Frieda Glücksmann - Kathrin Schwarz - E-Book

Frieda Glücksmann E-Book

Kathrin Schwarz

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Beschreibung

Die Sozialpädagogin Frieda Glücksmann kam 1934 nach Lehnitz in Brandenburg. In einer Zeit, in der die kommende Verfolgung bereits ihre Schatten vorauswarf, baute sie das Erholungsheim zu einem einmaligen Zentrum jüdischen Lebens aus. Für sie und andere Bewohnerinnen und Bewohner war Lehnitz "die glücklichste Zeit ihres Lebens" und eine Heimat. Die freie Historikerin und Judaistin Kathrin Schwarz schreibt einfühlsam und unterhaltend über das Leben dieser ungewöhnlichen Frau, deren Weg von Breslau über Lehnitz nach London.

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Frieda Glücksmann

Kathrin Schwarz

Frieda Glücksmann. Von Lehnitz nach London

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeglicher Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

© 2024 ammian Verlag

Rahnsdorfer Straße 26, 12587 Berlin

www.ammian-verlag.de

1. Auflage 2024

Gedruckt in der EU

Lektorat: Bettina Bergmann, Dortmund

Korrektorat: Elisa Garrett, Bayreuth

Satz: Sabrina Milazzo, www.sabrinamilazzo.net

Umschlag: Vanessa Weuffel, Köln

ISBN: 978-3-948052-73-7

eISBN: 978-3-948052-74-4

Dieses Buch wurde gefördert durch:

Jüdisches Museum Berlin

Inhalt

Danksagung

Vorwort

Einleitung

Breslau

Das Jüdische Erholungsheim Lehnitz

London

Lebenslauf

Literatur und Quellen

Glossar/Lexikon für einzelne Begriffe

Quellen

Literatur

Bildnachweis

Danksagung

Ein Buch braucht kein Genie, sondern wie ein Kind ein ganzes Dorf, um zu wachsen und hoffentlich von vielen gern gelesen zu werden. Vor allem die Autorin braucht das. Ohne diese Menschen und ihre Unterstützung und harte Arbeit wäre die Idee, ein Buch zu schreiben, ein Traum geblieben. Ohne Sie, liebe Leserinnen und Leser, würden diese Worte ins Leere verhallen und die Geschichte Frieda Glücksmanns vergessen bleiben.

Danke für euch, die ihr mich auf diesem Weg begleitet haben:

Manuel, in Liebe.

In Gedenken an C. & D. D.

Bettina, fürs Pläneschmieden, Schubsen, Katzenfotos und Verschönern meiner Texte. Und die Geduld.

An sie und allen im ammian Verlag ein großer Dank für die Realisierung des Buches auf allen Etappen.

Sanna, Anaïs, Jaël, Catrina, Britta, Trude, Lilly und Jenny: Für die Spaziergänge, inspirierende Gespräche, Freundschaft und das Gefühl, nicht allein zu sein mit meinen Ideen und Träumen.

Frank: Deine Freundschaft ist legendär und dein Küchentisch, an dem wir den Plan schmiedeten, mich auf die Universität zu schicken. Danke für deinen Zuspruch!

Ein Dank für Unterstützung und Beratung geht an:

die Enkelinnen und Enkel von Frieda Glücksmann

Bodo Becker

Gemeinde Lehnitz

Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin

die Stiftung Neue Synagoge Berlin und hier Herrn Hermann Simon, Chana Schütz und Anna Fischer, Sabine Hank und Stephan Kummer

Wiener Library London

In Gedenken an die Opfer des 7. Oktober 2023 und den Opfern von Antisemitismus jeden Tag. Jeder Tag ist Scheitern und Hoffnung zugleich und trotzdem versuche ich es jeden Tag aufs Neue, weil Aufgeben keine Option ist.

Der Verlag und die Autorin bedanken sich bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern, die mit ihren Vorbestellungen über die Crowdfunding-Kampagne die Entstehung dieses Buches möglich gemacht haben.

Ganz besonderer Dank gilt:

Tobias Pohl

Catrina Langenegger

Dr. Ingebert Blatz

Bianca Fritz

Anaïs Steiner

Jennifer Nägele

Vorwort

Als ich anfing, zu meinen Vorfahren zu forschen, hätte ich kaum gedacht, dass ich am Ende von einer Historikerin kontaktiert werde, die ein Buch über unsere Großmutter schreibt! Das war der beste Ausgang, den wir uns hätten wünschen können. Es gab immer so viel, was wir sieben Enkelkinder nicht über ihr Leben gewusst haben. Sie sprach selten mit uns über ihr Leben vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie viele jüdische Flüchtlinge, die es aus Deutschland herausgeschafft haben, war ihr Blick auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit gerichtet.

Großmutti, wie wir sie kannten, von ihrer jüngsten Enkelin zu „Gropy“ verkürzt, die den ganzen Namen nicht ganz aussprechen konnte, war eine Großmutter wie keine andere! Sie entsprach nicht dem Stereotyp einer typischen englischen „granny“. Stattdessen wirkte sie exotisch und aufregend, eine Frau mit enormem Charme und Humor, die uns nie wie Kinder behandelte. Sie sprach Englisch mit einem starken deutschen Akzent, eine ganz eigene Person, die es nicht für nötig hielt, sich zu verändern, um sich anzupassen.

Wir besuchten ihr Haus in London und ihr wunderschönes reetgedecktes Cottage auf dem Land. An beiden Orten stand sie selten vor dem Mittag auf, und wenn sie angezogen war, verbrachte sie die meiste Zeit auf ihrer Liege, auf der sie den ganzen Nachmittag über Besucher empfing. Selbst in dieser liegenden Position war sie eine beeindruckende Erscheinung. Sie werkelte gelegentlich in der Küche und bereitete ein Mittagessen aus Brot und Tomatensuppe aus der Dose zu, eine ihrer Lieblingsspeisen.

In London bewohnte sie ein großes Zimmer im Erdgeschoss eines großen viktorianischen Hauses aus rotem Backstein in Hampstead, das sie als Wohnheim für Studenten aus Übersee betrieb. Ihr Zimmer war riesig und zu einem Garten auf der Rückseite hin ausgerichtet. In der Mitte stand ein riesiger runder Esstisch, an dem wir aßen und über den sie wachte, ihren Fuß immer in der Nähe einer Glocke unter dem Teppich, um bei Bedarf die Köchin zu rufen, wenn sie gebraucht wurde. Wir Kinder liebten es, heimlich auf die Glocke zu drücken, obwohl es uns streng verboten war!

In der Hütte ging das Leben viel langsamer vonstatten. Großmutti ruhte auf einer Bambusliege im Wintergarten oder an schönen Tagen im Garten. Uns stand ein idyllischer Garten zur Verfügung mit einem Bachlauf, einem sehr kalten Swimmingpool und einigen ungenutzten alten Schuppen, die wir streichen und zum Spielen nutzen durften. Großmutti fuhr nie Auto und stellte daher eine Reihe von vielleicht etwas zweifelhaften jungen Männern als Fahrer ihres Sunbeam Rapier an. Ich erinnere mich, dass wir oft vor dem Tor unseres Hauses standen, und auf ihre Ankunft warteten, nur um sie vorbeifliegen zu sehen! Ihr war nie klar, dass sie an uns vorbeigefahren ist.

Den Jahreswechsel verbrachten wir immer im Haus in Hampstead, ein aufregender Ausflug für die vier Enkelkinder, die außerhalb von London lebten. Die ganze Familie, einschließlich der drei Londoner Enkelkinder, versammelte sich dort und Großmutti nahm uns alle mit ins Theater oder in eine Vorstellung oder ein Konzert. Es war ihr ein Anliegen, unsere kulturelle Bildung und unser Kunstverständnis zu fördern.

Sie nahm sogar ihr ältestes Enkelkind Sue mit, um „Hair“ zu sehen, eine Show, die das Establishment in den 1960er-Jahren wegen der Nacktszenen schockierte! Es war typisch für ihre fortschrittliche und aufgeschlossene Lebenseinstellung, dass sie sehen wollte, was es mit dem ganzen Trubel auf sich hatte.

Im September 2005 reisten alle ihre Enkelkinder und Partner nach Berlin zur Einweihung der Frieda-Glücksmann-Straße in Lehnitz. Es war ein ergreifender Besuch, den Ernest, ihr Sohn, arrangiert hatte, der leider sechs Wochen zuvor plötzlich verstorben war. Wir hatten das Glück, von dem Heimatforscher Bodo Becker durch das Lehnitzer Haus geführt zu werden. Es stand leer und wartete auf eine Sanierung, aber in der Stille seiner staubigen Zimmer und Flure und der breiten Wendeltreppe war es leicht, sich das Echo von fröhlichen Stimmen, Kinderstimmen und Fußtrappeln vorzustellen. Wir hatten auch das Privileg, das Jüdische Museum zu besuchen und eine Ausstellung über Lehnitz zu sehen, die zu den erbaulichen und manchmal eindringlichen Klängen von Live-Klezmer-Musik eröffnet wurde.

Wir hatten das unglaubliche Privileg, sie zu kennen und sie als unsere Großmutter zu haben. In der Schule sollte Kate einmal einen Aufsatz über eine wirklich bemerkenswerte Person schreiben – sie wählte Grossmutti. Es war eine natürliche und naheliegende Wahl. Niemand sonst wählte einen Großelternteil. Das sagt vielleicht alles.

Die Enkelkinder von Frieda Glücksmann

When we started to research my ancestral heritage, we little thought that it would culminate in being contacted by a historian who was writing a book about our grandmother! It was the best outcome we could have wished for. There has always been so much that we, her seven grandchildren, haven’t known about her life. She rarely spoke to us of her life before the Second World War. Like many Jewish refugees who made it out of Germany, her focus was on the future rather than the past.

Großmutti as we knew her, shortened to „Gropy“ by her youngest granddaughter who couldn’t quite manage the full version, was a grandmother like no other! She did not fit the stereotype of a typical English granny. Instead she seemed exotic and exciting, a woman of enormous charm and humour, who never treated us like children. She always spoke English with a strong German accent, very much her own person, who didn’t see a need to change who she was to fit in with others.

We paid wonderful visits to her house in London, and her beautiful thatched cottage in the country. At both of these places, she rarely rose before midday, and then when dressed, she spent much of the time reclining on her daybed where she received visitors throughout the afternoon. Even in her supine position she was a formidable presence. She occasionally pottered in the kitchen, and produced lunch of bread and tinned tomato soup, one of her favourites.

In London she inhabited a large room on the ground floor of a huge redbrick Victorian house in Hampstead, which she ran as a hostel for overseas students. Her room was vast and opened out onto a garden at the rear. At its centre was a huge round dining table where we ate, and which she presided over, her foot never far from a bell under the carpet, to summon the cook when needed. We children loved to press the bell secretly, but were strongly discouraged!

At the cottage the pace of life was much slower. Großmutti would recline on a bamboo lounger in the conservatory, or in the garden on good days. We had the run of an idyllic garden with a stream running through it, a very cold swimming pool and some long unused sheds which we were allowed to paint and use as a club house.

Großmutti never drove, so employed a series of perhaps slightly dubious young men as the driver of her Sunbeam Rapier. I remember many times lining up at the gate of our house, waiting for her arrival, only to see her flying past! She was always serenely unaware that she had missed us.

We always stayed in the Hampstead house for the new year, an exciting expedition for the four of us grandchildren who lived outside London. All the family including our three London cousins would gather there and Großmutti would take us all out to the theatre or a show or concert. She was keen to encourage our cultural education and appreciation of art. She even took her oldest grandchild, my sister Sue, to see Hair, a show in the 1960’s, which scandalised the establishment as it featured nudity! It was typical of her forward-thinking and open-minded approach to life that she wanted to see what all the fuss was about.

In September 2005, all her surviving grandchildren and partners went to Berlin for the naming of the Frieda Glucksmann Strasse in Lehnitz. It was a poignant visit as it had been arranged entirely by our father Ernest who had sadly died suddenly six weeks earlier. We were lucky enough to be taken on a tour of the Lehnitz house by a local historian, Bodo Becker. It was empty and awating re-development but within the quiet of its dusty rooms and corridors and its wide circular staircase it was easy to imagine them ringing with echoes of laughter and children’s voices and running feet. We were also privileged to visit the Jewish Museum and to attend an exhibition about Lehnitz, which opened to the uplifting and sometimes haunting tones of live Klezmer music.

I think we were incredibly privileged to have known her and had her as our grandmother. Once when I was at school, we were asked to write an essay about someone really remarkable – I chose Großmutti. It was a natural and obvious choice. Nobody else chose a grandparent. I think this perhaps says it all.

Einleitung

Warum wir noch heute dringend Biografien über bemerkenswerte Frauen brauchen

Ihr wisst, das mein Herz an Lehnitz hängt, daß es mit Lehnitz vibriert, daß es mein eigenes Kind ist – dieses Lehnitz ist mir nun genommen, ohne daß meine Kraft, es zu lieben, erschöpft ist. [...] Und rede ich Euch zu, es aufzugeben, den schweren Weg der Emigration zu gehen, so tue ich es, weil man hier anders sehen lernt – leidenschaftsloser – mehr der Wirklichkeit zugewandt.

Diesen Brief schrieb Frieda Glücksmann aus der Emigration 1938 an ihre Angestellten und Freunde. Wrocław ist über 400 Kilometer von Lehnitz entfernt. Lehnitz ist heute ein kleiner Ortsteil von Oranienburg, mit 3.300 Einwohnerinnen und Einwohnern, einem Bahnhof und Anschluss an die Berliner S-Bahn. Zwischen Oranienburg und Lehnitz liegen der Lehnitzsee und die Magnus-Hirschfeld-Straße. Die Nummer 33 ist eine 1899 erbaute Villa, die mittlerweile auf Immobilienportalen als „Villa Sachs“ mit mehreren Eigentumswohnungen angepriesen wird. Vor dem Haus erinnert seit 1988 ein kleiner Gedenkstein an die Geschichte des Hauses als Jüdisches Erholungsheim zwischen 1934 und 1938. Vier Kilometer entfernt, beim Lehnitzer Friedhof, erinnert seit 2005 die Frieda-Glücksmann-Straße an die ehemalige Leiterin dieses Erholungsheims, das nicht nur der Erholung diente, sondern viele Mädchen und Frauen ausbildete und für das Leben und die Emigration vorbereitete. Frieda Glücksmann (1890–1971) beschrieb ihre Tätigkeit als Leiterin des Jüdischen Erholungsheims in Lehnitz als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie hatte schon ein bewegtes Leben hinter sich, als sie 1934 die Leitung des Erholungsheims für den Jüdischen Frauenbund übernahm. Nachdem die Nationalsozialistische Partei 1932 die Mehrheit im Stadtparlament in Breslau erlangte, wurde ihr als Dezernentin der Schulkinderfürsorge im Jungendamt gekündigt, wie übrigens allen jüdischen Angestellten aus der Verwaltung. 1934, geschieden und arbeitslos, ging sie mit ihren drei Kindern nach Berlin, wo sie bereits 1915 bis 1916 Sozialpädagogik studiert hatte, und suchte nach einem Neuanfang.

Dieser Neuanfang sollte ihr gesamtes weiteres Leben prägen, gerade auch im Exil, in das sie letztlich flüchten musste. Noch 1965 bezeichnete sie Robert Weltsch, der Direktor des Leo Baeck Institute London als „Fürstin von Lehnitz“. So lebte diese eindrucksvolle Frau ein unabhängiges Leben und half vielen anderen Frauen und Kindern in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung und in den Wirren des Zweiten Weltkriegs mit Beharrlichkeit und unermüdlichem Einsatz. Es gibt eine überschaubare Anzahl von Werken über das Jüdische Erholungsheim, aber bisher noch keine Biografie über seine Leiterin.

Biografien über Frauen sind gerade heute von großer Bedeutung, und es gibt eine Fülle von Herausforderungen und spannenden Fragen, die sich bei der Erstellung solcher Lebensgeschichten ergeben. Biografien werden manchmal als zweifelhaft angesehen, und diese Skepsis hat verschiedene Gründe. Doch sie sind keineswegs überflüssig.

Die Erzählung eines einzelnen Menschenlebens zeigt die Umstände und die Ereignisse, die dieses Leben formten. Das betrifft die historischen Gegebenheiten im Kleinen der lokalen Geschichte ebenso wie die Weltgeschichte im Großen. Eine Biografie berührt auch Fragen der Ethik, Authentizität, Berühmtheit und Empathie. Wie viel darf ich als Autorin aus dem Leben erzählen und wie kann ich es so beschreiben, dass es authentisch wirkt? Ist eine weniger oder nicht berühmte Frau interessant genug für meine Leserschaft und wie viel Empathie darf ich haben oder wie emotional darf ich schreiben, um Empathie zu wecken? Diese Schwierigkeiten machen moderne Biografien kompliziert, vorläufig und manchmal sogar heikel. Die Biografie als Literaturform stellt sich diesen Fragen.

Dieses Buch setzt sich speziell mit der Biografie einer Frau und den damit verbundenen biografischen Herausforderungen auseinander. Es wird Lücken und Unsicherheiten geben.

Das Besondere an Frauenleben liegt oft in dem, was am meisten verborgen ist. Die Zeit der ersten deutschen Frauenbewegung zum Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete für Frauen wie Frieda Glücksmann Wandel und eine enorme Chance, die sie voll ausschöpfte. Sie machte eine Ausbildung, sie studierte die neuen Ideen der Reform- und Sozialpädagogik in Berlin, sie war weiterhin berufstätig, als sie verheiratet war. Und mit drei Kindern und frisch geschieden ging sie zuerst nach Berlin und schließlich nach Lehnitz. Sie nutzte die Möglichkeiten als „Neue Frau“ in der Weimarer Republik, aber nicht, wie es inzwischen stereotyp im Film und Buch zu finden ist, als feiernde Trendsetterin mit Bubikopf. Als jüdische Frau begründete sie in Lehnitz nicht nur ein Erholungsheim für den Jüdischen Frauenbund und die Jüdische Gemeinde, sondern bot jungen Frauen die Chance, ihr eigenes Geld zu verdienen und dem nationalsozialistischen Deutschland zu entkommen. Sie schuf einen Rückzugsort für Kinder, um für wenige Momente den Schrecken der Verfolgung und der Gewalt zu vergessen. Nicht zuletzt fand sie für sich und andere eine Heimat, die sie den Rest ihres Lebens bei sich trug und noch Jahre später in Briefen beschwor.

Frauen-Biografien müssen oft von den ausgetretenen Pfaden abweichen und sich durch das „unvermessene Land in uns“ (George Eliot) bewegen. Durch die wichtige Forschung in der Frauen- und Geschlechtergeschichte können heute neue Zusammenhänge überhaupt erst erkannt werden. Frauen haben schon immer Anteil genommen an dem, was in der Welt passiert. Sie haben gearbeitet, geforscht, diskutiert, ihre Umwelt gestaltet und Einfluss genommen. Der Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte verdanken wir es, dass die Arbeit und die Werke von Frauen und queeren Menschen wieder sichtbar gemacht werden. Aus historischen Gründen wurden Menschen aus ihrer Vielfalt und Komplexität genommen und in eng gefasste Kategorien gesteckt: Mann, Frau, privat, öffentlich, dumm, hilflos, zart, stark, Heim und Herd, Werkstatt, liebevoll, hart. Diese Kategorien wirken immer noch nach; selbst wenn jeder und jede spürt, wie starr sie sind, gaukeln sie eine sehr bequeme „Ordnung“ vor. Dabei sind es die Schachtelpfade, in denen wir uns in Frauen-Biografien des 19. und 20. Jahrhunderts bewegen, weil sie gesellschaftlich vorgegeben wurden und sich die Geschichtsforschung lange weiterhin in ihnen bewegt hat. Doch dahinter liegt das unvermessene Land, die Komplexität von Menschen und jedes individuellen Lebens.

Die Frau, die in diesem Buch porträtiert wird, ist keine Berühmtheit, sie hat kein Interview oder Tagebuch hinterlassen, sodass wir nicht wissen, wie es ihr ging, als sie erfuhr, dass sie nicht mehr in ihr geliebtes Lehnitz zurückkehren, nicht zu ihrer Familie konnte – ihre Kinder waren versprengt an unterschiedlichen Orten, ihre Schwester in Berlin, ihre Mutter pflegebedürftig in Breslau. Uns bleibt verborgen, was sie fühlte, als sie in London neu begann und während des Zweiten Weltkriegs für ihre Familie und ihre Freundinnen und Freunde Rettungsseile spannte, um so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen. Sie war einer von unzähligen Menschen, die vor dem Nationalsozialismus in Deutschland flüchteten. Ihre Spur findet sich immer wieder kurz in einer Erwähnung oder in Briefen von anderen, doch ohne die Arbeit von Historikern und Historikerinnen wie Bodo Becker, den umfangreichen Nachlass im Archiv des Jüdischen Museums Berlin und die Zeitzeugeninterviews des Visual History Archive der USC Shoah Foundation hätten wir nur einen Schatten und einen Namen im Fluss der Geschichte, zu wenig, um die Person klar erfassen zu können.

Gerade deshalb ist es umso interessanter, Frieda Glücksmann, die vom Projekt „Frauenorte Brandenburg“1 gewürdigt wird und nach der eine Straße in Lehnitz benannt wurde, bei ihrem Kampf, auch ihrem Scheitern und ihren schönen Momenten zu begleiten, ihre Wegbegleiterinnen kennenzulernen und ihrem Leben Bedeutung zu verleihen.

Es ist wichtig zu betonen, dass Biografien und die Diskussion über Biografien immer die Interpretation von Individuen beinhalten. Biografien ermöglichen es, die einzigartigen Lebensgeschichten von Frauen wie Frieda Glücksmann hervorzuheben. Doch in diesem Band kann nicht alles in der notwendigen Tiefe und Umfang abgebildet werden. Das liegt – neben dem Versuch, dieses Buch so lesbar wie möglich zu halten – auch daran, dass es nur eine überschaubare Forschung zu ihr gibt und auch das umfangreiche Archivmaterial in Berlin, im Stadtarchiv Oranienburg und unter anderem auch in der Wiener Library in London darauf wartet, eingehender untersucht zu werden.

Ein grundlegender Konflikt, der die Biografie durchzieht, ist die Balance zwischen Fakten und Interpretation, zwischen Wahrheit und künstlerischer Freiheit. Verfasse ich eine Biografie, stehe ich vor der Herausforderung, die Wahrheit zu erzählen und gleichzeitig zu inspirieren. Frieda Glücksmanns Lebensweg nachzugehen, hat mir gezeigt, dass selbstständige, „starke“ Frauen kein Novum sind, sondern in unserer Geschichtsschreibung lange vergessen oder verschwiegen wurden. Eine meiner Lieblingsanekdoten stammt aus ihrer ersten Zeit in London: Ein britisch-jüdisches Ehepaar finanzierte ein Hostel für zwölf jüdische Kinder aus Deutschland und stellte Frieda als Leitung an. Sie und das Ehepaar schienen hin und wieder Probleme miteinander zu haben; ich vermute, Frieda war es auch gewohnt, ihre eigene Chefin zu sein. In einem Brief berichtet der Ehemann, wie er sich mit Frieda traf und ihr erklärte, dass in Großbritannien nicht im Morgenmantel gefrühstückt werde – zumindest nicht außerhalb des Familienkreises. Sie kannte diesen kleinen Unterschied nicht, ließ sich aber nicht davon beeindrucken, das Hostel weiter in ihrem Sinne zu führen. In einem Brief von 1939 schrieb sie von einem „little Lehnitz“, das sie mit ihren Kolleginnen betreibe. Gemeint ist damit Dr. Schlesinger’s Hostel, doch für sie war es eigentlich nur eine „äußere Form“.

In dem gleichen Brief erzählt sie davon, wie sich Heimat anfühlt, nachdem sie die letzten fünf Monate in 23 unterschiedlichen Unterkünften verbrachte, und über das Abenteuer beim Kochen in dieser fremden Umgebung, das Einkaufen von Fleisch, „von steak und beef, die eine fremde Sprache sprechen“.

Brief von Frieda Glücksmann an Freunde in Deutschland, London, 9. März 1939, Papier, Schreibmaschine.

Als Historikerin bin ich es Ihnen, den Lesern und Leserinnen, aber auch meinem Berufsstand schuldig, gewissenhaft mit Akten, Augenzeugenberichten, Büchern und anderen Quellen zu arbeiten, um alle Daten korrekt wiederzugeben. Ich habe alles nach bestem Wissen und Gewissen und Erfahrung recherchiert und wiedergegeben. Sollten sich dennoch Fehler eingeschlichen haben, sind es allein meine, und ich freue mich über einen Hinweis.

Als Autorin möchte ich ein unterhaltsames Buch schreiben, das Interesse und Empathie weckt. Mein wichtigstes Anliegen ist es, diesen Teil jüdischer Geschichte greifbar zu machen und Ihnen nahezubringen, denn ich glaube daran, dass diese Lebensgeschichten und die Begegnung auf Augenhöhe uns am meisten übereinander beibringt und uns auch viel über uns selbst beibringen kann.

Als Mensch möchte ich der Frau, von der ich schreibe, ein würdiges Denkmal setzen und ihr und ihren Nachfahren gerecht werden, um ihre Erinnerung wachzuhalten.

Diese Frau, von der ich schreibe, heißt Frieda Glücksmann.

  1https://frauenorte-brandenburg.de/.

Breslau

Frieda Glücksmann ist der Nachwelt als eine Frau Brandenburgs bekannt. So erinnert etwa das Projekt „Frauenorte Brandenburg“2 an ihr Leben in Lehnitz. Doch bevor sie nach Lehnitz kam und dort ein Heim und ihre Heimat schaffte, hatte sie ein gänzlich anderes Leben, das bisher im Hintergrund geblieben ist. Lehnitz war für Frieda Glücksmann keine Notlösung, sondern eine Heimat vom ersten Moment, in dem sie das Wäldchen und den See sah, an dem sich das Haus befand. Als sie in Lehnitz ankam, war sie bereits über vierzig Jahre alt. Davor hatte sie über zehn Jahre in ihrer Geburtsstadt Breslau als Dezernentin in der Jugendfürsorge gearbeitet. Sie wurde von den Nationalsozialisten entlassen, weil sie Jüdin war, und musste allein mit ihren drei Kindern nach Berlin umziehen.