Frevlersbrut - Katharina Maier - E-Book

Frevlersbrut E-Book

Katharina Maier

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Beschreibung

Eine junge Frau stößt an die Grenzen ihrer Welt "Lys Neoly hat einen Heiligen Baum verbrannt!" Mit diesen Worten stürzt Myns Welt in sich zusammen. Der schöne Priester Sna hat sie ausgesprochen und damit ihre Mutter als Widernatürliche gebrandmarkt. Und Myn und ihre Brüder gelten jetzt als die Brut einer Frevlerin. Doch der brennende Heilige Baum war erst der Anfang. Auf dem Planeten Singis fürchtet man sich jetzt vor dem Weltenbrand. Gerüchte über Drachenfrauen im Weltraum machen die Runde, und der Demagoge Asnuor steigt zu immer größerer Macht auf. Myn jedoch hat andere Probleme: Wie zum Nichtsein kann sie eine singisische Frau und trotzdem sie selbst sein? Und dann scheint auch noch ihr großer Bruder unter dem Druck der gesellschaftlichen Ächtung zu zerbrechen. Oder steckt etwas ganz Anderes, Größeres dahinter? In 7 Bänden erzählt "Die Erste Tochter" von Intrige, Leidenschaft, Liebe, Freundschaft, Hass, einer fremden Welt und von einer Frau und drei Männern, die diese Welt für immer verändern. Eigentlich will Myn ja vor allem eins: ihre eigene Freiheit. Doch als "Frevlersbrut" scheint dieser Wunsch unerreichbar …

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DIE ERSTE TOCHTER

Zukunftsepos von Katharina Maier

Inhalt

Widmung

Nordsingisisches Trauerlied

Endzeit

Inferno

Schwelle

Frevel

Gewalt

Vaterswort

Nachbeben

Verlangen

Sehnen

Drachen

Nacht

Wer ist wer

Was ist was

DIE ERSTE TOCHTER

Lesetipps

Impressum

Widmung

Für Mama, mit den Sternen in ihrem Geist

Für Lisa, mit den Drachen in ihrem Herzen

Für Oma, die Myn ihre Stärke gab

Diese Welt wäre nicht, was sie ist, ohne euch

Nordsingisisches Trauerlied

Komm, komm, meine Geliebte!

Dein Haar ist wie Regen

Und wie die Gebeine der Erde sind deine Glieder.

Draußen stehen sie, Männer des Südens,

Feuer in Händen und Tod im Gesicht.

Doch zum letzten Ritt riefe ich gerne,

kämest du nur mit mir.

Komm, komm, Volk der Weite!

Sturm hast du im Blut

Und die Stärke der Steppe in deinen Sehnen.

Wie Tau in der Nacht war dein Werden,

Unter den Hufen der Schönen wogte das Laub.

Und wie Tau nach der Nacht wirst du schwinden,

Und unter den Hufen der Schönen wirst du zu Staub.

übertragen von J. A. Shelton

Endzeit

Snas Anschuldigung war kaum verklungen, da sprangen alle von meiner Mutter weg wie Schotter bei einem Steinschlag. Ich glaube, ich lachte; nur ein kleines bisschen, weil alles so absurd war. Meine Mutter sollte einen Heiligen Baum verbrannt haben? Mit Absicht? Und, als wäre das noch nicht genug: Sie hätte dabei nicht einmal eine Maske getragen, sodass ein jeder sie erkennen konnte, während sie einen der größten Frevel der singisischen Geschichte beging?

Sna log. Ich starrte auf das wunderschöne Gesicht des Hologramms, das mitten in der Bewegung erstarrt war, weil irgendjemand unter all den Neolys, die in der großen Festhalle versammelt waren, die Übertragung aus dem Parlamentssaal angehalten hatte. Da stand er, der honigäugige Priester, und sah so hehr aus wie ein Sendbote des Allerhöchsten, während er behauptete, das Gesicht der Frau gesehen zu haben, die Feuer an einen der uralten Bäume seines Gottes gelegt hatte. Natürlich log er. Meine Mutter hätte so etwas nie getan. Sie war nicht dumm genug dafür.

Ich sah zu meiner Mutter hinüber, die leichenbleich und mit geöffnetem Mund auf ihrem Stuhl saß, beide Arme leicht erhoben, als wolle sie … ja, was? Einspruch erheben? Sich verteidigen? Wogegen denn? Gegen die Lüge eines Gottesdieners? Ich musste daran denken, wie ich sie einst gefragt hatte, ob man einen Drachen mit einer Nähnadel besiegen könne, und meine Finger krümmten sich, als wollten sie etwas greifen. Dann war plötzlich Vairrynn bei meiner Mutter und zog sie auf die Füße. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er meine Seite verlassen hatte. Mein großer Bruder redete auf Mutter ein, und sie schüttelte immer und immer wieder den Kopf.

»Was sagt er ihr? Myn, was sagt er ihr?«, fragte mein kleiner Bruder zu meiner Rechten, als wäre ausgerechnet das die wichtigste Frage, die es zu stellen gab. Genau wie ich glaubte auch Mudmal immer noch, dass Vairrynn die Welt retten konnte, unsere Welt.

Er konnte es nicht.

Ein paar Takte nur, nachdem Snas Anschuldigung im Parlamentssaal verklungen war, stürmten Sicherheitskräfte die Festhalle unserer Familie. Die ganze Aktion war so offensichtlich geplant, dass mir das Blut in den Adern kochte. Meine Tante Teggri zog Mudmal und mich von unseren Stühlen und an ihre ausladenden Brüste, als wolle sie uns schützen oder behüten. Ich zappelte ein wenig in ihrem Arm, aber ihr Griff war stärker, als ich es mir vorgestellt hätte. Es musste von den zahllosen Tagen herrühren, die sie damit verbrachte, die Neoly-Brut in der Trutzburg zu bändigen.

Inzwischen hatte sich mein Vater mit ausgebreiteten Armen vor Mutter aufgebaut, die sich gegen die Brust meines großen Bruders kauerte. Noch niemals hatte ich meine Mutter kauern sehen, noch nie. Mein Großvater drängte sich, weißbärtig und wutentbrannt, an Vaters Seite, und die vordersten vier Sicherheitsmänner richteten ihre Strahlergewehre auf die beiden, auf den Patriarchen einer Großen Alten Familie und seinen Erstgeborenen, als wären die Neolys die größte Gefahr für das Singisische Reich seit seiner Gründung. Es war so absurd, dass es zum Himmel schrie. Ein paar Vettern versuchten, sich auf die Gewehrträger zu stürzen, wurden aber von den übrigen Sicherheitskräften niedergerungen. Ich begann zu weinen, ich konnte nicht anders.

Und dann senkte sich Stille über die Halle. Es musste irgendein Signal gegeben haben, aber es war kein Fanfarenton oder etwas Ähnliches gewesen, ich hatte jedenfalls nichts dergleichen gehört. Da war nur plötzlich diese Stille, die lauter war als jedes Geräusch. Ich keuchte gegen Teggris Arm, deren Ellbogenkuhle mir fast die Luft abschnürte. Mudmal neben mir gab ein Wimmern von sich. Die Stille verschluckte es.

Am anderen Ende der Festhalle teilte sich die Menge der Sicherheitskräfte, und der Oberste Priester des Wy schritt herein. Zu seiner Linken ging Mnuran Sna. Ich starrte den beiden entgegen, und etwas brannte in meinen Augen. Sna und Asnuor sahen aus wie Männer, einfach nur wie Männer, wenn auch der eine ungewöhnlich attraktiv und der andere ungewöhnlich unbeachtlich, aber ich glaube, dass sich damals die Überzeugung in mir einnistete, dass sie irgendetwas Anderes sein mussten. Von jenem Tag an hatte das Böse für mich ein Gesicht. Ich hatte erwartet, dass es eindrucksvoller wäre als ein Schönling und ein Nichts, doch ich war zwölf und wusste wenig über das Böse und über diese beiden Männer.

»Das ist sie. Das ist die Baummörderin«, verkündete Sna, als er direkt vor meiner Mutter zum Stehen kam. Die Sicherheitsleute hatten ihm alle Neoly-Männer aus dem Weg geräumt, einschließlich des Patriarchen und meines Vaters. Nur Vairrynn war noch da und hielt meine Mutter fest.

»Lügner«, rief sie. »Ihr lügt!«

Vielleicht hätte sie etwas anderes sagen sollen. Es war die Wahrheit, aber das brachte ihr nichts. Er war ein Priester. Sie war nur eine Frau. In meinem Kiefer prickelte es, als wollte etwas zubeißen.

»Schweig, Frau!«, sagte Asnuor, der Sna die linke Hand auf die Schulter legte. Zum ersten Mal, da ich ihn sprechen hörte, klang seine Stimme scharf anstatt süß. »Du bist als Nembdr entlarvt.«

Da kauerte meine Mutter nicht mehr. Sie löste sich aus Vairrynns Griff und fauchte den Obersten Priester an. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber es war kein Geräusch, wie ich es je von einer Frau vernommen hatte.

»Und du, du lügst auch!«

Der erste Vorwurf war nutzlos gewesen. Dieser war ihr Todesurteil. Oder vielleicht auch nicht. Das war schon in dem Augenblick gesprochen worden, in dem Priester Sna den Mund aufgemacht hatte.

Asnuor richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Körperbau war nicht so beeindruckend wie der des Priesterkriegers zu seiner Linken oder der Neoly-Männer mit ihren breiten Rücken, und doch schien der Oberste Priester sie alle zu überragen, sogar Vairrynn mit seinen langen nordischen Gliedern. Asnuors Miene war kühl und herrschaftlich. Aber unter dieser Oberfläche brannte etwas, und es war schwarz und heiß und triumphierend. Ich wand mich in Tante Teggris Griff.

»Mynrichwy«, zischte sie verzweifelt. Ich hörte auf. Ich weiß nicht, warum ich aufhörte.

»Lys Pánn Neoly«, verkündete Ktorram Asnuor, den vollen Namen meiner Mutter aussprechend, »auf Aussage des ehrenwerten Priesters Sna und angesichts überwältigender Beweise spreche ich dich der Widernatürlichkeit schuldig und erkläre dich für eine Frevlerin. Kraft meines Amtes als Oberster Priester des Wy verurteile ich dich zum Tod durch das Feuer.«

Es war vorbei.

Sie nahmen meine Mutter mit und meinen Vater auch. Er würde wiederkommen, sie nicht. Meine Brüder und ich standen da wie Waisen, mochten uns die Neolys auch umschwirren wie ein Schwarm von Mittagsvögeln. Als Teggri mich von meinen Brüdern wegzog, fragte ich nicht, wieso. Großmutter und sie steckten mich in eine Badewanne mit zu heißem Wasser, wuschen mir die Haare und schrubbten mir die Ohren, Fingernägel und Füße. Die alte Frau fütterte mich mit Tee und Kuchen, während Teggri mein Haar über einem Glutstein trocknete, und sang leise vor sich hin. Ihre Stimme, die sonst immer hüpfte wie etwas Kleines, Aufgeregtes, klang wie der Wind, wenn er in der Sturmzeit um die Ecken unseres Küstenhauses strich. Ich biss in meinen Kuchen und schluckte ihn nicht hinunter, bis Teggri mir eine Schüssel hinhielt, in die ich den Bissen durchweichten Teigs hineinspucken konnte. Die runden Hände meiner Großmutter sprangen über mein warmes Haar, und ihr Windlied erstarb mit einem Zittern.

Schließlich landete ich in einem Schlafzimmer, das sich zwei meiner Großkusinen teilten, und wurde in das überbreite Bett gepackt. Tante Teggri gab mir einen Kuss auf die Stirn und wies meine Großkusinen an, sich um mich zu kümmern. Dann verschwand sie mit einem aufgebrachten Röckerauschen aus der Tür, und die beiden bedauernswerten Mädchen saßen in respektvollem Abstand vor mir auf dem Bett und starrten die Tochter der Nembdr mit Mitleid in den runden Augen an. Ihre Gegenwart drückte auf meine Brust, und ich wünschte mich in unser Küstenhaus, in mein Zimmer, und dann fiel mir wieder ein, warum ich nicht dort war, und ich schrie die beiden an, sie sollten mich nicht so ansehen, als würden sie auch nur ein Wort von dem glauben, was der schöne Lügenpriester gesagt hatte. Kerkiss, so alt wie ich und chronisch missgelaunt, schnaubte darauf und zog sich schmollend auf die Couch zurück, aber Jemsi, die Ältere, nahm mich schweigend in die Arme und hielt mich so fest, dass ich endlich nicht mehr das Gefühl hatte auseinanderzufallen. Ich klammerte mich an meine große Kusine, selbst als es schließlich an der Tür klopfte.

»Nein, du kannst nicht reinkommen, Vairrynn«, rief Jemsi, ohne nach der Identität des Klopfenden zu fragen.

»Komm schon, Ems, sei kein Idiot«, drang die Stimme meines großen Bruders durch die Tür. »Wir werden euch bestimmt nichts wegschauen.«

Ich spürte Jemsi gegen meine Wange seufzen. »Also gut, Vairrynn. Aber wenn wir Ärger bekommen, sag ich allen, du bist schuld.«

»Sag ihnen, was du willst, aber lass uns rein.«

Ich hörte das Geräusch der sich öffnenden Tür – es musste Kerkiss sein, die meine Brüder hereinließ –, und spürte, wie sich die Matratze senkte. Einen Moment später umschlossen mich und Jemsi die Arme meines großen Bruders und trieben mir die Tränen in die Augen. Dass Mudmal sich an mich schmiegte, als würde er Schutz suchen, half nicht gerade dagegen. Ich drückte ihn fest, so fest. Kurz darauf gesellte sich Kerkiss’ Arm zu meinem, als sie sich um meinen kleinen Bruder rollte wie eine übergroße Katze. Lange lagen wir so, ohne zu sprechen, bis wir schließlich einer nach dem anderen einschliefen, zu einem einzigen großen Neoly-Bündel verknotet.

Im Herzen des Wytempels saß Eftnek Neoly im Audienzzimmer des Obersten Priesters und war unbeeindruckt von dem Prunk um ihn herum. Er starrte auf einen tiefen Riss, der sich durch den antiken Tisch unter seinen Fingern zog. Irgendwo in seinem Kopf hatte sich eine Idee eingenistet, wie sich dieser Riss reparieren ließe, aber er war nicht als Holzsteinschnitzer hier.

Eftnek presste seine Handflächen auf die lädierte Tischplatte. Großer Wy! Er schluckte schwer und fragte sich, ob es normal war, als Ehemann einer Nembdr in das Audienzzimmer des Obersten Priesters geladen zu werden. Eftnek vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Wie auch immer erlesen die Örtlichkeit, er wusste, dass das, was ihn erwartete, nichts anderes war als ein Verhör. Dann hob er den Kopf und starrte seine Hände an.

»Ich bin ein Künstler«, flüsterte er. Seine Hände waren nie zu etwas anderem gedacht gewesen, als Werke der Schönheit zu schaffen. Er schloss die Augen und meinte fast, Lys’ bluterdiges Haar zwischen seinen Fingern zu spüren. Seine Kehle brannte. Er hatte sie vor so langer Zeit verraten, und nur der Allerhöchste wusste, was er getan hätte in seinem Zorn, wäre Vairrynn nicht gewesen, dessen ruhige Hände und starke Stimme genauso gut Nohaín hätten gehören können. Einen Moment lang hatte Eftnek den Wind der nordischen Steppe im Gesicht und Nohaíns rollendes Lachen in den Ohren, das sich mit dem fröhlichen Kinderquietschen seines kleinen Sohnes verflocht. Vairrynn war so ein fröhliches Baby gewesen und Nohaín und Sannáh die glücklichsten Eltern auf der Nordhalbkugel. Auf dem ganzen Planeten. Im gesamten Singisischen Reich. Vielleicht im Universum. Damals war auch Eftnek glücklich gewesen, wie er es immer war angesichts der Ruhe in Nohaíns Gesicht und der Liebe im Lächeln seiner Frau. Und dann war der Tod gekommen und Vairrynn in seine Familie, und trotz der Trauer war vieles lange Zeit noch gut gewesen. Eftnek fragte sich, was Nohaín wohl heute getan hätte, wäre er noch am Leben, und wusste keine Antwort darauf.

Die Tür des Audienzzimmers öffnete sich, und Ktorram Asnuor trat herein. Er war allein. Eftnek war sich ziemlich sicher, dass diese Geste Vertrauen suggerieren sollte, aber in Wirklichkeit signalisierte sie Verachtung.

»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so lange habe warten lassen, Morrtahn«, sagte der Oberste Priester mit seiner Schmeichelstimme. Der überzogene Ehrentitel stellte Eftnek die Ohren auf. Seine Hände verkrampften sich auf der rissigen Tischplatte.

»Sie verschwenden meine Zeit und die Ihre, Asnuor. Ich werde meine Frau sicher nicht offiziell eine Nembdr nennen.«

Asnuors Brauen wanderten nach oben. Der schräge Blick jagte Eftnek einen Schauer über den Rücken, auch wenn er nicht hätte sagen können, wieso.

»Und inoffiziell?«

»Ich würde nie, nie meine Frau mit diesem Wort belegen!« Eftnek wusste nicht, ob das eine Lüge war oder nicht, ob dieses verdammende Wort aus ihm herausgebrochen war all die Male … Er schüttelte sich. Wenn er sich nur erinnern könnte!

»Ah«, sagte Asnuor. Die langen, schmalen Finger spielten mit dem Heft des Doppelschwerts an seinem Gürtel. Eftnek fand die Geste obszön, und er hatte das dumme Gefühl, dass genau das der Sinn der Sache war. Dieser wyverdammte Emporkömmling! Geilte er sich an seiner Macht auf? An seinem Triumph über eine der einflussreichsten Adelsfamilien des Memnáh? Oder einfach nur am Schmerz seines Gegenübers, egal, wer das war? Eftnek biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre dem Obersten Priester an die Kehle gesprungen. Mühsam kämpfte er den Impuls zurück. Wy, dieser durchscheinende Blick würde ihn noch in den Wahnsinn treiben! Und der Bastard stand da und lächelte mit einem leichten Kräuseln der Lippen, das fast hätte Einbildung sein können, aber eben nur fast.

»Sagen Sie mir, Morrtahn«, intonierte die Stimme, während Eftnek auf diese herablassenden Lippen starrte und Hass in seinen Adern zu brennen begann. »War es in der Vergangenheit oft notwendig, Ihre Frau zu disziplinieren?«

Es fiel Eftnek schwer, durch seinen Ingrimm hindurchzudenken, doch es gelang ihm, eine einigermaßen unbeteiligte Miene aufzusetzen. »Nicht mehr als jede andere Frau, schätze ich.«

»Hm«, machte Asnuor. »Sie wissen sicher, dass der Körper Ihrer Frau zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung Blutergüsse aufwies. Zwei Tage alte. Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie sie auch am Abend der Freveltat diszipliniert haben?«

Sie hatte nicht geschrien. Nicht dieses letzte Mal. Seine Hände zuckten wie ein Echo. Es machte ihn krank. Aber er hob den Blick und sah direkt in die schrägen Augen des Obersten Priesters, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte.

»Das ist korrekt. Es war eine häusliche Unstimmigkeit. Ich fürchte, ich habe mich etwas hinreißen lassen. Meine Frau war danach unfähig, das Haus zu verlassen, und ging früh am Abend zu Bett.«

»Nun, nun, Morrtahn, nicht so«, meinte Asnuor gönnerhaft. »Sie wissen, dass wir einen Augenzeugen haben, der Ihre Frau identifiziert hat.«

Eftnek zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ihren Augenzeugen können Sie sich sonst wohin schieben, Asnuor. Sie werden schlampig. Oder haben Sie niemand anderen gefunden als den hübschen Hurenbengel, der so eine Lüge für Sie ausspricht?«

Asnuors Hand lag auf dem Schwert, aber sie war ruhig und entspannt. »Wären Sie tatsächlich willens, diese Anschuldigung in der Öffentlichkeit zu wiederholen, Morrtahn? Gegen einen ehrenwerten jungen Mann, der schon als Kind in den Wyorden aufgenommen wurde, und gegen den Obersten Priester des Ersterschaffers selbst?«

Eftnek antwortete mit einem schweigenden Starren. Der Oberste Priester nickte zufrieden.

»Ja, das dachte ich mir. Ihr Vater ist ein zu kluger Patriarch, um solch unbegründete, fruchtlose Anschuldigungen an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.«

»Entgegen den allgemeinen Mutmaßungen bin ich meinem Vater nicht hörig, Asnuor! Und die Anschuldigung wäre wohl kaum unbegründet. Sie hassen meine Frau.«

»Das stimmt«, gab der Oberste Priester zu Eftneks Überraschung zu. »Doch niemand außer Ihnen weiß das. Nun, Lys natürlich, aber die wird keiner fragen. Und vielleicht Ihre Kinder.«

Eftnek stand so abrupt auf, dass der reich verzierte Stuhl auf den Boden krachte. »Sie lassen die Finger von meinen Kindern, Asnuor!«

»Setzen Sie sich, Morrtahn«, entgegnete der Oberste Priester ruhig. »Wir wollen doch ein gewisses Dekorum wahren.«

Eftnek starrte ihn noch einen Moment an und fragte sich, ob er seinen Kschurr schneller ziehen könnte als Asnuor sein Schwert, doch dann brach er den Blickkontakt, hob seinen Stuhl auf, von dem ein besonders delikates Blütenblatt abgesplittert war – und, ja, verdammt, das tat ihm in der Seele weh –, und setzte sich wieder. Asnuor beobachtete jede seiner Bewegungen wie eine Katze ihre Beute.

»Wenn Sie ›meine Kinder‹ sagen, Morrtahn, wen genau meinen Sie damit?«, fragte er mit einem boshaften Glitzern in den Augen. Eftnek antwortete der Boshaftigkeit mit blanker Verwirrung.

»Ich meine alle meine Kinder, egal ob sie meines Blutes sind oder nicht«, sagte er langsam.

»Hm«, machte Asnuor. »Sie haben also tatsächlich den Sohn zweier Nordler zu Ihrem eigenen gemacht, auf dem Papier und in Ihrem Herzen, Morrtahn? Wirklich ergreifend, diese Treue zu Ihrem alten, toten Freund. Oder ist das Treue zu Ihrer Ehefrau? Wissen Sie, ich mag Loyalität. So eine ehrenhafte Empfindung. Und so leicht zu manipulieren.«

Eftnek musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um den Obersten Priester nicht mit offenem Mund anzustarren. Wovon beim Mech-Memnáh redete dieser Mann? Asnuor lächelte wieder sein eigentümliches kleines Lächeln. Dann setzte er sich Eftnek gegenüber und schlug die Beine übereinander, ein Bild der Gelassenheit. Eftnek erkannte den feurigen Redner, der das Volk in schöner Regelmäßigkeit vor dem Untergang und den Fremden und den Frauen warnte, in dieser Gelassenheit nicht wieder. Wer war dieser Mann? Erst jetzt ging ihm auf, dass er es nicht wusste.

»Unbegründet mag Ihre Anschuldigung gegen mich und Priester Sna also nicht sein«, redete Asnuor weiter, als hätte er zwischendurch gar nichts anderes gesagt, »aber sie wäre ganz sicher fruchtlos. Wir haben bei der Durchsuchung Ihres Hauses genügend Beweise dafür gefunden, dass Ihre Frau Mitglied der widernatürlichen Organisation für die Gleichstellung der Frau ist – mit Sicherheit ohne Ihr Wissen. Sie können Lys nicht retten, Morrtahn.«

Eftnek sackte in sich zusammen und begann am ganzen Leib zu zittern. Lys, seine Lys! Er glaubte, bereits den Geruch brennenden Fleischs in der Nase zu haben, und es trieb ihm die Galle in den Mund.

»Die Frage ist natürlich, ob Sie das überhaupt wollen.«

Eftnek blickte verwirrt auf. »Wie bitte?«

Wieder lächelte Asnuor. »Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, Morrtahn. Sie hätten sie schon vor Jahren zu Ohren bekommen sollen. Also hören Sie gut zu.«

Und Eftnek Neoly tat, wie ihm geheißen.

Lys wartete auf den Obersten Priester des Wy. Sie wartete seit dem Moment, da die Tür ihrer Gefängniszelle in den Eingeweiden des Großen Tempels hinter ihr ins Schloss gefallen war. Die Zelle war düster und roch nach abgestandener Zeit, aber es war ja auch mehr als vier Generationen her, dass sie in Gebrauch gewesen war. In all den Mnegau, die sich endlos in der dumpfen Stille erstreckten, versuchte Lys, den Geist der Frau heraufzubeschwören, die als Letzte in diesem verzweiflungsschweren Raum auf ihren Tod gewartete hatte. Sie fragte sich, ob jene Frau wohl gewütet hatte wie ein gefangenes Frn-Weibchen (wie sie) oder ob sie in lähmende Resignation verfallen war und ob sie wohl Angst gehabt hatte. Lys hatte Angst, panische, würgende Angst, die sich in ihr Hirn krallte und in ihre Seele. Natürlich hatte sie Angst vor den Flammen und den Schmerzen, aber noch mehr Angst hatte sie vor dem Moment, da Asnuor durch ihre Gefängnistür treten und das Angebot wiederholen würde, das er ihr dreizehn Jahre zuvor gemacht hatte. Denn sie fürchtete, dass sie dieses Mal annehmen könnte.

Also wartete Lys Neoly auf Ktorram Asnuor. Doch die Zeit verstrich in der erstickenden Enge ihres Gefängnisses, und der Oberste Priester kam nicht. Ein neuer Tag brach an, und schließlich öffnete sich die Tür ihrer Zelle. Das Kraftfeld davor wurde zischend deaktiviert. Aber herein kam nur das Schlangentier. Ftonim Sar hatte den hübschen Priester einmal so genannt, und Lys konnte sich keine passendere Bezeichnung für Asnuors lügnerischen Komplizen denken. Ihr Herz zog sich kurz zusammen, als sie an Ftonim dachte, und das verwunderte sie ein wenig. Sie hatte genug Sorgen; um sich selbst, um ihre Kinder. Da verstand sie nicht wirklich, was der junge Sar in ihren Gedanken und in ihrem Herzen zu suchen hatte, ganz egal, wie wichtig er Vairrynn sein mochte. Doch dann hatte sie plötzlich dieses Bild vor Augen: Vairrynn und Ftonim zusammen im Sonnenlicht, das sich auf den Wellen des Inneren Ozeans und in den warmen Augen des jungen Sar brach, während Vairrynn den Kopf vor Lachen in den Nacken geworfen hatte. Oh, dachte sie, und der Schmerz in ihrer Brust wurde zu einem Brennen, weil sie nie gefragt hatte, worüber ihr Sohn so gelacht hatte. Ihr Junge war erwachsen geworden, während sie weggesehen hatte, das wusste sie bereits; aber erst jetzt begriff sie, was es bedeutete, und sie wollte weinen. Doch sie konnte es nicht, weil Mnuran Sna vor ihr stand und sie anstarrte, während sie auf der kargen Pritsche einer erbärmlichen Gefängniszelle saß. Er sah sie an, als wäre sie eine Made in einem Kadaver. Was wollte er? Und wo war sein Herr?

»Nembdr«, sagte Sna wie eine Begrüßung, und auf einmal war sie wütend.

»Warum tut Ihr das?«, fragte sie ihn. Vorgeplänkel war für Leute, die noch Zeit hatten. »Wie könnt Ihr, ein Wy-priester, der sich dem Dienst des Ersterschaffers geweiht hat, eine solche Lüge aussprechen?«

Sna musterte sie von oben herab, als wäre er überrascht, dass die Made sprechen konnte. »Es ist keine Lüge. Wir kleiden die Wahrheit lediglich in Worte, die jeder verstehen kann. Du bist widernatürlich, Frau. Wir wissen das, und du weißt es auch. Und dank uns weiß es der Rest des Singisischen Reiches nun ebenfalls.«

Sie schnaubte. »Das also erzählt Ihr Euch? Dass es eine gottgefällige Lüge ist?«

»Es ist keine Lüge.«

»Eine Lüge ist eine Lüge, Priester! Ganz egal, in welche höhere Wahrheit Ihr Euer Märchen zu ›kleiden‹ glaubt: Ich habe keinen Heiligen Baum angezündet.«

»Aber du bist eine Nembdr.«

Er hatte recht. Wenn man alte, antiquierte Definitionen anlegte, dann hatte er voll und ganz recht. Aber sie hätte ihr Leben darauf verwettet, dass es ihm nicht wirklich darum ging. Sie wünschte, sie könnte es tun, ihr Leben darauf verwetten.

»Was gibt er Euch dafür, hm? Welchen Preis zahlt der ruhmvolle Oberste Priester, der Krieg gegen eine Frau führt, für Eure Seele? Wie teuer seid Ihr, das würde mich schon interessieren.«

Das Schlangentier richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf. Lys konnte nicht bestreiten, dass es eine beeindruckende Figur abgab.

»Du weißt gar nichts, Frau! Es liegt keine Schande darin, seinem Obersten Priester das zu geben, was er begehrt. Und du täuschst dich selbst, wenn du in deiner Eigenliebe glaubst, hier ginge es um dich. Die Wahrheit ist: Ich lege ihm die Vorsteherschaft zu Füßen. Und er wird das Reich Wys errichten und uns Nchrynnai ins Licht führen.«

Snas Augen glänzten selbst im schummrigen Licht der Zelle, und Lys befürchtete allmählich, dass der junge Priester glaubte, was er sagte.

»Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr benutzt werdet?« Die Frage entriss sich ihr, ehe sie darüber nachdenken konnte, aber es war eine gute, wie sie fand.

»Wozu sollte er mich wohl benutzen?«

Arroganz. Arroganz, Selbstgefälligkeit und Fanatismus. Asnuor hätte keinen fruchtbareren Boden finden können, um seine Saat auszusäen.

»Wozu immer er will. Seht Euch doch nur an, was hier passiert: Er will eine Nembdr verbrennen, und Ihr gebt ihm eine. Er will mich tot, und Ihr liefert ihm das Werkzeug dazu.«

»Ich liefere ihm die Töchter der Lchnadra, du dummes Weib. Schon morgen wird Ktorram den Antrag stellen, alle Mitglieder der Organisation offiziell zu Nembdrai zu erklären, und die Runde der Berufenen wird dem stattgeben. Sie haben keine andere Wahl mehr.«

Ktorram. Der schöne, kleine Priester hatte sich gerade verraten, und Lys musste schlucken. Arroganz, Selbstgefälligkeit, Fanatismus und Liebe. Allgütige Lchnadra!

»Armer Junge«, sagte die Mutter in ihr.

Sna zischte, als wäre er tatsächlich eine Schlange. »Heb dir dein Mitleid für dich selber auf, Nembdr! Du wirst es brauchen.«

»Er wird Euch fallen lassen«, sagte sie. »Wahrscheinlich noch nicht bald. Vielleicht noch nicht einmal für lange Zeit. Aber früher oder später wird er Euch fallen lassen. Er wird Euch benutzen und wegwerfen und Euch dabei das Herz herausreißen, sodass Euch nichts weiter bleibt als ein blutiges Loch.«

Snas bildschönes Gesicht wurde zu einer undurchdringlichen Maske. »Soll das ein Fluch sein, Nembdr?«

»Es ist eine Warnung, Schlange.«

Ein kurzes Zucken der stecknadellangen Wimpern, sonst nichts. »Ich brauche deine Warnungen nicht. Du weißt gar nichts.«

»Oh, ich weiß. Er hat es zuvor schon getan, und er wird es wieder tun. Ich hoffe, er tut es nur Euch.«

Die perfekten Züge verzerrten sich, und Lys wusste nicht, was sie da sah. Aber sie begriff, dass das Schlangentier recht gehabt hatte: Es brauchte ihr Mitleid nicht. Dann wandte sich Mnuran Sna mit hocherhobenem Haupt von ihr ab und verließ ihre Gefängniszelle. Lys sollte nie erfahren, was er eigentlich von ihr gewollt hatte.

Vairrynn hatte bis zu diesem Tag nur gerüchteweise von dem Zimmer gehört, das sich Jemsi und Kerkiss Neoly teilten, zwei Achte Töchter, über die sich niemand sonderliche Gedanken gemacht hätte, hätte nicht die ältere der beiden die helle, blonde Lieblichkeit ihrer Ostküstenmutter geerbt. Und deren verschrobenen Geist, so hieß es. Das Zimmer lag tief in den Eingeweiden der Trutzburg, in einem kleinen Anbau, der wie ein Halbmond einen noch kleineren Innenhof umschloss und kaum Sonnenlicht abbekam. Vor ein paar Jahren hatte Jemsi fünf der Wände in warmen Gelb- und hellen Blautönen gestrichen; auf die sechste und längste hatte sie in Rot, Braun und Orange weibliche Figuren gemalt, die um einen Brunnen herumstanden, eingerahmt von Blättern und Zweigen. Die Frauen hatten keine Gesichtszüge und ihre Körper wirkten ziemlich eckig, aber Vairrynn mochte das Wandgemälde trotzdem. Er hatte es bisher noch nie gesehen, wusste nur davon, weil Jemsi einen mittleren Aufruhr in der Trutzburg ausgelöst hatte, als sie die Stirn besessen hatte, ihren Raum umzugestalten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Damals hatte Vairrynn das Gezeter kleinlich und lächerlich gefunden, aber jetzt erschien es ihm wie ein winziges Steinchen in einem Mosaik von Falschheit und Ungerechtigkeit. Er hatte geglaubt, er wüsste, wie dieses Mosaik aussah. Er hatte sich geirrt. Selbst in seinen schlimmsten Träumen hatte er keine Frau brennen sehen und seine Mutter schon gar nicht. Solche Dinge passierten einfach nicht mehr. Hatte er gedacht. Hatten sie alle gedacht.

Vairrynn spürte seinen linken Arm nicht mehr, aber das war ihm egal. Der Unterarm war unter Jemsis Oberkörper eingeklemmt, während Myn ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben hatte. Vairrynn war sich nicht ganz sicher, ob sie noch schlief oder nicht. Ihre Atemzüge waren klein und flach, aber sie regte keinen Muskel. Mudmal hatte sich irgendwann im Laufe der Nacht am Fußende des Bettes zusammengerollt. Es war erschreckend, wie wenig Platz er brauchte. Die kleine Kerkiss hatte sich vor etwa einer halben Mnega aus dem Bett gerappelt und etwas von Frühstück für alle gemurmelt. Bisher war sie nicht wiedergekommen. Vairrynn für seinen Teil konnte nicht aufstehen, ohne seine Geschwister und Kusine aufzustören, aber er wollte auch gar nicht. Aufzustehen bedeutete, der Welt ins Gesicht zu sehen, und er hatte keine Ahnung, ob er das konnte.

Er war einfach tatenlos dagestanden. Vairrynn wusste nicht, wie er Sna hätte aufhalten sollen oder Asnuor oder die Sicherheitskräfte, aber irgendetwas … Ngdra, wozu war es denn gut, das, was ihn so anders machte, wenn er nichts damit anfangen konnte, nicht, wenn es wirklich zählte? Er dachte an Lys Neoly und die Schichten von Stein unter ihrer Haut und wie klein sie sich in seinen Armen angefühlt hatte angesichts der Sicherheitsmänner mit ihren Strahlergewehren und Sna mit seiner Lüge. Und dann war da Asnuor gewesen, und aller Protest und Widerstand, den irgendwer hätte vorbringen können oder wollen – der alte Patriarch vielleicht mit seinem Neoly-Zorn oder Eftnek, der sich vor seiner Frau aufgestellt hatte wie ein Bretterzaun gegen Sturmwind, oder verdammt nochmal Vairrynn selbst – all das fiel in sich zusammen wie so viel Nichts, und Vairrynn wusste, wusste, wusste, dass das nicht an den Gewehren der Sicherheitsleute gelegen hatte oder zumindest nicht nur. Sie hätten Beweise verlangen sollen, mehr als nur das Wort eines unerprobten Priesters, um dessen Befangenheit ein jeder wusste; hätten einen formalen Protest gegen das Urteil Asnuors einlegen sollen, auch wenn es ihnen nicht mehr gebracht hätte als einen Schluckvoll Zeit. Ja, es gab wenig, das sie hätten tun können. Aber sie hatten nichts getan. Er hatte nichts getan.

Die Tür öffnete sich, und unwillkürlich breitete sich Vairrynn wie eine Decke über seine Schwester und seine Kusine, nicht nur seinen Arm, sondern sein ganzes Selbst. Unter der Tür stand Eftnek Neoly, und er war bleich wie das Grab.

»Ich muss …«, begann der Holzsteinschnitzer rau, hielt inne. Er sah Vairrynn an, überrascht und ein wenig verwirrt, und irgendetwas glänzte in seinen dunklen Augen, sodass sie fast schwarz wirkten. Noch nie in seinem Leben hatte Vairrynn einen solchen Blick in dem Gesicht eines anderen gesehen.

Er starrte den Holzsteinschnitzer an, während ihm das Blut schmerzhaft in die Fingerspitzen schoss, weil Jemsi sich mit einem leisen Jammern auf die Seite gedreht und dabei seinen linken Arm freigegeben hatte. Eine kleine Hand verkrampfte sich in dem dünnen Stoff seines kurzärmeligen Oberteils. Myn war wach.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte Eftnek, und das Dunkle aus seinen Augen bebte in seiner Stimme.

»Wo bitte sollte ich denn sonst sein?«, entgegnete Vairrynn. Er wollte nicht auf Konfrontationskurs mit Eftnek gehen, nicht heute. Er tat es trotzdem. Aber Eftnek stand nur weiter an der Tür, als würde er sich nicht in das bunte Mädchenzimmer hineinwagen.

»Vater?«, drang da Myns Stimme in die Stille zwischen den beiden Männern. »Kommt Mutter nach Hause?«

Es war eine Kinderstimme, die da sprach, und es war eine Kinderfrage. Myn wusste die Antwort, und trotzdem setzte sie sich auf und sah ihren Vater mit großen, erwartungsvollen Augen an. Eftnek Neoly vergrub das Gesicht in seinen zitternden Händen und begann zu weinen. Schatten tropften durch seine Finger hindurch. Vairrynn zog Myn an seine Brust zurück, weg von der Dunkelheit, die er aus ihrem Vater heraussickern sah wie Wein aus einem löchrigen Schlauch.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte Eftnek, und das Dunkle aus seinen Augen bebte in seiner Stimme. Was um der Einheit Willen war da passiert?

Ktorram Asnuor kam zu Lys Neoly am Abend vor ihrer Hinrichtung. Er hatte hin und her überlegt, ob es nicht grausamer wäre, überhaupt nicht zu erscheinen – und er hatte längst, was er wollte.

Nur stimmte das nicht ganz.

Er wollte ihr in die Augen blicken und das Wissen darin sehen, dass er gewonnen hatte. Und so fand sich Asnuor in der vor Alter modernden Gefängniszelle wieder, deren spärliches Licht Lys Neoly dreizehn Jahre jünger aussehen ließ. Er hatte keine Probleme, ihren Körper unter all den Schichten schwarzen Stoffes zu erahnen, die die Wypriester der Widernatürlichen aufgezwungen hatten, und er konnte sich an eine Zeit erinnern, da das Licht golden gewesen war auf ihrer Haut und in ihrem Haar. Das metallene Geräusch der Gefängnistür hatte sie sich halb von ihrer Pritsche aufrichten lassen, und sie blickte ihm mit ihren dunklen, rotbraunen Augen entgegen.

»Da bist du also«, sagte sie. »Ich habe auf dich gewartet.«

Eine eigenartig gedämpfte Resignation war in ihren Gesten. Er zeigte ihr die Zähne. Kein Lächeln, auch wenn es so aussah.

»Tatsächlich? Was hat dich so sicher gemacht, dass der Oberste Priester seine Aufmerksamkeit einer verurteilten Nembdr schenken würde?«

Sie sah ihn müde an, und Asnuor erkannte, dass das schäbige Licht ihn getäuscht hatte; Lys’ Gesicht zeigte jedes einzelne jener Jahre, die sich in ihre Seele geätzt hatten.

»Ich bitte dich, Ktorram. Hörst du nie auf, deine Spielchen zu spielen? Sag schon, was du willst.«

»Was ich will«, echote er, als hätte er keine Ahnung, was sie meinte, und legte die Stirn in Falten. »Oh, ich verstehe. Du denkst, ich würde das Angebot wiederholen, das ich dir vor dreizehn Jahren gemacht habe.« Er grinste. »Nein, meine Schöne, da hast du etwas falsch verstanden. Siehst du, meine genauen Worte damals waren: Gib mir den Jungen oder du stirbst. Und siehst du?« Er machte eine demonstrative Geste. »Du hast dich damals geweigert, mir den Jungen zu übergeben. Jetzt wirst du sterben. Ich bin ein geduldiger Mann, Lys. Dass du mich damals nicht beim Wort genommen hast, ist nicht mein Problem. Es tut mir fast leid, aber mein Angebot war ein einmaliges.«

Er sah zu, wie sich die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen brachen, und er wusste, dass sie in diesem Augenblick zum ersten Mal glaubte, dass sie sterben würde. Ihn schauderte, weil es so kalt in der Zelle war, aber das war es ihm wert.

»Ich bin nicht dein«, sagte sie, der letzte Widerstand, den sie ihm noch entgegensetzen konnte.

»Wieder falsch, mein Schatz. Du bist eine verurteilte Nembdr, und damit Eigentum des Wyordens. Mein Eigentum.« Er beugte sich zu ihr vor. »Aber die Wahrheit ist doch: Seit Jahren gehört jede Xa deines Lebens mir. Jeder einzelne Moment.« Lächelnd richtete er sich auf und klopfte sich imaginären Staub von seinem Ärmel. »Ich habe mit deinem Ehemann gesprochen. Armer Kerl. Hätte ich geahnt, wie sehr du ihn im Dunkeln gelassen hast in der ganzen Angelegenheit, hätte ich ihn vielleicht verschont.«

Ihre Augen hoben sich ihm entgegen, und sie waren dumpf wie Steine. Er hatte schon immer wissen wollen, ob man auch Fels brechen konnte.

»Du hast es ihm erzählt? Was zwischen uns passiert ist?« Lys’ Stimme verriet eine Mischung aus Müdigkeit und Furcht, die jemand anderem das Herz gebrochen hätte. Oder zumindest berührt. Doch Asnuor war nicht jemand anderer. Er war es nie gewesen.

»Welchen Zweck sollte das wohl haben? Das macht doch keinen Unterschied mehr nach so langer Zeit. Ich enttäusche dich ja nur ungern, mein Schatz, aber diese Nacht hat nur deine Welt erschüttert, sonst niemands.« Er gab ihr sein bestes anzügliches Lächeln. Sex war eine ausgesprochen nützliche Waffe. Doch es gab schärfere.

»Nein, Lys, unser kleines Geheimnis ist sicher bei mir. Außerdem: Glaubst du wirklich, dass nach allem, was passiert ist, ein weiterer Verrat deinerseits noch einen Unterschied machen würde? Nein, so viel Selbstwertgefühl hast du dem Holzsteinschnitzer nicht gelassen. Und wir wissen beide, dass es in Wahrheit nur einen Weg zu seinem Herzen gibt, zum Guten oder zum Schlechten.«

»Nohaín«, hauchte sie, und ihre harten Augen glänzten seltsam. »Du hast ihm Sannáhs Tagebuch gezeigt. Große Göttin …«

Das bisschen Farbe, das noch in Lys’ Gesicht gewesen war, verschwand, und der Kontrast zwischen ihrer Haut und dem schwarzen Gewand war befriedigend in seiner Harschheit. Asnuor konnte die Risse in ihren Steinaugen sehen. Der Triumph war fast zu weit für seine Brust. Wenn er sie jetzt berührte, würde sie ganz einfach in sich zusammenfallen? Seine Finger zuckten, aber es war noch zu früh. Er war noch nicht fertig.

»Warum um alles in der Welt hast du das getan?«, flüsterte sie.

Asnuor zuckte mit den Schultern, als wäre die Sache kaum weiterer Worte wert. »Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es Schwäche. Und dein Mann ist schwach, Lys. Wäre er das nicht, hättest du nie all deine kleinen Spielchen treiben können. Ich bin nachtragend. Und ich will, dass du mit dem Wissen stirbst, deinen Mann verdammt zu haben.« Er glaubte, das Ächzen von Fels zu hören und lächelte. »Ich habe seine Dämonen gesehen, Lys. Und sie werden ihn sich holen, das garantiere ich dir.«

Gebrochene Steindumpfheit antwortete ihm aus ihrem Blick und ihren Gesten, und er wusste, er hatte es geschafft. Ihre Niederlage rollte wie Norrnbeerenwein über seine Zunge.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie leise. »Aber weißt du was? Ich habe nicht genügend Kraft übrig, dass mich das berühren könnte. Du hast mir nicht genug gelassen. Es gibt nur noch eins, das mir etwas bedeutet, und da du mir nichts anderes übrig gelassen hast, muss ich dich bitten.«

Ihre Augen fingen seinen Blick ein, und da war etwas unter all der Gebrochenheit, aber es gab zu viele Risse, und er konnte nicht erkennen, was es war. Die Süße ihrer Worte jedoch durchflutete seine Glieder: »Ich flehe dich an, Ktorram. Bitte, verschone meine Kinder.«

Ihre Hände waren in der Geste demütiger weiblicher Bitte über die Brust gekreuzt, und in seinem quasi-orgasmischen Rausch antwortete er ihr wegwerfend: »Ich will Sannáhs Sohn, Lys. Was sollten mich schon die beiden Bälger interessieren, die du mit dem Holzsteinschnitzer in die Welt gesetzt hast?«

Asnuor konnte den exakten Moment benennen, da er verloren hatte. Er hatte nur nicht die geringste Ahnung, warum. Lys’ matte Augen erhielten wieder Glanz, und er sah auf einmal, dass die Risse nur hauttief gingen. Darunter lag blanker Granit.

»Natürlich«, sagte er in dem Versuch zu retten, was zu retten war, »kann kaum jemand vorhersehen, was es den jungen Neolys antun wird, in einem so zarten Alter die Mutter zu verlieren und dabei zuzusehen, wie der Vater langsam im Wahnsinn versinkt. Und das wird er, Lys. Was meinst du, was das Wissen mit ihm machen wird, wen du da in den Schoß seiner Familie geholt hast? Oder was, sollte ich wohl eher sagen.«

Ohne Regung sah ihn das Steinwesen an. »Ich habe drei starke Kinder großgezogen, Ktorram. Stahl, Feuer und Sturm. Sie werden dich überdauern.«

Asnuor lachte überheblich, aber diesmal war es eine Maske, und sie wussten es beide. »Du neigst zum Melodramatischen, mein Schatz. Was war es, das du Mnuran vorgebetet hast? Ich werde sein Herz herausreißen und nichts zurücklassen als ein blutiges Loch? Ich bitte dich, Lys. Dem Allerhöchsten sei Dank, dass du nie auf den Gedanken gekommen bist, zur Feder zu greifen!«

»Mehr hast du nicht mehr zu bieten? Sieh dich doch nur an! Noch vor einer Kma warst du so stolz und selbstzufrieden wie ein Wchlach mit einem gestohlenen Stück Fleisch, und jetzt? Du hältst dich für so unendlich klug, Ktorram Asnuor, und bildest dir ein, die Leute hin und her schieben zu können wie die Figuren auf einem Schachbrett. Aber du versuchst, Dinge zu kontrollieren, die außerhalb des Einflussbereichs eines bloßen Nchrynns liegen. Und nichts weiter bist du. Sannáh hat das gewusst, Nohaín wusste es, und du weißt es auch.«

Etwas sprang auf aus den tiefsten Tiefen seines Selbst und knurrte Lys an mit hochgezogenen Lefzen. »Ich werde gewinnen, Lys Neoly! Ich habe bereits gewonnen.«

»Nein. Das hast du nicht.«

»Du wirst sterben«, zischte er.

»Du auch«, lautete die gleichmütige Antwort. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ehe er herumwirbelte und aus der Zelle stürmte. Mein starrer Blick fuhr ihm eiskalt den Rücken hinauf; selbst ein Mann wie Ktorram Asnuor spürt nicht gerne den Tod im Nacken. Vor allem ein Mann wie Ktorram Asnuor. Ich gönnte mir ein weiches Lächeln und nahm Lys’ Hände in die meinen. Sie schauderte, als würde sie mich tatsächlich spüren. Vielleicht tat sie es ja. Sie war mir nun schon so nahe, und manchmal schauen mir die Sterblichen dann ins Gesicht. Nicht immer weiß ich, was sie sehen. Aber sie wissen, wer ich bin und dass ich auf sie warte.

»Fürchte dich nicht, Tochter«, sagte ich, und tatsächlich verließ ihre Angst die dumpfige Gefängniszelle zusammen mit dem Obersten Priester. Alles, was blieb, war die seine.

Inferno

Ich war noch nie zuvor in Murraptaam gewesen. Meine Eltern hatten es mir schlichtweg verboten. Zu laut war sie angeblich, die Metropole am Murrap, zu überfüllt, zu schmutzig und natürlich zu gefährlich für eine heranwachsende Erste Tochter. Und so hatte Mynrichwy Neoly bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter sterben sollte, nie einen Fuß in die Hauptstadt des Reiches gesetzt. Nun stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Großen Platz und erinnerte mich an all die Dinge, die meine Eltern mir stets vorgebetet hatten, wenn ich leise angefragt hatte, ob ich nicht doch endlich alt genug für Murraptaam sei.

Laut war es hier im Herzen des Reiches ohne Zweifel: Ein stetes Summen und Brummen lag in der sturmschwangeren Luft, ein Dröhnen, das in meinen Ohren pulsierte. Es stieg von der Menge auf, die den Großen Platz ausfüllte wie eine bunt wogende Masse und mir gesichtslos erschien, obwohl sie es nicht war. Laut, überfüllt und schmutzig. Mit reglosem Blick starrte ich hinüber zu dem riesigen Haufen aus dreckig-grauem Kness, der nahe bei unserer Tribüne aufgeschichtet war und der heute das Freudenfeuer nähren sollte. Die Galle stieg mir in den Mund, und ich zitterte am ganzen Körper. Nur die starken Hände meiner Muttersmutter, die meine Schultern umschlossen, hielten mich zusammen. Für den Bruchteil eines Moments hasste ich die alte Frau für ihre Stärke. Sie hatte kein Recht darauf. Nicht heute.

Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Ich zweifelte nicht länger daran angesichts der Feindseligkeit der wimmelnden Masse zu unseren Füßen, die wie beißender Rauch in der Luft lag. Es würgte mich, jetzt schon, und dabei war noch gar nichts passiert. Laut, überfüllt, schmutzig, gefährlich. Und doch war ich hier, inmitten all der Hässlichkeit, von der man mich bisher so sorgsam ferngehalten hatte, und war schutzlos den sensationslüsternen, verachtungsvollen, rachedürstenden Blicken ausgeliefert, die mir das Fleisch von den Knochen zu reißen drohten. Ich, die ich bis dahin so gekonnt den Augen der Welt entzogen worden war, stand nun zusammen mit meiner Muttersmutter auf einem erhöhten Podest, das die Tribüne noch überragte, auf der die übrigen Neolys aufgereiht waren wie eine bizarre Menagerie, die man zur Belustigung – nein, zur Befriedigung – des Volkes zusammengetrieben hatte und deren Herzstück die Nembdr-Gebärerin und die Nembdr-Brut waren. Eine robuste Witwe mit langem Silberhaar und kräftigen Händen und ein zu kleines, zu zierliches Mädchen mit zu schrägen Augen. Beide hätte man wohl noch einen Tag zuvor keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre man ihnen auf der Straße begegnet; heute jedoch drückte ihnen die Blutsverwandtschaft zu der Abnormität ein Schandmal auf.

Nach Halt suchend umkrallte ich zwei Finger meiner Muttersmutter, deren andere Hand beruhigende Kreise auf meine Schulter streichelte, die so sinnlos waren, wie sie für sie schmerzvoll sein mussten. Nur zu gut konnte ich mir die Pein in den Augen Synnda Pánns vergegenwärtigen, als sie zwei Tage zuvor in der Trutzburg angekommen war. Zum ersten Mal hatte ich da die Bedeutung dieses Wortes begriffen, Pein, und ich hatte mich nutzlos danach gesehnt, etwas sagen zu können, das den Schmerz dieser sanften Frau lindern würde, dieser Frau, die von dem Künstlerplaneten Yallchá gekommen war, um ihre Tochter sterben zu sehen, dieser Frau mit den kräftigen Töpferhänden, die ich kaum kannte und die doch die Mutter meiner Mutter war.

Hier sitz’ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich.

Ich schüttelte mich, um die Gedichtzeilen aus meinem Kopf zu bekommen, die belanglos waren jetzt und keinen Sinn machten, aber nichts ergab mehr Sinn.

»Es ist gut, Kind«, sagte Synnda Pánn in meinem Rücken, als wüsste sie nicht, dass das Wort ›gut‹ nichts mehr bedeutete. »Bald ist es vorbei.«

Ihre Finger verkrampften sich um meine Schultern bei ihren eigenen Worten, krallten sich in den gelben Stoff meines Kleides, das Synnda Pánn an diesem Morgen selbst für mich ausgesucht hatte, als könnte es die Menge hasserfüllter Nchrynnai darüber hinwegtäuschen, dass ich die Tochter einer Nembdr war, die Tochter der Baummörderin. Vielleicht war es auch blanker Trotz, der meine Muttersmutter diese lichtumflorte Farbe für uns beide hatte wählen lassen, ein ohnmächtiges Stirnbieten im Angesicht der Mörder ihrer Tochter, der eigenwillige Widerstand einer einfachen Töpferin gegen das gesamte Reich. Synnda Pánn hatte ein Rückgrat aus Fels, und wenn sie am Zusammenbrechen war, dann würde niemand etwas davon sehen. Ich jedoch, ich hatte nicht vorgehabt, irgendjemandem sinnlosen Widerstand zu leisten. Ich fühlte mich winzig, umgeben von der ganzen überbordenden Pracht des Memnáh, die auf den Großen Platz drückte wie steingewordene Geschichte, Berufenenpalast, Einheitstempel und Gründerdenkmal. Und doch gab es etwas in mir, das wohl über die Fingerspitzen meiner Muttersmutter in mein Inneres gesickert sein musste und das über die phallische Architektur abfällig die Nase rümpfte. Es war in diesem Teil meines Selbst, wo kalte Verachtung die Angst überwog. Dazwischen, zwischen Entsetzen und Kälte, gab es nichts.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, an meine Großmutter gelehnt, mit der wogenden Masse zu meinen Füßen, die ich mich weigerte, als eine Ansammlung empfindungsfähiger, atmender Wesen anzuerkennen. Ich versuchte, den schmutzig-grauen Scheiterhaufen aus getrocknetem Pilzgewächs zu ignorieren, unfähig zu begreifen, dass irgendwann in der nächsten Mnega meine Mutter dort stehen und brennen würde. Stattdessen suchte ich unter den Neoly-Männern, die in vorderster Front auf der schmachvollen Tribüne standen, immer und immer wieder meinen großen Bruder, der nicht weit von unserem Podest in die geifernde Menge blickte, das Gesicht kalkweiß. Er stand zwischen meinem Vater und dem alten Neoly, die beide eine identische steinerne Miene zur Schau trugen. Ihre Augen wirkten wie glänzender Obsidian. Ich wusste, dass mein kleiner Bruder irgendwo weiter hinten bei meiner anderen Großmutter stand, aber nach ihm suchte ich nicht; mir war klar, würde ich seinen Blick einfangen, würde ich die Tränen nicht zurückhalten können, und die Befriedigung, mich weinen zu sehen, wollte ich keinem einzigen dieser Bastarde geben, die gekommen waren, um meiner Mutter beim Sterben zuzuschauen. Ab und zu starrte ich auch hinüber zum Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen großen Flügeltüren. Das doppelklingige Schwert des Wy prangte auf der einen Seite und die zerbrochene Ährenkrone der Lchnadra auf der anderen, das verschlungene Zeichen der Einheit in der Mitte. Mir war, als hätte ich vergessen, was das alles bedeutete. Mir war, als hätte ich es nie gewusst.

Schließlich, nachdem ein starker Wind aufgekommen war, der über die Menge fuhr und mich in meinem Kleidchen frieren ließ, schwangen die Türflügel auf. Stille, wieder diese Stille, senkte sich über den Großen Platz, als Ktorram Asnuor heraustrat, Mnuran Sna zu seiner Linken. Sie wurden gefolgt von einer Riege Wypriester, die eine gebundene, schwarzgekleidete Frau flankierten. Vereinzelte geschriene Verwünschungen durchbrachen die unnatürliche Lautlosigkeit beim Anblick der Baummörderin, doch nur seltsam wenige, als sei den Leuten erst in diesem Moment bewusst geworden, dass es hier tatsächlich darum ging, eine lebende, fühlende Nchrynna den Flammen zu überantworten. Vielleicht waren sie aber auch mit Stummheit geschlagen vor Entsetzen, welches Ausmaß an Bösem sich in Fleisch und Blut verbergen konnte, in der Gestalt einer feingliedrigen Frau mit gebundenen Händen und gesenktem Haupt.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die kleine Prozession beim Scheiterhaufen anlangte. Als die Wypriester die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl banden, der aus den Kness-Garben herausragte, schloss ich die Augen. Doch das anschwellende Dröhnen der aus ihrer Erstarrung erwachenden Menge konnte ich nicht aussperren.

»Sieh hin, Kind«, hörte ich die Stimme meiner Muttersmutter durch das Dröhnen hindurch. »Du musst hinsehen!«

Das Kalte in mir gab ihr recht. Es war Gesetz, dass die Familie einer Nembdr bei deren Hinrichtung Zeuge zu sein hatte, ganz besonders ihre weiblichen Nachkommen, da es hieß, dass diese Erfahrung das einzige Mittel sei, den Einfluss der Dechalsdienerin auszubrennen. Ich wurde nicht allein von der nach Genugtuung und Sensationen lechzenden Menge beobachtet. Nur mein Status als Tochter der Großen Alten hatte mir eine offizielle Befragung durch die Wypriester erspart, aber niemand konnte vorhersagen, was passieren würde, sollte ich Ktorram Asnuor und den Seinen einen Grund geben, an meiner Wyergebenheit zu zweifeln. Und so sah ich zu, wie die schwarzgekleidete Frau an den Pfahl gefesselt wurde, wie die Priester den Kness mit Öl tränkten und wie die Mörder meiner Mutter auf die Tribüne stolzierten, als wären sie Wys größtes Geschenk an die Nchrynnai. Die Menge jubelte Sna und Asnuor zu, doch ich sah auch Leute, die sich abwandten und versuchten, sich durch die Masse an Leibern zu kämpfen, um den Großen Platz zu verlassen. Einige Frauen vergruben ihre Gesichter an den Schultern ihrer Männer, und ich fragte mich, was sie hier zu suchen hatten, wenn sie nicht gekommen waren, um die Baummörderin brennen zu sehen.

Ehe ich eine Antwort finden konnte, forderte die unwiderstehliche Stimme des Obersten Priesters meine Aufmerksamkeit; selbst jetzt, da ich hasste, was sie sagte, schlug sie in mir eine Saite an, gegen deren Schwingen ich mich nicht wehren konnte. Sie sprach wieder über den furchtbaren Frevel, der begangen worden war und das Memnáh in seinen Grundfesten erschüttert hatte, und sie dankte dem Ersterschaffer dafür, dass die widernatürliche Dechalsdienerin entdeckt worden war, damit sie und ihre Wyvergessenheit aus der Welt gebrannt werden konnten. Die Menge jubelte wieder. Meine Kälte verachtete sie, mein Entsetzen fürchtete sie, und ich hasste sie. Die Stimme aber sagte, nein, heute sei kein Tag des Jubels, sondern ein Tag der Trauer, denn ein Kind der Einheit an den Göttlichen Gegner zu verlieren, sei immer einer Niederlage für das gesamte Memnáh. So widernatürlich die Nembdr auch sei, die dort auf dem Scheiterhaufen auf ihre Strafe warte, sei sie doch einst eine Tochter des Höchsten gewesen. Und aus irgendeinem Grund – das war das Seltsamste – glaubte ich der Stimme die Trauer, die in ihren samtenen Tiefen lag, und die Menge tat es auch, denn es wurde wieder ganz still. Doch irgendwo begann ein langgezogener Schrei in den Himmel zu steigen, der nicht mehr abbrechen wollte, auf den jedoch niemand reagierte. Er war schrill und hoch, der Schrei, und ging mir auf die Nerven, weil er mein Herz zerreißen wollte, das ich doch noch so notwendig brauchte für die schwarze Frau auf dem Scheiterhaufen, die in ihrem Dechalsgewand reglos auf dem schmutzig-grauen Kness stand und ins Nichts starrte. Es war, als wäre sie gar nicht da, und für einen Moment beneidete ich sie um ihre stoische Ruhe. Doch ich hatte sie immer bewundert und beneidet, diese Frau, die alles war, was ich nicht war, streitbar und stark und standhaft. Und die Stimme sprach davon, wie das Feuer das Herz der Frau und deren Familie reinwaschen könne, und dann redete die Stimme von der Macht des Blutes, denn Blut sei Leben und das sei das Gegenteil des Todes, und auch das Blut wasche uns rein, und sie sagte: »Blut das Blut von seinem Blut vergießt, um die Sünden des Blutes zu tilgen, findet Gnade vor Wy.« Kenntyrr, sagte die Stimme immer und immer wieder, denn das ist es, was ›Blut‹ in meiner Sprache bedeutet, und ich hörte meine Muttersmutter laut Atem holen und ein »Der Einheit sei Dank« ausstoßen, das ich einen Moment lang nicht verstand – für einen viel zu langen Moment, in dem sich garstige Hoffnung in mein Herz einzunisten begann, die wahnwitzige Hoffnung, dass meine Mutter doch irgendwie noch überleben könnte. Dann aber begriff ich, dass Ktorram Asnuor nicht länger von Blut, von Kenntyrr, im eigentlichen Sinne redete, sondern von jenem Dolchstoß ins Herz, mit dem ein Verräter seine Ehre vor Wy zurückgewinnen kann, oder von jenem Kehlenschnitt, mit dem ein Mann aus der Familie einer Nembdr der verdammten Frau Gnade vor dem Allerhöchsten erwirkt – und ihr einen qualvollen Tod in den Flammen erspart. Die Hoffnung in meinem Herzen starb in ihren Kinderschuhen, doch gleichzeitig stimmte ich mit jeder Faser meines Ichs in das Dankgebet meiner Muttersmutter ein. Wenigstens würde der Dechalssohn, der sich Oberster Priester schimpfte, der Frau auf dem Scheiterhaufen einen schnellen Tod gewähren; selbst ich wusste, dass dies alles an Gnade war, was von ihm zu erwarten war.

Doch während Ktorram Asnuor die Reihen der Neoly-Männer abschritt und jedem einzelnen von ihnen die rituelle Frage nach seiner Bereitschaft stellte, der Nembdr das Kenntyrr zu gewähren, musste ich erkennen, dass es wohl mehr an Gnade war, als die Neolys bereit waren, der Abnormität aus ihren eigenen Reihen zu erweisen.

Es war wie ein Schlag in die Magengrube, eines ums andere Mal, als jene Männer, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte, denen ich unzählige Male Wein gebracht hatte, die mich in die Luft gewirbelt hatten, als ich klein war, deren angeregten Gesprächen ich mit aufgesperrten Ohren und offenem Mund zugehört hatte, während sie so taten, als würden sie mich nicht bemerken – als einer nach dem anderen meiner Vettern und Onkel den bohrenden Blick des Obersten Priesters augenblickskurz erwiderte, nur um dann den Kopf zu senken und einen Schritt zurückzutreten. Ich hörte den schweren Atem meiner Muttersmutter in meinem Nacken, obwohl die Menge zu unseren Füßen immer unruhiger wurde, während mir Unglauben und Fassungslosigkeit die Augen weiteten und die Kehle zuschnürten. Großonkel Sekkar (komm schon, Onkelchen): der kurze Blick und ein Schritt zurück. Quescnarm (was du tust, weiß ich, du Bastard): der Schritt zurück, ohne auch nur aufzublicken. Zernteyb (oh, bitte, Onkel Zeb, reiß dich zusammen, es geht hier um Lys, du weißt schon, um Lys, so anders als deine weiche Teggri, Lys, die einst Glut hatte in ihrem Blick und die Stärke der Erde in ihrem Gang): ein Blick voller schmerzhaftem Zögern und dann der verzagte Schritt zurück. Mein Vater … Meine Hände krallten sich in die Brüstung unseres Prangers. Nadahn!, schrie mein Herz, wie ich meinen Vater nicht mehr genannt hatte, seit ich ein Kleinkind gewesen war, und für einen Moment war alles vergessen, was er getan hatte, ich sah nur, dass da mein Vater stand, der alles gutmachen würde.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor. Die Frau ist des Mannes … »Seid, Ihr bereit, Morrtahn, Euer Blut zu vergießen«, … denn er sei ihre Welt, und ihre ganze Welt sei sein …, »dem Ersterschaffer zu Ehren und Seine Gnade zu erlangen«, … und Mann und Frau seien Eins bis ans Ende der Zeit …, »für diese Tochter Dechals, um sie dem Nichtsein zu entreißen?«

Die bodenlosen Augen meines Vaters starrten direkt in die durchscheinenden des Obersten Priesters, und es schien, als würde eine Botschaft ausgetauscht, und ich meinte, Widerstand zu erkennen in dem dunklen, dunklen Blick, und dann trat mein Vater mit unbewegter Miene einen Schritt zurück. Ein kollektiver Ausruf des Schocks ging durch die Menge, und ich glaube, mein Herz blieb einen Moment lang stehen, doch dann begann es zu rasen, denn neben meinem Vater stand Vairrynn.

»Nein«, flüsterte ich, »nein!«

Der ununterbrochene Schrei, der in den Himmel stieg, wurde lauter und schriller, und noch immer tat niemand etwas dagegen. Ktorram Asnuor stand meinem Bruder gegenüber, und die beiden hellen Augenpaare verbissen sich ineinander. Der gesamte Große Platz schien den Atem anzuhalten, als sich der Moment immer mehr in die Länge zog, ohne dass sich einer der beiden Männer rührte. Mein Bruder wurde noch blasser als er ohnehin schon gewesen war, aber er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, während ihn der Blick des Obersten Priesters zu verschlingen schien.

»Charrann Kenntyrr«, fragte Ktorram Asnuor schließlich, und die Stimme war wie flüssiger Samt. Ich sah, wie die Kiefer meines Bruders sich verkrampften und seine Hand zu seinem Gürtel fuhr, und dann zog er seinen Kschurr, und die Menge seufzte, und der Oberste Priester lächelte, ach, so weich, und das Lächeln legte sich um meine Kehle wie eine Würgeschlinge. Hätte ich es benennen sollen, ich hätte es Stolz genannt.

»Nein!!«, schrie die Frau auf dem Scheiterhaufen, und Nein!, schrie jede Faser meines Ichs, denn ich wusste, ich würde meinen Bruder verlieren, würde er der Verurteilten den Gnadentod geben. Vairrynn öffnete bereits den Mund, doch da trat mein Großvater vor, den eigenen Kschurr schon gezogen und antwortete an seiner Stelle: »Kenntyrr Charrann.«

»Der Einheit sei Dank«, seufzte meine Muttersmutter wieder, und ich begann von Neuem zu zittern. Der Schrei wurde wieder ein wenig leiser, klang jetzt eher wie ein Wimmern. Der Oberste Priester sah den alten Neoly einen Moment lang mit hochgezogenen Brauen an, als würde er tatsächlich in Erwägung ziehen, es dem Patriarchen zu verwehren, den Platz seines Enkels einzunehmen. Doch dann nickte er huldvoll. Ich glaube, ich habe ihn nie mehr gehasst als in diesem einen Augenblick.