhalten entsprach ganz und gar nicht diesem Bild, das man sah. Man sah eine kleine Inderin mit weichen Zügen, dunklen Augen, dunkler Haut und dunklen Haaren. Wenn sie aber anfing zu reden, hörte man fast eine Deutsche sprechen – ihr Deutsch hatte sich später an das österreichische Deutsch angepasst. Das Bild passte nicht, obendrauf dieser harte Unterton, diese Forderungen, die sie stellte, die Lösungsansätze, die sie teilweise sofort wusste und anbot, diese strukturierte Vorgehensweise, das passte alles nicht zu dem Bild. Manche Menschen hatten so ihre Schwierigkeiten damit. Manche konnten ihr Verhalten nicht zuordnen, waren verwirrt, in den seltenen Fällen sogar aggressiv ihr gegenüber, ohne genau deuten zu können, warum.

Suwarna wusste das, Max wusste das auch, aber sie konnten diese Erwartungshaltung der anderen ihr gegenüber nie ändern. Zum Glück kam das nicht oft vor. Leider hatten sie es nicht vorhergesehen, und nicht vorhersehen können, dass das Ausmaß sehr groß sein würde, als das kam, was dann kam. Diese Erwartungshaltung ihr gegenüber war mitunter ein großer Grund ihrer Schwierigkeiten mit der Frauengruppe aus dem Netzwerk.

2.

Deutschland, Indien

60er, 70er

Die Ehe ihrer Eltern war insofern ungewöhnlich, als beide aus ganz unterschiedlichen Teilen Indiens stammten sowie unterschiedlichen Religionen angehörten, zu dem Zeitpunkt ihrer Eheschließung eine sehr ungewöhnliche Verbindung – ihr Vater ein Hindu-Jain aus dem Bundesstaat Bihar im Norden Indiens, ihre Mutter eine Katholikin aus Kerala im Süden Indiens.

Die Jains gehörten der alten Religion Jainismus an, die an das Universum, Gewaltlosigkeit und Verzicht glaubte. Die Jains glaubten, dass alle Lebewesen eine Seele hätten, einschließlich Pflanzen und Insekten. Man würde das Bild der Jains kennen, auf dem sie dabei zu sehen waren, wie sie Ameisen von der Straße wegfegten, bevor sie weitergingen, damit sie sie beim Gehen nicht töteten. Die Jains waren in der Regel strikte Vegetarier. Aus dem Grund war Suwarna seit ihrer Geburt als Vegetarierin aufgezogen worden. Viel später im Leben hatte sie doch noch Fleisch probiert, aber es schmeckte ihr nicht, da es für sie ungewohnt war. Ihre Mutter war keine Vegetarierin gewesen, aber nach der Heirat mit Suren war sie Vegetarierin geworden, da es ihm und seiner Familie sehr wichtig war.

Ihr Vater, Suren, stammte aus der Kleinstadt Arrah im Norden Indiens. Aufgewachsen mit zwei Schwestern hatte er Atomphysik studiert. Das staatliche renommierte Kernforschungszentrum, das damals acht Zentren in Indien hatte, hatte an seiner Universität eine Atomphysikerstelle ausgeschrieben. Suren bewarb sich, bekam die Stelle und zog nach Mumbai, um dort zu leben und zu arbeiten. Einige Zeit später sprach ihn sein Chef an, ob er nicht für zwei Jahre nach Deutschland gehen wollte, um an einem internationalen Forschungs-Austauschprogramm teilzunehmen. So kam er nach Karlsruhe in Deutschland.

Ihre Mutter, Madita, stammte aus einem kleinen Dorf in Kerala. Die meisten Leute dort verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei. Eines Tages fragte der Priester aus ihrer Kirche ihren Vater, ob nicht eine seiner Töchter Krankenschwester werden wolle, um im Ausland zu arbeiten und kranken Menschen zu helfen. Nachdem ihre Eltern insgesamt acht lebende Kinder hatten, fiel die Wahl auf sie, mit ihren 17 Jahren noch jung, dennoch alt genug, um einen Beruf zu erlernen und Menschen zu helfen. In einer Gruppe von insgesamt 20 Mädchen kam sie nach Karlsruhe in Deutschland, um den Krankenschwesterberuf zu erlernen, anschließend im Krankenhaus zu arbeiten und Menschen zu helfen.

Im Oktober hatte die Deutsch-Indische Gesellschaft in Karlsruhe zum Diwali-Fest eingeladen.

Diwali, das Lichterfest, das größte Fest Indiens, feierte jedes Jahr die Rückkehr von Kronprinz Rama nach 14 Jahren im Exil. Es wurde überall in Indien gefeiert, mit einem Riesenfeuerwerk.

Die Inder im Ausland ließen es sich ebenfalls nicht nehmen, Diwali zu feiern. Die hübschen jungen Mädchen aus Kerala waren sehr glücklich, andere Leute aus Indien kennenzulernen. Zwar konnten sie kein Hindi und würden sich dort mit niemandem unterhalten können, aber das war ihnen egal, sie wollten andere Leute aus Indien treffen und Diwali feiern.

Und dort war es, dass sich die zwei kennengelernt hatten. Es folgten danach mehrere Treffen in der Stadt zum Spazieren und Sightseeing. Sprachlich konnten sie sich nicht verständigen, außer mit Händen und Füßen, aber in Sachen Liebe war das manchmal auch nicht notwendig. In Bihar, wo Suren herkam, wurden Hindi und Bhojpuri gesprochen, in Kerala, wo Madita herkam, Malayalam. Indien hatte bekanntlich 22 Sprachen, die alle sehr unterschiedlich, mit eigenen Buchstaben, eigener Schrift und eigener Grammatik, waren.

Als es Zeit für Suren war, nach Indien zurückzukehren, entschied sich Madita, ebenfalls zurück nach Indien zu gehen, beide wollten heiraten. Es folgte Widerstand von beiden Familien, Diskussionen und Streit innerhalb der jeweiligen Familien, denn die Sprache, die Traditionen, das Essen, einfach alles war unterschiedlich. Dennoch kamen beide zusammen und haben geheiratet. Die Liebe hatte gesiegt! Sie hatten zwei Kinder, einen Jungen, Sandip, und ein Mädchen, Suwarna.

3.

Neu-Delhi

Juli 2019

Suwarna war beruflich in Indien, in der Hauptstadt Neu-Delhi. Eine Woche Arbeit in Neu-Delhi, danach knapp eine Woche Mumbai und dann zurück nach Jakarta, das war ihr Reiseplan. Die ganze Woche hatte sie Besprechungen, von morgens bis abends. Mehrere Leute hatte sie getroffen, die in ihrer Reiseplanung vorgegeben worden waren. Sie musste sich bei jedem Meeting konzentrieren, denn später sollte sie den Inhalt in ihrem Bericht einbinden. Trotz des anstrengenden Tages, um nichts Wichtiges zu übersehen, und um den Inhalt, den sie am Tag erhalten hatte, gleich einzuarbeiten, arbeitete sie am Abend in der Regel mindestens ein bis zwei Stunden im Hotelzimmer an ihrem Bericht weiter. Schlafen konnte sie danach normalerweise gut. Nicht aber an dem Abend.

Sie war am Montag angereist, am Dienstag eine Woche später sollte sie nach Mumbai weiterfliegen. Es lag ein Wochenende dazwischen, das sie in Neu-Delhi verbringen würde. Am Freitag überlegte sie sich, wie sie ihr Wochenende dort verbringen sollte, hm … was sollte sie unternehmen?Na ja, spät aufstehen, ganz langsam frühstücken und zwei bis drei Tassen des indischen Masala Chai – der indischeTee mit Milch und Gewürzen – trinken, an der Präsentation arbeiten, die am Montag vorzustellen war, Mittagessen, wieder Arbeit, danach als Belohnung in das im Hotel befindliche Spa, das heißt zur Massage, gehen, die linke Seite des Nackens tat wieder so weh, Abendessen, vielleicht ja, vielleicht nein, nach Hause telefonieren und danach schlafen, überlegte sie sich; am Sonntag den gleichen Ablauf noch einmal durchziehen, das war der Plan für das Wochenende. Bis sie Prabhakar anrief.

Sie sprachen wie immer ein bisschen über die Arbeit, dann über ihre jeweiligen Kinder, wann sie den nächsten Urlaub planten, ob kurz oder normal lang, wann ein Wochenendurlaub möglich wäre, was sie am Wochenende so vorhatten. Suwarna erzählte ihm, dass sie in Neu-Delhi war, wegen der Arbeit, und dass sie sich überlegt hatte, es am Wochenende langsam angehen zu lassen, ein bisschen Arbeit, ein bisschen Entspannung, und hoffentlich nur ein bisschen essen.

Da fragte er plötzlich, „Warum triffst du dich nicht mit dem Harshwardhan? Er wohnt doch mit seiner Familie in Neu-Delhi. Es wäre super, wenn du ihn und seine Familie besuchen könntest.“

Daran hatte Suwarna gar nicht gedacht. Sie hatte vor Monaten mit Harsh geschrieben, und er hatte ihr erzählt, dass er und seine Familie nach Neu-Delhi gezogen waren und dort wohnten. Stimmt, das könnte sie schon machen, aber was sollte sie sich mit ihnen unterhalten, sie hatte ihn seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen, sie hatten selten miteinander geschrieben, obwohl es seit den sozialen Netzwerken nicht mehr so schwer war, sie kannte seine Frau und seine zwei Kinder nicht. Auf der anderen Seite hatte sie nichts anderes vor. Na ja, sie könnte ihm schreiben, dass sie in der Stadt war und Zeit hatte. Wenn es mit einem Treffen klappte, okay, ansonsten hatte sie ohnehin einen entspannten Tag geplant. Also schrieb sie ihm. Wie es der Zufall wollte, hatte er am Samstag ab Mittag Zeit,

„Wir würden uns sehr freuen, Dich bei uns zu begrüßen. Wer hätte das gedacht, dass wir uns in Neu-Delhi bei mir treffen würden! Ich komme morgen mit den Kindern und hole Dich gegen Mittag ab, halte Dich bereit.“

Es war alles erstaunlicherweise locker und nett, seine Frau, Mandira, war sehr sympathisch, locker und gesprächig, seine Kinder, vierzehn und zwölf, am Anfang noch ein wenig zurückhaltend, aber mit jeder Minute, die Suwarna dort verbrachte, immer gesprächiger. Als sein Sohn sie allein im Wohnzimmer für einige Minuten erwischte, wollte er von ihr wissen, ob sein Vater, also Harsh, früher an der Uni eine Freundin hätte, und ob er irgendetwas angestellt hätte. Sie fand das alles sehr sympathisch, sie mochte seine Familie und dachte sofort daran, wie schön es wäre, mit Max und Mausi einmal im Urlaub nach Neu-Delhi zu kommen und sich noch mal mit ihnen allen zu treffen, damit Mausi die zwei Kinder von Harsh kennenlernen könnte. So war Suwarna; sie mochte die Leute immer sofort und dachte gleich daran, wie man mit ihnen weiterhin in Verbindung bleiben und die Freundschaft noch vertiefen könnte.

Am Abend gingen Harsh, Mandira und Suwarna dann in ein In-Lokal. Die Temperatur draußen war angenehm. Sie entschieden sich auf der Dachterrasse zu bleiben. Nach zwei Cocktails, die nicht allzu stark waren, wurde die Stimmung etwas lustiger. Mandira und Suwarna taten sich zusammen und zogen über Harsh her, über Kleinigkeiten – wie er keinen Parkplatz fand, wie er versuchte cool auszusehen, wenn andere Frauen in der Nähe waren, was Suwarna alles von früher aus dem Nähkästchen erzählen könnte, aber nicht würde – und beide lachten und lachten und lachten über ihre eigenen Witze.

Harsh sagte zu Mandira, sie sollte mit dem Trinken etwas aufpassen; daraufhin sagte Mandira:

„Es ist alles in Ordnung, schau, ich habe noch nichts verraten“.

Suwarna war gerade auf dem Weg zurück vom Klo, als sie das hörte.

Harsh sagte noch: „Ja, wir alle wissen alles, wir wissen von der Adoption, von der Geschichte mit den Mietern, von ihren Beziehungsgeschichten, von der Ehekrise, aber sie weiß nicht, dass wir es wissen, und wir belassen es dabei, das hat doch keinen Sinn, jetzt alles aufzubringen, wir haben eine schöne Zeit und das passt so, pass nur auf!“

Dann kam Suwarna am Tisch an. Sie sagte nichts, denn sie dachte in dem Moment, wenn sie es erzählen wollten, hätten sie es selbst schon erzählt, warum sollte sie sie mit Fragen in Verlegenheit bringen, es war so ein schöner Abend, also ließ sie alles andere.

„Mandira und ich sind gerade mit ihr im Restaurant; ja, sie hat schon was getrunken, aber Mandira auch“, schrieb Harsh.

„Für uns ist interessant, dass Suwarna getrunken hat.“

„Es ist Samstagabend, wir sehen uns nach zweiundzwanzig Jahren, und beide Frauen genießen einfach nur den Abend, es ist nichts dabei.“

„Du brauchst sie nicht in Schutz nehmen. Wir haben euch allen erzählt, wie die Sachen stehen. Beobachte weiter, mach Fotos, und sag uns Bescheid“, schrieb Deborah zurück.

Sie beide brachten Suwarna ins Hotel zurück. Auf dem Weg dorthin kicherten Mandira und Suwarna wie Schulmädchen, lachten über alles und nichts, es war lustig. Als sie das Hotel erreichten, sagten Mandira und Harsh, wenn es zeitlich klappte, könnten sie am nächsten Abend wieder zusammen essen gehen.

„Ja, das wäre super“, antwortete Suwarna sofort und freute sich gleich darüber.

Es war bereits nach Mitternacht. Sie fragte am Hotelempfang, wie lange es am Vormittag noch Frühstück geben würde, da sie vorhatte, bis zur letztmöglichen Minute zu schlafen, ohne die Frühstückszeit zu verpassen. Okay, es wäre genug Zeit zum Schlafen.

Als sie dann im Bett lag, schrieb sie Max eine Nachricht,

„Bin wieder zurück im Hotel. Es war ein sehr schöner Tag mit der ganzen Familie und ein sehr schöner Abend mit den beiden. Wir können morgen telefonieren, ups, ich meine, heute, in ein paar Stunden. Es ist ein bisschen spät, ich gehe jetzt schlafen. Vorhin war es echt lustig. Schlaf gut. Gute Nacht.“

Dann rief sie Prabhakar in den USA an, er war kurz angebunden und sagte nur, dass er unterwegs war und nicht reden konnte. Also schickte sie ihm einfach ein paar Bilder vom Abend.

Er schrieb zurück: „Nett!“

Hä? dachte sie, nur nett? Der muss ja einen Tag gehabt haben! Aber dann fiel ihr wieder ein, dass er unterwegs war, wahrscheinlich deswegen. Sie konnte nicht wissen, dass das ihr vorletzter Austausch war, und dass der letzte Austausch zwei Monate später genauso knapp ablaufen würde.

Das Netzwerk und die Frauengruppe hatte ihn schon längst erreicht, und seine Verbindung mit Suwarna bereits erfolgreich verzerrt. Später würde sie sich wundern, wie er es zuließ, sechsundzwanzig Jahre Freundschaft, nein, Bekanntschaft, zugegeben mit einer großen Lücke von neunzehn Jahren, aber dennoch mit regelmäßigem Kontakt wieder seit drei Jahren, auszutauschen, gegen manipulierte Geschichten und das Netzwerken mit unbekannten Leuten, die man über die sozialen Netzwerke erst seit einigen wenigen Monaten kannte. Und das, nachdem er ihr gesagt hatte, dass er froh war, mit ihr nach neunzehn Jahren wieder in Kontakt zu sein, und dass er die Freundschaft mit ihr auf keinen Fall verlieren wollte. Tja! Das hätte sie alles wirklich nicht wissen oder sich vorstellen können.

Am nächsten Morgen wachte sie erst kurz vor zehn Uhr auf. Nach dem Frühstück setzte sie sich gleich an die Arbeit, die sie am Montag präsentieren sollte. Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, machte sie sehr gern, denn ihr Arbeitsbereich gefiel ihr sehr. Es war an sich nicht einfach, sich in dieser kurzen Zeit, sprich innerhalb von einer Woche, einen Einblick über ein bereits mehrere Jahre laufendes Projekt zu verschaffen, den ganzen Inhalt zu verstehen, zu analysieren und am Ende der Woche gleich die Ergebnisse zu präsentieren. Aber sie war gut in ihrer Arbeit, Max war stolz auf sie und motivierte sie immer weiterzumachen, da er gesehen hatte, dass ihr ihre Arbeit gefiel.

„Suwarna, du bist gut in deiner Arbeit. Denk weiterhin daran, es geht nicht darum, ob man der oder die Beste in der Arbeit ist oder sein kann, es geht darum, dass man sein Bestes gibt. Du interessierst dich dafür, du engagierst dich sehr, es gefällt dir sehr und du machst es gut, weiter so!“

Sie wollte zu Mittag nur eine Kleinigkeit essen, da sie am Nachmittag einen Termin für die Massage ausgemacht hatte. Sie spürte auf der linken Seite am Nacken wieder eine Verhärtung, sie berührte die Stelle und drückte mit ihren Fingern, in der Hoffnung, es würde besser, aber das tat es nicht, das tat es nie, die Massage würde ihr guttun. Nach dem Mittagessen und wieder ein bisschen Abtippen ging sie zur Massage. Es war derselbe Massagetherapeut wie zwei Tage zuvor. Sie hatte ihm von ihrem Nacken erzählt. Nach der einstündigen Massage zeigte er ihr einige Übungen, die sie machen könnte und sollte, um die Nackenmuskulatur zu dehnen und stärken.

Harsh hatte geschrieben, dass Mandira und er sie gegen acht Uhr am Abend abholen würden, sie könnten irgendwohin nett zum Abendessen gehen. Kurz nach acht kamen Mandira und Harsh, ohne Kinder, und sie fuhren in die Nähe in ein nordindisches Restaurant. Bei der Bestellung lehnte Suwarna den Wein ab, da sie wusste, dass sie wahrscheinlich nach dem Abendessen noch arbeiten würde und am nächsten Tag die Präsentation hatte, das hieß, sie musste mit der Präsentation fertig werden.

„Mandira und ich sind gerade mit ihr Abendessen. Wir haben ihr ein paar Mal Wein und andere alkoholische Getränke angeboten, aber sie wollte nichts trinken.“

„Jaja, schon gut. Sag uns Bescheid, wenn sie etwas fragt oder sagt“, schrieb Deborah zurück.

Sie hatten alle einen schönen Abend, plauderten viel, beide Frauen zogen wieder über Harsh her, lachten viel, und dann brachten sie sie wieder zurück ins Hotel. Irgendwie fand sie es schade, sich zu verabschieden, alle Erinnerungen aus Bengaluru kamen zurück, es war damals so lustig gewesen, so wie heute Abend, dachte sie. Sie freute sich, dass sie sich so gut mit Mandira verstand, sie hatte das Gefühl, sie schon länger zu kennen. Sie hoffte, sie würden wirklich in Kontakt bleiben!

„Er hat ihr nichts verraten“ schrieb Lungi.

„Sehr gut, passt. Siehst Du, wie gut es ist, wenn wir vorher schon erfahren, was ihre Pläne sind. Merk Dir das, wir sollten, nein, wir müssen, alles vorher wissen, dann können wir alles entsprechend planen, bestimmte Personen vorbereiten, andere selbst informieren, so wie wir es wollen, und noch wichtiger, uns entsprechend positionieren und verhalten, das ist sehr viel wert“ kam die Antwort aus Mexiko.

„Alles klar. Wir bemühen uns sowieso, dass die Leute uns die Infos zukommen lassen.“

„Sehr gut. Wir hören uns.“

„Es läuft alles nach Plan. Niemand merkt was“ ging die Nachricht aus Mexiko.

„Passt. Woher sollten sie auch…. Hahahaha! Bis morgen“ kam die Antwort aus Russland.

4.

Bengaluru

1993–1995

Suwarna war an der Universität in Bengaluru, zu ihrer Zeit dort noch Bangalore genannt, im Studienfach Bauingenieurwesen eingeschrieben. In ihrer Klasse waren um die fünfzig Jungen und Mädchen.

Sie hatte niemanden gekannt, außer Pardhan, den sie kennengelernt hatte, als beide in der Zentralstelle für die Studienanmeldung in der Schlange standen und sich dann unterhielten. Daraufhin hatten sie festgestellt, dass sie beide an derselben Universität studieren würden.

Wie es für solche Situationen üblich war, sahen alles und alle am Anfang so fremd aus, es waren so verschiedene Typen dabei – manche waren wahrscheinlich schüchtern und wagten es kaum aufzublicken, manche fühlten sich sichtlich wohl und wollten zeigen, dass sie die Macher waren, manche unterhielten sich nur mit ihren Nachbarn; da kamen zwei Jungen in die Klasse, beide sahen sympathisch aus. Als sie an ihr vorbei zu den hinteren Reihen gingen, lächelten sie, es war keine Anmache, es war einfach nur freundliches Lächeln.

Nach drei langen Vorlesungen hatten sie Mittagspause, die vielen Mädchen und Jungen fingen alle bereits an, sich besser zu fühlen und nutzten die Zeit, um sich gegenseitig vorzustellen. Da kam einer der beiden Jungen zu ihr und stellte sich vor – er hieß Prabhakar.

Dann rief er dem anderen Jungen zu: „Harsh, das hier ist Suwarna, sie ist aus Mumbai!“

Sie lernte ebenfalls ein Mädchen namens Shehnaz kennen. Langsam fühlte sie sich besser, und die anderen Studenten sichtlich auch.

Prabhakar war aus Bengaluru. Er war immer sehr freundlich, hatte ein freundliches Gesicht, erkundigte sich immer nach dem Wohl der anderen Personen und war immer bereit zu helfen.

Pardhan kam aus einem anderen Teil Indiens und war für das Studium nach Bengaluru gezogen. Er sprach nicht viel, nahm aber alles sehr wohl auf, manchmal stellten ihm die anderen einfach so Fragen, um zu sehen, ob er wirklich zugehört hatte, ja, er hatte zugehört. Normalerweise hatte er einen ernsten Gesichtsausdruck. Nichtsdestotrotz war er immer freundlich, auch wenn er nicht immer ein Lächeln im Gesicht hatte. Wenn er nach etwas Konkretem gefragt wurde, bot er auf jeden Fall seine Hilfe an.

Harshwardhan, kurz Harsh, wie er von allen genannt wurde, war auf seine Art lustig, manchmal blickte er sogar in lustigen Situationen ernst, Suwarna war nie sicher, ob er den Witz in der Situation überhaupt verstanden hatte oder ob der Witz unter seinem angedachten Niveau war. Er kam, wie Pardhan, aus einem anderen Teil Indiens, und war ebenso für das Studium nach Bengaluru gekommen.

Dann war da noch Shehnaz – sie war aus Bengaluru und wohnte mit ihren Eltern, ihrem verheirateten Bruder, ihrer Schwägerin und ihrer anderthalbjährigen Nichte zusammen. Im Grunde war sie sehr redselig, aber nur mit Leuten, mit denen sie es wollte. Sie konnte viel und sehr herzlich lachen. Einige Jahre später, nach der Hochzeit von Shehnaz würde Suwarna den Kontakt zu Shehnaz verlieren. Sie wird sie später jahrelang in den sozialen Netzwerken und über Freunde suchen, aber leider nicht finden.

Suwarna war ebenfalls nicht aus Bengaluru und wohnte in einer Pension in der Nähe der Uni.

So kam es, dass Suwarna, Prabhakar, Pardhan, Harshwardhan und Shehnaz eine Clique wurden. Sie verbrachten die Mittagspausen zusammen, gingen in eines der zwei Bistros außerhalb des Campus zum Frühstücken, wenn die Vorlesungen später anfingen, oder spätestens für das Mittagessen. Wie es bei jungen Leuten normal wäre, fanden sie immer irgendein Thema zu besprechen, um sich darüber aufzuregen – meistens über die Professoren, über etwas herzuziehen, und so weiter. Sie waren alle sehr redselig, außer Pardhan, er hörte immer zu und antwortete, zwar nicht mit vielen Worten, aber dennoch, war immer interessiert, nahm nur nicht viel aktiv teil, aber das störte niemanden, die Gespräche gingen wild gestikulierend weiter. Sie verbrachten viel Zeit unter der Woche zusammen – essen gehen, viel plaudern, manchmal ins Kino gehen, alle fünf hatten einfach eine tolle Zeit zusammen.

Suwarna kam aus der Großstadt Mumbai und war zu Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erzogen; sie hatte die Gesellschaftsregeln, die in Indien so wichtig waren, nie richtig verstanden und noch weniger gemocht. Sie verstand nicht, warum sie sich mit Jungen nicht viel unterhalten sollte, warum sie mit Jungen nicht herumhängen sollte, warum sie mit ihnen nicht ausgehen sollte.

Es waren lediglich zwei Mädchen aus Mumbai auf der Uni, und als eine davon wurde Suwarna schnell bekannt. Mit ihren langen schwarzen Haaren, ihrem Lächeln über beide Ohren, ihrer Bereitschaft zu plaudern, war sie ein gern gesehener Gesprächspartner bei den jungen Herren. Alle wollten sie kennenlernen und sich mit ihr unterhalten. Viele hielten Ausschau nach ihr, warteten auf dem Weg von ihrer Pension zur Uni, um sie unterwegs abzufangen. Außerdem bekam sie, wie es normal für ihr Alter war, nämlich achtzehn, fast täglich von unterschiedlichen Jungen Anfragen, um mit ihnen auszugehen. Sie genoss diese Aufmerksamkeit.

Bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr hatte sie ziemlich wie ein Junge ausgesehen, mit den Jungen aus ihrer Nachbarschaft gespielt, war mit den Jungen in ihrer Schule befreundet und wurde aus ihrer Sicht wie ein Junge behandelt. Umso mehr genoss sie die Aufmerksamkeit, die sie als junge Frau bekam. Sie fand es toll. Wenn ihr die Jungs Komplimente über ihr Aussehen machten, war sie nicht wirklich verlegen, sondern lachte herzlich und flirtete gern mit ihnen. An der Uni war sie tagsüber sehr gern mit ihren Freunden unterwegs, am Abend ging sie öfter gern mit einigen Jungen aus. Ihre Freunde sagten ihr des Öfteren, sie solle bitte vor diesen anderen Jungen aufpassen, aber sie hatte keine Angst vor ihnen. Das Leben war toll!

An der Uni lernte sie Mahinder kennen. Sie verabredeten sich zum Kaffeetrinken und beschlossen anschließend, sich noch mal zu treffen. Sie stellten fest, dass sie gern Zeit miteinander verbrachten und fingen an, sich regelmäßig zu treffen, fast alle zwei Tage. Es waren die normalen Dinge, die Teenager gern machten, Teetrinken gehen, ein bisschen mit dem Motorrad herumfahren, manchmal sogar außerhalb der Stadt, Essen gehen, ins Kino gehen, und dergleichen.

Eines Abends brachte er sie zu ihrer Wohngemeinschaft zurück, in die sie vor einiger Zeit von der Pension umgezogen war. Sie hielten eine Straße vorher bereits an, standen dort und unterhielten sich noch eine Weile. Aus den Augenwinkeln sah Suwarna ein paar Männer in ihre Richtung laufen, sie dachte sich nichts dabei, denn es war nicht unüblich, dass Jungen miteinander herumscherzen und herumlaufen. Als sie etwas näher waren, fragte sie sich für einen Moment, ob irgendetwas los war, aber widmete sich dann wieder den Worten von Mahinder. Als die Männer noch näher waren, läuteten die Alarmglocken kurz in ihrem Gehirn, es war alles so schnell, einerseits schrie ein Teil ihres Gehirns, dass etwas nicht stimmte, mit einem Teil sah sie etwas Bedrohliches in ihren Händen, nahm es wahr und doch nicht richtig wahr, mit einem anderen Teil hörte sie Mahinder noch zu.

Plötzlich waren die Männer bei ihnen, es waren fünf, sie hielten Machete, Sichel und Messer in ihren Händen – zwei hielten Mahinder fest, zwei hielten sie fest, der fünfte leerte die Taschen von Mahinder und schlug ihm in den Bauch. Er solle keinen Mucks von sich geben, sonst wäre er fällig. Sie hatte bereits angefangen zu schreien, als die Männer sie festhielten. Daraufhin zeigte einer ihr das Messer und schnauzte sie an aufzuhören. Sie hörte auf. Als der fünfte Mann Mahinder noch einmal schlagen wollte, versuchte sie sogar in der Situation vernünftig mit dem Schläger zu reden. Sie sagte ihm, er könne das ganze Geld haben, das sie dabeihatte, sowie ihren Goldschmuck, aber er solle Mahinder nicht schlagen, wozu schlagen, wenn er kriegen würde, was er haben wollte! Der Schläger reagierte sogar mit Verständnis darauf. Einer von den zwei Schlägern, die sie festhielten, wollte sie dann schlagen. Wieder sah sie dem fünften Schläger direkt in die Augen und forderte ihn auf, mit dem ganzen Unsinn und Schlägen aufzuhören, da sie das Geld und das Gold bereits hatten. Ob es ihr Mut war, den sie in der Situation zeigte und somit für ihn einen Überraschungseffekt erzeugte, oder ob er es wirklich verstanden hatte, wusste sie nicht. Aber das war eigentlich egal. Er ging erneut darauf ein und sagte dem anderen Schläger, er solle aufhören. Zum Schluss gaben die Schläger Mahinder trotzdem noch einige Schläge, bedrohten ihn und Suwarna mit dem Messer und der Machete und verschwanden dann in die Nacht. Das Ganze dauerte fünf oder sechs Minuten, kam ihr aber wie eine Ewigkeit vor.

Suwarna konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht fassen, was gerade passiert war, waren sie gerade überfallen worden? Sie hatte mehr Geld dabei als sonst, da sie am nächsten Tag eine Kursgebühr zu zahlen hatte. Aber das war nicht so wichtig, nicht jetzt, dachte sie. Ihr Goldschmuck war weg, wie soll sie das ihrer Mutter und ihren Verwandten erklären? Aber das war in dem Moment nicht wirklich das Wichtigste. Sie waren gerade überfallen worden. Es hätte viel schlimmer ausgehen können. Sie hatten Glück gehabt, Riesenglück! Mahinder war wie erstarrt, er stand nur so da, leicht im Schock, fast am Weinen, das konnte sie ebenso nicht fassen. Er ist doch der Mann, er sollte sie trösten, dachte sie.

Sie ging die drei Schritte hinüber und nahm seine Hand: „Komm, wir gehen in meine WG.“

Sie gingen die hundertfünfzig Meter bis zu ihrer Wohngemeinschaft.

Ihre zwei Mitbewohnerinnen, die Schwestern waren, waren zu Hause, Suwarna erzählte ihnen, was passiert war, sie waren ebenfalls sprachlos. Alle schüttelten nur den Kopf und konnten es nicht fassen, dass so etwas in ihrem Viertel passiert war. Eine von ihren beiden Mitbewohnerinnen ging hinunter, erzählte dem Besitzer des Hauses alles und rief anschließend die Mitbewohner von Mahinder an.

Zwanzig Minuten später trafen zwei seiner Mitbewohner ein, alle redeten miteinander, sie waren fassungslos über das Ganze, aber es war schon passiert, man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Mahinders Mitbewohner nahmen ihn mit und sagten etwas von Polizei, aber erst am nächsten Tag.

Suwarna und ihre Mitbewohnerinnen saßen noch eine Weile auf der großen Terrasse vor ihrer kleinen Wohnung und sahen in die dunkle Nacht hinaus. Der Himmel war sternenlos, so bezeichnend für das, was gerade passiert war. Einerseits wurde immer wieder überall erzählt, dass so etwas passierte, aber niemals hätten sie gedacht, dass es einer von ihnen passieren könnte. Aber was hätten sie jetzt machen können!

Nachdem Suwarna das ganze Geschehnis bestimmt zwanzig Mal erzählt hatte und ihre Mitbewohnerinnen trotzdem jedes Mal genauestens zugehört und teilweise dieselben Fragen gestellt und ihre Fassungslosigkeit zum Ausdruck gebracht hatten, entschieden sie alle, schlafen zu gehen und am nächsten Tag zu sehen, was zu tun war. Diese dunkle Nacht würde Veränderungen bringen, aber das wusste Suwarna zu dem Zeitpunkt nicht, auch nicht, dass diese Veränderungen für sie gar nicht mal so schlecht sein würden.

Irgendwann schlief Suwarna ein. Mehrmals in der Nacht träumte sie das Geschehene immer wieder, manchmal wurde sie im Schlaf unruhig, manchmal wurde sie wach. Irgendwann wurde es draußen hell.

Oh nein, so schnell? Ich will nicht, dass es Tag wird, ich will nicht aufstehen, ich will nicht hinausgehen und so tun, als ob alles normal ist, ich will nicht zur Polizei gehen, ich will nicht!

Noch recht früh am Vormittag stand sie auf; ihre zwei Mitbewohnerinnen waren bereits wach und beim Frühstück, als sie ins Wohnzimmer kam.

„Guten Morgen! Hast du irgendwie gut schlafen können? Wir machen uns noch fertig, am Nachmittag fahren wir für eine Woche zu unseren Eltern nach Hause, das war ja schon längst ausgemacht und wir wollen unsere Eltern nicht enttäuschen, aber das haben wir dir eh schon erzählt, oder?“ sagte mal die eine, mal die andere Mitbewohnerin.

Der nächste Schlag für sie. Was! Sie fuhren weg? Jetzt? Nach dem, was passiert war? Und ließen sie allein? Suwarna sagte nichts.

Sie war geistig nicht so richtig anwesend. In Gedanken versunken aß sie ihr Frühstück irgendwie fertig und zog sich um. Dann hörten sie Motorräder. Mahinder und drei seiner Freunde waren da. Nachdem sich alle begrüßt hatten und noch einmal das Geschehnis durchgegangen waren, entschieden sie, zum nächstgelegenen Polizeirevier zu gehen.

Auf dem Polizeirevier hörten sich die Polizisten das Ganze ziemlich lustlos an, warum hatten Suwarna und Mahinder dort überhaupt gestanden? In der Nacht waren wenig Menschen unterwegs, diese bestimmte Straße war sowieso ziemlich leer, die Hemmschwelle solcher Schläger, so etwas zu tun, sank, sie hätten überhaupt nicht dort stehen dürfen! Aha, also ihre Schuld!

Ob die Polizisten das Geschehnis als Anzeige aufnahmen, hat Suwarna nicht wirklich verstanden. Sie spürte so eine Wut in sich. Sie war sich sicher, die Polizei wusste wahrscheinlich sogar, wer die Schläger waren, wollte aber nichts tun, es war für sie nicht ernst genug, außerdem war außer Geld und Gold mitnehmen und ein bisschen „herumschubsen“ nichts passiert, warum dann irgendein Aufwand?

Zuerst rief sie ihre Cousine an und erzählte ihr irgendeine Märchengeschichte, wie sie das Geld und das Gold verloren hatte. Ihre Cousine hörte zu, sie verstand die Geschichte nicht und fragte noch mal, was passiert war und warum das Geld und Gold weg waren. Suwarna erzählte ihr erneut die Märchengeschichte, fügte noch hinzu:

„Falls meine Mutter anruft, sag ihr noch nichts, sie wird sich unnötig Sorgen machen, du kennst sie doch“, und dann, dass sie noch etwas machen müsse und nicht mehr reden könne, die Cousine solle es ihren Eltern, sprich Suwarnas Onkel und Tante erzählen, und legte auf.

Danach rief sie ihre Freunde an, alle nacheinander, Pardhan, Harsh, Prabhakar und Shehnaz, und noch Anant. Alle waren fassungslos. Alle hörten zu, äußerten fast die gleichen Worte der Fassungslosigkeit, fragten, wie es ihr ging und sagten, sie solle sich doch bitte melden, wenn sie etwas brauche.

Anant und Suwarna hatten sich ein Jahr zuvor bei Bekannten kennengelernt. Seitdem hatten sie sich ab und zu getroffen, vielleicht war es so etwas wie eine Freundschaft. Er fragte sie noch, ob er vorbeikommen sollte, nein, nicht notwendig, alles noch in Ordnung. Er spürte die Wut in ihr und sagte, sie solle versuchen zu meditieren, das würde ihr helfen. Da kam die Wut hoch, die seit dem Überfall in irgendeiner undefinierten Form in ihr steckte, wie sollte Meditieren ihr helfen? Wenn die Polizei die Schläger fassen und sie ein paar Sachen zurückbekommen würde, würde ihr das helfen, nicht Meditieren. Na gut, dann halt nicht.