Frieden und Krieg im Leben von Nikki Fisler - Carla Thompkins - E-Book

Frieden und Krieg im Leben von Nikki Fisler E-Book

Carla Thompkins

0,0

Beschreibung

Nikki Fisler erlebt als Kind den wachsenden Wohlstand in Deutschland. Ihre Jugend ist aber auch durch das Leid ihrer Eltern während des Zweiten Weltkrieges geprägt. Doch Nikki ist fantasievoll und stellt sich vor, Könige und Kaiser vergangener Zeiten zu befragen. Ihr Thema ist die Vermeidung von Kriegen. Als junge Frau hat sie einen höchst ungewöhnlichen Einstieg in die Welt des Motorjournalismus. Ihre Erlebnisse berühren aktuelle Probleme unserer Zeit, in der Medien und Journalismus zum Fake- und Gesinnungsjournalismus verkommen sind. Mit einem Journalisten als Partner erlebt sie das Abgleiten in eine traditionelle Ehe, in der sie nichts zu sagen hat. Es kommt zu Kleinkriegen, weil finanzielle Probleme nicht gelöst werden. So trennt sie sich von ihrem Ehemann. Des Weiteren wird Nikki mit dem Thema Rassismus konfrontiert, auch sie selbst ist nicht davor gefeit. Bei ihren umfassenden Recherchen offenbart sich Rassismus als allgegenwärtiges Problem mit gravierenden Folgen für das menschliche Zusammenleben bin hin zum Entstehen von Kriegen. In ihrem letzten Lebensjahrzehnt beschäftigt sich Nikki mit der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ein Interviewpartner in den USA bringt sie durch seine Fragen nach dem Lebenssinn buchstäblich ins Schleudern. Es stellt sich später heraus, dass dieser Interviewpartner niemand anderes ist als Castadarrow Thompkins, der Ehemann der Autorin. Nikki erkrankt und stirbt in dem Glauben, dass ihre Seele nach der Trennung von ihrem Körper weiter lebt. Für Leser, die wenig spirituelles Wissen haben oder gar religionskritisch sind, werden Gedanken aufgegriffen wie: Warum haben Religionen Unfrieden und Krieg verursacht und was trägt Religion zur Vermeidung der Krieges bei? Für alle suchenden Menschen: ein lesenswertes Buch!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 157

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Dieses Buch ist entstanden unter dem Eindruck eines vernichtenden Krieges in Europa im Jahr 2022. Die Erinnerungen an meine Freundin Nikki reflektieren in dieser explosiven Zeit menschliches Verhalten, das aggressiv und kämpferisch, aber auch gerecht und friedlich sein kann.

Die Leser haben ein Buch in der Hand mit dem Titelbild einer nachdenklich blickenden jungen Frau. Ihr Name ist Nikola Fisler. Alle nannten sie Nikki, nicht Nikola. Sie wurde in Karlsruhe geboren. Dort erlebte Nikki eine amüsante Jugend in den politisch komplizierten fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nikki hatte das Glück, in ordentlichen Familienverhältnissen aufzuwachsen. Ihre Jugend ist aber auch geprägt von den nicht lange zurückliegenden Kriegstraumata der Eltern.

Als junge Frau interessierte Nikki sich für Autos und fing an, neben ihrem erlernten Beruf ihre Fahreindrücke aufzuschreiben. So etablierte sie sich in der Männerdomäne der Autojournalisten. Sie machte einen Journalisten als Ehemann ausfindig. Es kam zu Streitereien und Kleinkriegen in ihrer Ehe, weil finanzielle Probleme nicht gelöst wurden. Nikkis Erlebnisse im Motorjournalismus berühren tief aktuelle Probleme unserer Zeit, in der Medien und Journalismus verkommen zum »Fake- und Gesinnungsjournalismus«.

Die Erkenntnis der Sinnhaftigkeit des Lebens leuchtete wie ein Blitz am Nachthimmel auf für Nikki bei einer Dienstreise in die USA. Ihr Interviewpartner brachte sie durch seine Fragen buchstäblich ins Schleudern. Selbstständig und unbeeinflusst von anderen Menschen fing Nikki an, metaphysische und religiöse Wahrheiten zu suchen und sich mit dem Thema »Rassismus« auseinanderzusetzen, das latent auch in ihrem eigenen Leben immer eine Rolle spielte. Bei weiteren Recherchen offenbart sich Rassismus als allgegenwärtiges Problem mit gravierenden Folgen für das menschliche Zusammenleben bis hin zum Entstehen von Kriegen.

Nikki erkrankte nach dieser Suche und starb – begleitet von nahestehenden Menschen – in dem Glauben, dass ihre Seele nach der Trennung von ihrem Körper weiterlebt.

Als Autorin dieses Buches ist es mir ein großes Anliegen, in diesen ungewöhnlichen Zeiten von meinem Gedankenaustausch mit meiner Freundin Nikki Fisler zu erzählen. Aber bitte, liebe Leser, vergleicht mich nicht mit Tolstoi. Leo Tolstoi bleibt unvergleichlich und unerreichbar!

Carla Thompkins

Inhalt

Ein besonderes Kind

Knallige Mädchenzeit

Krieg ist Krieg

Suchen und fantasieren

Alles Schall und Rauch

Die Fislerin und der Laut-Sprecher

Abschließen und regenerieren

Ab nach Washington

Ein Interview zum Nachdenken

Entdeckungsreise in Amerika

Recherchen über Rassismus

Und jetzt ins Kloster

Willkommen und Abschied

Nachwort

Dank an alle

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Nikki wird einmal folgenden Auftrag bekommen:

Sie soll ein Interview mit der Gattin des amerikanischen

Präsidenten in Washington durchführen.

Wird es gelingen, ein gelbes Auto vor dem

Weißen Haus zu fotografieren?

Vor allem – wird Nikki über ihr Zusammentreffen

berichten können?

Ein besonderes Kind

Eine Feier in Karlsruhe während der Adventszeit bleibt für mich unvergessen. Es war ein besonders kalter Wintertag im Jahr 1957. Meine Großeltern hatten eine Einladungskarte zu einer Weihnachtsfeier in der Karlsruher Landeszentralbank. Die Teilnahme an dieser Feier war ein großes gesellschaftliches Ereignis, denn Omi und Opi unternahmen bei Eiseskälte eine einstündige Bahnfahrt nach Karlsruhe. Beide hatten Feiertagskleidung angezogen. Auch ich hatte meine Sonntagskleider an, obwohl es Mittwoch war. Das Zusammenkommen der geladenen Gäste fand statt in der weihnachtlich geschmückten und vor allem warmen Halle der damaligen Landeszentralbank in Karlsruhe.

Nach einigen Ansprachen von Herren in dunklen Anzügen erschien ein bärtiger Mann in einem roten, altmodischen Anzug. Mein Opi flüsterte mir ins Ohr: »Das ist ein Schauspieler, der spielt den Nikolaus.« Ich wurde von dem Mann in Rot aufgerufen. Er öffnete sein großes Buch, setzte eine Brille auf und las vor: »Du bist die Carla, und du sollst nicht mehr mit dem Fuß aufstampfen, wenn dir etwas nicht passt. Du sollst anderen Menschen mit Worten erklären, was dir nicht gefällt.« Dann bekam ich von diesem Herrn ein kleines Lederetui geschenkt und machte einen Knicks.

Ich erinnere mich sehr genau, dass nach mir ein Mädchen in meinem Alter vom Nikolaus eine schwarze, unbekleidete Puppe bekam. Der Mann in Rot sagte nur: »Das ist für dich.« Die Kleine schaute diese Puppe an. Dann reichte sie das Spielzeug dem Nikolaus zurück: »Herr Nikolaus, ich habe fast den gleichen Namen wie Sie. Ich heiße Nikola, und ich spiele nicht mit Puppen. Bitte notieren Sie sich meinen Namen in Ihrem Buch, und bringen Sie mir nächstes Jahr einen Teddybär.«

Das fand ich mutig. Ich hätte mich nie getraut, das zu sagen vor allen Leuten. Und Nikola wirkte so unschuldig, so zart. Sie sprach mit ihren etwa sechs oder sieben Jahren sehr ruhig und höflich, keineswegs frech.

Ich machte mir jetzt Gedanken wie »Warum wollte Nikola keine unbekleidete schwarze Puppe geschenkt bekommen?« oder »Ist es etwa nicht ganz korrekt vom Weihnachtsmann gewesen, einem Kind so ein Geschenk zu machen?«

Nach der Weihnachtsfeier brachte uns Nikolas Vater in seinem Auto zum Bahnhof. Das war ein sehr großer Wagen mit Haifischflossen am Heck. Im Auto roch es nach Leder. Nikolas Vater und mein Opi saßen vorne. Omi, Frau Fisler, Nikola und ich saßen auf dem Rücksitz.

Nikola griff nach meiner Hand und drehte sich zu mir: »Ich habe mir deinen Namen gemerkt. Du heißt Carla, ich bin Nikola Fisler. Du kannst Nikki zu mir sagen. Meine Geschwister und die Kinder auf dem Spielplatz nennen mich auch so.«

Ich hätte gerne Nikki nach ihren Geschwistern gefragt, aber Herr Fisler fing wieder an zu reden. Er sagte zu Opi, dass er Wilhelm heiße, und wir gerne ihn und seine Frau Luise mit dem Vornamen anreden dürften.

Wilhelm erklärte uns, dass er so ein großes Auto brauche, wenn er mit seiner Familie wegfahren möchte, weil nur in diesem Auto hinten vier Personen sitzen konnten. Er betonte, dass dieses Fahrzeug für ihn kein Statussymbol sei, um zu zeigen, dass er es beruflich zu etwas gebracht habe.

Mein Großvater versuchte, das Thema zu wechseln, und fragte Wilhelm Fisler, welche Beziehungen er zur Landeszentralbank habe. Wilhelm erklärte, dass er einigen Mitarbeitern der Bank Häuser vermittelt habe, weil er Immobilienmakler sei. Wilhelm sprach dann wieder von seinem Auto. Er erzählte, dass er bis nach Kassel fahren musste, um das gewünschte Modell als Vorführwagen zu bekommen für einen guten Preis.

Als wir einen Parkplatz am Hauptbahnhof gefunden hatten, zeigte uns Wilhelm ein Foto, auf dem er, seine Frau Luise und die älteste Tochter Traudel zu sehen waren, als sie das neue Auto mit den Haifischflossen begutachteten.

Mein Großvater meinte nur: »In Amerika sehen fast alle Autos so aus. Es kommt den amerikanischen Vorbildern sehr nah. Du hast eine gute Wahl getroffen für deine Familie, und der Motor ist sehr leise. Ich finde es aber sehr erstaunlich, dass du schon Farbfotos machen lassen kannst, Wilhelm. Ich kann mit meinem Fotoapparat nur Schwarz-Weiß-Fotos machen. Das musst du mir bei Gelegenheit mal zeigen, wie das geht. Es ist sehr angenehm, Wilhelm, eure Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Meine Großeltern und Nikkis Eltern blieben von da an in Kontakt. Ich sah Nikki wieder bei einer Hochzeitsfeier in Karlsruhe. Sie war jetzt neun Jahre alt und eine Brautjungfer so wie ich. Ich hatte ein hellblaues Kleid an. Nikki trug einen hellblauen Hosenanzug, passend zu meinem Kleid. Ihre Mutter Luise und meine Omi hatten das so besprochen. Ihre schwarzen Haare waren als Dutt hochgesteckt. Wir gingen vor dem Brautpaar in die Kirche und streuten Blütenblätter.

Danach wurde in einem Gasthaus das Hochzeitsessen serviert. Ich durfte neben Nikki sitzen. Nach dem Dessert war es möglich, miteinander zu reden. Nikki deutete mit dem Finger auf ihre Geschwister, die an anderen Tischen saßen: »Guck mal, da sind Paul, Gitti, Hanni, Monica und Edeltraud, ach ja, da drüben sind meine Eltern. Die turteln gerade mal wieder, als ob sie das Brautpaar wären.«

»Wie schön, so eine große Familie zu haben! Wie alt sind deine Geschwister?« »Paul ist dreizehn, Gitti fünfzehn, Hanni sechzehn, Monica achtzehn und Edeltraud wird übermorgen einundzwanzig. Die ist dann volljährig und kann heiraten, wen sie möchte.«

Ich bewunderte Nikki. Sie war das genaue Gegenteil von mir. Nikki konnte sich vor allem gut ausdrücken. Sie hatte Geschwister, ich war ein Einzelkind. Nikki lebte bei den Eltern, ich bei den Großeltern und hatte keine Geschwister.

Da meine Großeltern ein Telefon hatten, konnte ich von da an auch mit Nikki telefonieren. Ich erfuhr, dass Nikkis Vater als Kriegsflüchtling aus dem Sudetenland kam und sich nie besonders willkommen fühlte in Westdeutschland. Nur in Karlsruhe kümmerte sich keiner darum, wo Wilhelm Fisler zur Welt gekommen war.

Wir sprachen oft über belanglose Dinge, aber ich konnte am Telefon meine Angst ausdrücken, als meine Mami und Omi mit Hamsterkäufen begannen. Alle Erwachsenen um mich herum hatten Angst vor dem Ausbruch eines neuen Weltkrieges. Auch die Schulkameraden sprachen ständig davon. Ich war sehr deprimiert. Das war im Oktober 1962.

Ich erzählte Nikki am Telefon, was ich in der Schule gehört hatte, dass wegen der Kubakrise der »Kalte Krieg« schlimmer werde. Nikki war gut informiert. Obwohl sie ein Jahr jünger war, konnte sie mir Folgendes erklären: »Carla, das hat mit den Rangeleien zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion zu tun. Lass den Kopf nicht hängen, die beiden Staatsführer werden schon nicht so dumm sein und die Welt in die Luft sprengen, selbst wenn sie es könnten. Ich werd’ mich aber umhören, was die Gründe sind, und wie es weitergeht.«

Ein paar Tage später war der Keller im Haus meiner Mutter gefüllt mit Lebensmitteln in Dosen. Omi und Opi hatten ihre Kellerräume wieder geputzt, wo sie sich während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges aufgehalten hatten.

Nikki rief mich wieder an und erklärte mir: »Die USA haben die Stationierung von russischen Raketen auf der Insel Kuba verhindert. Kuba ist eine große Insel, die vor den USA liegt. Zweihundert amerikanische Kriegsschiffe rund um Kuba haben russische Schiffe zum Umkehren gezwungen. Deswegen waren wir einem Atomkrieg sehr nahe.«

»Im russischen Radio hat dann der Herr Chruschtschow den Rückzug der sowjetischen Raketen von Kuba bekannt gegeben. Die USA erklärten, dass sie nicht in Kuba einmarschieren werden. Damit ist die Krise beendet. Siehste, es geht doch weiter«, versuchte Nikki mich aufzuheitern.

Ich war erleichtert, denn ich glaubte Nikki mehr als den Erwachsenen. Allmählich kehrte wieder der Alltag ein und damit die tägliche Routine wie frühstücken, in die Schule gehen, Mittag essen, Hausaufgaben machen, an die frische Luft gehen, zu Abend essen, fernsehen und ins Bett gehen.

In den Sommerferien 1963 durfte ich Nikki in Karlsruhe besuchen. Sie lebte in einem kleinen Häuschen, das sehr niedlich auf mich als Kind wirkte. Die Fenster mit den Fensterläden sahen für mich aus wie dunkle Augen mit Wimpern. Das Haus befand sich im Zentrum von Karlsruhe in einer ruhigen Seitenstraße.

Als Nikki und ich uns dem Häuschen näherten, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und eine riesige Rauchwolke stieg vor dem Hause Fisler hoch. Nikki rief so laut, wie sie konnte: »Paul, du Knallfrosch, was soll das, uns mit diesem Sylvester-Feuerwerk zu begrüßen!« Als der Qualm verflogen war, kam Mutter Luise etwas verschämt zur Haustür.

Paul grinste: »Ich wette, Carla wird nie mehr vergessen, was für eine knallige Familie wir sind.« Und Luise ergänzte: »Entschuldige, ich habe nicht immer alles im Blick, was die Kinder machen. Aber das war nicht bös’ gemeint, Paul wollte dich mit etwas ganz Besonderem überraschen.«

Ich erfuhr, dass acht Personen auf etwa hundert Quadratmetern Wohnfläche in dem Haus lebten, als alle Kinder noch zu Hause waren. Nikki, Gitti und Hanni waren in einem Zimmer untergebracht mit Stockbetten, die großen Mädchen hatten ein eigenes Zimmer. Der Bruder Paul schlief im Wohnzimmer auf einer Schlafcouch. Es gab ein Elternschlafzimmer, ein Badezimmer und eine separate Toilette. In der großen Wohnküche stand ein riesengroßer Esstisch, an dem alle Kinder und die Eltern Platz hatten.

Als ich das erste Mal kam, waren die großen Mädchen schon außer Haus. Ich konnte in dem Zimmer von Edeltraud und Monica schlafen. Nikki kam am Abend zu mir ins Zimmer und schlief in Edeltrauds Bett.

Vor dem Einschlafen erzählte Nikki mir: »Als Papa die Mutti kennenlernte, war er Witwer mit fünf kleinen Kindern. Papas erste Frau starb bei der Geburt von Paul auf der Flucht zu Fuß von Mähren in den Westen. Vati war Sudetendeutscher und lebte in der mährischen Stadt Brünn. Seine Stadt wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert von den Alliierten, und seine Eltern starben in dem Bombenhagel. Als dann die sowjetische Luftwaffe Angriffe flog, floh Papa mit der Familie Richtung Westen. Auf der Flucht starb Pauls Mutter bei seiner Geburt.

Papa schlief oft mit den Kindern bei Bauern in deren Scheunen im Stroh oder im Heu. Die Bauern waren meistens menschlich und hatten Mitleid mit dem Vater und den fünf kleinen Kindern. Wilhelm half, bei der Ernte die Ähren zusammenzubinden und auf den Wagen zu legen, dann zog er wieder weiter – zu Fuß und in der Nacht, bis sie den Rhein erreichten. In Karlsruhe fand er dann Arbeit in einem Büro.

Als meine Mutti Luise den Papa kennenlernte, beschlossen beide sehr rasch zu heiraten. Mutti wurde immer wieder gefragt, warum sie diesen Flüchtling geheiratet hatte. Die Leute waren sehr direkt und sagten zu Mama Sätze wie: › Luise, du hättest doch jemand Besseres finden können und dich nicht gleich mit fünf Kindern abgeben brauchen.‹

Nun – Mutti lachte dann nur, denn sie liebte es, gleich das Haus voller Leben zu haben. Es war ihr auch klar, dass diese Phase als große Familie höchstes ein paar Jahre dauern würde und die Kinder bald flügge würden. Vati gab der Mutti das erwirtschaftete Geld, denn Mutti hielt das Geld gut zusammen.

Dann kam ich zur Welt. Mutti Luise kümmerte sich rührend um alle sechs Kinder. Sie verbrachte viel Zeit mit uns Kindern, zum Beispiel machten wir oft Picknick am Rheinufer und spielten ›Mensch, ärgere dich nicht‹ im Gras. Die großen Schwestern ließen mich manchmal gewinnen. Mir gefiel es sehr, dass immer jemand zu Hause war und ich immer mit jemandem reden oder spielen konnte.«

»Das finde ich wunderbar, Nikki. Ich kann mir gar nicht richtig vorstellen, wie es ist, mit Geschwistern zusammenzuleben. Nikki, erzähl mir doch bitte mehr davon!«

»Nun, bei uns im Haus herrschte immer eine friedliche Stimmung. Kein Stress und kein Gezanke. Mutti und Vati waren sehr verstört durch die Kämpfe während des Zweiten Weltkrieges. Beide hatten immer noch qualvolle Albträume. Deshalb bemühten die Eltern sich um eine friedliche Kommunikation zu Hause. Den Eltern war wichtig, dass wir lernten, freundlich, geduldig und ehrlich zu werden.

So unterhielt sich Mutti mit den großen Mädchen und fragte nach ihren Interessen. Edeltraud und Monica redeten miteinander gerne über Mode und betrachteten Modezeitungen zusammen. Mutti Luise sorgte sich auch besonders um Paul. Er durfte angeln und lernte, flache Steine auf dem Wasser tanzen zu lassen.«

»Und wie waren die anderen Geschwister?«

»Gitti war schlichtweg lieb, gutmütig und unkompliziert. Sie ging in das gleiche Schulgebäude wie ich und lief mit mir in den Pausen im Schulhof herum. Wir aßen zusammen unser Pausenbrot. Hanni war lernbegierig und eine Streberin, aber auch unkompliziert.

Oh, da fällt mir noch ein, Mutti konnte auch das große Haifischauto chauffieren. Sie fuhr sogar viel ruhiger als Papi Wilhelm. Wilhelm bremste oft sehr ruckartig. Bei Mutti passierte das nie.«

»Und was machten deine Geschwister, Nikki, als sie das Elternhaus verließen?«

»Als ich neun Jahre war, leerte sich das Haus allmählich. Edeltraud heiratete einen Arzt aus Sizilien, der in Heidelberg studierte und ausgezeichnet Deutsch sprach. Die Mutter mochte den ›Dottore‹ sehr. Der Schwiegersohn war immer sehr willkommen zu Besuch. Edeltraud zog dann nach Sizilien mit ihrem Dottore.

Monica fand eine Lehrstelle in Stuttgart als Schneiderin, lernte einen Bertram Duwalier aus Haiti kennen. Dieser junge Mann arbeitete am Theater in Stuttgart und entwarf Kostüme für das Ballett. Bertram Duwalier war dunkelhäutig. Monica heiratete in Stuttgart, ohne Bertram vor der Heirat den Eltern vorstellen zu dürfen. Im Gegensatz zu Edeltraud durfte Monica ihr Elternhaus in Karlsruhe nicht mehr betreten, nachdem sie Bertram Duwalier geheiratet hatte.

Meine Mutter erteilte dieses Verbot und erklärte uns, dass das nur zum Schutz der Familie Fisler sei. Man wisse nicht, inwieweit auch terroristische Aktionen des Diktators Duvalier aus Haiti in Deutschland angezettelt würden. Ihre Entscheidung habe mit ihrer Angst vor Terrorismus zu tun und nicht mit Rassismus gegenüber dem dunkelhäutigen Schwiegersohn. Niemand hinterfragte die Entscheidung von Mutter Luise. Ob der Vater Monica auch abgeschrieben hatte, darüber wurde einfach nicht mehr geredet.

Hanni bekam ein Stipendium für Betriebswirtschaft an der Universität in Louisville im amerikanischen Bundesstaat Kentucky. Die Restfamilie brachte Hanni ganz wehmütig zum Flieger nach Kentucky. Meine Schwester war freudig und aufgeregt, eine andere Welt kennenlernen zu dürfen. Sie schrieb oft Briefe, und nach dem Abschluss des Studiums begann Hanni, in Kentucky Pferde zu züchten.

Gitti begann mit siebzehn eine Ausbildung in Touristik. Sie konnte ein Praktikum in Rumänien machen und arbeitete in einem exklusiven Hotel in Braşov. Dort heiratete Gitti einen Rumänen. Mutti hoffte, dass Gitti mit ihrem Mann irgendwann einmal nach Deutschland zurückkehren würde.

Den Paul werden die Eltern jetzt von der Schule nehmen. Vater hat für ihn eine Lehrstelle als Konditor im Allgäu gefunden, wo er auch ein Zimmer im Haus des Konditormeisters bekommt. In der Freizeit kann Paul Ski laufen. Das ist das Richtige für ihn.«

»Wie ergeht es dir in der Schule, Nikki?«, wollte ich jetzt wissen.

»Oh, Carla, ich komme in der Schule gut mit. Die Eltern schickten mich auf ein Gymnasium. Ich konnte bis jetzt die Hausaufgaben immer selbstständig erledigen, wenn ich mit Mutti am Küchentisch saß. Und wie ist es bei dir, Carla?«

»Die Schule ist für mich nicht so einfach. Ich brauche oft Hilfe. Opi macht mit mir die Hausaufgaben. Und wenn er mir nicht mehr helfen kann, sucht er Nachhilfelehrer, was irgendwie peinlich für mich ist. Gibt es wirklich nichts, das du nicht verstanden hast, Nikki?«

»Doch schon, das war, als der amerikanische Präsident Kennedy1) dieses Jahr [1963] Berlin besuchte und sagte: »Ich bin ein Berliner!« Er löste bei rund 450000 Zuhörern vor dem Rathaus Schöneberg tosenden Jubel aus. Ich habe nicht gejubelt, als ich das im Fernsehen mitverfolgte. Ich habe als Zwölfjährige wirklich nicht verstanden, was Kennedy mit diesem Satz ausdrücken wollte – einem Satz, der unvergessen blieb. Die Erwachsenen und die Lehrer an der Schule konnten es mir auch nicht erklären.

Die Erwachsenen meinten, Kennedy hätte auch nach Karlsruhe kommen und sich als Karlsruher bezeichnen sollen. Dann hätte Kennedy wenigstens einmal die Modellstadt für die amerikanische Hauptstadt Washington gesehen. Der amerikanische Präsident Jefferson wäre ja 1788 auch nach Karlsruhe gekommen. Der Stadtplan von Karlsruhe hätte dem Jefferson so sehr gefallen, dass der amerikanische Präsident die Hauptstadt Washington so aufbauen ließ wie Karlsruhe.«

»Ich habe das damals auch nicht verstanden, Nikki. Mir hat der Witz besser gefallen, den man damals erzählte von Adenauer. Bundeskanzler Adenauer wurde gefragt, wer die besten Politiker zurzeit sind. Adenauer antwortete: ›Ikk kenne die.‹«

»Oh, meine Eltern haben sich diesen Witz ebenso erzählt und herzlich darüber gelacht.«

»Apropos, deine Eltern. Wie war es für deine Eltern, Nikki, nur noch dich im Haus zu haben?«