Frieden auf vergangenen Wegen - Morgan Maiosi - E-Book

Frieden auf vergangenen Wegen E-Book

Morgan Maiosi

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Beschreibung

Mora, eine spirituelle Frau mittleren Jahres auf der Suche nach Wegen aus einer tiefen Lebenskrise, mietet sich für unbestimmte Zeit in einer einfachen Hütte an einem Fluss ein und beginnt mit der Kamera Türen der Fotokunst zu öffnen. In Fanni, einem kleinen Mädchen, trifft sie sich selbst und erlebt noch einmal, welch tragisches Schicksal ihr einst widerfuhr. Am Fluss begegnet ihr Michael, ein hochspiritueller Mann, den sie über viele Leben kannte und verloren glaubte. Wie schon einst erweist er sich erneut als ihr geistiger Lehrer. Auf diesem Wege begleiten und beschützen sie gemeinsam die zerbrechliche Seele des Kindes, die durch ein langes Tal der Finsternis getrieben wird. Wie in einem Taifun wird ihr Leben von einer Seite zur anderen geschleudert, doch nur um sie als Kriegerin des Lichtes und der Liebe für ihre Lebensaufgabe zu stärken. Mora, die ihre schamanischen Fähigkeiten auch in dieses Leben mitgebracht hat, fühlt sich auf besonders innige Weise zur großen Mutter Erde hingezogen und sieht die Heilung ihres geliebten Planeten nur über den Weg der Liebe.

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Inhalt

Die Ankunft

Die erste Begegnung

Fotografische Entdeckung

Bräuche und Aberglaube

Eine Vertraute

Kritische Zeiten

Friedrichs Unglück

Die neuen Siedler

Meditation am Fluss

Umzug

Reflexionen

Auszug aus dem Keller

Klopfzeichen

Ausstellung

Der verhängnisvolle Winter

Die Rückkehr

Das Rösslein

Freundschaften

Der Sturm

Der Karren

Wolfsfrau

Folgenschweres Spiel

Der Besuch

Flucht

Kunst

Firmung

Evas Tanz

Gero

Kein eigenes Reich

Die innere Familie und mehr

Ottos Wandlung

Alma und Pit

Die endlose Nacht

Gespielte Normalität

Martyrium

Visionssuche

Machtlosigkeit

Falle

Die ersten Briefe

Steine der Erde

Tarot

Fannis erste Liebe

Die Entscheidung

Fannis Besuch

Michael

Baum der Weisheit

Hölle auf Erden

Hildes Heimgang

Marthas Flug

Mit dem eigenen Fluss

Befreiung

1. Die Ankunft

Hier musste sie der Beschreibung nach irgendwo sein. Das schwache Licht meiner Scheinwerfer schaffte es kaum, die Schwärze dieser Nacht zu durchbrechen, Mond und Sterne hielten sich hinter Wolken verborgen. Ich war am Rande eines Dorfes gelandet, nicht in einer Stadt, wo die Nächte in einer Scheinhelligkeit erstrahlten.

Ich holperte einer Ungewissheit entgegen, die mich ängstigte. Diese Dunkelheit hier war echt. »Bio-Nächte« würden mich erwarten, versprach die Vermieterin, deren Hütte ich für unbestimmte Zeit gemietet hatte. Sie stünde direkt am Fluss, nach dem auch dieses Tal benannt wurde. Sein Rauschen und sein Geruch, dieser jedoch nur bei ungünstiger Witterung, würden mich das Ziel kaum verfehlen lassen, damit ergänzte sie die Wegbeschreibung. Das Rattern meines Gefährtes übertönte jedes Wasserrauschen, außerdem bezweifelte ich, dass der angedrohte Geruch gegen den des Auspuffes eine Chance gehabt hätte. Um ganz sicher zu gehen, stellte ich den Motor ab und hörte tatsächlich aus der Ferne dumpfes Wassergurgeln. Nach einer scheinbar endlosen Fahrt erreichte ich ruckelnd die Hütte am Fluss, dessen Ufer nun für einige Zeit mein Zuhause werden würde. Vergebens fingerte ich im Handschuhfach nach Streichhölzern, fand dann zum Glück ein Feuerzeug in meinem Rucksack.

»Wir haben Oktober, die Tage und Nächte rücken dem Winter entgegen«, sagte die Besitzerin und dass ich selbst für Brennmaterial sorgen müsste, sie hätten nur für heute etwas neben den Ofen gelegt.

Sollte das wirklich meine neue Adresse werden? In dieser Nacht zweifelte ich daran. Ich fühlte mich hundeelend und allein.

»Den Schlüssel finden Sie unter der Regentonne. Wenn sie voll sein sollte, werden Sie Kraft brauchen, um sie anzuheben. Morgen früh komme ich vorbei, um Ihnen alles andere zu zeigen«, sagte die Vermieterin knapp. »Ein Bett steht unten, eines oben in der Kammer. Bettzeug sollten Sie dabei haben, ansonsten ist das Nötigste vorhanden. Strom haben wir seit einem Jahr, und sogar ein Bad mit Dusche und Klosett haben wir einbauen lassen.«

Bevor sie sich für mich entschied, telefonierten wir einige Male, sie hatte meinerseits lange Bedenken. Ich war eine aus der Stadt, derzeit ohne eigenes Einkommen, getrennt lebend, gesundheitlich angeschlagen. Für eine katholische Gemeinde, wie die hiesige, eine riskante Mischung. Sicherheiten konnte ich ihr wahrlich nicht bieten. Zuletzt genügte jedoch die schriftliche Erklärung meines Mannes, für die Mietkosten aufzukommen. Ich schien tatsächlich ein Problem darzustellen, sogar wenn es um die Vermietung einer Holzhütte ging, die schon lange leer stand. Es war nicht die erste Bleibe, um die ich mich bemühte, es gab Gegenden, die mir besser gefielen, doch die geistige Führung sah meine Aufgabe wohl genau hier. Grund genug, sie anzunehmen.

Zum Glück war die Regentonne nur wenig gefüllt, der Schlüssel, zusammen mit einigen Regenwürmern, schnell auszumachen. Meine Hand glitt über die wunde, nackte Erde. Ich war angekommen.

Es gab noch eine Menge zu tun, bevor ich mich ausruhen durfte. Das Innere der Hütte war dank der funktionierenden Glühbirne, die ohne Lampenschirm armselig in einer Fassung baumelte, hell erleuchtet. Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen Raum, möbliert mit einem älteren Küchenbuffet, E-Herd, altem mächtigen Eichenesstisch und einem unpassenden, heruntergekommenen Campingklappstuhl davor. Über dem hellbraunen, geschnitzten Holzbett hing ein Bücherregal mit ein paar zurückgelassenen Werken über heimische Berge und Täler. Holzböden, Holzwände, Holzmöbel. In einer Ecke ein gusseiserner Ofen, die einzige Heizquelle für die Hütte. Das neu eingebaute Badezimmer wirkte wie ein Fremdkörper. Als läge eine glänzende Kachel zwischen Flechten, Moos, Fichten und Tannen. Über eine steile, schmale Stiege erreichte ich das obere Reich. Das zweite Bett stand unter der Dachschräge, an einer der Stirnseiten ein weißer Kleiderschrank, eine Holztruhe an der anderen.

Die Seele der Hütte musste einiges an Leid erfahren haben, eine kalte grobe Energie durchzog die Räume, wie ich sie aus meinen Arbeiten mit Klienten kannte, die schwere Krankheiten mit sich herumschleppten, oder wie sie in Wohnungen zu fühlen war, in denen Gewalt geherrscht hatte. Überall, wo Liebe fehlte.

Wer weiß, was hier geschehen war. Mir war mulmig zumute.

Gerne wäre ich auf der Stelle von hier geflohen, doch nach langem Ringen siegte die Vernunft. Behutsam packte ich meine Reinigungsutensilien aus, zündete Holzkohle an, nahm eine Handvoll Kräuter und Harze und verteilte sie auf der Glut. Gierig sog ich den Rauch ein, er gab mir das Gefühl, einen Schutzmantel um mich zu haben. Ich öffnete Fenster und Türen, zündete Kerzen an und begann mit der heiligen Schwanenschwinge den Rauch in Ecken, unter Schränke und Betten zu verteilen. Hier hielt sich verborgen, was das Licht scheute. Leise stimmte ich die Melodie an, die auch meine Ahnen schon gesungen hatten, wenn sie gute Geister riefen. Erst danach war es möglich, mich auf die Nacht einzulassen.

Der große Geist würde mich nicht ohne Grund in die Einfachheit entsandt haben.

Die erste Nacht war durchzogen von Wachzeiten mit Grübeleien und Tiefschlafphasen, in denen ich mir als Kind begegnete. Das Bettzeug war klamm, die dreigeteilte Matratze hart. Ich sehnte den Morgen herbei.

»Die Sonne muss erst über die Alm.« So lautete die Antwort der Vermieterin auf die Frage, wann es wohl hell werden würde. Warum stellte ich die Frage nach dem Sonnenaufgang überhaupt? Was taugte ich noch als Schamanin?

Übernächtigt schlich ich die Treppe hinunter, um mir Kaffee zu kochen. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, blickten zwei müde blaugraue Augen in einem zerknitterten, blassen Gesicht zurück. Dass ich erst einheizen musste, alles in der Hütte in Kälte erstarrt schien und nur darauf wartete, von mir erwärmt zu werden, ließ erahnen, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen würde.

»Es kann vorkommen, dass die Zufahrt zur Hütte unter Schneemassen begraben ist. Dann rufen Sie am besten an, mein Mann holt Sie mit dem Traktor ab.« »Und weiter?«, wollte ich fragen, tat es aber nicht. Es würde nicht dazu kommen, und wenn, würde ich mir schon einen Weg bahnen. Der Gedanke bei Fremden wohnen zu müssen, und sei es nur für einen Tag, ließ mich erschaudern. Ich war hier, weil ich es mit keinem mehr aushielt. Menschen wollte ich fürs Erste aus dem Weg gehen.

Ich hatte den Vermietern bewusst verschwiegen, dass ich schamanisch ausgerichtet war und dass ich mich erst einmal selbst wieder finden musste.

Nach mehreren dilettantischen Versuchen gelang es mir, Feuer im Ofen zu entfachen, das kräftig genug war, um es mit einem Holzscheit aufzunehmen. Als ich endlich im alten Campingstuhl saß, den ersten Schluck heißen Kaffee trank, wurde es draußen langsam hell. Ich wollte vorerst nicht darüber nachdenken, welche Anlässe mich hierhergeführt hatten. Es zog mich ins Freie. Erst wollte ich die große Mutter begrüßen, die mich hier aufnahm und die nächsten Schritte hier tragen würde. Dankbar wollte ich die vergangene Nacht verabschieden und den neuen Tag in mein Leben lassen. Nichts ist und war selbstverständlich. Blut pulsierte noch in meinen Adern, der große Geist gab mir nach wie vor seinen Herzschlag. Ich wollte nicht eines Tages zurückblicken und den Anfang des Weges noch erkennen.

Das erste Dämmerlicht, Zeitenwechsel, eine neue Chance etwas zu lernen und zu verändern. Die Luft war kalt und klar, der Atem sichtbar. Ich lebte!

Erste Lichtstrahlen trafen auf das Tal und ließen die Silhouette des mächtigen breiten Bergrückens erkennen. Auf dem Fluss tanzten leuchtende Sterne. Träge und nachtschwer zog das Wasser an mir vorüber. Bald würde ich Kontakt mit seinem Geist aufnehmen und ihn bitten mich zu lehren. Die Sonne hatte sich über den höchsten Punkt des Berges geschoben und leuchtete nun auf ein großes Maisfeld, das direkt vor mir lag. In den ersten, bereits abgeernteten Reihen zogen sich Reifenspuren bis hierher. Ich war heute Nacht tatsächlich vom Weg abgekommen.

Endlich konnte ich deutlicher wahrnehmen, was mich umgab. Zwei Höhenzüge bildeten den Saum des breiten Tales, nach Süden hin ragten in der Ferne schroffe, graue Felsen in den Himmel und in nördlicher Richtung erhoben sich sanft ansteigende grüne Almen. Am Flussufer waltete die Natur. Ein Dickicht aus Haselbüschen, dünnstämmigen Silberweiden, Erlen, Efeuranken, herbstdürre Waldreben und hohes Sumpfgras waren ineinander verwoben und verheddert. Schon jetzt wünschte ich mir, dass dies so bliebe und nicht eines Tages einer menscherdachten Ordnung zum Opfer fiele.

Ein Geländewagen rollte auf das Grundstück. Ich eilte zurück. Eine kleine, zierliche Frau schwang sich aus der Fahrerseite und hinkte mir entgegen. Ihr rechtes Bein war deutlich kürzer. »Frau Urben?«, fragte ich. Sie streckte mir energisch die Hand entgegen, ihr kräftiger Händedruck wirkte ehrlich.

»Wie war die erste Nacht?«

»Ich werde mich eingewöhnen müssen«, antwortete ich unsicher.

Dann humpelte sie vor und gab mir Zeichen, ihr zu folgen. Nebenbei deutete sie auf den Maisacker. »Der wird morgen geerntet, wir sind dieses Jahr im Verzug. Haben Sie schon einmal Maiskolben gesehen?«

Ich nickte.

Dann zeigte sie mir die Klärgrube und wies auf eine Markierung. »Wenn die Suppe hier angekommen ist, müssten Sie jemand bestellen, um sie zu leeren«, sagte sie salopp. Dann überreichte sie mir den Mietvertrag und eine Liste mit Adressen und Telefonnummern von Firmen und Ärzten aus der Umgebung. »Vielleicht brauchen Sie mal was. Meine Nummer haben Sie ja. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Zeit. Haben Sie noch Fragen?«

»Nein, vorerst nicht.«

Bevor sie sich in ihren Wagen hievte, drehte sie sich noch mal zu mir um und deutete mit der Hand in nördliche Richtung.

»Ich habe viele Pfauen. Wenn es Regen gibt, dann schreien sie besonders laut. Sollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie schon Pfauen gesehen?«

»Ja, und auch schon gehört. Machen Sie sich keine Gedanken. Danke für den Hinweis«, rief ich ihr zu.

Sie grinste, startete ihren Wagen und knatterte davon. Ich wünschte mir, dass sie meine Unsicherheit nicht bemerkt hatte.

Willkommen fühlte ich mich nicht. Die bestimmende, herrische Art dieser Frau prallte auf mein derzeitiges desolates Nervenkostüm. Sie strahlte Stärke aus, die mir früher ebenfalls nachgesagt und oft zum Verhängnis wurde. Im Laufe meines Lebens lernte ich viele Menschen kennen, die mit ihrer Schwäche bewusst kokettierten. Meist merkte ich dies zu spät, meine Hilfe war da längst zur Selbstverständlichkeit geworden.

»Du bist so stark, ich wäre gerne wie du. Du bist mutig und gehst deinen Weg.« Eingebrannte Worte bis in alle Ewigkeit. Stärke und Mut folgten Neid und Einsamkeit. Gedanken, die mich quälten und sich nur mühsam abschütteln ließen, besonders an diesem Morgen. Doch die Schritte auf dem Weg am Fluss entlang, das Rascheln des Herbstlaubes, hie und da leiser Vogelgesang und das stetige Plätschern des Wassers erreichten, dass langsam Ruhe in mein aufgewühltes Dasein einkehrte. Unsere Erdenmutter berührte mich mit ihrer Zartheit und Stille.

Wie sehr sehnte ich mich nach Sicherheit und Verlässlichkeit.

Behutsam nahm ich das herbstbunte Ahornblatt auf, das gerade vor mir auf die Erde schwebte und hielt es der Sonne entgegen. Mein Blick fiel auf das feine Adergeflecht, durch das noch vor wenigen Augenblicken der Saft des Lebens strömte. Das weiche, goldbraune Licht der Herbstsonne kappte die scharfen Spitzen meiner Gedanken. Augenblicke des Friedens, wie ich sie nur in der Natur finden konnte. Mit dem Blatt in der Hand schlenderte ich noch eine Weile neben dem Fluss in südlicher Richtung, bis ich an eine Brücke kam, über die eine asphaltierte Straße verlief und sich als erste Möglichkeit anbot, ans andere Ufer zu gelangen. Der Wanderpfad setzte sich auch hinter der Straße fort, eines Tages würde ich auf ihm weitergehen. Es war mittlerweile fast Mittag geworden. Auf dem Rückweg sammelte ich für die abendliche Ofenwärme ein paar dürre Zweige und kleinere Äste, noch wusste ich nicht, wie ich so über den Winter kommen würde. »Es gibt am Stadtrand eine Fabrik, die Pellets und Pressholzbriketts vertreibt und auch anliefert. Dann müssten Sie kein Holz mehr sammeln und hätten für den Winter ausgesorgt, zumindest für einen«, sagte Eva Urben am Telefon, nachdem ich sie wegen des Brennmaterials anrief. Sie nannte Namen und Telefonnummer, konnte mir jedoch keinen Preis nennen. Mein Budget war begrenzt, jedes Stück Brot, das ich mir kaufte, schmälerte meine Ersparnisse, von denen ich derzeit lebte. Immer wieder drängten sich Existenzängste vor, ich konnte mir nicht vorstellen, wie, womit und wann ich jemals wieder Geld verdienen würde. Zu viel war in der Vergangenheit geschehen, die Hoffnung sank mit jedem Tag, dass ich die nächste Zeit wieder zu Kräften kam. Das Vertrauen in meine Stärke und mein Können war auf eine harte Probe gestellt. Ob ich es noch einmal schaffte, mich aus dem tiefen Graben zu ziehen, war ungewiss.

Das Feuer im Ofen war erloschen, die herbstliche Kühle in der Hütte ließ mir keine Wahl. Am nächsten Vormittag fuhr ich auf den großen Hof der Papierfabrik, die aus Bäumen auch Heizmaterial herstellte. In der Hauptsache jedoch Kartonagen und Produkte aus Zellstoff, das mir ein freundlicher Mann während eines Rundganges erzählte. Er führte mich durch eine riesige Halle, in der es nach Schwefelwasserstoff roch. »Sie sind fremd hier?«, fragte er mich unverblümt, als wir die Besichtigung im Inneren beendet hatten und quer über den Hof marschierten, um sie außen fortzusetzen. Dabei deutete er auf mein Auto, das als Einziges auf dem Besucherparkplatz stand.

»Ja, ich bin gestern angekommen.«

»Wo wohnen Sie, wohin sollen wir liefern … sollte es zu einer Lieferung kommen?« Der Anblick der gigantischen Menge an toten Bäumen, die hinter der Fabrik darauf warteten, zu Kartons, Küchenrollen oder Taschentüchern verarbeitet zu werden, bestürzte mich. Ich fühlte mich mitverantwortlich für den Schmerz der großen Mutter. Nun stand ich hier und versuchte einen guten Preis dafür herauszuschlagen. Ich schämte mich und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Irritiert fragte der Mann nach meinem Befinden, doch es wäre sinnlos gewesen, ihm meine Traurigkeit zu erklären.

»Holzstaub«, sagte ich und wischte mir die Augen trocken.

»Ja, das kenne ich«, erwiderte er und reichte mir zwei Pakete Papiertaschentücher, die er triumphierend aus den Hosentaschen zog. »Kosten mich nichts, dürfen wir vom Band nehmen«, sagte er augenzwinkernd.

Unverrichteter Dinge fuhr ich zurück. Mittlerweile wusste ich auch, dass die Fabrik für den Geruch des Flusses zuständig war.

Noch lagen genügend herabgefallene Äste unter den Bäumen, ich könnte nehmen, was ich brauchte, denn das Land rundherum gehöre ihr, sagte Eva Urben bei ihrem gestrigen Besuch. Dabei deutete sie mit ihrem Zeigefinger stolz in jede Himmelsrichtung. Gerne würde ich ihr irgendwann meine Philosophie näherbringen, dass nicht wir die Erde besitzen, sondern sie uns ermöglicht, unsere Lektionen zu absolvieren.

Ich hatte keine Wahl und musste das Angebot annehmen, ihren Besitz zu verheizen, damit ich nicht fror. Zudem würde ich damit Kosten sparen.

Ich bat die große Mutter, mir von ihrem Holz zu schenken. Als Gegenleistung streute ich Kräuter, Mais oder Tabak auf die Erde.

Schon am Nachmittag begann ich damit, es heranzuschaffen und im kleinen Schuppen hinter der Hütte aufzustapeln. Drei Tage widmete ich allein dieser Tätigkeit. Im Gegensatz dazu verringerten sich meine mitgebrachten Vorräte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in einem der zwei Läden im Ort das Nötigste einzukaufen. Ich war menschenscheu geworden, außerdem hatte es sich herumgesprochen, dass jemand Fremdes in die Hütte eingezogen war.

»Kümmern Sie sich nicht um das Geschwätz der Leute hier, alles was neu ist, wird von oben bis unten beäugt. Sie werden sich schnell an Sie gewöhnt haben. Sind halt einfache Menschen, die von schwerer Arbeit leben. Mit mir haben sich die meisten auch arrangiert. Alle kriegt man nie auf seine Seite.«

Dies waren Sätze, die Eva Urben beiläufig aussprach.

2. Die erste Begegnung

Es gab zwei Wege zum Zielort. Der eine führte mitten durch die Siedlung, ein anderer direkt über das Gehöft von Eva Urben. »Ich würde an Ihrer Stelle anfangs den Weg durch das Krähenwäldchen wählen. Er ist zwar weiter, wird Ihnen aber besser gefallen.« So ihr zusätzlicher Tipp.

Zeitig machte ich mich auf den Weg. Nebelschwaden zogen auf den abgeernteten Feldern wie Schleier durch mich hindurch. Ich überquerte den gepflasterten Hof des Anwesens, ging vorbei an den Bäumen, auf den die Pfauen wie Spatzen saßen und herunterglotzten. Es roch nach Kühen, die gerade aus dem Stall auf die Weide getrieben wurden. Ein kleiner, schmaler, glatzköpfiger Mann mit gerötetem Gesicht lief um die Herde herum und klatschte den Tieren vereinzelt auf Hals oder Schenkel, um sie auf dem Pfad zu halten. Dabei bereitete ihm »Walli«, eine selbstbewusste, temperamentvolle Kuh, die größte Mühe. Wir winkten uns zu, als wären wir uns vertraut. Eine Geste, die mir guttat. Er schien zu wissen, wohin ich wollte, wies mit einer weiteren Handbewegung die Richtung ins Dorf. Bevor ich in den Wald einbiegen konnte, hatte ich ein paar Meter auf einer Bundesstraße zurückzulegen. Die Autos fuhren mit rasanter Geschwindigkeit dicht an mir vorbei, kaum jemand hielt es für nötig auszuweichen. Fußgänger und Radfahrer waren bei der Errichtung der Straße scheinbar nicht bedacht worden. Endlich konnte ich in das Stück Wald fliehen, das die Menschen hier seit ewigen Zeiten Krähenwald nannten, da unzählige Kolonien von diesen Vögeln hier brüteten und dem Ort bis heute treu blieben. Die alteingesessenen Bewohner des Dorfes lebten mit dem Lärm der schwarzen Vögel und auch in dem Augenblick, als ich in den Wald eintrat, herrschte aufgeregtes Gekrächze. Fasziniert blickte ich nach oben in das Geäst der Laubbäume, wo sich unzählige turmartige Nester in den Astgabeln befanden. Bedächtig schritt ich den verschlungenen Pfad entlang. Fichten teilten sich den Platz mit Lärchen und Kiefern, dazwischen ragten Buchen und Birken gegen den Himmel. Das bunte Herbstlaub bedeckte kleine moosbewachsene Hügel, dazwischen ragten grünes Farnkraut, Heidelbeersträucher, Walderdbeerkraut hervor und ließen diesen Ort märchenhaft erscheinen. Dass es hier Elfen und Zwerge gab, daran zweifelte ich nicht. Immer wieder strich ich über das weiche Moos, hob Baumfrüchte auf, um sie zu bestaunen. Sie lagen wie Schätze auf dem Waldboden verstreut. Ich atmete den Duft der Erde tief in meine Lungen. In diesem Moment hatte mich die große Mutter zu sich eingelassen, ich fühlte die Erlaubnis, Teil der Natur und des Waldes zu werden. In großer Dankbarkeit setzte ich meinen Weg fort, als ich ganz aus der Nähe Geräusche von knackenden Zweigen und raschelndem Laub hörte, dazu flüsterte eine Kinderstimme Worte, die ich nicht verstand. Regungslos harrte ich einige Minuten auf der Stelle, dann schob ich vorsichtig einen Zweig zur Seite und lugte in die Richtung, aus der das Stimmchen kam. Ein Mädchen, kaum älter als drei oder vier Jahre, hockte auf dem Boden zwischen Flechten und Reisig, daneben stapelten sich bunte Laubblätter und kleine dünne Zweige, fein säuberlich aneinandergereiht. Konzentriert baute sie mit Blättern und Hölzchen winzige Häuschen. Vorsichtig nahm sie mit ihren kleinen Fingern einen Käfer vom Boden auf, hielt ihn an den Mund, flüsterte ihm was zu und legte ihn unter das Blätterdach. Sie hatte mich nicht bemerkt und schien alles um sich herum zu vergessen. Noch stand ich versteckt hinter einem Baum und beobachtete jede Bewegung dieses Kindes, bis ein schriller Schrei diesen Zauber zerstörte. »Fanni«, brüllte eine Frau aus der Ferne. Das Kind ließ alles aus den Händen fallen und eilte mit kurzen schnellen Schritten aus dem Wald in die Richtung, die auch meine war. Doch zuvor betrachtete ich die Laubgebilde näher. Vier an der Zahl reihten sich aneinander – wie Reihenhäuschen, ausgekleidet mit Moos und trockenem Gras. Es schien öfter hierherzukommen und ich hoffte, den Platz mit meiner Neugier nicht entweiht zu haben.

Etwas Seltsames ging in mir vor. Ein intensives Gefühl der Verbundenheit und des Berührtseins hielt mich hier fest. Wer war dieses Kind, das für Käfer Häuser aus Blätter und Zweigen baute und mit ihnen sprach? Ich hoffte sehr, ihm noch öfter in diesem Wald zu begegnen.

Mit realen Kindern hatte ich in meinem Leben nur wenig Erfahrung, umso mehr mit den inneren Kindern Erwachsener.

Vielleicht würde ich im Laufe der Zeit herausfinden, was dieses Mädchen so besonders erscheinen ließ.

Der Pfad endete am Waldesrand und führte mich auf eine schmale Straße. Auf der einen Seite reihte sich Haus an Haus, dahinter führte eine weitere Straße durch den alten Dorfkern.

Noch hatte ich die Worte Frau Urbens im Ohr: »Wenn Sie aus dem Wald sind, gehen Sie rechts bis zur Bundesstraße, an der Ecke sehen Sie eine Tankstelle, das erste Geschäft liegt versetzt dahinter. Wenn Ihnen jemand dumm kommt, grüßen Sie ihn herzlich von mir.« Sie schien sich für mich verantwortlich zu fühlen.

Nach weiteren zehn Minuten stand ich vor dem Laden, eine Menge Leute gingen ein und aus, keiner schien von mir Notiz zu nehmen. Den Rucksack bis zum Rand mit unverbindlichen Dingen wie Mehl und Nudeln, Kartoffeln und Brot gefüllt, verließ ich das Geschäft.

»Eine gute Zeit hier im Ort. Wenn Sie was brauchen sollten …«, rief der Ladenbesitzer mir freundlich hinterher. Es klang ehrlich, aber ich glaubte den Menschen nicht mehr. Gut gemeinte Vorschläge oder Hilfsangebote verstand ich schnell als Einmischung oder als Unterstellung, mir nichts zuzutrauen.

Kurz bevor ich wieder im Wald verschwand, winkte mir eine Frau zu, die die Dorfstraße entlanggeradelt kam. Sie trug eine grün-blau karierte Kittelschürze, die sie hochgerafft mit der Hand festhielt, und mühte sich ab, das Fahrrad geradeaus zu steuern. »Warten Sie«, rief sie von Weitem. Schmunzelnd wartete ich. Auch der Abstieg schien eine Hürde darzustellen, sie ließ den Zipfel ihrer Schürze los und hüpfte noch während der Fahrt vom Sattel. Die letzten Meter strauchelte sie mir entgegen, besorgt lief ich ihr entgegen und fing sie mit den Händen auf.

»Sie dürfen nicht denken, dass ich alles so schlecht kann wie Radfahren.« Eine Frau um die sechzig, das schlohweiße Haar als geflochtenen Kranz um den Kopf gewunden, lachte mir entgegen. »Mein Otto hatte die Schnapsidee, mir in meinem Alter das Radfahren beizubringen. Als Kind hatte ich nicht die Gelegenheit. Nun übe ich schon seit Wochen und dies war meine erste größere Fahrt, auch nur weil ich Sie kommen gesehen hab.« Sie drehte sich um und deutete auf ein fahlgelbes Haus, etwa zweihundert Meter von hier. »Da wohnen wir: Otto, Hilde und ich. Hilde ist unsere Ziege und verwöhnt wie ein Einzelkind. Ach ja, und ich heiß Martha. So nennen sie mich alle hier. Wir waren die ersten, die hier bauten, da gab es diese Straße noch nicht. Von meinem Schlafzimmer kann ich Ihre Hütte sehen, seit ein paar Tagen stieg Rauch aus dem Kamin. Und nun kam meine Nachbarin angerannt und erzählte, dass Sie bei Buggelmeier einkaufen waren. Da ich Sie nicht verpassen wollte, blieb mir keine Wahl als das hier«, und zeigte auf das Fahrrad. Wir lachten beide. »Bei Eva Urben sind Sie gut aufgehoben, wir verstehen uns gut.« Marthas direkte Art gefiel mir. Sie glich einer Hünin, ich schätzte sie auf eins achtzig. Sie redete und gestikulierte, ich beobachtete und lauschte den stillen Worten zwischen den lauten Sätzen.

»Wie lange wollen Sie bleiben?«, fragte sie direkt.

»Ich bin erst vor fünf Tagen gekommen. Ein paar mehr sollen es schon noch werden.«

»Woher kommen Sie?«

»Hamburg.«

»Und dann hierher?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir von der Stadt? Früher wollte ich gerne mal nach Hamburg. Otto sagte, dass es da nur die Reeperbahn gäbe, und was ich da wollte. Jetzt bin ich zu alt für so etwas, man gibt sich mit der Neugier zufrieden.«

»Langsam muss ich«, sagte ich, »der Rucksack zieht schon mächtig. Bitte entschuldigen Sie.«

Sie bot mir an, ihn auf das Rad zu laden, der Weg zur Hütte wäre über die Straße durchs Dorf eh viel kürzer, aber ich lehnte ab. Ich erklärte, wie gerne ich zu Fuß ging und heute den Weg durch den Wald bevorzugte.

»Otto und Hilde werden auch schon warten. Geben Sie mir noch einen Schups?«

Sie faltete wieder ihren Schürzenzipfel, klemmte ihn zwischen Hand und Lenker und schwang sich auf das Gefährt. Ich stieß sie ab.

Während sie sich bemühte, nicht von der Straße abzukommen, rief sie laut: »Ich hab Sie nicht einmal nach Ihrem Namen gefragt.«

Auf dem Heimweg dachte ich über die Begegnung mit Martha nach. Als ich am Spielplatz des Mädchens vorbeikam, spürte ich, dass alles seine Richtigkeit hatte.

Jeder Mensch, der mir hier begegnete, jeder Weg, den meine Füße betraten, jeder Baum, dessen Rinde ich berührte, jede Blume, die hierhergesandt war, um zu blühen, würde mir helfen, mich zu finden.

Die Pfauen hatten ihren Schlafplatz auf dem Baum inzwischen verlassen und stolzierten auf dem Hofgelände umher. Sie schienen keine Angst zu haben, als spürten sie, dass man sie in Ruhe ließ, denn sie waren Eva Urbens ganzer Stolz.

Obwohl mir das Feuermachen inzwischen besser von der Hand ging, konnte ich meiner einfachen Behausung nichts abgewinnen. Ich träumte davon, in einer Luxuswohnung zu leben und der Sicherheit, mir das dauerhaft leisten zu können.

Ich verurteilte mich für diese Wünsche und fühlte mich einer Schamanin nicht würdig. Ständig schwankte ich zwischen müssen und wollen, Erlaubnis und Verbot. Was mir wahrhaftigen, ersehnten, inneren Frieden verschaffte, wusste ich nicht. Ich war hier, um es herauszufinden. Es war kaum Zeit vergangen, als ich im Wald Zuversicht spürte, genau an der Stelle, wo das Kind in seinem Spiel versunken war. Wohin war dieses Gefühl geflohen?

Ich sah mich in der Hütte um … Wie tief war ich gefallen? Wenn innerer Reichtum äußeren nach sich zog, hatte das hier nichts mit alldem zu tun. Sah es so in meinem Seelentempel aus? Ein Klappstuhl vor einem zerkratzten Eichentisch. Es gab in meinem Leben schon bessere Zeiten. Allen guten Ratschlägen zum Trotz blickte ich mehr nach hinten als nach vorne und trauerte dem Verlorenen hinterher. Ich hatte eine Schwäche für schöne, edle Dinge, ließ es mich was kosten, wenn es von guter Qualität war und ausgefallen genug. Mein Leben bestand aus Aufbau, Mühsal und plötzlichen Verlusten. Auch dieses Mal hatte mich das Schicksal von hinten überfallen und mir keine Chance zu handeln gelassen. Meine Lebensphilosophie, hinter allem einen höheren Sinn zu finden, geriet ins Wanken. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.

Die Nacht war kalt, kälter als die Nächte davor, ich fürchtete den Winter. Was, wenn die Kräfte nicht mehr reichten?

Es dauerte immer länger, bis es die Sonne über den Berg schaffte. Die Tage waren kurz, das Licht spärlich, auf den Bergkämmen leuchtete es schon länger weiß, doch an diesem Morgen war die Schneegrenze deutlich gesunken.

Frau Urben kam früh, der Raum kaum geheizt, ich bot ihr den Campingstuhl an und lud sie auf eine Tasse Tee ein. Sie schüttelte sich, tränke Tee, nur wenn sie krank wäre, und schon gar nicht ungesüßt. Ob ich nicht wenigstens Instantkaffee hätte. Sie strahlte, als ich ihr einen dampfenden Becher voll davon reichte. Ich blieb am Türrahmen angelehnt stehen.

»Schon verdammt kalt. Der Ofen bringt´s wohl auch nicht mehr so richtig. Müssen uns was überlegen. Sie sollen ja nicht erfrieren«, sagte sie und hielt sich am heißen Becher fest. »Haben Sie schon Bekanntschaft mit Leuten im Dorf gemacht?«

»Nur mit Martha. Martha …«

»Ach, die gute Martha, das hätte ich mir denken können. Bauer heißt sie mit Nachnamen. Martha ist in Ordnung. Und unser Mädchen für alles, Herr Sterner erzählte, er habe sie über den Hof laufen sehen, als er die Kühe auf die Weide trieb. Er lebt mit Frau und Tochter im dunkelbraunen Holzhaus, sie sind direkt daran vorbeigegangen. Frau Sterner hat sich auf Fuchsien spezialisiert, im Sommer stehen überall Kübel herum, mit den tollsten Sorten. Sie werden sehen, so verkehrt sind die Leute hier nicht.«

»Daran zweifle ich nicht.«

Sie raffte sich auf, brachte den Becher zur Spüle, blickte kurz aus dem Fenster.

»Bald wird Schnee in den Fluss fallen«, sagte sie melancholisch. Dabei tätschelte sie den Oberschenkel ihres kurzen Beines. »Mein Barometer.«

Bevor sie ging, sah sie sich in der Hütte um. »Brauchen Sie Äpfel für den Winter?«

»Aus eigenem Bestand?«, erkundigte ich mich.

»Die Bäume hinter dem abgeernteten Maisfeld gehören alle zum Gut. Es sind noch alte Apfel- und Birnensorten. Hinter meinem Haus steht noch ein Maulbeerbaum. Haben Sie schon mal Maulbeeren gegessen? Wir lassen die Bäume wachsen, wie sie wollen, manchmal tragen sie viel, manchmal wenig. Dieses Jahr war gut was dran.«

»Ja, ich kenne Maulbeeren. Ob Sie’s glauben oder nicht, sogar am Hamburger Hafen stehen Maulbeerbäume. Aber ich kenne sie auch aus meiner Kindheit.«

»Sollte ich mich in Ihnen geirrt haben?«, fragte sie und humpelte zur Tür hinaus.

»Morgen bringe ich Ihnen ein paar vernünftige Stühle vorbei.«

Eva Urben gab sich Mühe, nach und nach bekam ich zwei stabile Holzstühle, einen Heizradiator und eine neue Matratze.

Es war Anfang Dezember. Das Land lag unter einer dünnen Schneeschicht. Mein Radius hatte sich nicht nennenswert erweitert. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, ging ich zu Buggelmeier, ansonsten begnügte ich mich mit dem Weg am Wasser. Der Fluss war mir längst ein Freund geworden, oft stand ich am Ufer und lauschte. Die Menschen waren in Vorweihnachtsstimmung. In den Fenstern leuchtete es in allen Farben, in manchen Vorgärten hingen bereits Lichterketten. Fanni ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Wenn ich durch den Wald stapfte, schielte ich an die Stelle, wo ich sie spielen sah, und hoffte, sie bald wiederzusehen. Gerne hätte ich Näheres über sie erfahren.

An diesem Morgen sollte der Weg mich direkt durch die Siedlung führen, ich fühlte, dass es an der Zeit war, mich den Menschen hier zu zeigen. Bis zu den ersten Häusern gab es keinen öffentlichen Weg, ich stolperte über das abgeerntete Maisfeld und überquerte die Wiese mit den alten Obstbäumen der Urbens. Immer wieder rutschte ich auf gefrorenen Äpfeln aus, die zu spät vom Baum gefallen waren.

Die Kälte hielt die meisten Menschen in den warmen Stuben. Bald erreichte ich Marthas Haus, die Ziege stand im Garten und nagte an der Rinde eines Astes, den man ihr hingelegt hatte. Außer einem rötlichen Bärtchen war sie fast weiß, alles an ihr schien gepflegt, ihr Fell gekämmt, die Hörner poliert. Ich sprach sie an und erreichte, dass sie an den Zaun gestakst kam. Während ich ihren Kopf kraulte, klopfte es an der Scheibe. Martha gestikulierte, ich solle warten. Die Kittelschürze über dem Arm, kam sie aus dem Haus geeilt. »Ich freu mich Sie wiederzusehen. Oft hab ich an Sie gedacht. Es ist bald Weihnachten, haben Sie schon einen Baum in Aussicht? Otto hat seine Quellen, wenn Sie wollen, sag ich ihm Bescheid.«

»Das ist wirklich sehr nett, aber ich mache mir nicht so viel aus Weihnachten.«

»Wie, Sie machen sich nicht so viel aus Weihnachten, sind Sie keine Christin? Glauben Sie nicht an die Geburt Jesu?«

»Oh, doch.«

Martha merkte, dass sie zu weit ging, und lenkte ein. »Hilde geht nicht zu jedem, von Ihnen will sie gar nicht mehr weg.«

»Ich liebe Tiere.«

»Dabei wollte ich Sie gerade zum Kaffee einladen. Ich habe jetzt schon so viele Kekse gebacken, aber wenn Sie Weihnachten nicht mögen …« Sie wirkte enttäuscht.

Es war ein kritischer Moment, ich wehrte mich, in die alte Fahrrinne zu gelangen und mich fremdbestimmen zu lassen.

»Danke. Wir haben noch so viel Zeit. Es ist ja noch nicht mal Nikolaus.«

Martha senkt ihren Kopf, sie stand vor mir, wie ein Schulkind, das sich schämt.

Sie schlüpfte in ihre Kittelschürze und murmelte: »Ihren Namen weiß ich immer noch nicht.«

»Ich heiße Mora.«

»Martha – Mora, klingt irgendwie ähnlich«, fand sie und grinste breit.

»Ist Mora eine Abkürzung?«

»Nein.«

Mora war mein schamanischer Name, doch ihr davon zu erzählen, erschien mir zu früh.

»Sie gehen heut das erste Mal durchs Dorf? Dann sehen wir uns in Zukunft öfter?«

»Möglich.

»Morgen ist Nikolaus. Passen Sie auf, es könnte am Abend laut werden. Verriegeln Sie Ihre Fenster gut.«

Wir trennten uns, Hilde musste an den Hörnern weggezogen werden. Unser Gespräch am Zaun machte auch die Nachbarn neugierig, geschäftig werkelten sie an irgendwelchen Dingen am Haus oder im Garten und blickten verstohlen zu mir. Vermutlich hätte ich es an ihrer Stelle genauso getan.

3. Fotografische Entdeckung

Seit einigen Tagen nahm ich die Kamera mit nach draußen. Mein Mann schenkte sie mir, als er merkte, dass ich »das Auge« einer Fotografin besaß. Schon bald stellte sich heraus, dass Blätter mit zu meinen liebsten Motiven zählten. In ihnen erkannte ich die göttliche Vollkommenheit, als hätte sich das Schöpfungslicht darin verfangen. Ihre Einzigartigkeit wies auf die der Menschen hin.

Ohne Bäume gab es keinen Atem – kein Leben.

Mit jedem aufgenommenen Bild wurde ich demütiger. Uralte Seelen, die im Laufe der vielen Leben ledrig geworden waren, blickten mich an und waren unter ihrer schrundigen Haut noch immer verletzlich. Blätter, die Geschichten erzählten, von Genügsamkeit, Geduld und unausweichlichem Schicksal. Abend für Abend saß ich vor dem Bildschirm meines alten Computers und las aus ihren Gesichtern. Manche waren bis auf die Adern nackt. Von allen wirkten sie am edelsten. Vom Tod berührt, filigran und sensibel, wie aus einem vergilbten Brautschleier gerissen, lagen sie über dem Boden verteilt und ließen Efeu und Immergrün durch sich scheinen, als wäre es noch ihr eigenes Leben.

Schönheit begegnete mir in jedem Detail, jede Form, jede Farbe schienen durchdacht und beabsichtigt. Ich erinnerte mich an die Gleichung: Wie innen so außen.

Mit welchen Augen sah ich die Wunder der Schöpfung, und warum bewegte mich der Anblick eines Blattes so sehr?

Bis dahin war ich sicher, dass alles und jedes, dem wir begegneten, eine Spiegelung unseres Inneren war. Ich erkannte, dass unsere Herzensaugen beim Anblick einer Blume unsere innere Schönheit widerspiegelten und jedes zarte Blatt Teil unserer zerbrechlichen Seele darstellte. Alles war in Liebe entstanden. Ich fühlte mich dem Schöpfergott so nahe, wie lange nicht mehr.

4. Bräuche und Aberglaube

Es war Abend geworden, ich war so sehr in die Welt der Natur eingetaucht, dass ich kaum wahrnahm, was sich vor der Hütte zusammenbraute. Motorradgeräusche, Kettengeklirr, tierähnliche Laute holten mich unsanft in die Wirklichkeit zurück.

Jemand warf Steine an Scheiben und Tür. Ich befürchtete das Schlimmste. Viele Leben wurde ich als Außenseiterin gejagt und vertrieben, andersdenkend zu sein bedeutete heute noch Gefahr. Uralte Panikgefühle flammten wieder auf.

Intuitiv blickte ich zum Kalender, es war der sechste Dezember: Nikolaus oder Krampustag, wie man in dieser Region sagte. Martha hatte mich gewarnt, ich hatte ihre Worte nicht ernst genommen. Zwei Mopeds kreisten um die Hütte und ließen immer wieder den Motor aufheulen.

Jugendliche, die ihren Frust abreagierten, redete ich mir ein. Mutig schloss ich die Haustür auf und stellte mich demonstrativ in den Türrahmen. Das Licht vor dem Haus reichte aus, um zu erkennen, dass sie Fellanzüge mit langen Schwänzen trugen und schwarze Masken über das Gesicht gestreift hatten. Auf jedem der Motorräder saßen zwei von ihnen, die Hintermänner schleiften Metallketten hinter sich über den Boden. Mit einer inneren Gewissheit, dass mir nichts passieren würde, trat ich auf den Hof und versperrte ihnen den Weg. Wie ein Pfeil schossen sie an mir vorbei und pflügten durch das Maisfeld zurück ins Dorf.

Ich rechnete damit, dass sie wiederkamen, lag regungslos im Bett und lauschte, doch sie blieben weg. Erst gegen Morgen schlief ich ein. Eva Urben kam schon früh. Übernächtigt schlurfte ich die Treppe hinunter, um ihr zu öffnen.

»Sie brauchen mir nichts zu erzählen. Ich sehe, dass sie auch bei Ihnen waren. Wie viele?«

»Vier auf zwei Motorrädern.«

»Fellklamotten, Schwänze und schwarze Masken?«

»Ja, genau.«

»Könnten sich mal was anderes ausdenken, tragen seit Jahren dieselben Sachen, uns jagen sie damit keinen Schrecken mehr ein, aber Sie waren ein gefundenes Fressen. Ich hätte Sie vorbereiten müssen. Und dann die armen Kinder natürlich.«

»Martha hatte mich gewarnt, aber ich habe es unterschätzt. Und was meinten Sie mit den armen Kindern?«, wollte ich wissen.

»Mit dem Nikolaus kommt hin und wieder auch der Krampus mit in die Wohnung, um die Kinder zu bestrafen, die das Jahr über nicht artig waren. Sie rasseln laut mit den Ketten, schimpfen mit den Kleinen und bringen statt Süßigkeiten Ruten mit. Es dauert Tage, bis sich die Kinder beruhigen, und so mach eines fürchtet sich ein Leben lang vor diesem Tag.«

»Warum lassen die Eltern dies zu?«

»Die haben ihn doch bestellt und wissen nicht, was sie damit anrichten. Es gibt natürlich auch andere Anlässe, warum die Gesellen um ein Haus schleichen. Mädels! Davor brauchen wir beide keine Angst mehr zu haben, aus dem Alter sind wir raus. Ist an der Hütte alles heil geblieben?«

»Soweit ich gesehen hab, ja.«

Eva Urben hinkte an dem Morgen mehr als sonst. Irgendwann würde ich sie auf ihr Bein ansprechen. Als sich beim Verabschieden unsere Blicke trafen, berührte mich ihre Schönheit, die unter den harten Gesichtszügen zu erkennen war. Ich fing ernsthaft an sie zu mögen.

Bei meinem Streifzug durch den Ort sah ich kaputte Fenster, mehrere Eingangstüren wurden beschädigt und Zäune heruntergetreten.

Martha kam gerade vom Einkaufen und wirkte besorgt. »Sehen Sie sich das mal an! Hier am Viermäderlhaus geht es immer so zu. Wenn ich nicht wüsste, wer hier sein Unwesen getrieben hat, hätte ich es mit der Angst gekriegt.«

Sie deutete auf das Haus an der Mündung des Waldpfades. Auf der Straße verliefen unzählige Reifenspuren kreuz und quer.

»Die waren außer Rand und Band, vier Mädchen in einem Haus, davon drei im besten Alter. Hoffentlich hat die Familie mit dem kleinen Mädchen, das oberhalb wohnt, nicht allzu viel mitbekommen. Sie sind erst vor kurzem hierhergezogen.«

»Was für ein Mädchen meinen Sie, wie sieht sie aus?«, erkundigte ich mich.

Sie ging nicht weiter darauf ein, stattdessen fragte sie mich, ob ich einkaufen gehen wollte.

»Warum fragen Sie?«

»Weil ich Sie sonst überredet hätte, Hilde guten Tag zu sagen und meine Weihnachtskekse doch noch zu probieren.«

5. Eine Vertraute

Ich wollte mehr von dem Mädchen wissen, zudem war mir Martha sympathisch, doch ihre Wohnung zu betreten, löste Unbehagen aus.

Einen Moment lang überlegte ich, dann versprach ich, nach dem Einkaufen auf einen Sprung vorbeizukommen. Sie schien sich darüber zu freuen. Wollte alles vorbereitet haben, Otto wäre auch schon auf mich gespannt.

Martha erwartete mich in einer neuen Schürze, in der Eile vergaß sie das Etikett zu entfernen und als ich ihr eine Packung Tee überreichte, leuchteten ihre Augen.

»Ich hoffe, Sie beide mögen schwarzen Tee«, sagte ich unsicher.

»Und ob, und dann so einen edlen. Danke.«

Sie bat mich in das Wohnzimmer, ihr Mann sprang hastig vom Sofa.

»Das ist Otto, mein Gemahl«, sagte sie förmlich und verschwand in die Küche, um Tee zu holen. Ein riesiger Teller, überfüllt mit unzähligen Kekssorten, stand bereits auf dem Tisch.

Otto verbeugte sich und deutete einen Handkuss an. »Gestatten, Otto Bauer.«

Die Situation versetzte mich in eine andere Welt. Ebenso gestelzt nannte ich meinen Namen. Steif setzte ich mich auf den angebotenen Platz, einen wuchtigen, blumengemusterten, altrosafarbenen Sessel. Otto beobachtete mich aufmerksam, wir redeten vom bevorstehenden Winter und vom Wetter allgemein.

Martha kam mit dem Tee und schmunzelte. »Waren Sie das mit der Möhre?«, und meinte damit Hildes Geschenk.

Ich nickte lächelnd.

Martha überragte Otto um einen halben Kopf. Neben ihr wirkte er schmalschultrig und zart. An diesem Nachmittag trug er einen hellgrauen Anzug mit dunkelblauer Krawatte und weißem Hemd. Unter der Anzughose blitzten schwarze blankgeputzte Lederhausschuhe. Er führte die Teetasse mit zwei Fingern zum Mund, als säße er am Tisch einer blaublütigen Runde. Ich versteinerte noch mehr. Ich erfuhr, dass er bis vor zwei Jahren Lehrer an der hiesigen Hauptschule war, und es gerne noch wäre. Sein wacher Geist sprang von einem Thema zum anderen, er interessierte sich für nahezu alles, auch für mich, schien aber zu spüren, dass ich nicht bereit war, Persönliches preiszugeben. Martha goss uns einen guten Schluck Rum in den Tee und hielt mir den Riesenkeksteller unter die Nase. »Sie haben noch keinen probiert«, sagte sie und entspannte damit die Lage.

»Ich hatte Ihnen vorhin keine Antwort gegeben, Mora. Sie fragten nach dem Mädchen, aber wir standen direkt vor dem Haus, in dem es wohnt. Hier redet es sich besser. Was interessiert Sie an dem Kind?«

Otto nippte hastig den Tee aus der Tasse und verabschiedete sich höflich, begründete es mit Hildes gewohnter Fütterungszeit und fügte »Besuchen Sie uns bald wieder« hinzu.

Martha und ich saßen uns gegenüber. Sie sah mich fragend an.

»Ich kann Ihnen keine konkrete Antwort darauf geben. Ich sah vor einiger Zeit ein etwa drei bis vier Jahre altes Kind allein im Wald, es baute Häuschen aus Laub. Soweit ich aus Entfernung sehen konnte, trug es eine Schleife im Haar, ein dunkles Kleid und eine hellbraune Strickjacke. Es rührte mich an, dass es mit Käfern sprach. Die meisten Menschen treten drauf.«

»Der Beschreibung nach handelt es sich um das Mädchen aus dem Haus. Auch ich hab es schon im Wald spielen sehen. Die Familie kam vor etwa einem halben Jahr hierher, die Not hat sie vom Regen in die Traufe gebracht. Neulich erzählte mir die Mutter des Kindes, dass ihnen nichts anderes blieb, als die damalige Kellerwohnung zu verlassen, da sich an den Wänden bereits Schwamm bildete und das Kind von einer Bronchitis in die nächste schlitterte. Nebenbei wurden sie von der Vermieterin menschenunwürdig behandelt. Diese hier ist nicht besser. An den Wänden wird sicher kein Schwamm wachsen, aber die Dame des Hauses ist bekannt für ihre Strenge.«

Erschüttert hörte ich mir Marthas Schilderungen an. Gerne hätte ich noch mehr über die Familie erfahren.

Martha schien dies zu spüren und setzte fort: »Schon beim Einzug hat sie ihnen mitgeteilt, dass sie etwas gegen zu viel Besuch hätte. Dazu kommt, dass die Familie sich nun zu fünft in zwei Zimmer zwängen muss, wovon eines gleichzeitig Küche ist, obwohl daneben ein Raum leer steht.«

»Zu fünft?«, fragte ich ungläubig.

»Ja. Vater, Mutter, zwei halbwüchsige Buben und die Kleine.«

Ich wunderte mich über Marthas umfangreiche Informationen.

»Die Familie ist bettelarm. Der Vater des Mädchens arbeitet als Ungelernter im Kohlebergwerk, soweit ich weiß, in der Sägerei. In seiner Freizeit geht er zu fremden Leuten arbeiten. Einer der Söhne lernt Wagner, der andere Schlosser.«

Mir war schwindelig geworden, ob es der Rum oder die Einblicke waren, die ich von der fremden Familie bekam, konnte ich nicht sagen.

»Die Mutter der Kleinen und ich treffen uns des Öfteren im unteren Geschäft, dann kommt man halt ins Gespräch.« Es klang wie eine Rechtfertigung ihres Wissens, das wahrlich über den allgemein nachbarschaftlichen Austausch hinausreichte.

»Menschen interessieren mich halt.«

»Mich auch, Martha. Vielen Dank für den Tee und die wunderbaren Kekse. Ich bin lange genug Ihr Gast gewesen.«

Sie ließ es sich nicht nehmen, mir noch Plätzchen für die Adventzeit mitzugeben.

Erleichtert und wehmütig zugleich, verließ ich Martha, Otto und Hilde. Der Besuch tat mir gut, doch mein Heim erschien mir nun noch trister. Trotz der barocken, wuchtigen Einrichtung, altmodischen Tapeten und Rüschenvorhänge strahlte Marthas und Ottos Haus Gemütlichkeit und Wärme aus. Es war ihr Zuhause, das sie mit eigenen Händen erbaut hatten, es kam ihnen nie in den Sinn von da wegzuziehen, so wie sie sich sicher waren, hier auch zu sterben.

Mein Leben glich dem einer Stromerin. Es trieb mich von einem Ort zum anderen, Unterwegssein war das Ziel. Meist dachte ich beim Einzug bereits an den Auszug, irgendwann hatte ich aufgehört die Umzüge zu zählen. Längst war mir klar geworden, dass ich nur in mir finden würde, was ich im Außen suchte: inneren Frieden und eine irdische Heimat für den rastlosen Geist meiner Seele.

Worte, Sätze, tausendmal gelesen, tausendmal ins Ohr gesagt, von Klugen und Studierten, zu laut und zu oft wiederholt. Ich wollte sie nicht mehr hören. Wer von all den Möchteweisen wusste wirklich, welches mein Weg war? Und wer außer mir wollte wissen, was mir guttat? Mittlerweile schmerzte jeder noch so gut gemeinte Ratschlag wie ein realer Schlag.

Durch die Begegnungen mit Martha und Eva Urben schöpfte ich Hoffnung, wieder einen Schritt auf die Menschheit zugehen zu können. Ich fühlte, dass mein Vertrauen vor langer Zeit zerstört wurde. Viele meiner Begegnungen basierten bis dahin auf Missbrauch. Das Wissen, dem unbewusst zugestimmt haben zu müssen, war mir jedoch vertraut.

Ich hatte noch viel zu lernen.

Weihnachten. Ich hielt nichts von dem Kitsch, zu dem das Fest ausgeartet war. Längst war es zu einer Tauschbörse geworden, Geschenke ohne Sinn gekauft und Millionen Tiere dahingemetzelt von Schlächtern, die am Abend voller Freude bei Frauen und Kindern saßen und nicht mehr daran dachten, dass das Blut Unschuldiger an den Geschenken klebte. Mit eigenen Augen sah ich Männer, die Gänse zum Töten abholten, sie wie einen Sack Müll am Hals packten, in einen Käfig schleuderten und nach ihnen traten, weil die armen Tiere aus Verzweiflung mit ihren Flügeln flatterten. Ausgeliefert und vergeblich auf Gnade hoffend, drei Tage vor dem Fest der Liebe. Für mich hatte es eine tiefe Bedeutung, dass Jesus für seine Geburt einen Stall mit Ochs und Esel wählte. Er liebte Tiere und wollte sicher nicht, dass ihnen Leid geschah.

Ich verkroch mich in meiner Hütte und wartete, bis alles vorbei war. Erst am Anfang des neuen Jahres streifte ich wieder durch den schneebeladenen Wald hin zu Buggelmeier. Es waren eine Menge Leute da, jeder wünschte jedem ein frohes neues Jahr, ich wurde in die Händeschüttelei miteinbezogen, als wäre ich eine von ihnen. Als Otto in den Laden kam, wurde er mit Gutem überschüttet, sie nannten ihn Herr Oberlehrer, am Glanz seiner Augen sah man, wie sehr es ihn freute. Es herrschte gute Laune im Geschäft, Herr Buggelmeier schenkte Sekt in Pappbechern aus. Otto und ich stießen aufs neue Jahr an und auf weitere Begegnungen. Martha wäre über Weihnachten erkältet gewesen, nun ging es wieder, und Hilde hätte den Tannenbaum angeknabbert, als sie am Heiligabend kurz mit ins Wohnzimmer durfte. Otto beruhigte mich noch, dass ich vor den Heiligen Drei Königen wohl sicher wäre, so weit kämen sie nie, schafften kaum noch die letzten Häuser, weil es zu dem obligatorischen Geldsegen auch immer diverse Schnäpschen gab.

Wir gingen den Heimweg durchs Dorf gemeinsam, Otto ließ es sich nicht nehmen, meinen Rucksack aufzuschnallen. Martha winkte freudig aus dem Küchenfenster. Otto bat mich hinein, ich lehnte ab. »Wann kommen Sie?«, fragte er direkt.

»Ich weiß nicht, vielleicht nächste Woche.«

»Wann immer Sie wollen, Mora. Wir sind fast immer da und freuen uns auf Sie.«

Der Kontakt zu den beiden war mir wichtig geworden, aber es ging zu schnell und zu weit. Ich war froh alleine zu sein.

Allmählich kehrte Ruhe in mein Leben ein. Der Winter blieb mild, Schnee fiel wenig und auch die Temperaturen sanken selten unter zehn Grad minus. Der Fluss blieb in seiner Strömung stark genug, um nicht zuzufrieren.

Rund um die Hütte hingen Futtersäcke und Fettringe für Vögel und Eichhörnchen, und an geschützten Stellen legte ich trockenes Brot auf die Erde. Manchmal lauerte ich mit der Kamera am Fenster, um das Treiben zu fotografieren.

Endlich wurden die Tage wieder länger. Ich war lange nicht bei Martha und auch Eva Urben besuchte mich nicht mehr jeden Tag.

Zeit für die Innenschau.

Es gab vieles, das ich gedanklich sortieren musste. Der Verlust meiner Praxis in Hamburg hatte einen Krater in mir hinterlassen. Offensichtlich wog ich mich in Scheinsicherheit. Zwölf Jahre unkonventionelle Arbeit mit Klienten lagen hinter mir, deren erste Jahre sich zäh dahinschleppten und viel Geduld forderten. Nach und nach stellte ich mich der Öffentlichkeit, hielt Vorträge und ließ Menschen teilhaben an Heilzeremonien und schamanischen Ritualen. Mühsam trug ich Stein für Stein zusammen, um einen Weg zu bauen. Stabil sollte er sein und fest genug, um mich finanziell auf Dauer zu tragen. Meine Arbeit wurde Sinn und Erfüllung zugleich. Die Suche hatte ihr Ziel gefunden, ich war angekommen und spürte die Müdigkeit nicht, die sich eingeschlichen hatte wie ein Raubtier in der Nacht, lautlos und ohne Gnade. Ich wollte nicht wahrhaben, dass meine Kraft aufgebraucht war. Aufgezehrt von einer jahrzehntelangen anstrengenden Ehe und durch das Gefühl, nie zu genügen, das mich zu einer permanenten Leistungssteigerung gezwungen hatte.

Burnout als Diagnose?

Was in Augenblicken zerbrach, dauerte bis zur Heilung eine gefühlte Ewigkeit und würde nie mehr das sein, was es war.

Inzwischen nannte ich es Zeit der Erneuerung.

Als löste sich schmerzhaft die alte Haut, die an manchen Stellen wie ein zerschlissenes Hemd herunterhing und unter der sich bereits zarte neue bildete. Andere Teile waren noch fest mit dem Fleisch verwachsen, sie würden mitbestimmen, wie lange ich mich noch im Wehenschmerz krümmte, und dafür entscheiden, ob die Kraft reichte für eine wahre Neugeburt.

Ich hoffte auf das Leben selbst, das aus sich heraus lebt. Das Leben, das immer schon war, ist und sein würde, auch wenn wir nicht mehr danach fassten.

6. Kritische Zeiten

Der Frühling setzte sich langsam durch, Wiesen waren übersät mit blauen, weißen und rosa Krokussen, Himmelschlüsseln und Schneeglöckchen.

Hellgrüner Flaum überzog den Auwald am Fluss, ein bunter Teppich aus Buschwindröschen breitete sich aus, Scharbockskraut und rötlich-blau blühendes Lungenkraut streckten ihre Blüten zum Himmel und überdeckten das geschundene Wintergrau.

Immer öfter sah ich Frauen mit Messern auf der Wiese, die wie ich die ersten Triebe des Löwenzahns stachen, um Salat daraus zu machen. Ich freute mich, dass auch Martha dabei war und wir uns nach längerer Zeit wiedersahen. Sie trug eine dicke Strickjacke mit Zopfmuster über ihrer roten Schürze, die sie hochgeschlagen hatte, um sie als Tragetasche umzufunktionieren. Auch Hilde war dabei, sie lief wie ein Hund zwischen den Frauen umher und nicht jede hatte dafür Verständnis, wenn das Tier ihnen den besten Löwenzahn vor der Nase wegknapste.

»Was gibt es Neues? Haben Sie den Winter gut überstanden?«, fragte sie mich abseits von den anderen.

»Ja, so einigermaßen. Das Brennholz ist beinah aufgebraucht. Die Hütte ist kaum isoliert, es ist schwer, die Räume warm zu bekommen. Aber nun geht es aufwärts. Wie geht’s ihnen und Otto?«

»Können nicht klagen, aber dem Kind ging es sehr schlecht, und sie ist immer noch nicht gesund.«

»Meinen Sie das Mädchen?«

»Ja, Fanni.«

»Ich habe davon nichts gehört. Bin auch kaum aus dem Haus gegangen. Ist es was Schlimmes?«, fragte ich besorgt.

»Ich traf ihre Mutter neulich allein beim Einkaufen, und da Fanni sonst immer dabei ist, fragte ich nach ihr. Sie hatten Angst, dass sie es dieses Mal nicht schaffen könnte. Der Vater kniete vor ihrem Bett und betete. Und soweit ich weiß, hat er sonst mit der Kirche nichts im Sinn.«

»Was hatte sie denn?«, hakte ich nach.

»Wieder die Bronchien. Von der letzten Wohnung mit dem Schimmel an den Wänden. Es soll sich seither verschlimmert haben. Der Kinderarzt aus der Stadt kam oft, auch er wusste kaum mehr weiter. Zuletzt brachte er ihnen ein Inhaliergerät, damit sprühten sie dem Kind eine violette Flüssigkeit in den Hals. Vielleicht half das, aber ich glaub, es war das Beten des Vaters«, sagte sie feierlich.

»Auch ich glaube an die Kraft der Gebete. Vielleicht war es eine Mischung von beidem.«

»Wie ich hörte, kennt Fannis Mutter fast jedes Heilkraut. Sie soll auf heiße Hirschtalgumschläge schwören, die sie auch schon ihren Söhnen in solchen Fällen auf die Brust gelegt hat. Wie auch immer, der Vater ist wohl sehr erleichtert, dass sie über den Berg ist. Fanni hat ja nicht einmal ein eigenes Bettchen, so wie ich es verstand, liegt sie zwischen den Eltern im Ehebett.«

»Wenn sie zu fünft in zwei Zimmern wohnen, wo sollten sie dann Platz für noch ein Bett haben?«, überlegte ich laut. Martha nickte zustimmend.

»Zu alledem macht ihnen der Älteste Sorgen. Er hat die Wagnerlehre abgebrochen, kurz vor Abschluss … wegen Prüfungsangst. Außerdem hat er mit einem Mädel aus der unteren Siedlung angebandelt. Ich kenn ihre Eltern ganz gut, die Mutter kränkelt seit einiger Zeit, irgendwas mit der Lunge.«

Einige der anderen Hausfrauen stellten sich dazu. Martha machte uns kurz bekannt, die meisten trugen Schürzen, die sie wie Martha als Tasche hochhielten, um den Löwenzahn zu transportieren. Sie sprachen über das Kochen und dass sie schon bald nicht mehr wüssten, was sie noch auf den Tisch bringen könnten, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Ein Thema, das sie verband.

Es herrschte reges Geschnatter, Kochrezepte wurden ausgetauscht und nebenbei neidisch auf den Inhalt der anderen Schürzen geschielt. »Deine Hilde hat vor mir den ganzen Salat aufgefressen, wehe, du bringst sie noch mal mit!«, rief eine der Frauen und drohte der Ziege mit dem kleinen Messer. Sie lachten laut und hielten ihre ebenfalls hoch, während Hilde die Schürzen beschnupperte und genüsslich die Blätter herauszog, die ihr quasi in den Mund wuchsen.

»Hilde, nun ist gut. Wir haben dich alle lieb, aber das geht zu weit.« Martha griff ein und zog Hilde ein paarmal leicht am rötlichen Bärtchen. Die Ziege verstand.

»Was kochen Sie heute, Mora?«, fragte mich Martha.

»Ich glaube nichts.«

Die Frauen stierten mich ungläubig an.

»Nichts Warmes?«

»Nein, nur den Salat und ein Stück Brot vielleicht.«

»Kochen Sie nie?«, fragte eine andere.

»Doch natürlich, sehr gerne sogar. Aber nur, wenn ich will. Und heute freue ich mich auf den Löwenzahn.«

»Recht hat sie«, warf Martha ein und drehte sich zu den anderen, »sie lebt für sich, hat keinen, der am Essen herumnörgelt, für das man den halben Tag in der Küche gestanden hat.«

Man sah in den Augen der Frauen, wie sehr ihnen das zu denken gab. Sie konnten nicht wählen, das zu tun, wozu sie Lust hatten. Hatten Mann und Kinder, die gewohnt waren, dass das heiße Essen auf dem Tisch dampfte, wenn sie nach Hause kamen.

Ich spürte ihre Verunsicherung mir gegenüber. Gerade war ich noch eine von ihnen und nun genügte ein Satz, um uns zu trennen.

Martha, die kaum etwas von mir wusste, nahm mich in Schutz.

»Haben wir uns denn schon einmal gefragt, was wir wollen? Mora kommt aus der Stadt, da ist es keine Schande, wenn eine Frau alleine im Kaffeehaus sitzt oder tanzen geht. Sieht man doch so oft im Fernsehen.«

»Und warum sind Sie hierhergekommen, wenn es in der Stadt so viel besser ist?«, fragte eine Frau, während sie ihre Schürze hochzog, als würde sie ihre Beute vor mir sichern müssen.

»Das ist eine berechtigte Frage. Ich versuche es selbst noch herauszufinden. Es gibt Wegweiser im Leben, denen man folgen muss, auch wenn man das Ziel nicht kennt.«

Nach und nach verließen sie mit skeptischen Blicken die Wiese. Martha und Hilde blieben noch.

»Damit hab ich wohl gänzlich bei ihnen verloren.«

»Oder etwas angerührt, das sie noch nicht verstehen«, versuchte sie mich zu trösten. »Das wird schon wieder.«

Wieder lud sie mich zu sich ein, ich sagte zu.

Den Tag über fühlte ich mich bedrückt, ich hatte viel Trübes über Fanni und ihre Familie erfahren und nun das mit den Frauen.

Bevor die Sonne versank, setzte ich mich mit meiner Schamanenrassel an den Fluss, um mit seinem Geist Kontakt aufzunehmen. Das monotone Geräusch der Rassel half, schnell in Trance zu gelangen. Langsam fühlte ich, wie sich die Spannung im Körper löste. Vor meinem inneren Auge sah ich mich in das Wasser gleiten und wie ein Boot darauf treiben. Schwerelos und erfüllt mit Ruhe und Gelassenheit übergab ich mein Sein dem Geist des Flusses. Ich würde nicht untergehen und ohne allzu großen Schaden durch die Stromschnellen des Lebens gelangen, wenn ich IHM vertraute. Es würde nur eine Richtung im Leben jedes Einzelnen geben, aber die Länge des Weges bestimmten wir, auf Grund des freien Willens. Ich ließ mich noch eine Weile vom Wasser tragen, bis die Grenzen sich auflösten, dann kehrte ich in die irdische Wirklichkeit zurück. So wie ich in das Reich des Wassers getaucht war, entstieg ich ihm und betrat feste Erde.

Das Plätschern und Murmeln drang wieder in mein Ohr, dankbar strich ich über den Stein, auf dem ich während meiner Reise gesessen hatte. Alles lebte und war Teil der göttlichen Liebe.

Am nächsten Tag war ich bei Martha eingeladen und auch Eva Urben fragte neulich, ob ich nicht vorbeikommen wollte, sie hätte einige Dinge, die mich interessieren könnten. Nebenbei könnten wir ja ein wenig plaudern. Einladungen würden wohl nie reine Freude für mich sein, schnell fühlte ich mich eingesperrt und ausgeliefert. Situationen, aus denen ich nicht entrinnen konnte, lösten Unbehagen aus. Es war mir völlig klar, dass ich etwas mit mir herumschleppte, worunter ich bis zum heutigen Tag litt.

Manches in meinem Leben ließ sich nicht mit der Brechstangenmethode lösen. Einiges konnte ich mit Mut und eisernem Willen bezwingen, anderes wiederum schien sich über mehrere Leben zu ziehen oder war so traumatisch, dass es andere Heilmethoden brauchte. Solange ich das Leben so liebte, wie bis zum heutigen Tage, wollte ich nach der wahren Heilung meiner Seele suchen.

Otto hatte einen Termin in der Stadt, Martha und ich saßen alleine am gedeckten Frühstückstisch. Es duftete nach Kaffee, mehrere Schälchen selbstgekochte Marmelade, Wurst und Käse in Unmengen fanden sich neben einem Brötchenkorb mit zig verschiedenen Brot- und Brötchensorten. Zudem servierte sie Fünfminuteneier von Nachbars Hühnern. »Butter von der Alm«, sagte sie lächelnd und hob den Deckel der Butterdose an. Fast weiß und vorher liebevoll in ein Edelweißmodel gepresst, leuchtete sie uns entgegen. »Eine Frau im Ort müht sich von Zeit zu Zeit für uns ab, steigt auf die Alm, um einen Rucksack voll Butter ins Tal zu schleppen. Passen Sie auf, was gleich passiert, wenn Sie sie auf das Brot streichen.«

Es war nicht das erste Mal, dass ich naturbelassene Butter aß, doch ich wollte Martha nicht enttäuschen. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen. Wie erwartet spritzten Wassertropfen aus der Butter in mein Gesicht. Sie lachte laut auf, als wäre ich auf einen Scherzartikel hereingefallen. Die Butter schmeckte köstlich.

»Sie müssen auch die Wurst kosten, Touristen kommen von weit angereist, um unsere geräucherten Wurst- und Fleischwaren zu kaufen.«

»Vielen Dank, Martha, aber ich bin Vegetarierin. Zurzeit beschäftige ich mich mit veganer Ernährung, doch bei dieser Butter und Eiern von glücklichen Hühnern musste ich eine Ausnahme machen, und es wird nicht die letzte sein. Fleisch esse ich schon seit vielen Jahren nicht mehr.«

Martha nahm es gelassen. »Wollt ich nicht, aber jeder soll auf seine Art glücklich werden. Ich könnt jetzt sagen, dass Ihnen was entgeht, aber das wäre nicht fair.«

Sie räumte die Wurstplatte auf der Stelle weg. »Will Sie nicht in Versuchung führen. Glauben Sie ja nicht, dass wir in meiner Kindheit immer Fleisch auf dem Teller gehabt haben. Und sehen Sie mich an«, sie hob die Schürze bis zur Brust hoch und klopfte auf ihren Bauch, der sich deutlich abzeichnete. »Jetzt wissen Sie auch, warum ich Schürzen trage, müsste dringend ein paar Kilos abnehmen, es würde mir nicht schaden, weniger Fleisch zu essen. Wenn es nur nicht so gut schmecken würde.«

»Früher aßen die Menschen im Allgemeinen gesünder, aber vielleicht weniger aus einem Bewusstsein heraus als vielmehr aus finanziellen Gegebenheiten. Heute entscheiden sich die Menschen vorwiegend aus ethischen, umweltbewussten oder gesundheitlichen Gründen dafür, kein Fleisch zu essen«, sagte ich.

»Welches sind die Ihren?«

»Ich möchte den Tieren auch ein Recht zum Leben geben. Es sind Wesen, die fühlen können wie wir und oft schon vor Angst sterben, wenn sie zum Schlachthof transportiert werden. Todesangst, die sich als solches im Fleisch befindet, zusammen mit unzähligen Medikamenten, die Tiere bis zur Tötung bekommen, kann meiner Meinung nach nicht zur gesunden Nahrung des Menschen zählen.« Noch bevor ich den Satz beendet hatte, kamen mir Zweifel, ob es für dieses liebevoll gemeinte Frühstück das richtige Thema war. Meine direkte Art war nicht immer angebracht.

Martha saß betroffen neben mir.

»Wenn Sie das so erzählen, vergeht einem wirklich der Appetit auf ein Schnitzel. Darüber hab ich mir noch nie Gedanken gemacht. Otto sprach auch schon von den Medikamenten im Fleisch, und ob es nicht gesünder wäre, einen Tag in der Woche vegetarisch zu leben, aber dann haben wir doch wieder weitergegessen wie bisher. Der Mensch gewöhnt sich nicht so schnell um.«

»Es war auch für mich und meinen Mann damals nicht einfach, damit aufzuhören. Es gab immer wieder Rückfälle. Bis wir wirklich clean waren, dauerte es mehrere Jahre.«

Martha tat überrascht. »Sie haben einen Mann?«

»Ja, das hab ich. Er lebt in Deutschland.«

»Vorsicht, ich gelte als extrem neugierig … Fragen Sie Otto«, sagte sie.

»Davon hab ich noch nichts bemerkt.«

»Sind Sie noch verheiratet?«

»Dieses Jahr waren es 35 Jahre.«

»Länger als wir?« Martha staunte.

»Wie viele Jahre sind Sie …?«

»Dreißig und zwölf Tage.«