Friedhof der Krustentiere - Krischan Koch - E-Book
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Friedhof der Krustentiere E-Book

Krischan Koch

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Beschreibung

Ein Herbststurm fegt durch Fredenbüll und weht nichts Gutes in den nordfriesischen Küstenort: Schimmelreiter Hauke Schröder findet Tante Telse tot im Ford Mustang, eine Einbruchserie verunsichert die Dorfbewohner, und auf der gegenüber liegenden Hallig Westeroog gehen unheimliche Dinge vor sich. Dort versetzt eine gruselige Gestalt die wenigen Gäste des Hallig-Hotels, in dem Polizistentochter Tadje gerade ihr Praktikum absolviert, in Angst und Schrecken. Als aus der Hotelküche das größte Messer verschwindet und die Telefonverbindung abreißt, wird die Lage mehr als brenzlig. Dorfpolizist Thies Detlefsen und ganz Fredenbüll durchleben eine wahre Horrornacht.

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Krischan Koch

Friedhof der Krustentiere

Ein Küsten-Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Manner und Tobarben

 

 

»Manchmal ist es besser, tot zu sein.«

Stephen King, ›Friedhof der Kuscheltiere‹

1

Der Sturm peitscht die hohen Wellen auf das schmale Ufer der Warft. Der Garten und die umliegende Wiese sind überschwemmt. Das alte Hotel scheint direkt in der Nordsee zu stehen und jeden Moment ganz vom Meer verschlungen zu werden. Der Vollmond wirft die hin und her zuckenden Schatten der Bäume, die im Sturm ihr letztes Laub verloren haben, auf das Gemäuer des großen Hauses. Hinter den undichten Fenstern flackern Kerzen in ausgehöhlten Kürbissen. Die Dachbalken ächzen und stöhnen. Bei jeder Bö geht ein Pfeifen durch das Dach, als würde ein Riese über den Rand eines gigantischen Flaschenhalses blasen. Die klapprigen Fenster zittern im Wind. Eine Tür knarzt, als schreie sie um Hilfe.

Sabine muss in ihrem Zimmer wohl eingeschlafen sein. Schweigen ist anstrengend. Als erste gemeinsame Übung ihres Workshops »Hellsehen und Hellfühlen« wurde ihnen zwei Tage Schweigen auferlegt, um fürs Erste in sich selbst hineinzusehen und -zuhören. Für Sabine ist das gar nicht so einfach. Sie teilt sich normalerweise gern mit, privat und auch in ihrem Beruf. Sie ist Arzthelferin in einer Unfallpraxis, und da spricht sie gern mit den Patienten. Während sie gebrochene Arme eingipst oder dem Doktor die Nadel zum Nähen blutender Platzwunden reicht, ist sie immer zu einem kleinen Plausch aufgelegt. Schweigen ist für Sabine regelrechte Folter. Nach der gemeinsamen stummen Sitzung in der Bibliothek des Hallig-Hotels war sie so erledigt, dass sie sich in ihrem Zimmer kurz aufs Bett gelegt hat und dann für eine Weile richtig weg gewesen sein muss.

Als sie wieder aufwacht, ist es dunkel. Das fahle Mondlicht hat den Schatten des Fensterkreuzes und die Regenschlieren auf die Blümchentapete geworfen. So ganz sicher ist sie sich gar nicht, ob sie wirklich wach ist. Ihr kommt alles seltsam unwirklich vor. Vor dem Fenster hört sie den Sturm heulen, die Möwen kreischen und die Gischt an die Böschung schlagen.

Jetzt stolpert sie, geblendet von dem kalten Neonlicht, schlaftrunken durch den von endlosen Zimmertüren gesäumten Flur. Das blutige Rot und das saftige Orange der Sechsecke auf dem großgemusterten Teppichboden springen ihr förmlich entgegen. Sie hat muffigen Teppichgeruch in der Nase, gleichzeitig glaubt sie, feuchtes schlickiges Watt zu riechen. Das Muster des Teppichs ist klar und geometrisch und gleichzeitig psychedelisch. Sabine spürt einen Druck im Kopf. Sie balanciert auf den braunen Linien zwischen dem Rot und Orange im Zickzack durch das Teppichlabyrinth. Dabei achtet sie panisch darauf, nicht auf die roten Sechsecke zu treten. Auf keinen Fall die roten Hexagone! Plötzlich rast vor ihr ein Taschenkrebs in schnellen Seitwärtsschritten über den Boden. Überfallartig schnappt er sich mit seiner Schere eine große, über den Teppich krabbelnde Kakerlake. Das Krustentier stoppt für einen Moment und verleibt sich den Käfer auf der Stelle ein. Dann verschwindet es unter dem großen Spalt einer Zimmertür.

Sabine hetzt weiter über den Flur. Und dann sitzt plötzlich ein kleiner Junge vor ihr auf dem Boden. Er geht in dem Teppichmuster fast unter. Er schiebt kleine Spielzeugautos auf den braunen Linien zwischen den roten Hexagonen entlang, wie auf einem sechseckigen Kreisverkehr. Er sieht kurz zu ihr auf, mit einem stechenden Blick. Aus seinem Mund läuft ein dickflüssiger Tropfen Spucke, der auf der Unterlippe hängen bleibt. Dann fährt er mit den Autos stumm weiter, als müsse der Verkehr unaufhörlich fließen.

Aus einem der Zimmer hört Sabine das Lachen mehrerer Mädchen. Sie kann das Zimmer nicht genau lokalisieren. Es scheint abwechselnd aus verschiedenen Räumen zu kommen. Ausgelassenes, schrilles, höhnisches und auch etwas hysterisches Mädchenlachen. Im nächsten Moment ist der Junge wieder verschwunden, wie weggezaubert. Dann erscheinen ganz am Ende des Flurs zwei Mädchen. Sie tragen die gleichen hellblauen Kleidchen mit rosa Rüschen an den kurzen Ärmeln, und auch sonst gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Es sind offenbar Zwillinge. Ihre duftigen Kleidchen haben auf dem ganzen Oberkörper Schnitte, aus denen Blut fließt. Im nächsten Moment lösen sich die Körper der Mädchen vor Sabines Augen wieder auf, als würden sie zerfallen. Sie schüttelt irritiert den Kopf. Was geht hier vor sich?

Jetzt bemerkt sie, dass eine der Zimmertüren in der Mitte zersplittert ist. Sie sieht aus wie mit einer Axt eingeschlagen. Unter der Tür schießt eine rote Flüssigkeit hervor, die wie eine Welle gegen die Wände schlägt. Auf der Tür erscheinen große handgeschriebene rote Buchstaben. Sabine liest REDRÖM. Was hat das zu bedeuten? Redröm. Für Sabine klingt es nach einer Kommode von Ikea, irgendwie schwedisch oder dänisch. Dänemark ist nicht weit, nur ein paar Kilometer oder Seemeilen entfernt.

Weiter zum Überlegen kommt sie nicht. Auf einmal gibt es ein Surren in den elektrischen Leitungen, ein Flackern in den Neonröhren an der Decke, dann fällt das Licht ganz aus. Es ist stockdunkel. Nur die roten Sechsecke glühen unheimlich nach. Sie meint, Schreie zu hören, vom Dachboden, wo der Hotelchef Meinhard Meyer angeblich sein Atelier hat. Irgendwo im Flur öffnet sich knarrend eine Tür, dann fällt sie in einem Windzug knallend zu. Aus einem fahlen Lichtkegel des Mondes, der durch ein schmales kleines Fenster unter der Decke hereinfällt, sieht sie einen Schatten auf sich zukommen, erst in Zeitlupe, und dann ist er ihr auf einmal ganz nah, wie in einem Film, aus dem ein Stück herausgeschnitten wurde. Die große silberne Klinge eines Messers blitzt kurz auf. Sie meint, jemanden ganz nah an sich vorbeihuschen zu spüren, und eine Hand zu fühlen, die nach ihre greift. Sie bemerkt den Luftzug.

Sabine will schreien, aber sie darf nicht. Sie hat sich ja verpflichtet, zu schweigen. Und sie kann auch gar nicht schreien. Ihre Kehle ist vor Angst wie zugeschnürt. Dann ist aus einem der Zimmer ganz am Ende des Flures ein weit entferntes leises, aber trotzdem durchdringendes Mädchenschreien zu hören.

2

»Dat is total gruselig.« Postbote Klaas steht der Schrecken im Gesicht, als er mit seiner Posttasche »De Hidde Kist« betritt. Eine Sturmbö reißt ihm fast die Tür aus der Hand.

»Wat is denn los?« Imbisswirtin Antje unterbricht das Reinigen der Fritteuse. »Hast du ihn gesprochen?«

»Eben nich.«

Klaas und Antje machen sich Sorgen, weil Piet Paulsen schon den zweiten Tag im Imbiss fehlt. »Ich hab heute sogar Post für ihn und hab geklingelt, aber Piet hat nich aufgemacht.« Klaas ist wirklich beunruhigt.

»Klaas, nu mal ganz ruhig, er war vielleicht nich da«, versucht Dorfpolizist Thies Detlefsen, seinen Freund zu beruhigen. »Piet hat möglicherweise ja auch mal wat anderes vor.«

»Wat anderes?« Antje überlegt. »Wat denn?«

»Ich sag’s euch, da war jemand … da war ’ne Stimme!« Klaas macht ein Gesicht, als hätte er eine Erscheinung gehabt.

»’ne Stimme?« Antje sieht den Postboten staunend an. Aus der Bürste, mit der sie gerade den Frittierkorb reinigt, tropft der Seifenschaum.

»Is ja geil, Klaas hört neuerdings Stimmen.« Bounty grient und schiebt sich einen Kokosriegel in den Mund. Imbisshund Susi sieht von ihrem Fressnapf auf. Tadjes Freund Lasse, der neuerdings immer mal in der »Hidden Kist« reinschaut und heute Nachmittag den angestammten Platz des Schimmelreiters auf einem Barhocker vor dem »Action Star Explosion Compact« eingenommen hat, dreht sich kurz um. Dann steckt er die nächsten Zwanzigcentmünzen in den Daddelautomaten, der mit einem schrillen »Dadadüdadadüdüdüda« antwortet. Die Imbissrunde hat sich mittlerweile an den Sound gewöhnt und hört gar nicht mehr hin.

»Nee, Bounty, dat bilde ich mir nich ein. Piet hat mit ihr gesprochen, dat hab ich ganz deutlich gehört«, beteuert Klaas. »Und zwar war dat ’ne Frauenstimme.«

»’ne Frau?« Auch Thies mag es nicht ganz glauben.

»Hat vielleicht neuerdings ’ne Freundin?«, kichert der blasse Lasse und behält dabei weiter die rotierenden Walzen mit den Dollarzeichen, Kleeblättern und Ananas im Blick. Er drückt die leuchtenden Tasten des »Explosion«, der daraufhin ein finales »Blblblblblbl« von sich gibt.

»Das war bestimmt seine Nichte«, fällt Bounty ein. »Die kommt doch neuerdings manchmal aus Hamburg vorbei, um zu sehen, ob er mit seinem neuen Knie klarkommt. Macht sich offenbar Sorgen.«

»Er is mit seinem Knie ja auch immer noch nicht wieder richtig in Gang«, stellt Thies fest.

»Dat war nich seine Nichte.« Klaas ist sich sicher. »Die heißt doch Steffi, oder? Ich hab ’n ganz anderen Namen verstanden. Alex … oder so ähnlich. Weiß auch nich, ich konnte dat nich genau hören.«

»Alexandra!«, rufen Antje und Thies gleich im Chor.

»Na klar, die hat Piet zu Hause die Haare geschnitten, damit er mit seinem Knie nich in den Salon rübergehen muss.« Thies ist jetzt überzeugt, eine Erklärung gefunden zu haben.

»Alexandra? Nee, der Name war kürzer«, protestiert Klaas. »Und die Stimme klang auch anders. Alexandras Stimme ist ja so … na ja, so ’n büschen sexy!«

Lasse grient die rotierenden Ananas und Tomaten an.

»Die klang dagegen fast wie aus ’m Automaten«, überlegt der Postbote. »So wat wie Warteschleife oder dat Fräulein aus der Zentrale oder so.«

»Wat denn für ’n Automat?« Thies pustet in seinen heißen Coffee to go.

»Eine Stimme aus dem Nirwana der digitalen Welt.« Bounty wirkt, als hätte er schon ein hübsches Tütchen geraucht. Die anderen sehen ihn prüfend an. Aber dann klingt er ganz nüchtern. »Piet hat doch jetzt auch Internet. Das hat seine Nichte ihm eingerichtet.«

»Die heißt Alexa«, schaltet sich Lasse vom Spielautomaten in die Diskussion ein. »Habt ihr noch gar nichts davon gehört?«

»Alexa? Nö. Wer is dat denn?« Thies stellt den Kaffeebecher auf dem Stehtisch ab. Susi gibt ein leises Knurren von sich.

»Das nennt sich digitale Haushaltshilfe …« Lasse dreht sich um, während der »Explosion« müde ein einzelnes Zwanzigcentstück in die Münzmulde kleckern lässt.

»Hat Piet neuerdings ’ne Putzfrau?« Klaas staunt.

Antje legt die Bürste beiseite. »Dat hätte er doch erzählt.«

»Nee, das is so eine kleine runde Box mit Lautsprecher, die informiert dich, wenn was im Kühlschrank fehlt, oder spielt dir Musik vor und sagt dir, was du so machen sollst.« So ganz genau weiß das Lasse auch wieder nicht.

»Ein Kasten, der Piet sagt, was er machen soll? Dat kannst du vergessen. Der lässt sich doch nicht mal von mir wat sagen.« Die vollschlanke Imbisswirtin schüttelt den Kopf.

»Diese Alexa erinnert ihn, wann er seine Pillen nehmen soll, und erzählt ihm, was es heute Abend im Fernsehen gibt …«

»… oder wenn der HSV mal wieder ’n neuen Trainer hat und wann Piet in der ›Hidden Kist‹ vorbeischauen muss.« Bounty hat schon von Alexa gehört.

»Diese Alexa, ich glaub, das heißt offiziell ›Intelligenter Assistent‹«, überlegt Lasse.

»Intelligenter Assistent?« Thies guckt reichlich blöd aus der Wäsche.

»Dat ist doch dasselbe, was du, Thies, für Nicole bist.« Bounty muss kichern.

»Mir is dat unheimlich.« Antje macht ein besorgtes Gesicht. »Nich, dass diese Alexa Piet auf die schiefe Bahn bringt.« Dass ihre männlichen Stammgäste in den Einflussbereich anderer Frauen geraten, sieht die Imbisswirtin nicht so gerne.

»Das is die Zukunft, das nennt man künstliche Intelligenz«, weiß Lasse und wirft das gewonnene Geldstück wieder in den Schlitz des Daddelautomaten.

»Künstliche Intelligenz?« Thies staunt.

»Besser als natürliche Blödheit, oder?« Bounty gackert in sich hinein.

3

Die digitale Revolution geht selbst an Fredenbüll nicht vorüber. Und auch sonst verändert sich gerade allerlei, auch in der »Hidden Kist«. Antje ist nicht nur irritiert, dass Piet Paulsens Barhocker an Stehtisch Zwei immer häufiger leer bleibt. Auch der Schimmelreiter Hauke Schröder lässt sich nur noch selten blicken, seit er erstmals einen festen Job hat. Er ist als Außendienstmitarbeiter für den kleinen Raumausstatter »Tapeten Tobarben« im benachbarten Luftkurort Leck tätig und klebt jetzt Tapeten und verlegt Teppichböden. Hauke hat immerhin eine abgebrochene Lehre als Dekorateur vorzuweisen. Im Garten seiner Tante Telse, bei der er nach dem Weggang seiner Mutter seit Ewigkeiten lebt, hat er außerdem ein Kohlrabibeet angelegt. Der Schimmelreiter hat sich grundsätzlich sehr verändert, seit er in einem Hamburger Chinarestaurant mit den Weisheiten des Konfuzius konfrontiert wurde. Seinen tiefergelegten Mustang King Cobra ziert jetzt, in schillerndem Magenta und leicht nordischer Abwandlung, das berühmteste Zitat des Meisters: »Der Weg is dat Ziel.«

Fast hätte der Schimmelreiter Bounty mit seinem neuen Elan angesteckt. In letzter Zeit ist der Althippie nämlich etwas knapp bei Kasse. Seine Band »Stormy Weather« wird immer seltener gebucht. Den Vertrieb der handgezogenen Produkte aus seinem Kräutergarten hat er zuletzt etwas reduziert. Und dann hatte ihm die zuständige Dame in der Bredstedter Niederlassung der Agentur für Arbeit einige unangenehme Jobangebote gemacht. So hat Bounty kurzzeitig mit einem spontanen Start-up geliebäugelt. In Schlütthörn war ein hübsches kleines Ladengeschäft frei geworden, wie geschaffen für sein Projekt, den Coffeeshop »Magic Mokka«. Die junge Filialleiterin der Schlütthörner Raiffeisenbank, Wencke Petersen, konnte sich allerdings bisher noch nicht zu einem Startdarlehen für den Jungunternehmer mit dem dünnen grauen Pferdeschwanz durchringen. Nachdem der erste Kreditantrag an fehlenden Vorjahresbilanzen und einem wenig überzeugenden Businessplan gescheitert war, hat Bounty das Vorhaben zunächst wieder auf Eis gelegt. Um die ursprüngliche Geschäftsidee zu verwirklichen, müsste sich ohnehin erst mal die deutsche Gesetzeslage ändern.

Auch bei der sonstigen Stammbesetzung der »Hidden Kist« gibt es einige Veränderungen. Selbst Thies trinkt seinen Coffee to go oft nicht mehr im Imbiss, sondern neuerdings tatsächlich im Gehen auf dem Weg zum nächsten Einsatz. Allerdings verweigert er Einmalbecher, »wegen der Umwelt«, wie er sagt. Deshalb hat Antje im Gastronomiehandel größere Mengen spülmaschinenfeste Mehrweg-Kaffeebecher angeschafft, die sich mittlerweile auf der Rückbank des Polizeiwagens ansammeln und vor sich hin klappern.

Nach der Aufklärung seines letzten Falles, der ihn bis nach Hamburg geführt hat, und der Drohung, den Dienst zu quittieren, ist der Fredenbüller Polizist überraschend befördert worden: vom Polizeiobermeister zum Polizeihauptmeister. Den vierten Stern auf der Schulterklappe der Uniform hat Heike ihm aufgestickt, weil die Epauletten aus Kiel ewig auf sich warten ließen. Dafür hat Thies jetzt endlich einen neuen Dienstwagen bekommen, einen Ford Focus. Ganz neu ist das Auto allerdings nicht, sondern aus zweiter Hand. Der schnittige Viertürer hat schon zweihunderttausend Kilometer auf dem Tacho und angeblich einige spektakuläre Verfolgungsjagden durch den Kieler Hafen hinter sich. Und es ist ein Diesel, Schadstoffklasse vier. Das ist irgendwie blöd gelaufen. Damit darf er nicht mal mehr in die Husumer Innenstadt, wo Kriminalhauptkommissarin Nicole Stappenbek seit Kurzem ein kleines Kommissariat leitet.

Nach dem kurzen dramatischen Zwischenspiel in Hamburg ist Nicole dann doch wieder ganz hoch oben im Norden gelandet. Sie trägt auch wieder ihren normalen blonden Pferdeschwanz und die alte Lederjacke mit den Fransen. Für ihren chronischen Heuschnupfen bietet die Nordsee das ideale Klima, und in der etwas beschaulicheren neuen Stelle will sich die alleinerziehende Mutter etwas mehr ihrem kleinen Sohn Finn widmen. Heimlich hofft sie auch auf eine Wiederbelebung ihrer Beziehung mit Studienrat Niggemeier, dem Vater von Finn, der seinem Erzeuger von Jahr zu Jahr immer ähnlicher wird. Niggemeier lebt mit seiner anderen Familie in Husum. Aber vielleicht nimmt er sich in Zukunft dann ja doch mal Zeit für ihren gemeinsamen Sohn.

Auch für Thies ist es jetzt ein kürzerer Dienstweg. Wenn nur das neue Auto nicht wäre. Die letzten zweihundert Meter zu Nicoles neuem Büro muss Thies immer zu Fuß gehen. Aber in Fredenbüll und Umgebung gibt es glücklicherweise noch keine Fahrverbote.

Die Imbissrunde diskutiert noch die neusten Entwicklungen im Bereich der digitalen Haushaltshilfen, als der Schimmelreiter mit dem Firmenkombi von »Tapeten Tobarben« fast in die gläserne Eingangstür der »Hidden Kist« hineinrauscht.

In Malerklamotten springt Hauke aus dem Wagen, stürzt in den Imbiss. »Thies, gut dass du da bist. Du musst sofort wat unternehmen!«

»Was is denn los, Hauke?« Die Anwesenden sehen ihn mit großen Augen an.

»Ja, Scheiße, der Wagen ist weg!«

»Wieso?« Alle sehen nach draußen.

»Nee, nich der Wagen von Tobarben! Mein Mustang!« Hauke ist mit seinen Nerven am Ende. »Aus der Garage rausgeklaut! Unglaublich! Und im Kofferraum sind noch jede Menge Teppichmuster. Dat is eine Scheiße!«

»Hat Tante Telse nich aufgepasst?«, will Bounty wissen. Die Tante hat in ihrem kleinen Bausparerhäuschen am Rande von Fredenbüll eigentlich immer alles fest im Blick, den Garten und auch den ehemaligen Stall, in dem Hauke seinen tiefergelegten Mustang unterstellt.

»Dat ist ja das Komische, die ist auch nich da.« Der Schimmelreiter ist so bleich wie sein Maleroverall. »Haustür und Küchenfenster sind offen, Kohlrouladen halb fertig gewickelt auf der Arbeitsplatte, aber Tante Telse nich da. Gibt’s doch nich!«

4

Der Sturm rüttelt an den Fenstern des Hallig-Hotels. Draußen segeln Möwen schreiend ungewöhnlich dicht um das Gebäude. Immer wieder umkreisen sie das Haus, das aus der Weite der See herausragt. Tadje, die Tochter des Fredenbüller Polizeihauptmeisters, höhlt in der großen Küche des ehemaligen Kinderheimes einen weiteren Kürbis für Halloween aus. Das Innere will sie gleich für eine Suppe verarbeiten. Einige Kürbisse befinden sich schon inwendig leuchtend auf den zugigen Fensterbänken. Auf dem gusseisernen Herd steht eine große Kanne »Fredenbüller Deichtee«, die Kräutermischung, die Tadje extra für die Gäste des Halloween-Wochenendes mitgebracht hat. Der geflieste Raum ist mit kaltem Neonlicht ausgeleuchtet. Es ist kühl und feucht. In einer mit Wasser gefüllten Zinkwanne krabbeln etliche Krebse und Hummer. Das Kratzen ihrer Scheren auf dem Metall ist auch gegen das Schreien der Möwen deutlich zu hören. Das bevorstehende Kochen der Krebse fürchtet Tadje schon, seit sie hier ist. Sie fröstelt.

Eigentlich hat sie sich das alles anders vorgestellt. Sie bereut es fast schon, dass sie das Praktikum auf der Hallig überhaupt angetreten hat. Seit einem halben Jahr befindet sich Tadje in der Ausbildung zur Hotel- und Tourismuskauffrau. Jetzt steht ein Hotelpraktikum an, und Praktikumsplätze sind gerade zu dieser Zeit rar. An der Nordseeküste ist die Hauptsaison vorbei, da gab es kaum Stellen. Und in ein großes Hotel in der Stadt, nach Hamburg oder Kiel, wollte Tadje nicht so gern. Sie wollte in der Nähe bleiben, schon wegen Lasse, der nach dem Abitur immer noch nicht recht weiß, was er machen soll, und die Nachmittage neuerdings vor dem Spielautomaten in der »Hidden Kist« verdaddelt. Da ist er nicht der Einzige aus ihrer Klasse, auch Silja und Gina-Marie hängen nach dem Abi ziemlich durch und gehen lieber shoppen statt studieren.

So zielstrebig wie ihre Zwillingsschwester Telje ist Tadje vielleicht nicht, aber wie Gina-Marie lässt sie sich auch nicht hängen. Und dann hatte sie in der Berufsschule von dem Praktikum auf der Hallig Westeroog gehört. »Halloween auf der Hallig« hörte sich toll an, »richtig schön spooky«, fand Tadje. Ihre Zwillingsschwester Telje, die während der Wartezeit auf einen Medizinstudienplatz in der Nordseeklinik in Husum arbeitet, war fast ein bisschen neidisch und wäre am liebsten mitgekommen. Die Praktikantin hatte sich ein stilvolles Halloween-Dinner mit Spezialitäten aus der Nordsee vorgestellt. Ein hyggeliges, wohlig gruseliges Themenwochenende auf der abgeschiedenen Hallig, das geht schon deutlich in Richtung Eventmanagement, und das ist genau das, was der Tochter des Fredenbüller Polizisten vorschwebt.

Jetzt steht sie hier in dieser zugigen kalten Küche, schnitzt an Kürbissen herum und spießt Gabelrollmöpse auf kleine Holzspieße, während ihr fast die Füße abfrieren. Gleich muss sie noch hundert Gläser abwaschen. Eine Spülmaschine gibt es hier natürlich auch nicht. Mit ihren Vorstellungen von Eventtourismus hat das alles wenig zu tun. Sie bekommt auf einmal Zweifel, ob das Hotel wirklich zu den im Ausbildungsplan vorgeschriebenen »Unternehmen der Event- und Freizeitwirtschaft« gehört. Hier hat sie nicht mal ein Netz für ihr Handy.

Das Gebäude mit den alten brüchigen Steinfußböden und den muffigen Teppichen, auch den unheimlichen Hotelbesitzer Meinhard Meyer und die traurige kleine Gruppe seltsamer Gäste findet sie alles andere als eventmäßig. Außerdem jagen die beiden Mäuse, die ständig durch die Küche huschen, ihr immer wieder einen Schreck ein. Bisher hatte eine fette Katze die Mäuse angeblich in Schach gehalten. Aber der hässliche Kater mit der platten Schnauze und dem fransigen Fell soll kürzlich ertrunken sein und auf einem kleinen Tierfriedhof hinter dem Hotel am Rande des Watts neben anderen Haustieren seine letzte Ruhe gefunden haben.

Tadje ist erst seit einer Woche auf der Hallig. Das Hallig-Hotel hat auch erst seit Kurzem wieder eröffnet. Das in den neunzehnhundertzwanziger Jahren im norddeutschen Heimatstil erbaute Haus auf der Halligwarft war kurze Zeit ein Hotel, dann ein Kinderheim, zuletzt rottete es fast vierzig Jahre ungenutzt vor sich hin. Es war immer wieder diskutiert worden, das Gebäude abzureißen, die Hallig zu renaturieren und zum Refugium der bedrohten Brandseeschwalbe umzuwidmen. Doch dann hat im Frühjahr der exzentrische Hotelier und Maler wilder Seebilder, Meinhard Meyer, der Jahrzehnte zuvor schon einmal Herbergsvater des Kinderheimes war, das marode Gebäude zu einem Spottpreis erworben.

In einem Teil des Hauses ist mit der Renovierung noch nicht einmal begonnen worden. In einigen Zimmern stehen immer noch die alten angerosteten Etagenbetten aus der Zeit des Kinderheims. Im Keller und im Kesselraum stapeln sich Kisten mit altem Werkzeug und halb verrotteten Schwimmwesten aus Kork, der von den Mäusen angenagt wurde. In der winzigen Hallig-Kapelle, die auf einer weiteren kleinen Warft steht, die man über eine Salzwiese erreicht, riecht es nach Schimmel. Die hölzerne Jesusfigur hat über die Jahre in dem feuchten Nordseeklima arg gelitten. Aber der alte Speisesaal und die ersten Zimmer im Hauptgebäude, die Bibliothek und der kleine Anleger sind wieder einigermaßen hergerichtet. Der Standard für die Gäste ist einfach, die Gemeinschaftsduschen und Toiletten befinden sich auf dem Gang. Dafür lockt das morbide Haus mit allerlei Spuk um ein sagenumwobenes Piratengrab. In grauen Vorzeiten sollen sich Seeräuber von einem sinkenden Schiff auf die unbewohnte Hallig gerettet haben. Mangels Proviants töteten die Anführer Teile ihrer Mannschaft. Angeblich wurden sie zu Kannibalen und vergruben anschließend die Knochen ihrer Kumpane auf einer Warft. Und dann gibt es den unheimlichen Tierfriedhof, auf dem nicht nur Seehunde, Katzen und Krustentiere, sondern vor langer Zeit auch die grausam ermordeten Töchter des Hoteliers beerdigt worden sein sollen. In stürmischen Herbstnächten, insbesondere in der Halloween-Nacht, sollen die Toten der Legende nach wieder lebendig werden. Irgendwie kommt es Tadje so vor, als spuke es hier wirklich.

5

»Wollen wir mal etwas ganz anderes versuchen?« Diesen Satz hört man im »Salon Alexandra« neuerdings öfter, seit Jungcoiffeur Eddie zum Team gehört. Der junge Mann mit den pechschwarzen wild abstehenden Haaren war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Keiner weiß so recht, wo er herkommt. Angeblich hat er eine Lehre bei einem Düsseldorfer Edelfriseur, der hinter verdunkelten Schaufenstern an der Düsseldorfer Kö residiert, absolviert. Den Gesellenbrief hat Alexandra nie zu Gesicht bekommen. Aber Eddie hat ein Auftreten, da musste sie ihn einfach zumindest auf Probe einstellen.

Eigentlich ist der Salon jetzt etwas überbesetzt. Und Janine, die ihre Lehre bei Alexandra gemacht hat, ging der exaltierte neue Kollege von Anfang an auf die Nerven. Aber Eddies neue Frisurideen, Färbemethoden und seine spektakuläre Schnitttechnik haben sich auf Anhieb weit über Fredenbüll hinaus herumgesprochen.

Neuerdings pilgern die Damen aus Bredstedt in den »Salon Alexandra«, um sich ein Update ihrer Haare verpassen zu lassen, wie Eddie es nennt. Zwei Kundinnen sind sogar aus Husum angereist, um Eddie in Aktion zu bestaunen. Mit zwei Scheren gleichzeitig, in jeder Hand eine, zaubert er den Damen und auch einigen Herren die tollsten Frisuren, die man sonst nur bei der Oscarverleihung zu sehen bekommt. Das Geräusch seiner beiden Scheren, das Klappern, das Zischen und Schaben, wenn die beiden Scherblätter aneinander vorbeigleiten, versetzen die weibliche Kundschaft in helle Verzückung.

Seitdem werden auf der Fredenbüller Dorfstraße die spektakulärsten Haarkreationen vorgeführt: Pixie Cuts in Schokoladenbrauntönen, lässig gestufte Long Bobs in Vanilla-Blond und Neuvariationen des Vokuhilas, die aussehen wie mitten im Friseurtermin abgebrochen. Sogar der Rod-Stewart-Gedächtnis-Look mit blond getönten Strähnchen erlebt ein unerwartetes Comeback.

Auch Dorfpolizist Thies trägt statt seines Frontspoilers jetzt den verstrubbelten »Out-of-Bed«-Look und sieht zumindest auf dem Kopf ein bisschen aus wie Grünen-Chef Robert Habeck. Die aktuellen Frisurentrends werden im Salon heiß diskutiert. Stammkundin Frau Bandixen, die große Teile ihres Rentnerdaseins im »Salon Alexandra« verbringt und dem Begriff Dauerwelle seine wahre Bedeutung verleiht, bleibt skeptisch. Die Mutter des Bürgermeisters, Oma Ahlbeck, hält ebenfalls noch an ihren bewährten bläulich schimmernden Betondauerwellen fest, die ihren Kopf wie ein Helm umgeben.

»Nur Mut, Dörthe.« Eddie zwinkert Alexandras Kundin und Freundin aus seinen schwarz geschminkten Augen aufmunternd zu und fährt klappernd mit beiden Scheren um ihren Kopf herum. Polizistengattin Heike und Freundin Sandra, die ebenfalls mit einer neuen Frisur liebäugeln, verfolgen das Schauspiel fasziniert von ihren Wartestühlen aus. Angesichts der Scherenakrobatik mischt sich in die staunenden Blicke allerdings auch etwas Besorgnis.

»Pass mal bloß auf, min Jung, dat du hier niemanden erdolchst«, gibt Oma Ahlbeck in Saallautstärke aus ihrer Trockenhaube heraus zu bedenken.

»Ein Pixie Cut? Und den tönen wir ganz dezent in Sun-Kissed-Blond an«, flüstert »Eddie, die Schere« Dörthe in einschmeichelndem, aber bestimmtem Ton zu. Er nimmt beide Scheren in eine Hand und fährt ihr mit der anderen durchs Haar.

»Vertrauen Sie mir. Die Frisur passt ins Büro genauso wie auf die After-Work-Party.«

»Sie geht doch gar nicht ins Büro.« Alexandra blickt kritisch zu ihnen hinüber.

»Und auf diese Rauschgiftpartys erst recht nich«, ruft Oma Ahlbeck mit rollendem R unter der Trockenhaube hervor.

»Ich weiß nicht so recht.« Dörthe, die Frisurenexperimenten eigentlich recht aufgeschlossen gegenübersteht, zögert noch. »Wat heißt eigentlich Pixie? Und wat war dat mit diesem kissed?«

»Pixie, das ist der Schnitt, den ich Ihrer Freundin Marret gerade gemacht habe, und Sun-Kissed ist nur so ein Hauch von Blond, wie nach den Sommerferien an der See.« Eddie wischt mit der Hand einmal durch die Luft. »Marret ist voll drauf abgefahren.«

»Steht ihr aber auch wirklich gut«, findet Heike, die im Augenblick immer noch den obligatorischen Heuwagen auf dem Kopf hat. »Dörthe, wenn du jetzt nich willst, dann übernehm ich deinen Termin sofort.«

Das überzeugt Dörthe. »Okayyyy! Ich glaub, das will ich dann auch.«

»Dörthe, überleg es dir gut. Willst du das wirklich?«, gibt die Chefin noch mal zu bedenken. »Das bedeutet eine echte Typveränderung.«

»Alexandra?!« Eddie streckt die Scheren in seinen Händen mit gespielter Verzweiflung in die Luft. »Das ist doch der Witz der ganzen Aktion. Bitte nicht so langweilig, die Damen.« Janine rollt hinter Eddies Rücken die Augen. Was spielt sich dieser eitle Gockel mit seinem albernen Scherengeklapper bloß auf. Was will der hier in Fredenbüll? Wenn es nach Janine ginge, könnte er sich schnellstens wieder nach Düsseldorf verziehen.

Die Stammkundschaft überlässt Dörthe und Eddie ihrem Pixie Cut. Ein ganz anderes Thema interessiert die unter den Trockenhauben und auf den Wartestühlen versammelte Damenriege heute noch mehr. Die Nachricht, dass Hauke Schröders Tante Telse verschwunden ist und in ihrem Haus offenbar eingebrochen wurde, hat sich schon wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet.

»Dat ist ja wohl ’ne Serie«, bemerkt Sandra.

»Ja, schrecklich«, pflichtet Oma Ahlbeck ihr bei.

»Thies hat alle Hände voll zu tun«, verkündet Polizistengattin Heike mit wichtiger Miene. »Gestern haben sie bei Dossmann eingebrochen …«

»Kürzlich erst die Pleite mit seiner Hühnerhalle und jetzt auch noch ’n Einbruch in seiner Villa«, sinniert Dörthe.

»Aber bei Dossmann ham sie wohl gar nicht viel mitgenommen«, weiß Frau Ahlbeck. »Angeblich ’ne Geflügelschere und ’n Küchenmesser. Komisch, nä.«

»Und heute wohl bei Telse. Ich weiß noch nichts Genaues. Thies ist grad da. Dat Auto vom Schimmelreiter is angeblich weg.«

»Bei meinem Sohn im Edeka-Markt haben sie dat auch versucht, aber wir haben ja Alarmanlage«, ruft Oma Ahlbeck triumphierend. »Dat soll wohl ’ne richtige Gang sein.«

»Halbstarke!«, schreit die schwerhörige Frau Bandixen aus ihrer Trockenhaube heraus.

»Dat weiß man wohl noch nich. Thies ermittelt erst«, wendet Heike ein.

Eddie grinst süffisant und wirft den beiden Rentnerinnen einen kurzen provokanten Blick aus seinen schwarz geschminkten Augen zu. Dann wirbelt er weiter mit seinen beiden Scheren durch Dörthes Haare, die im hohen Bogen durch den halben Salon fliegen. Dörthe steht jetzt doch der Schrecken im Gesicht.

»Dann is er doch bestimmt wieder mit seiner blonden Kommissarin Nicole unterwegs?«, vermutet Oma Ahlbeck. »Die soll doch jetzt extra ’n neues Büro in Husum haben.«

»Nee, Madame is nur für Mord zuständig«, gibt Heike, die auf Hauptkommissarin Nicole gar nicht gut zu sprechen ist, schnippisch zurück. »Und Thies muss wieder die ganze Arbeit machen.«

»Man fühlt sich heutzutage nirgendwo mehr sicher«, verkündet Frau Bandixen.

»Bei mir im Salon seid ihr alle in Sicherheit.« Alexandra grient in die Runde und bindet sich die rote Löwenmähne, die für Eddie bislang tabu ist, mit einem Haargummi zusammen.

»Jaaa, unter der Trockenhaube im Salon. Aber sonst is man nirgendwo mehr sicher.« Frau Bandixen lässt sich nicht von ihrer Meinung abbringen.

»Ja, is doch so«, pflichtet Oma Ahlbeck ihr bei. »Schlimm is dat.« Sie sieht Jungfriseur Eddie an. Der zuckt nur mit den Schultern. Dabei hat er wieder dieses süffisante Grinsen auf den Lippen.

Irgendwie guckt er komisch, findet Alexandra. Hatte Eddie nicht letzte Woche, als er den Schlüssel verlegt hatte, mit einer Effilierschere die Eingangstür des Salons geöffnet?

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Tadje hat mit der Kürbissuppe und dem Aufrollen der Gabelmöpse alle Hände voll zu tun. Es macht den Eindruck, dass sie ganz allein für die Versorgung der Gäste zuständig ist. Aber es ist auch nur eine kleine Gruppe, die sich zum »Halloween auf der Hallig« eingefunden hat. Mit dem heutigen Boot, der letzten Verbindung vom Festland nach Westeroog, ist noch ein weiteres Paar angekommen. Ein nicht mehr ganz junger Mann mit Dreitagebart und in stylischer Segeljacke will seiner deutlich jüngeren Freundin die raue See an der Küste zeigen. Die angegrauten, wild zerstrubbelten Haare betonen sein Sailor-Image. Das ist nicht mehr »Out-of-Bed«, eher »Out-of-Hurricane«, als würde er seine Haare selbst mit der elektrischen Heckenschere schneiden. Am liebsten wäre der angebliche Weltumsegler, der eigentlich Dieter heißt, sich aber von allen Vasco nennen lässt, im eigenen Boot gekommen. Die Freundin, die wohl lieber in einem Wellnessressort auf den Seychellen gelandet wäre, zieht seit ihrer Ankunft eine Dauerflappe und straft die anderen Gäste mit giftigen Blicken aus ihren Katzenaugen.

Als weiterer Gast hat sich Udo Schmelzer aus Bad Hersfeld mal wieder an die Nordsee gewagt. Er kommt Tadje gleich bekannt vor. Vor einigen Jahren war seine Frau Doris, mit der er zur Beobachtung der Zugvögel regelmäßig auf Hallig Hooge weilte, in der Nähe von Fredenbüll einem Frauenmörder zum Opfer gefallen. Jetzt hat sich Udo Schmelzer mutig der Frauengruppe angeschlossen, die seit zwei Tagen durch das Hotel geistert. Der kleine Kreis der Hellseher und Hellfühler um die ehemalige Elternvertreterin Iris Lammers-Lindemann hat das Hallig-Hotel in Beschlag genommen. Nach dem Abitur ihrer Tochter hat sich Frau Lammers-Lindemann ganz aufs Übersinnliche verlegt und gibt jetzt enthusiastisch ihre Erfahrungen an die Kursteilnehmer weiter. Wegen des Schweigegelübdes geschieht dies im Augenblick allerdings wortlos.

Tadje hat auch Frau Lammers-Lindemann natürlich sofort wiedererkannt. Die nervige Mutter ihrer Klassenkameradin Anna-Lena hat bei ihr und allen anderen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Während ihrer Schulzeit hatte sich die überdrehte Elternvertreterin in alles eingemischt und war überall aufgekreuzt. Sogar auf ihrer Klassenreise nach Amrum in der Zehnten war sie ihnen hinterhergefahren. Erst war sie dreimal am Tag im Schullandheim aufgekreuzt, dann hatte sie mit irgendwelchen abgefahrenen Steinesammlern nackt Schwitzhüttenrituale am Strand abgehalten. Nach dem Abitur von Anna-Lena war es zwischen der Helikoptermutter und ihrer Tochter zum Zerwürfnis gekommen. Frau Lammers-Lindemann war in Klamotten aus Anna-Lenas Kleiderschrank mehrfach auf Partys der Jugendlichen aufgekreuzt. Nachdem sie sich ohne Rücksprache ein Mutter-Tochter-Tattoo in Form eines Schmetterlings hatte stechen lassen, hat Anna-Lena mit ihrem Schmetterling endgültig das Weite gesucht.

Auch jetzt benimmt sich die ehemalige Elternvertreterin immer wieder höchst seltsam. Als Tadje sie gestern angesprochen hat, antwortete Frau Lammers-Lindemann überhaupt nicht. Dabei hat sie sie früher als ausgesprochene Quasselstrippe erlebt. Auch die anderen Frauen laufen stumm über die langen Flure des Hotels oder sitzen mit ihren Namensschildern, auf denen Iris, Sabine, Ilona, Claudia oder Yvonne steht, an dem langen Tisch im großen Speisesaal und sagen keinen Piep.

Zu den Teilnehmern des Hellseh-Workshops gehört auch Marret, die Fredenbüller Freundin von Heike, Alexandra und den anderen. Bisher war Marret alles Esoterische fremd. Aber in letzter Zeit hatte die Fredenbüller Hausfrau Stimmen gehört und eine allgemeine Neigung zum Hellsehen und vor allem Hellhören festgestellt. Sie ist auch erst heute mit dem letzten Boot nachgekommen. Den begehrten, seit Langem gebuchten Friseurtermin bei »Eddie, der Schere« wollte sie nicht wieder absagen. »Muss ich einen Tag Schweigen nachholen«, hatte sie sich überlegt, und hat verspätet, aber mit schickem neuem Kurzhaarschnitt aus dem »Salon Alexandra« nach Westeroog übergesetzt.

»Oh, Marret«, hat Tadje sofort bemerkt. »Neue Frisur? Sieht gut aus.«

»Ja, Alexandra hat doch jetzt … ach so, nee … pssssst.« Dann hatte Marret den Satz abrupt unterbrochen, sich den Zeigefinger an die Lippen gelegt und keinen Ton mehr gesagt. Auch Udo Schmelzer, der als einziger Mann an dem Workshop teilnimmt, hatte nur eine kurze Frage gestellt: »Sind Sie nicht die Tochter des Polizisten?« Dann hatte er sich plötzlich an sein Schweigegelübde erinnert und ebenfalls erschrocken an die Lippen gefasst. Udo Schmelzer will hier auf Westeroog sein Trauma aufarbeiten. Nach dem Tod seiner Frau wollte er allein nicht wieder auf eine Hallig, lieber in der Gruppe. Die Reisen für Vogelbeobachter passten nicht in die Urlaubspläne seines Arbeitgebers, der Bad Hersfelder Finanzbehörde. Hellsehen und Hellfühlen entsprach eigentlich nicht so sehr Udos Naturell, aber dann fand er es doch irgendwie ganz interessant. Und jetzt verbindet er mit dem Workshop sogar die leise Hoffnung, mit seiner ermordeten Doris in Kontakt zu treten.

Udo nickt Tadje zu und hält sich beflissen den Zeigefinger vor die Lippen. Der Typ in der Segeljacke dagegen quatscht sie bei jeder Gelegenheit mit den tollsten Geschichten von den sieben Weltmeeren voll und ordert zwischen jeder Segeltörn-Anekdote gut geschenkte Grogs. Bei dem Seemannsgarn bleibt der Praktikantin nur die Flucht in die Küche im Souterrain. Während Tadje dem Heulen des Windes und dem Knarren der Dachbalken lauscht, meint sie, von draußen ein leises Schluchzen zu hören. Sie öffnet die klapprige Tür. Direkt davor sitzt ein junger Seehundheuler. Er gibt ein klägliches »uhhh-uhhh« von sich und sieht sie mit großen Augen an.

»Na, was bist du denn für einer?«, fragt Tadje in mütterlichem Tonfall.

Der junge Seehund robbt mit zwei Flossenschlägen auf sie zu. »Wo ist denn deine Mama?« Aus den großen Augen des Heulers tropft eine Träne. »Du hast doch bestimmt Hunger? Oder? Und dann auch noch dieses scheußliche Wetter.« Am liebsten würde sie ihn in die Küche holen. Stattdessen schnappt sie sich ein eingelegtes Heringsfilet und hält es dem kleinen Seehund hin, der es sich gleich schnappt und gierig in sich hineinschlingt. Tadje spendiert ihm zwei weitere Heringsfilets, worauf der Heuler unbedingt auf ihre Füße robben will. Tadje schiebt ihn vorsichtig weg, schließt die Küchentür lieber wieder und widmet sich ihrem Abwasch.

Sie hört noch ein paar Laute des Seehundes. Dann ist für einen Moment alles ruhig. Plötzlich gellt ein schrilles Jammern und ein Schluchzen durch das Gebäude. Es kommt nicht von draußen, sondern aus einem entfernten Teil des Hotels … und dann so etwas wie einen Schrei. Was war das?

Vor Schreck rutscht Tadje ein Teller aus der Hand und fällt in den alten Keramikspülstein, in dem eine ganze Batterie benutzter Groggläser steht. Die Gläser zerspringen klirrend. Hektisch sammelt Tadje die Scherben aus dem Becken. Sie will das zu schnell machen, den Schaden zu hastig beseitigen. Dabei schneidet ihr die Spitze eines abgebrochenen Glases in die Handfläche. Das Blut quillt sofort aus der Wunde. Panisch öffnet Tadje den Hahn und lässt Wasser über ihre Hand laufen. Zwei Groggläser, die heil geblieben sind, füllen sich mit Wasser, in das Blut tropft. Die roten Tropfen explodieren kurz in der klaren Flüssigkeit, ehe sie sich mit ihr vermischen.

Das schrille Schreien der Möwen und Krähen zieht gedehnt wie auf einem zu langsam abgespielten Tonband an den hohen Fenstern der Küche vorüber. Tadje wird schwindelig.

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