Nscho-tschi und ihre Schwestern - Katharina Maier - E-Book

Nscho-tschi und ihre Schwestern E-Book

Katharina Maier

4,6

Beschreibung

Jeder kennt Nscho-tschi, die schöne Schwester Winnetous. Aber wie steht es mit der Gebieterin des Hadschi Halef Omar? Oder der morgenländischen Königin und Großen Mutter Marah Durimeh? Und wer weiß schon, dass am Ende sogar Old Shatterhand unter einem zarten Pantöffelchen steht? Tapfere Indianerkriegerinnen, betörende Schurkinnen, kluge Scheikinnen, robuste Schelminnen und weise Matriarchinnen - in der angeblichen "Männerwelt" Karl Mays gibt es sie alle. Man muss nur manchmal etwas genauer hinsehen. Aus weiblicher Perspektive erzählt Katharina Maier fundiert und mit viel Augenzwinkern die spannenden Geschichten der wichtigsten Frauenfiguren aus Orient- und Wild-West-Romanen, erklärt ihre Bedeutung innerhalb des May'schen Kosmos und fördert viel Erstaunliches über diese "Mayden" und das Frauen-, Männer- und Menschenbild ihres Schöpfers zu Tage.

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NSCHO-TSCHI UND

IHRE SCHWESTERN

Frauengestalten

im Werk Karl Mays

VON

KATHARINA MAIER

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 2012 Karl-May-Verlag

Für Mama, die mir die Tür zum Mayversum aufmachte

Und für Lea, die sich von mir die Tür aufmachen ließ

(Ja: wir sind alle drei Frauen)

Auf Spurensuche

N S C H O – T S C H I. So wird es geschrieben. Das weiß nicht jeder. Aber jeder kennt sie, die schöne Schwester Winnetous. Männer bekommen bei der Erwähnung ihres Namens schwärmerische Augen, und so manche Frau wäre wohl gern an ihrer Stelle … na ja, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass sie ziemlich bald stirbt, natürlich.

Aber dass Nscho-tschi bei Weitem nicht die einzige anschwärmenswerte, bewunderungswürdige Frau in Karl Mays buntem Universum ist, wird oft vergessen. Die Spuren der May’schen Heldinnen wurden ziemlich gut verwischt, und dabei gibt es ihrer doch beachtlich viele – wer sich das Inhaltsverzeichnis von Nscho-tschi und ihre Schwestern angesehen hat, wird es schon ahnen. Oder vielleicht gehören Sie ja wie ich zu den Lesern, die immer schon von Mays Frauenfiguren fasziniert waren – die mit Nscho-tschi geliebt, mit Kolma Puschi gekämpft, mit Rosalie Ebersbach gelacht und mit Hanneh triumphiert haben. Denn dass May nur Männergeschichten erzählt, das ist ein Vorurteil – ein verständliches, aber ein Vorurteil. Es geht nämlich von zwei unzutreffenden Voraussetzungen aus.

Erstens: Frauen interessieren sich nicht für Geschichten, in denen heldenhafte, attraktive Männer für alles, was gut und recht ist, ins Feld ziehen. Um es ein für alle Mal klarzustellen: Das ist ein Irrtum.

Zweitens: Bei Karl May kommen keine Frauen vor. Falsch. In seinem Universum gibt es so viele Frauen, dass nicht einmal alle in dieses Buch passen, und das, obwohl ich mich allein auf die bekannten Wildwest- und Orientromane unseres Schriftstellers beschränke. Die episch breiten Kolportageromane mit ihrer Vielzahl an weiblichem Personal habe ich außen vor gelassen, eine Auslassung, für die ich mich gleich zu Anfang entschuldige.

Allerdings hat es auch einen ganz besonderen Reiz, gerade in zwei ‚über-männlichen‘ Welten wie Mays Orient und Wildem Westen weiblichen Fährten nachzuspüren. Freilich darf man dort nicht immer inmitten der Handlung suchen, sondern muss auch am Rand nachsehen, und hin und wieder ist es geraten, den Text gegen den Strich zu lesen. Aber dass man, wenn man anständig Spuren lesen will, schon ganz genau hinsehen muss, ist für keinen Mayleser etwas Neues. Die großen Helden Winnetou und Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi machen es uns schließlich vor.

Also habe ich beschlossen, auf Spurensuche zu gehen. Ich schnüre meine Stiefel, schwinge mich in den Sattel meines metaphorischen Pferdes und breche auf ins Mayversum. Das bedeutet allerdings auch, dass ich nur dort, innerhalb der Geschichten, nach weiblichen Fährten forschen werde. Die biografische Perspektive werde ich nur hin und wieder ins Auge fassen. Den Blick auf die Frauen im Leben des Schriftstellers May müssen andere Bücher werfen. Hier soll es allein um Nscho-tschi und ihre fiktionalen Schwestern gehen. Denn diese scheinbar so zarten Maiden – oder sollte ich lieber „Mayden“ sagen – sind eigentlich richtige Powerfrauen und haben uns so einiges zu erzählen. Wacker ziehen sie durch die Prärien und Wüsten der May’schen Textwelten, und dahin wollen wir sie jetzt begleiten.

Der Wilde Westen und die Mayden – Eine Geschichte voller Missverständnisse

Der Vorhang öffnet sich – beziehungsweise der Buchdeckel. Die unendlichen Weiten der amerikanischen Prärie breiten sich vor uns aus, majestätisch, erhaben und menschenleer.

Das heißt, menschenleer bis auf die zwei Männer, die Seite an Seite auf edlen, schwarzen Pferden durch diese unermessliche Weite ziehen, beide in Leder gekleidet, der eine ein Weißer, der andere ein Indianer, bewaffnet mit Bärentöter, Henrystutzen, Silberbüchse und der Macht ihrer unzerbrechlichen Freundschaft.

Old Shatterhand und Winnetou. Es ist ein ikonisches Bild wahrer Freiheit.

Das heißt, männlicher Freiheit natürlich.

„Männer dürfen bei Karl May das, was sie heute und vor allem hierzulande schon lange nicht mehr dürfen: Männer sein“, schreibt Dieter Mank[1] in seinem Offiziellen Endgültigen Handbuch für den Karl-May-Fan. Zwei Seiten später zeigt eine ausgesprochen witzige Illustration eine Frau, die mit einem Nudelholz in der Hand am Rande der erwähnten savannischen Weiten steht und recht bedröppelt auf ein Verbotsschild blickt, auf dem steht: „Karl May County. Frauen! Bis hierher und nicht weiter!“

Irgendwie bringt es das schon auf den Punkt. Der May’sche Westen ist eine Männerwelt. Und das muss er auch sein. Seine Prärien und Gebirge voller ‚wilder‘, freier Menschen formen eine Gegenwelt zu der drögen Alltagsrealität, in der wir so oft fremdbestimmt und nicht Herren unseres eigenen Schicksals sind – ganz anders als Winnetou und Old Shatterhand.

„Karl Mays Reiseerzählungen sind Träume von einer besseren Welt, einer Welt, die frei ist von gesellschaftlichen Zwängen und materieller Not. In dem Freiraum des Wilden Westens kann sich jeder seinen Anlagen und seinen erworbenen Fähigkeiten gemäß entfalten; es gibt keine Standes- und Klassenunterschiede. […] Schließlich kann sich in dieser Welt jedermann frei bewegen“, führt Martin Lowsky aus.[2] Die Betonung liegt auf jedermann. Unsere beiden heroischen Blutsbrüder verkörpern voll und ganz ein Ideal autonomer Männlichkeit, das Mays Ich-Held Old Shatterhand noch bei seinem letzten Auftritt in Winnetou IV (heute bekannt als Winnetous Erben) einfordert: „Habt ihr begriffen, was es heißt, ein Mann zu werden? Eine Persönlichkeit, die aus eigener Energie zu tun und zu handeln weiß, ohne mit sich handeln zu lassen? Eine Persönlichkeit, die ihre Ziele kennt und nach ihnen strebt, ohne nach irgendeiner Seite abzuweichen?“[3]

Der scheinbar grenzenlose Wilde Westen, der fernab von der Reglementierung der Zivilisation liegt, ist genau der Ort, wo ein Mann sich als eine solche selbstbestimmte Persönlichkeit etablieren kann. Hier hängt sein Erfolg ganz von seinen eigenen Fähigkeiten ab – seiner Körperkraft, seiner Gewandtheit, seinem Scharfsinn, aber auch seiner Charakterstärke und seiner moralischen Integrität. Den Gefahren der Wildnis ausgesetzt, muss sich ein solcher „Westmann“ auf sich selbst verlassen können: Er muss gut schießen, reiten und kämpfen können, sich durch Spurenlesen und geschickte Anschleichmanöver überlebensnotwendiges Wissen über seine Umgebung aneignen, und er muss sich auf die Gepflogenheiten der in diesem ‚wilden Raum‘ ansässigen kriegerischen Indianerstämme einlassen. Wenn er das alles nicht tut, ist er ein toter Mann.

Außerdem hat sich ein echter Westmann an einen bestimmten ‚heroischen‘ Kodex zu halten. Dieses ungeschriebene Gesetz ist eine Mischung aus den Normen der indianischen Kriegerkultur, die auf festen, ‚ursprünglichen‘ Vorstellungen von Ehre und Edelmut fußt, und aus den humanistischen, menschenfreundlichen Werten der weißen Westmannelite. Wer diesen Code bricht, sich unehrenhaft und gewissenlos verhält, wird sowohl von den Indianern als auch von den ‚echten‘ Westmännern verachtet.

Dieses Männlichkeitskonzept, das im fiktionalen Raum des Westens als Wertemaßstab gilt, orientiert sich im Grunde an einem Ideal von Ritterlichkeit und ‚Gesinnungsadel‘, das Ende des 19. Jahrhunderts ‚unzeitgemäß‘ war. In der spät-industriellen Epoche, die von dem Kapital- und Bildungsbürgertum auf der einen und dem Militär auf der anderen Seite dominiert wurde, waren Mays heldenhafte Westmänner ein Anachronismus. „Mays ureigene Befreiungstat“ nennt Hans-Joachim Jürgens das: „In der Figur des Westmanns und vor allem in der Figur Old Shatterhands gelang es ihm, eine Gegenmännlichkeit zur ‚hegemonialen Männlichkeit‘ des Offizierstandes und des gehobenen Bürgertums zu konstruieren.“[4]

Die vorherrschenden Idealvorstellungen von Männlichkeit orientierten sich zu Mays Lebzeiten also entweder am Militär, in dem Ansehen und Einfluss allein vom Titel bzw. Rang abhängig war, oder am Bürgertum, das seinen Aufstieg nicht zuletzt auf Kapital, sprich: Geld, gründete. Nun wendet sich May weder von den traditionellen bürgerlichen Werten noch von der Idee einer Hierarchie ab (im Westen stehen Winnetou und Old Shatterhand wegen ihrer überragenden geistigen, körperlichen und moralischen Eigenschaften grundsätzlich an der Spitze der Rangordnung). Doch gleichzeitig lesen sich seine Romane ein wenig wie Manifeste der individuellen Freiheit.

Der Ich-Erzähler und Ich-Held, der im Wilden Westen unter dem Kriegsnamen „Old Shatterhand“ und im Orient als „Kara Ben Nemsi“ bekannt ist, entscheidet sich schon als junger Mann ganz bewusst für das Dasein eines Weltenbummlers, weil er auf der Suche nach eben dieser Freiheit ist. Zuhause, in Deutschland und im Rahmen einer bürgerlichen Existenz, findet er sie nicht.

Allerdings muss man anmerken, dass Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi seine Bindung zur Zivilisation nie ganz aufgibt. Seine europäische Bildung charakterisiert ihn genauso wie seine ‚heroischen Eigenschaften‘, und im Gegensatz zu vielen anderen May’schen Abenteurern kehrt er immer wieder in die Heimat zurück (wo er Bücher über seine Erlebnisse schreibt). Selbst ein West- und Weltläufer braucht Wurzeln, um eine ‚ganzheitliche‘ Existenz führen zu können.

Doch ein ‚echter Held‘ kann Kara Shatterhand zu Hause in Deutschland nicht sein. Schließlich ist dort selbst das „Ich“, das so viel Wert auf Selbstbestimmung legt, sozialen Zwängen unterworfen. Der amerikanische Westen dagegen ist eine Art ‚Autonomieraum‘, in dem man(n) frei von gesellschaftlichen Beschränkungen agieren kann. Immer wieder wird diese ‚wilde‘ Welt mit der Enge der Zivilisation kontrastiert, unter der wir Leser ohne Probleme unsere eigene Lebenswelt verstehen können. Sie meint aber auch spezifisch die spät-industrialisierte Gesellschaft, in der May lebte – ein soziokulturelles System, das durch seine rigide, imperialistische und patriarchale Struktur gekennzeichnet war. Der freie Westen mit seinen heroisch-kriegerischen Gesetzen, die durch Old Shatterhands eigene christlich-humanistische Werte der Nächstenliebe und Toleranz ergänzt werden, stellt einen radikalen Gegenentwurf zu dieser ‚zivilisatorischen‘ Welt dar.

Aber was hat das Ganze mit den Frauen zu tun? Warum scheint diese freiheitliche Gegenwelt hauptsächlich von Männern bewohnt zu werden?

Mays heroisches Westmannstum ist, wie der Begriff schon nahelegt, grundsätzlich maskulin besetzt. Es steht in einem gewissen Gegensatz zu einer ‚verzivilisierten‘ Art von Männlichkeit, aber auch zu einer gewissenlosen, rein gewaltorientierten Männlichkeit (Bösewichte im Wilden Westen können beiden Bereichen entstammen). Weil es aber nichtsdestotrotz maskulin ist, bildet es auch einen Gegenpol zum ‚Weiblichen‘ – oder zumindest zu dem, was May in seinen Texten unter ‚weiblich‘ versteht.

Während die freie, heroische Sphäre des Westens dem kriegerischen Mann gehört, ist die Frau bei May zunächst grundsätzlich der Sphäre der Zivilisation zugeordnet. Selbst Indianerinnen begegnen uns selten in der Wildnis, sondern eher in Zeltdörfern und Pueblos – dem einzigen ‚Heim‘, das der nomadische indianische Krieger kennt.

Frauen stehen im Mayversum für Geborgenheit und Verwurzelung. Als Mütter sind sie Bewahrerinnen der Kultur und geben Weisheit, Wissen und Herzensbildung an die nächste Generation weiter. Anders als die insgesamt negativ besetzte patriarchal-imperialistische Zivilisation, die sich in Gestalten wie Offizieren, Anwälten, Eisenbahnbauern und Polizisten ab und zu in den Westen verirrt und von den dort ansässigen Heroen verachtet oder bemitleidet wird, wird diese ‚hegende und pflegende‘, weibliche Form von Zivilisation durchaus mit Wohlwollen betrachtet. Anständige Westmänner verehren Frauen und vor allem Mütter zutiefst, und der ideale Held Old Shatterhand tut es erst recht. Für ihn sind Frauen unauflöslich mit einer Idee von ‚Heimat‘ assoziiert.

Und da liegt der sprichwörtliche Hund begraben: Denn Heimat und Geborgenheit sind das genaue Gegenteil der männlich-heroischen Autonomie. Sie bedeuten Sesshaftigkeit, Verantwortung, Verpflichtung. Und zumindest in Old Old Shatterhands Fall würde eine Bindung an das Weibliche auch eine permanente Rückkehr in die Zivilisation verlangen, in der er sein ‚heroisches Selbst‘ nicht zur vollen Entfaltung bringen kann. Nein, die weibliche Sphäre von ‚Heim und Herd‘ (im Sinne eines Zuhauses) und der Freiheitsraum ‚Westen‘ gehen nicht zusammen.

Dass das Westmännische und das Weibliche – zumindest in Kombination mit so suspekten Konzepten wie Liebe und Ehe – sich nicht vertragen, beweist uns May in eindringlich-amüsanter Weise anhand von Sam Hawkens, Old Shatterhands erstem ‚Westlehrer‘. Aus der zum Scheitern verurteilten Blitzromanze des kleinen, krummbeinigen Westmännchens mit einer resoluten Apatschenwitwe namens Kliuna-ai lassen sich einige wichtige Lehren in Sachen Weiblichkeit und Westen ziehen.

Sam Hawkens, der in Winnetou I zusammen mit dem Jung-Helden Shatterhand bei den Apatschen nach einigen Verwicklungen freundliche Aufnahme findet, präsentiert sich seinem Musterschüler in einem Anzug, den er sich neu hat schneidern lassen:

„Wenn ich aber frage: ,Woher?‘, so will ich die Person wissen, von der Ihr den Anzug habt“[, erklärte ich.]

„Die Person? Hm! Ach so! Ja, die Person, Sir! Das ist so eine Sache. Eigentlich ist sie gar keine Person.“

„Was denn?“

„Ein Persönchen.“

„Wieso?“

„Na, kennt Ihr denn die hübsche Kliuna-ai nicht?“

„Nein. Kliuna-ai heißt Mond. Ist’s ein Mädchen oder eine Squaw?“

„Beides oder vielmehr keins von beiden.“

„Also Großmutter?“

„Unsinn! Wenn sie sowohl Squaw als auch Mädchen oder vielmehr keins von beiden ist, so muss sie doch Witwe sein.“[5]

Obwohl dem Ich-Helden hier der Schalk im Nacken sitzt, ist dieser kurze Austausch sehr aufschlussreich. ‚Die Frau‘ wird hier nämlich als etwas Fremdes wahrgenommen, als etwas, das nicht dem normalen Mensch-Sein entspricht. Kliuna-ai ist etwas anderes als ‚Person‘, etwas Kleineres, Niedlicheres, Zarteres und ganz und gar Un-Westmännisches. Dieses fremde Wesen ist schwer zu fassen. Wenn es nicht Mädchen ist, ist es Squaw oder Großmutter oder Witwe oder was auch immer, aber richtig festmachen kann man es nicht – das will der Schalk Shatterhand seinem arg verliebten Freund jedenfalls weismachen.

Der herzlose Jüngling hat sowieso wenig Sinn für die romantische Dramatik von Sams amourösen Abenteuern, obwohl der kleine Westmann die ernste Absicht verkündet, mit seiner Kliuna-ai „ein trautes Heim“ zu gründen:

Das kleine, bärenfelllederne Freiersmännchen drehte sich um und stapfte stolz von dannen. Das freundliche Gefühl, das er für die indianische Wittib empfand, verursachte mir keine seelischen Schmerzen und Bedenken. Man brauchte Sam nur anzusehen, um völlig beruhigt zu sein. Die übermäßig großen Füße, die dünnen, krummen Beinchen, dann das Gesicht, o weh! Er glich einer männlichen Pastrana[6]mit einem Geierschnabel im Gesicht. Das war selbst für eine Indianerin zu toll.

Der arme Sam Hawkens wird hier in seiner ganzen Eheuntauglichkeit präsentiert, die Old Shatterhands spöttischen Behauptungen zum Trotz nicht allein in dem wenig attraktiven Äußeren des kleinen Westhelden begründet liegt. Vielmehr muss Sam sehr schnell einsehen, dass auch seine Prärieläuferexistenz den Gedanken an eine Ehe höchst problematisch macht:

Übrigens war Sam bald wieder guter Dinge und gestand mir, dass er sich freue, ein unverheirateter Jüngling geblieben zu sein.[…]

„Ist überdies gut, dass meine Liebe zu diesem abnehmenden Mond so unglücklich war.“

„Warum?“

„Weil ich ihn doch nicht hier lassen könnte, sondern mitnehmen müsste. Wer aber reitet gern mit einem Neumond über die Prärie! Hihihihi! Ist doch bei jedem Unglück auch ein Glück.“

Nein, Frauen nimmt man nicht mit in die Savanne. Da gehören sie einfach nicht hin. Die Vorstellung, Sam könnte von nun an mit einer indianischen Schneiderin anstatt seinen beiden langen, dünnen Gefährten Dick Stone und Will Parker durch die Prärie ziehen, ist so lustig, dass eine Verwirklichung dieser potenziellen Zukunft gar nicht mehr in Betracht gezogen werden kann – jedenfalls nicht ernsthaft. Ganz abgesehen davon, dass Kliuna-ai sicher gar nicht die Absicht hätte, das Pueblo der Apatschen zu verlassen und in der Weltgeschichte herumzureiten.

Seinen Mond einfach allein daheimsitzen und auf die Rückkehr des herumvagabundierenden Ehemannes warten zu lassen, kommt für Sam aber auch nicht infrage. Das ist nämlich ungalant. Und wenn man sich schon eine Ehegattin angetan hat, will man ja auch etwas von ihr haben. Nein, das „traute Heim“ mag eine schöne Vorstellung sein, aber letzten Endes ist es mit dem echten Westmannstum nicht vereinbar.

Der junge Shatterhand mag über den kleinen Sam Hawkens und seine unglückliche Brautwerbung so viel spotten, wie er will – auch ihm gelingt es nur sehr bedingt, diese fremdartigen Wesen namens ‚Frauen‘ in seine Existenz als Westläufer zu integrieren. Selbst für ihn, der Frauen gegenüber sehr aufgeschlossen ist und ihre Intelligenz, Empathie und Ausdauer bewundert, kommt es immer wieder als eine Überraschung, wenn er inmitten der Savanne auf ein weibliches Wesen trifft.

Und doch gibt es sie, die Frauen im Westen. Sie lassen sich nicht aufhalten, marschieren tapfer in kleinen Mokassins oder geschnürten Stiefelchen in die Prärie und erzählen ihre eigenen Heldengeschichten.

Der Maytext an sich ist erstaunlich offen für diese zarte, weibliche Invasion, und der „Autonomieraum“ ist flexibel genug, um seine eigenen Gesetze zu biegen. Je weiter die West-Erzählung fortschreitet, umso prominenter wird das weibliche Element inmitten dieser ‚urmännlichen‘ Sphäre. Schließlich nehmen ‚Winnetous Erbinnen‘ sogar selbstbewusst ihren Platz als gleichberechtigte Westheldinnen ein. Und Old Shatterhand, älter und weiser geworden, ist noch nicht einmal sonderlich überrascht.

Nscho-tschi

Jeder kennt Nscho-tschi. An die schöne Schwester Winnetous, die, wie es bei May selbst so gerne heißt, Old Shatterhand „ihre Seele gegeben“ hatte, erinnert man sich einfach. Und ihre Geschichte ist ja auch zu schön und tragisch, um sie einfach zu vergessen.

Die junge Indianerin verliebt sich in den gefangenen Old Shatterhand, den sie gesund pflegt, obwohl sie ihn für einen Feind ihres Vaters, ihres Bruders und ihres ganzen Stammes halten muss. Als er sich dann doch als Freund und Lebensretter Winnetous erweist, ist sie bereit, „in die großen Städte des Ostens“ zu gehen, um dort alles zu lernen, was sie als Frau eines Bleichgesichts wissen muss – denn das, so glaubt sie, ist die Voraussetzung, um Old Shatterhands Liebe zu gewinnen. Doch auf dem Weg in den Osten, in die (weiße) Zivilisation, wird Nscho-tschi zusammen mit ihrem Vater Intschu tschuna von goldgierigen Weißen überfallen und von einer Gewehrkugel tödlich getroffen. Sie stirbt in Winnetous Armen, Old Shatterhands Namen auf den Lippen.

So weit, so klassisch. Nscho-tschi bildet mit unseren beiden Blutsbrüdern ein episches Dreigestirn, das dem von Luke Skywalker, Han Solo und Prinzessin Leia aus Star Wars ähnelt, wobei die Heldin mit den beiden männlichen Heroen durch Verwandtschaftsbande respektive romantische Liebe verbunden ist. Und selbst mit ihrem Tod erfüllt Winnetous Schwester eine ikonische Funktion: Denn wahre Helden – das weiß May nur zu gut – dürfen nicht heiraten oder auch nur glücklich lieben, zumindest nicht mitten in der Geschichte (wer daran zweifelt, sollte nur einmal echte Männer wie Captain Kirk, James Bond oder Clark Kent alias Superman fragen). Aber leiden dürfen sie, die Helden, und der gewaltsame Verlust eines potenziellen Liebesobjekts eignet sich als Basis für ein solches heroisch-männliches Weh vortrefflich. Ganz zu schweigen davon, dass der Tod Nscho-tschis in den Armen Winnetous und Old Shatterhands ein wenig wie die letzte Feuertaufe wirkt, die die noch junge Freundschaft der beiden zu bestehen hat. Nachdem sie gemeinsam die Frau zu Grabe getragen haben, deren Liebe ihnen „gemeinsam gehörte“, kann die Blutsbrüder wirklich nichts mehr auseinanderreißen.

Kein Wunder also, dass sich uns Nscho-tschis Schicksal eingebrannt hat, so ikonisch-episch, wie es ist. Oder? Ist das wirklich schon alles? Fällt der „edelsten Tochter der Apatschen“ tatsächlich nur eine ‚Helferrolle‘ innerhalb der Heldengeschichte Winnetous und Old Shatterhands zu?

Oh, ihr Zweifler! Da kennt ihr May und seine Mayden aber schlecht. Denn Nscho-tschi hat ihre eigene Stimme – und uns so einiges zu sagen.

Wer es vergessen und/oder noch nicht gemerkt hat: Nscho-tschi tritt natürlich in Winnetou I auf. Dieser Schlüsseltext unter den May’schen West-Romanen, in dem der edle Häuptlingssohn Winnetou und das Noch-Greenhorn Old Shatterhand sich zum ersten Mal begegnen, entstand übrigens erst, nachdem die Blutsbrüder in Geschichten wie Der Sohn des Bärenjägers und Der Schatz im Silbersee bereits ihren Mut, ihr Geschick und ihre Treue zueinander unter Beweis gestellt hatten. May entwickelte die Genese seiner beiden großen Helden und ihrer legendären Freundschaft also quasi im Nachhinein – oder besser gesagt: mittendrin, nachdem er sie schon auf dem Gipfel ihrer Westläuferkarriere dargestellt hatte. Dabei erfindet er die beiden allerdings auch bis zu einem gewissen Grad neu: Erst jetzt erhält der unvergleichliche Winnetou seinen überragenden edlen Charakter in Reinform, während wir gleichzeitig Zeuge werden, wie sich Old Shatterhand vom unerfahrenen Jüngling und Greenhorn (Neuling im Wilden Westen) zu einem ausgewachsenen Heroen mausert.

Genau das ist nämlich passiert, bevor wir zusammen mit dem Ich-Erzähler und Ich-Helden Old Shatterhand unseren ersten Blick auf Nscho-tschi erhaschen. Im Zuge verschiedener Bewährungsproben – Mustangfangen, Büffeljagen, Spurenlesen, Zweikampf auf Leben und Tod, um nur einige zu nennen – musste unser junger deutscher Protagonist, der noch gar nicht lange im ‚gelobten Land‘ Amerika weilt, unter Beweis stellen, dass er das Zeug zum Westmann hat. Außerdem durfte er dem Apatschen Winnetou begegnen, einem etwa gleichaltrigen Häuptlingssohn, zu dem das Ich von Anfang an eine intensive, unerklärliche Verbindung verspürt.

Das Ganze ist sozusagen Freundschaft auf den ersten Blick, und das eigentlich von beiden Seiten. Nur dummerweise hält der junge Apatsche samt Vater und ganzem Stamm den bereits mit dem Kriegsnamen „Shatterhand“ bewährten Protagonisten für seinen Feind. Schließlich hat sich der noch etwas unbedarfte Deutsche von seinen amerikanischen Wohltätern als Landvermesser für die Eisenbahn in das Gebiet der Apatschen schicken lassen. Die Indianer betrachten das Treiben der Bleichgesichter als Landraub – berechtigterweise, wie Jung-Shatterhand einsieht, wenn auch zu spät. Für ihn heißt es „mitgefangen, mitgehangen“, wie Westmann-Lehrer Sam Hawkens verkündet. Die ganze Situation wird noch auswegloser, als ein Trunkenbold aus der nutzlosen Rest-Truppe von Landvermessern und Pseudo-Westmännern Klekih-petra, den deutschen Lehrmeister Winnetous, erschießt. Die Apatschen sind natürlich fest entschlossen, den Tod ihres „weißen Vaters“ blutig zu ahnden, und auch Old Shatterhand, Sam Hawkens und seine Gefährten Dick Stone und Will Parker sind ihrer Rache verfallen – da mögen die vier den edlen Indianern gegenüber noch so freundliche Gefühle hegen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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