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Wenn’t sömmers in d’ Haven sneeit …
Wer schläft denn da bei den Bronzefiguren am Hafen von Neuharlingersiel? Oma Pusch will wissen, wer den zwei Fischern dort seit der Morgendämmerung Gesellschaft leistet. Doch als sie den Mann berührt, fällt er koppheister mit durchtrennter Kehle ins Hafenbecken. Dass er ihrem Neffen, dem Halbbazi und Oberkommissar Eike Hintermoser, ähnlich sieht, macht sie ebenso stutzig wie der Fund eines weiteren Toten in Trachtenlederhose, der aufgeschlitzt im Kofferraum hinter der Fischereigenossenschaft gefunden wird. Der Gedanke, dass beide Fälle zusammenhängen und eine Spur ins Allgäu führt, drängt sich geradezu auf, obwohl die alte Marga eher den Düvel wegen eines Wetterphänomens in Verdacht hat. Was bleibt da Oma Pusch und ihrer Freundin Rita übrig, als sowohl am Meer als auch in den Bergen nach dem Mörder zu suchen?
… denn hett de Düvel de Hemel verflöökt!
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Alles darf nicht so ernst genommen werden!
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:SchattenHautSchattenWolfSchattenGiftSchattenTodSchattenGrabSchattenSchwurSchattenSuchtSchattenGierSchattenZornSchattenQualSchattenSchuldSchattenSchneeFriesenNerzFriesenGeistFriesenSpielFriesenLustFriesenSchmutzFriesenFlutFriesenWitzFriesenBissFriesenGlutKurzKrimis und andere SchattenSeitenWeihnachtsanektötchen aus dem Weserbergland
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe Stock, 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8719-2
Nané LénardFriesenTrip
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Für Gabi und Eckhard
Es war ein Tag zum Heldenzeugen. Das wenigstens dachte Oma Pusch (Personenregister am Ende des Buches), als sie an diesem frühen Junimorgen aus ihrem Wohnzimmerfenster auf den Hafen von Neuharlingersiel blickte. Noch war es relativ ruhig dort unten, aber schon bald würden Sonne und warme Temperaturen die Touristen aus ihren Domizilen locken.
Manch ein Küstenbewohner fand dieses Sommertreiben lästig. Oma Pusch aber freute sich, denn da war nicht nur an ihrem Kiosk die Hölle los, nein, sie hatte auch jede Menge neue Leute zum Quatschen. Mittlerweile war es überall bekannt, dass man sie durchaus als wahre Koryphäe in Sachen Mordermittlung betrachten konnte. Einige Einheimische hatten ihr sogar hinter ihrem Rücken den Namen Mops Marple gegeben, was sie natürlich insgeheim wusste. Nun, sie kicherte darüber, war es doch die Verquickung aus der genialen Ermittlerin Miss Marple und dem Umstand, dass Oma Pusch selbst gemachte Rollmopsbrötchen mit Pfiff verkaufte. Den Pfiff machte der Klacks Honig aus, den sie zwischen jede der Hälften ihrer Fischleckereien mittels Quetschflasche spritzte. Manchmal konnten kleine Veränderungen eine große Wirkung haben.
Niemand ahnte, warum die von Oma Pusch am besten schmeckten, aber sie waren der Renner schlechthin, weswegen die Touristen sogar aus den umliegenden Küstenorten bei ihr Station machten.
Es sei für Unwissende noch erwähnt, dass diese moderne Mops, äh Miss Marple, besser bekannt als Oma Pusch, im wirklichen Leben Charlotte Esen hieß und von anderen allerhöchstens Lotti genannt werden wollte. Doch das wussten die meisten, denn mit etlichen Küstenbewohnern war sie verwandt oder verschwägert. Für fünf Kinder und mittlerweile 13 Enkel zeichnete sie selbst verantwortlich, aber es gab noch unzählige Nichten, Neffen, Cousins und Cousinen. Kurzum: In Oma Puschs Leben war immer etwas los! Da tat ein ruhiger Morgen gut, vor allem weil ihr der Duft ihres heißen Kaffees in die Nase stieg, während sie in ihrem Relaxsessel vor dem geöffneten Wohnzimmerfenster saß. Gedankenverloren nahm sie einen weiteren Schluck. Frisch aufgebrüht schmeckte er einfach am besten. Gut, im Kiosk hatte sie selbstverständlich eine Kaffeemaschine, aber hier zu Hause hielt sie es, wie vormals ihre Großmutter: frisch gemahlen und handgefiltert musste er sein.
Oma Pusch sah auf die Uhr. Gleich neun. Sie beobachtete, wie die ersten Geschäfte ihre Verkaufsständer nach draußen rollten. Bei Bäcker Hinrichs standen sie Schlange bis vor die Tür, und auf dem Deck eines Fischkutters wurde geschrubbt. Schlendernde Menschen waren noch kaum unterwegs, geschäftige hatten es eilig. Niemand saß bisher auf den Bänken, nur dort am Hafenende bei den Bronzefiguren, die einen jungen und einen alten Fischer darstellten, hatte sich jemand angelehnt, der in der Sonne zu dösen schien.
Mit einem Grinsen trank Oma Pusch den letzten Kaffeerest aus ihrer Ostfrieslandtasse. Ja, da saßen die Touristen oft auf der Mauer neben den lebensgroßen Statuen und ließen sich fotografieren. Der ältere Fischer hatte sogar inzwischen einen blanken Mors, weil irgendein Dösbaddel herumerzählt hatte, es brächte Glück, wenn man seinen Bronze-Pöter streichelte. Natürlich war das totaler Humbug, aber die Leute glaubten daran, und das konnte bekanntlich Berge versetzen.
Mit einem Seufzer erhob sich Oma Pusch aus ihrem gemütlichen Schwebesessel. Der Tag konnte beginnen. Auf dem Weg in die Küche zog sie das Tuch von Ronnys Käfig, der ihr ein undankbares „Na endlisch!“ hinterhersächselte. Der haarlose Papagei hatte eigentlich ihrer Cousine Miezi gehört, aber die war wohl vergesslich, denn sie hatte ihn nach ihrem Umzug von Leipzig nach Bensersiel nie wieder abgeholt. Nun, Oma Pusch war das ganz recht. Sie hatten sich aneinander gewöhnt, der nackige Vogel und sie, auch wenn er aussah wie ein gerupftes Brathähnchen kurz vor dem Sprung in die Pfanne. Seine Sprüche brachten sie oft zum Lachen, was auch an seinem Dialekt lag. Mit der Zeit hatte sie ihm sogar ein bisschen ostfriesisches Platt beigebracht. Ronny war pfiffig – im wahrsten Sinne des Wortes, und wenn er so wie jetzt gefüttert wurde, mutierte er zum richtigen Schmuser. Dann schmiegte er sich an Oma Puschs Hand und juchzte. Wem ging da nicht das Herz auf.
Die Zeit raste, stellte unsere Hobbyermittlerin mit Blick auf die Uhr fest. Auf zehn war sie mit ihrer Freundin Rita im Kiosk verabredet. Die half ihr nicht nur beim Schmieren der Rollmopsbrötchen und Bedienen der Kundschaft, sondern auch beim Lösen komplexer Mordfälle. Nun schnell noch ins Bad und Ronny fix das Radio angestellt – NDR 2 war ihm am liebsten –, und dann ging es los.
Mit federnden Schritten rannte sie die Treppen der alten Hafenkneipe Dattein hinab, über der sie ihre Wohnung hatte, und trat hinaus in die frische Seeluft. Ah, das war ein Genuss! Heute gab es alles, was Oma Pusch glücklich machte: Sonne satt, Wärme mit einem Hauch frischer Brise, Hafenwellen und Berta, die zahme Möwe, mit der sie ein Agreement hatte. Für reichlich Futter hielt sie Artgenossen fern und damit das Dach des Kiosks sauber, denn Berta selbst war stubenrein. Sie klackte nur ins Wasser. Eine Win-win-Situation, die sie einmal in eine unangenehme Lage gebracht hatte, denn Schwager Enno, mit dem sie gelegentlich heimlich techtelte und mechtelte, hatte das Wissen um ihren guten Draht zu Ronny und Berta veranlasst, im Kiosk zu erwähnen, dass Oma Pusch doch echt gut zu Vögeln sei. Da Umstehende leider nicht hören konnten, dass er das V großgeschrieben hätte und nicht klein wie bei einem Verb, war eine peinliche Stille entstanden. Aber das war längst Schnee von gestern.
Leichte Kräuselwellen schwappten an die Kaimauer. Auch das war Musik in Oma Puschs Ohren. Schmunzelnd ging sie an der Hafenmuschel vorbei, schwenkte nach links und entdeckte, dass der Mann, den sie vorhin aus dem Fenster gesehen hatte, noch immer an der Bronzefigur lehnte. Da schien aber jemand die Ruhe wegzuhaben oder womöglich seinen Rausch auszuschlafen. Vorsichtig ging sie näher und beäugte ihn, aber er hatte eine Schirmmütze auf. Sein Kopf war nach unten geneigt. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Den rechten Arm hatte er um die jüngere der Figuren gelegt.
„Moin“, sagte sie und räusperte sich.
Keine Reaktion.
„Geht es Ihnen gut?“, fuhr sie etwas lauter fort.
Jetzt blieben die ersten Passanten stehen.
Oma Pusch sah genauer hin. Sie fand, dass seine Hände blass wirkten. Womöglich brauchte er Hilfe. Also trat sie näher zu ihm und wollte ihn eigentlich nur sanft an seiner linken Schulter rütteln. Eine fatale Idee, denn der andere Arm rutschte von der Skulptur ab, weswegen sein Körper Übergewicht bekam, nach hinten sank und rücklings ins Hafenbecken stürzte. Noch im Fallen erkannte Oma Pusch, dass hier nichts mehr zu retten war.
Eine der Frauen schrie auf; deren Mann wollte sich entkleiden, um hinterherzuspringen, aber Oma Pusch hielt ihn auf und versuchte, die Umstehenden zu beruhigen. Vom Kai aus warf jemand einen Rettungsring ins Wasser.
„Da ist bedauerlicherweise nichts mehr zu machen“, rief sie erklärend in die Runde. „Der Mann war schon tot, bevor ich ihn …“
Ihre Erklärungen gingen im allgemeinen Tumult unter.
Rita, die das Geschehen von Bäcker Hinrichs aus beobachtet hatte, kam herbeigeeilt. Sie hatte bereits die 112 angerufen. Mit einem Mal war der vordere Bereich des Hafens voller Menschen. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, dass einer ins Hafenbecken gefallen war. Höchste Zeit für unsere Hobbyermittlerin, den Ort des Geschehens zu verlassen. Sie musste nachdenken.
„Hiergeblieben! Sie können doch nicht so einfach …“, schimpfte jemand.
„Doch, ich kann“, sagte Oma Pusch im Gehen und ließ den verdutzten Mann zurück. „Sagen Sie meinem Neffen, ich bin im Kiosk.“
Auch Rita war völlig verdattert.
„Aber muss man denn nicht …? Ich meine, der könnte doch ertrinken“, wandte sie ein.
„Unmöglich bei einer Leiche“, zischte Oma Pusch ihr zu, „und nun komm, bevor die Kavallerie eintrifft. Wir haben einiges zu besprechen.“
Rita verstand nur Bahnhof, hielt sich an ihrer Brötchentüte fest und folgte Oma Pusch. Es bestand in der Tat Klärungsbedarf.
Während die beiden Frauen in Richtung Kiosk gingen, sah Oma Pusch aus den Augenwinkeln, wie nun doch noch ein Mann – lediglich bekleidet mit Feinrippunterhemd samt passender Unterhose – den Sprung in die kühle Flut wagte. Dann ein Aufschrei!, dem weitere folgten. Ob dies Gekreische nun daher kam, dass das Wasser momentan höchstens 13 Grad hatte, oder von dem Umstand, dass der Retter beim Versuch der Bergung feststellen musste, wie recht Oma Pusch gehabt hatte. Sie wusste es nicht. Hier konnte aber Rita helfen, denn auch ihr war das neuerliche Treiben im vorderen Bereich des Hafens nicht entgangen. Neugierig war sie zum Beckenrand gelaufen und sah den leicht bekleideten, nun schlotternden Mann aus dem Wasser klettern und eindeutige Zeichen machen. Seine Unterhose mit Bein und Eingriff hing nun ein wenig tiefer, denn das Gummi hatte Mühe, den nassen Stoff zu halten .
„Komm jetzt, Rita, wir sollten gewappnet sein, wenn mein Neffe, der Herr Oberkommissar Eike Hintermoser, gleich bei uns eintrifft. Ich will dir alles erzählen, was ich entdeckt habe“, zischte Oma Pusch ihr zu und zog sie vom östlichen Rand des Hafenbeckens mit sich.
„Ja, ja, schon gut“, entrüstete sich ihre Freundin. „Man wird doch wohl noch mal gucken dürfen. Du warst ja wieder in der ersten Reihe des Schauspiels.“
„Dafür kann ich doch nichts“, erwiderte Oma Pusch aufgebracht und schloss ihren Kiosk auf. „Ich war zufällig da.“
Rita lachte. „Kommissar Zufall kommt dir immer gerne zu Hilfe, ich weiß, aber nun schieß los! Spann meine Neugierde nicht weiter auf die Folter. Ich koche derweil schon eine Kanne Kaffee.“
„Folter ist ein gutes Stichwort“, grübelte Oma Pusch leise vor sich hin.
„Wie bitte?“, fragte Rita ärgerlich. Was sollte das plötzliche Geflüster ihrer Freundin? Da bekam sie doch gar nichts mit.
„Äh, ja, nun erst mal der Reihe nach“, schlug Oma Pusch vor. „Eigentlich bin ich selbst ein bisschen ratlos und verwundert.“
„Wieso?“, hakte Rita nach.
„Nun, ich hatte den Mann schon zu Hause von meinem Fenster aus gesehen“, erklärte Oma Pusch. „Er muss da also eine ganze Weile gesessen haben.“
„Echt?“
Oma Pusch nickte. „Wahrscheinlich hat ihn vorher keiner angesprochen, weil die Passanten ebenfalls gedacht haben, dass er da angelehnt an die Bronzefiguren ein Nickerchen macht.“
„Eins verstehe ich dabei allerdings nicht“, sagte Rita mit nachdenklicher Miene, „ist es nicht so, dass die Muskelspannung total verschwindet, wenn man tot ist?“
„Schon“, antwortete Oma Pusch, „aber wenn ich genau darüber nachdenke, dann glaube ich, dass den Toten da jemand geschickt hindrapiert hat. Wenn man die Schwerkraft eines schlaffen Körpers so austariert, dass er wie ein Sack Mehl in aufrechte Position gebracht wird, könnte das klappen. Vor allem, wenn man ihn mit dem Arm noch einen weiteren Halt gibt. Wir könnten das nachher ausprobieren.“
Rita schüttelte vehement den Kopf. „Wo willst du denn einen Sack Mehl herkriegen? Und dann noch Extremitäten drannähen? Das ist doch Humbug.“
„Nee, so habe ich das nicht gemeint“, erklärte Oma Pusch. „Das mit dem Sack war nur ein Beispiel. Ich überlege gerade, du könntest vielleicht … natürlich ohne reinzufallen.“
Mit entsetztem Blick tippte sich Rita an die Stirn. „Bist du völlig plemplem? Frag doch Hinnerk! Für Geld ist der wahrscheinlich zu vielem bereit. Möglicherweise spielt er auch eine Leiche für dich. Ich aber nicht!!!“
„Dachte ich mir schon“, gab Oma Pusch belustigt zurück, denn sie hatte es nicht ganz ernst gemeint. „Im Grunde genommen ist es auch irrelevant. Das war nur eine geschickte Art, den Körper zurückzulassen, direkt vor den Augen aller. Aber es sagt uns auch etwas über den Täter. Wer es nicht nötig hat, einen Ermordeten verschwinden zu lassen, rechnet wohl kaum damit, so schnell entlarvt zu werden.“
Rita goss ihrer Freundin Kaffee ein. Sie sagte erst mal nichts.
Es war schon verwunderlich, wie Oma Pusch zu solchen Schlussfolgerungen kam. Dabei hatte sie den Toten doch nur für wenige Sekunden aus nächster Nähe gesehen, bevor er nach hinten überkippte.
„Du glaubst mir nicht?“, hakte Oma Pusch nach, als so gar nichts von ihrem Gegenüber kam.
„Wieso denkst du, es war Mord?“, erkundigte sich Rita. „Und wieso wusstest du, dass er definitiv tot war und jegliche Rettungsversuche zwecklos?“
„Kommen wir noch mal zum Anfang zurück“, entgegnete Oma Pusch. „Ich sah ihn also aus dem Fenster und wunderte mich, dass er später immer noch genauso da an der Figur saß, als ich zum Kiosk wollte. Also habe ich ihn angesprochen. Der Mann zeigte keine Reaktion. Da hätte es doch sein können, dass es ihm vielleicht schlecht ging. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Der Kopf hing ein bisschen nach unten. Ehrlich gesagt glaubte ich, es mit jemandem zu tun zu haben, der seinen Rausch ausschlief. Aber als ich näher kam, hatte ich ein komisches Gefühl.“
„Wie meinst du das?“, wollte Rita wissen.
„Schwer zu sagen“, überlegte Oma Pusch laut. „Irgendwie wusste ich, dass er tot war. Die Stille war zu still. Hört sich komisch an, aber wenn du schläfst, bewegt sich dein Körper durch das Atmen und gibt auch Geräusche von sich.“
„Verstehe“, sagte Rita.
„Ja, und dann sah ich seine rechte Hand, aber nur so ganz kurz, weil ich ihn doch vorsichtig an der Schulter ruckelte“, berichtete Oma Pusch weiter. „Die rutschte nämlich dadurch ab. Vorher hatte der Kopf der Skulptur sie halb verdeckt. Boah, und ich könnte schwören, da fehlte ein Stück Zeigefinger, doch genau weiß ich das natürlich nicht. Eventuell war er da auch nur verletzt oder so.“
Ein Schauer lief Rita den Rücken hinunter. Auch Oma Pusch war nicht ganz wohl, als sie sich diesen kurzen Augenblick wieder vorstellte, in dem der Tote rücklings ins Wasser gefallen war. Allerdings aus einem anderen Grund, den sie Rita bisher wohlweislich verschwiegen hatte. Doch leider kam sie genau darauf zurück.
„Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, wieso du mit Sicherheit davon ausgehen konntest, eine Leiche ins Wasser gestoßen zu haben“, insistierte Rita.
„Von Gestoßen kann ja wohl keine Rede sein“, beschwerte sich Oma Pusch. „Da hat die Schwerkraft ihr Übriges getan und nicht ich. Irgendwie musste ich doch sichergehen. Tja, und wenn einer nicht auf Ansprache reagiert, fasst man ihn doch an, oder?“
„Nee“, sagte Rita bestimmt. „Man könnte auch die 112 anrufen. Irgendetwas in der Art. Deinen Neffen Oberwichtig Hintermoserkommissar zum Beispiel.“
„Im Ernst, Rita?“, wunderte sich Oma Pusch. „Jeder Mensch, wirklich jeder – augenscheinlich außer dir –, hätte mal hingefasst. Klopfen, Ruckeln, Schütteln … irgendwas.“
„Ich nicht“, behauptete Rita, „denn stell dir mal vor, der wäre nur bewusstlos gewesen, dann hättest du ihn womöglich auch ins Hafenbecken befördert. Niemals wäre ich da allein beigegangen, immer nur zu zweit.“
Dass da was Wahres dran war, mochte Oma Pusch nicht zugeben. Eigentlich hatte sie in dem Augenblick auch gar nicht darüber nachgedacht. Sie hatte nur helfen wollen.
Ablenkung war jetzt die beste Alternative.
„Du wolltest doch wissen, warum ich keine Zweifel am Ableben des Mannes hatte“, erinnerte sie ihre Freundin, nun bereit, die Bombe platzen zu lassen, denn erfahren würde sie es ohnehin.
Rita nickte und schenkte Kaffee nach. „Dann leg los. Wir müssen den Kiosk gleich aufmachen“, sagte sie neugierig. „Nachher haben wir vielleicht keine Zeit mehr.“
Nach einer Kunstpause legte Oma Pusch los. Sie flüsterte allerdings eher, damit niemand etwas mitbekam, der schon vor dem verschlossenen Tresen stand.
„Die Kehle war durchgeschnitten“, beschrieb sie. „Ich sah es, als er fiel, denn der Kopf neigte sich aufgrund seiner Schwere nach hinten. Es sah gruselig aus.“
Das hatte Rita nicht erwartet. Sie verschluckte sich an ihrem Kaffee und hustete. Von draußen klopfte es ans Holz.
„Wie schrecklich“, stöhnte sie leise.
„Schon, aber auch aufschlussreich“, fuhr Oma Pusch wispernd fort, „denn damit wissen wir, dass der Fundort niemals der Tatort gewesen sein kann. Aber später mehr. Lass uns erst mal die Klappe hochmachen und die ersten Leute bedienen. Danach können wir weiterreden.“
Doch wer hätte ahnen können, was sie erwartete. Ein uraltes Weib hatte mit seiner Greifzange gegen den Kiosk gehauen. Dieses Werkzeug führte Marga immer in ihrem pink-metallic-farbenen Rollator mit.
„Moin, Marga! Du? Schon so früh?“, fragte Oma Pusch verwundert.
„Ick hebb de Düvel sehn“, stöhnte die Greisin.
Nun, das war nichts Neues, dachten die beiden Frauen im Kiosk, denn die Hochbetagte sah ihn oft.
„Un en arm Seel“, fuhr sie fort.
Jetzt horchten Rita und Oma Pusch auf, denn nun wurde es interessant.
Leider hatte sich hinter der alten Marga bereits eine Schlange von Menschen gebildet, die am Kiosk anstanden. Rita und Oma Pusch befanden sich also in einer schwierigen Situation. Ein Dilemma sozusagen. Auf der einen Seite wollten sie dringend wissen, was Marga gesehen hatte, denn ihr Teufelsgeschwafel hatte meist einen realen Kern. Beim Anblick der ungeduldigen Kunden musste das jedoch warten.
Wie so oft griff hier die Kardinalslösung: Man speiste die Alte im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Rollmopsbrötchen ab. Rita und Oma Pusch hatten die Leckerbissen schon vorhin beim Kaffeetrinken auf Vorrat geschmiert. So behielten sie die Greisin in der Nähe, ohne sie zu verärgern, um Marga in einem geeigneten Moment zu befragen, und konnten sich trotzdem erst der Kundschaft widmen.
Es war wundersam, denn die kam nie kleckerweise. Entweder drängten sich die Menschen vor dem Kiosk oder es war gar keiner da, von sporadischen Ausnahmen einmal abgesehen. Oma Pusch schob das auf den Herdentrieb. Wo viele anstanden, kamen schnell noch mehr dazu, denn dort musste es ja etwas Besonderes geben. Quasi ein Naturgesetz, egal ob am Kiosk, am Schweinetrog oder beim Ausverkauf. Ja, sogar der Düvel konnte nicht anders. Er schiss auch immer auf den größten Haufen.
Mit einem Mal war der Schwarm weg. Gähnende Leere vor dem Tresen. Nur Marga schmatzte noch an einem der Stehtische. Der Moment, sie auszufragen, schien günstig. Es war auch ratsam, sich zu beeilen, denn es würde mit Sicherheit nicht allzu lange dauern, bis ihr Neffe, Oberkommissar Eike Hintermoser, bei ihr vorstellig werden würde, um sie nach dem Vorfall am Morgen zu befragen.
„Na, Marga, schmeckt das Brötchen?“, erkundigte sich Oma Pusch. „Geht übrigens aufs Haus, meine Liebe.“
Ab jetzt übersetzen wir lieber wieder vom ostfriesischen Platt ins Hochdeutsche, denn sonst versteht man nicht die Bohne etwas von dem Gesabbel.
„Ja, ja, schmeckt wunderbar“, murmelte die Olle mit einem Stück Rollmops auf der Lippe. Der drohte abzurutschen.
Hier sprang Berta, die Möwenpolizei, ein und schnappte sich im Flug den Leckerbissen.
Marga beschwerte sich lautstark und fuchtelte dem Vogel hinterher.
„Sag mal, von welcher armen Seele erzähltest du vorhin?“, lenkte Oma Pusch das Gespräch in die richtige Richtung.
„Sie hat so gewimmert“, berichtete Marga, „und gebettelt. Wenigstens hörte es sich so an. Aber leider in einer Sprache, die mir irgendwie fremd war. Ich hab nur ein paar Bruchstücke verstanden. An das Wort Kohle erinnere ich mich noch. De Düvel sagte auch was vom Kochen. Also, da wusste ich natürlich Bescheid. Er hatte einen am Wickel, den er mit in die Hölle zerren wollte.“
„Und wo war das?“, fragte Oma Pusch, die sich bis jetzt noch keinen Reim auf das Geschwafel machen konnte.
„Ach, ich bin des Nachts so rumgeirrt, hinten bei der freiwilligen Feuerwehr. Ihr wisst doch, wie schlecht ich immer schlafe“, erinnerte die Seniorin ihre beiden Zuhörerinnen. „Ein Grundstück weiter sind Lagerhallen. Ich bin da hingerollt, weil ich einen Schrei gehört hatte und vorher einen Rums.“
„Hattest du da nicht Angst?“ Ritas Stimme klang besorgt.
Aber Marga lachte. „Ich? Wenn ich eins weiß: Ich bin ein Restposten, ein Ladenhüter. Der Herrgott will mich nicht zu sich nehmen und der Düvel auch nicht. Vor was sollte ich also Angst haben?“
„Dass dir einer was antut zum Beispiel“, wandte Rita ein, „auch wenn es nicht zum Äußersten kommt.“
Marga winkte ab. „Untern Rock will mir keiner mehr, und meine Knochen tun mir sowieso weh. Darum bin ich auch näher rangeschlichen. Aber ich hab nicht mehr viel mitgekriegt. Außer dass es auf einmal merkwürdig still war.“
„Mehr hast du nicht gesehen?“, hakte Oma Pusch etwas enttäuscht nach.
„Nur noch dass der Düvel etwas aus dem langen Gebäude gezogen hat, aber das machte überhaupt keinen Sinn“, erklärte die Alte.
„Was war es denn?“, wollte Oma Pusch wissen.
„Also, es sah so aus wie ein Fischkarren“, antwortete Marga, „so einer, wie man ihn früher hatte, als ich noch jung war. Ich wollte noch hinterher, aber leider war ich nicht so schnell mit meinem Rollator.“
„Wo ist er denn damit hin? Also in welche Richtung?“, fragte Oma Pusch jetzt zunehmend interessiert. „Konntest du das noch sehen?“
„Aber ja, de Düvel ging direkt die Cliener Straat in Richtung Hafen. Und das mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit“, berichtete Marga.
„Wie spät war es denn da?“, schaltete Rita sich ein. Sie wusste, dass die Alte wegen ihrer Schlaflosigkeit oft in der Nacht am Hafen herumlungerte. Diesmal war sie anscheinend etwas weiter östlich unterwegs gewesen.
„Es war noch nicht hell“, überlegte Marga laut, „aber es war auch schon nach Mitternacht, denn der lütte Heinz hat mich mit seiner Taxe erst gegen eins abgeholt.“
„Und da hat er dich zur freiwilligen Feuerwehr gebracht?“, fragte Oma Pusch verwundert. „Was wolltest du da mitten in der Nacht?“
Marga guckte verlegen und trat von einem Bein auf das andere. „Ich habe mir im Bett überlegt, ob ich meinen Rollator neu lackieren, also ihn quasi umspritzen lassen soll, in Rot. Die Feuerwehrmänner haben da so wunderschöne, große Tore, hinter denen ihre Fahrzeuge stehen. Da wollte ich mir den Lack mit dem Handy abknipsen, um Klöör-Karl den genauen Farbton zu zeigen. Es gibt ja so viele verschiedene Rotschattierungen.“
Oma Pusch und Rita starrten die Seniorin ungläubig an. Das war plemplem.
„Entschuldige mal, aber warum machst du das im Dunklen?“, wollte Rita wissen.
Jetzt wurde Marga rot. „Sonst sind doch eventuell diese schmucken Kerle da, in Uniform. Da werde ich immer so verlegen und weiß nicht, was ich sagen soll.“
Dem war eigentlich nichts hinzuzufügen. Aus den Augenwinkeln sah Oma Pusch, dass neben weiterer Kundschaft auch ihr Neffe Oberkommissar auf den Kiosk zusteuerte.
„Mir gefällt das fröhliche Pink besser“, gab Oma Pusch ihren Senf dazu. „Du, wir müssen jetzt bedienen und neue Rollmopsbrötchen schmieren gehen. Tut mir leid.“
„Ist doch kein Ding“, erwiderte Marga, „ich muss eh weiter. Der lütte Heinz will mich zum Friseur bringen.“ Bei diesen Worten zog sie ein übergroßes Stofftaschentuch aus ihrem Dekolleté und wischte sich das Rollmopsfett von den Lippen. Die Freundinnen staunten, wie sie den Fetzen hinterher wieder zurückstopfte und zurechtrückte. „Ist noch ein altes Geschirrhandtuch von meiner Großmutter“, sagte sie beim Gehen. „Das muss man in Ehren halten.“
„Ein bisschen wunderlich ist sie heute ja“, zischte Oma Pusch ihrer Freundin Rita zu, als sie wieder im Kiosk waren, „aber dass an ihren nächtlichen Beobachtungen irgendetwas dran ist, das glaube ich bestimmt.“
Oberkommissar Eike Hintermoser war froh, dass das alte Schnatterweib Marga das Weite gesucht hatte. Es ärgerte ihn schon genug, wenn es andauernd auf der Dienststelle in Esens auftauchte, um den Beamten die Zeit zu stehlen. Da wollte er das runzlige Gesicht nicht auch noch am Hafen ertragen müssen. Nachdem er einen Moment lang gewartet hatte, bis seine Tante ihre Kunden bedient hatte, stützte er sich mit den Ellenbogen auf den Tresen und seufzte.
„Was hast du heute Morgen nur wieder angerichtet?!“, beschwerte er sich. „Eine Leiche an Land hätte doch gereicht. Musstest du sie auch noch ins Wasser schubsen?“
Er grinste frech.
Oma Pusch holte gerade tief Luft und wollte sich erklären, da bremste er sie.
„Schon gut, es gab ja Zeugen, dass du nur helfen wolltest. Es war halt ein unglücklicher Umstand aufgrund der Schwerkraft. Trotzdem blöd für uns, dass wir den Kerl erst aus dem Hafenbecken fischen müssen. Dein Schwager Enno hat vielleicht geflucht. Er hat sie lieber trocken auf dem Tisch.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Rita schmunzelnd.
„Aber anfangs musste sich der um den Retter kümmern“, berichtete Eike.
„Wieso, was ist denn mit dem passiert?“, wollte Oma Pusch wissen. „Ich sah noch, wie er wieder auf den Kai zurückwollte. Dabei hatte ich vorher ausdrücklich gesagt, dass niemand hinterherspringen soll. Es war eindeutig, dass der tot war.“
„Siehst du, und das solltest du mir mal erklären“, bat Eike. „Was hat dich so sicher gemacht? Ich bin nämlich gleich zu dir und habe die anderen zunächst machen lassen. Bevor der Tote an Land ist, kann ich eh nicht tätig werden.“
„Mit durchgeschnittener Kehle lebt keiner mehr“, sagte Oma Pusch und Eike schluckte.
„Okay“, erwiderte er zögernd, „na, das ist ja mal krass. Und das konntest du so einwandfrei erkennen, obwohl der Mann doch sofort von der Kaimauer fiel?“
„Ja, sicher, denn der Kopf kippte nach hinten und da sah ich die klaffende Wunde“, beschrieb Oma Pusch. „Es war grauslich! Das kannst du mir glauben.“
Eike nickte. Rita wurde leicht grün im Gesicht. Beide konnten es sich vorstellen. Manchmal war es gar nicht gut, wenn man mit zu viel Fantasie gesegnet war.
„An seiner einen Hand habe ich auch noch etwas Merkwürdiges gesehen, aber ich kann es nicht näher beschreiben“, bedauerte Oma Pusch. „Eine Wunde vielleicht, oder er hatte sich an den verletzten Hals gegriffen, auf jeden Fall blutig, denke ich. Es ging einfach zu schnell. Ich sah es nur aus den Augenwinkeln. Möchtest du ein Rollmopsbrötchen?“
„Nee, vielen Dank“, lehnte Eike ab, „ich muss mir ja jetzt gleich den Ermordeten ansehen. Selbst wird er sich wohl nicht das Messer angesetzt haben. Ich wäre euch aber dankbar, wenn ihr euch diesmal raushalten könntet. Das ist eine Nummer zu groß für euch, fürchte ich. Wenn wir es mit so einem brutalen Täter zu tun haben, ist Vorsicht geboten.“
Die Frauen nickten erst mal, obwohl Rita ganz eindeutig wusste, dass ihre Freundin Lotti ganz gewiss keine Ruhe geben würde. Schließlich hatte sie den Toten auch noch gefunden. Und jetzt sollte sie so tun, als wäre nichts geschehen? Im Leben nicht!
„Auf euer Rollmopsbrötchen komme ich eventuell nachher zurück“, kündigte er an, bevor er sich verabschiedete.
„Der sollte dich besser kennen“, sagte Rita belustigt und beobachtete, wie Oma Pusch in ihren eigenen Auslagen stöberte. „Hast du was vor?“
„In der Tat“, gab sie zurück, „aber ich brauche deine Hilfe.“
Die Plätze am Kai waren von Touristen belagert. Jeder wollte sehen, was da im Wasser vor sich ging. Polizeimeister Habbo Lürsen, auch der „Frischling“ genannt, hatte seine Mühe, die Meute wegzuscheuchen. War ihm das bei ein paar Passanten gelungen und wandte er sich einer anderen Stelle zu, waren die Logenplätze umgehend wieder belegt. Er hatte allein keine Chance.
Im Hafen direkt vorne unterhalb der Bronzeskulpturen schipperte ein kleines Boot. Polizeihauptmeister Krischan Hansen steuerte die Jolle wie ein Kapitän auf hoher See. Souverän umschiffte er die Leiche, der man mittels eines Rettungsrings Auftrieb verliehen hatte. Mit der Zeit hatte der alte Brummbär eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Seine Pension war schon in Sicht. Also residierte er eher wie ein Monarch, was ihm die Bezeichnung „Kaiser“ eingebracht hatte. Mit an Bord und um einiges jünger war das „Rhabarberblattohr“ namens Martin Hinrichsen. Polizeiobermeister höchstselbst. Seine abstehenden Ohrwascheln hatten als Steilvorlage für diesen Spitznamen gedient.
Zwei weitere Passagiere entpuppten sich als Bodo Siebenstein, Chef der Spurensicherung, und … ja, aber wer zum Kuckuck war denn der vierte?
Oma Pusch, mit großem Sonnenhut, dunkel verglaster Brille und Strandtuch be- oder besser gesagt verkleidet, kniff oben an der Kaimauer die Augen zusammen. Diesen Bengel konnte sie nicht zuordnen. Es war ein Mist, dass das Strandaccessoire über keine Sehstärke verfügte. Die hätte sie jetzt gebraucht, schimpfte sie innerlich. Aber die Sache klärte sich von selbst auf.
„Chef!“, rief das Jüngelchen, das vielleicht so um die dreißig war, nach oben. „Wir haben ihn gleich.“
Der Chef entpuppte sich als kein anderer als der Rechtsmediziner Doktor Enno Esen, seines Zeichens Schwager von Oma Pusch und ihr seit einiger Zeit sehr zugeneigt. Die Kioskbesitzerin schmunzelte in sich hinein. Es juckte sie, ihre Verkleidung gleich mal beim Bruder ihres verstorbenen Mannes Fridtjof zu testen.
„Verzeihen Sie“, rief sie dem älteren Herrn in Fischerhose zu, der eine Arzttasche mit sich trug, „was ist da los?“ Es war gar nicht so einfach, die Stimme zu verstellen, aber es schien zu klappen.
Enno warf seine halblange, weiße Mähne zurück und strahlte sie an.
„Gnädigste“, begann er, „das ist überhaupt nichts für Sie. Schonen Sie Ihre zarte Seele. Seien Sie so gut und ersparen Sie sich einen schrecklichen Anblick. Ich muss das aus beruflichen Gründen ertragen. Sie aber sollten es sich lieber in einem Strandkorb gemütlich machen. Im Urlaub will man sich doch nur mit schönen Dingen beschäftigen.“
„Aber mir kann doch nichts passieren“, trieb Oma Pusch es auf die Spitze, „wenn Sie hier bei mir sind. Sie scheinen ja vom Fach zu sein.“
„Darf ich mich vorstellen? Enno Esen, Doktor der Rechtsmedizin“, er machte einen Bückling und wuchs um etliche Zentimeter, „aber jetzt, Verehrteste, muss ich mich auf meine Arbeit konzentrieren. Wir können gerne nachher einen Kaffee zusammen trinken gehen, wenn Sie mögen. Im Stöörmhus vielleicht? Oder bei meiner Schwägerin am Kiosk?“
Oma Pusch wurde rot. Nicht vor Verlegenheit, wie der arme, von ihr verladene Enno dachte, sondern vor Ärger. Was lud der denn eine völlig fremde Frau zu einem heißen Getränk ein? Und wieso bezeichnete er sie plötzlich nur als seine Schwägerin? Gut, das war sie natürlich, aber da war doch was zwischen ihnen beiden. Und das ließ ihrer Meinung nach das Flirten mit anderen Damen nicht zu. Nicht im Geringsten!
„Keine Bange, ich beiße nicht“, fügte er noch lächelnd hinzu und schaufelte sich damit sein eigenes Grab – im übertragenen Sinne gesehen.
„Nein, danke“, fauchte Oma Pusch jetzt, „mit einem Leichenfledderer will ich nichts zu tun haben.“ Schnippisch riss sie den Kopf zur Seite, quälte sich ein paar Meter nach rechts durch die Menschenmenge und ließ ihn stehen.
„Dann eben nicht, du alte Gewitterziege“, rief Enno ihr nach, und das war ja wohl die Höhe! Zu gegebener Zeit musste sie mit ihm ein Hühnchen rupfen.
Der Platzwechsel hatte aber auch einen Vorteil gehabt. Oma Pusch hatte jetzt um die Ecke am Hafen Ost einen viel besseren Blick aufs Geschehen, denn in unmittelbarer Nähe der Seilwinde, die man zur Bergung organisiert hatte, wurden die Passanten weggeschickt und das Gebiet mit einem Flatterband abgesperrt. Ein Faltpavillon sollte zusätzlich vor fremden Blicken schützen.
Die Meute murrte und trollte sich. Nur wenige harrten aus, um die Entwicklung aus größerer Entfernung zu verfolgen. Hier waren Listigkeit und moderne Technik gefragt. Wer brauchte da noch Fern- oder Operngläser, wenn er ein neues Smartphone besaß. So ein zehnfacher Zoom war schon etwas Feines für eine heimliche Ermittlerin, die sich als Touristin tarnte. Und festhalten konnte man auch noch alles, obwohl die Bildqualität bei einer solchen Vergrößerung deutlich nachließ.
Enno hatte Oma Pusch hinterhergesehen und geschmunzelt. Ja, dachte denn „sein“ Lottchen etwa, dass sie ihn für dumm verkaufen konnte? Er hätte sie in jedweder Verkleidung erkannt, selbst wenn sie ihre Stimme verstellte, was total unnatürlich geklungen hatte. Welche gestandene Frau verfügte schon über so eine Fistelstimme? Außerdem ließ es sich nicht verleugnen, dass sie für gewöhnlich ostfriesisches Platt sprach. Hochdeutsch war eben nicht gleich Hochdeutsch. Es klang unterschiedlich, je nach ursprünglichem Dialekt. Tja, und eine Touristin, also eine Landratte von weit hinterm Deich, hätte sich anders angehört. Er grinste. Sie konnte die Küstenmaid nicht verbergen. Immerhin hatte er ihr einen Denkzettel verpasst, indem er mit der vermeintlich anderen Dame geflirtet hatte. Das schien ihr überhaupt nicht gepasst zu haben. Man gut, dachte er, denn das zeigte ihm, dass ihr doch etwas an ihm lag.
Doch jetzt musste er sich auf den eigentlichen Grund seines Hierseins konzentrieren, denn soeben hievte die Seilwinde eine Trage empor, in der sich der arme Verblichene befand. Man hatte ihm zugeflüstert, dass eine gewisse Kioskbesitzerin den Mann in die Tiefe und damit in den Tod gestoßen haben sollte. Nun, das glaubte Enno keinesfalls, wenngleich auch bestimmt ein Fünkchen Wahrheit an diesem Gerücht dran war. Er wusste nur noch nicht, welches. Oma Pusch hatte er eben nicht fragen können, sonst wäre er um den Spaß des Neckens gebracht worden.
Eine erste Inaugenscheinnahme des Mannes bestätigte seine Vermutung: Das Herabstürzen ins Hafenbecken war als Todesursache auszuschließen. Da hatten ganz andere Kräfte gewirkt, um den Mittdreißiger – auf dieses Alter schätzte Enno den Ermordeten – vom Leben zum Tod zu befördern. Eijeijeijei, dachte er, als er den Halsschnitt näher betrachtete. Um so ein Ergebnis zu erhalten, musste die Klinge scharf und der Täter kräftig gewesen sein. Es war nämlich gar nicht so einfach, wie man gemeinhin dachte, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Enno hatte in der Vergangenheit Anfänger entlarvt, die sich in dem Metier noch nicht auskannten und etliche Schnitte ansetzen mussten, um ihr Werk zu vollenden. Hier jedoch war ein Kenner zugange gewesen, der dies mit Sicherheit nicht zum ersten Mal getan hatte.
Als Enno sich den Toten weiter ansah, kroch ihm ein Schauer über den Rücken. Obwohl er nur Kopf, Hände und Arme hier am Hafen kurz betrachten konnte, wusste er, dass er es wahrlich mit der Inkarnation des Bösen zu tun hatte – oder wie Marga sagen würde: mit dem Düvel. Er war gespannt, was die weitere Leichenbeschau im Institut ergeben würde.
Oberkommissar Niklas Müller, langjähriger Freund und Kollege von Eike, war direkt von zu Hause zum Hafen gefahren. Mit tiefem Stirnrunzeln stand er neben dem Rechtsmediziner, der gerade seine erste Expertise abgeben wollte, als sein Kumpel von Oma Puschs Kiosk zurückkehrte.
„Moin! Hab ich was verpasst?“, fragte er mit Blick auf den frisch Geborgenen.
„Hier gibt’s nichts zu verpassen“, sagte Doktor Enno Esen. „Der kleine Sprung ins Wasser hat nichts mehr anrichten können. Es war höchstens eine unfreiwillige Totenwäsche, wenn ihr mir diese kleine Pietätlosigkeit erlauben wollt.“
„Ziemlich krass der Anblick“, stellte Niklas fest.
Eike kam näher und sah genauer hin. Enno bog den Kopf des Opfers etwas nach hinten. Potz Blitz! Da zeigte sich das ganze Ausmaß der Verletzung.
„Das Handwerk eines Profis“, sagte er und nickte wie zur Bestätigung.
„Vorher hat der dann aber noch ein bisschen Fingerroulette mit dem armen Kerl gespielt“, berichtete Enno und hielt eine der beiden Hände hoch, die er wieder aus der Tüte herauszog. Zwecks Spurensicherung hatte man sie bereits geschützt.
„Oha!“ und „Ui!“ riefen die beiden Oberkommissare gleichzeitig.
Niemand mochte sich vorstellen, wie das war, wenn Fingernägel gequetscht oder ohne Betäubung gezogen wurden, vom Abtrennen einzelner Gliedmaßen ganz zu schweigen.
„Na, ist euch der Appetit vergangen?“, fragte Bodo Siebenstein von der SpuSi, der soeben dazukam. Der Tod muss nicht unbedingt das Schlimmste sein, vom Schmerz aus gesehen. In diesem Fall war wohl eher alles davor eine Tortur. Doch wo das alles stattgefunden hat, müsst ihr noch herausfinden. Hier am Hafen war kein Blut – und es wird heftig geblutet haben.“
Jetzt war Enno in seinem Metier. „Ihr macht euch keine Vorstellung, wie das spritzt. Ich habe mal, als ich noch als Allgemeinmediziner tätig war, bei einer kleinen OP eine winzige Arterie verletzt. Nix Schlimmes! Ruckzuck war sie mit dem Elektrokauter wieder verschweißt, aber ich sage euch, das hat bis zur Decke und an die Wand gespritzt. Der Raum musste gestrichen werden. Die Halsschlagadern haben da wesentlich mehr Wumms.“
„Halt die Klappe“, stöhnte Eike, dem die Fingerkuppen wehtaten, allein von der Vorstellung nach Ennos Ausführungen. Aber der musste natürlich noch einen draufsetzen mit seiner Fontäne. Jetzt konnte er kaum schlucken. Die Psyche machte schon was mit einem, dachte er. Erzählst du wem was von Kopfläusen, juckte es den anderen sofort an der Birne.
„Wie lange ist der Mann denn schon tot?“, versuchte Niklas die Umstehenden auf die sachliche Ebene zu bringen.
„Lange genug“, erwiderte Enno, hob den Arm des Mannes und ließ ihn zurückplumpsen. „Merkt ihr was? Keine Leichenstarre mehr. Da kann ich mir das Messen der Körpertemperatur sparen. Aber inwieweit man den Todeszeitpunkt eingrenzen kann, vermag ich noch nicht zu sagen.“
„Papiere?“, erkundigte sich Niklas. „Habt ihr irgendetwas gefunden, das auf seine Identität schließen lässt?“
Bodo Siebenstein schüttelte den Kopf. „Ich finde, er sieht Eike ein bisschen ähnlich.“
„Bist du bekloppt?“, fauchte der. „Ich habe hier oben keine Verwandten, bis auf Tante Lotti.“
„Und Cousins und Cousinen, mindestens fünf, wenn ich mich recht erinnere, sowie deren Kinder“, fügte Enno an.
„Die leben hoffentlich alle noch“, zischte Eike, sah aber noch mal genauer ins Gesicht des Ermordeten, „sonst wäre längst einer vermisst worden.“
Doch er musste zugeben, dass Bodos Einschätzung nicht ganz falsch war. Es gab tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit, wohl eine zufällige Laune der Natur.
„Na ja, sei es, wie es sei“, sinnierte Enno, „ich will den Herrn nun einmal genauer unter die Lupe nehmen.“
Er winkte den Bestattern, die würdevoll am Rande des Geschehens standen. „Sein“ Lottchen war nicht untätig gewesen. Sie musste ihren Sohn Nils Esen und dessen Kompagnon Rico Fritsche informiert haben. Auf diese Weise schusterte sie den beiden Aufträge zu, aber das war auch praktisch für ihn. Im Keller des Instituts Fritsche & Esen in Esens lag nämlich sein rechtsmedizinisches Institut. Es war quasi eine Dependance der Abteilung in Norden.
„Gut, dann werden wir uns hier am Hafen umhören, ob es jemanden gibt, der Beobachtungen gemacht hat“, beschloss Eike. „So ganz einfach ist das ja nicht, eine Leiche mitten auf dem Präsentierteller direkt bei den bekannten Bronzestatuen zu platzieren.“
Nach und nach verlief sich die Ansammlung von Menschen, die immer noch von Weitem gegafft hatte. Nein, sie waren nicht von selbst auf die Idee gekommen, dass ihr Geglotze pietätlos sein könnte. Es gab einfach nichts mehr zu sehen. Die Leiche war abtransportiert worden.
Eike und Kollegen hatten sich aufgemacht, in den Cafés, Hotels und Geschäften nachzuhorchen. Auch die Fischer wollte man sukzessive befragen. Nur die Spurensicherung war noch tätig, aber das war für Sensationstouristen wenig spannend, weiß vermummten Leuten beim Pinseln oder Abkleben zuzusehen. Also trollten sich auch die letzten von ihnen.
Rechtsmediziner Enno schloss seine Arzttasche und sah sich um. Zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Auf der einen Seite wollte er dringend diese Fischerhose samt Gummistiefeln loswerden, auf der anderen Seite lockte ein Kaffee am Kiosk „seiner“ Lotti, und vielleicht konnte er dort auch die Buxe wechseln. Sie waren ja schließlich alle erwachsen. Normalerweise wäre das also kein Problem gewesen, nur sein kleines, neckisches Spielchen von vorhin erschwerte die Sache. Es würde auf jeden Fall zu einer Missstimmung kommen, egal wie er sich jetzt verhielt. Gab er die Veräppelung seiner Angebeteten zu, war sie mit Sicherheit sauer, ihm auf den Leim gegangen zu sein. Tat er weiterhin so, als ob er demnächst mit einer Fremden ein Stelldichein haben würde, wäre sie ebenfalls eingeschnappt – und das womöglich für länger.
Er wog seine Möglichkeiten ab. Reinen Tisch zu machen, schien ihm die beste Alternative zu sein, damit sich das zwischen ihnen schnellstens wieder einrenkte. Und wenn er es schlau anstellte, kam er eventuell mit einem blauen Auge davon.
Gemächlich schlenderte er also auf den Kiosk zu und wurde von Oma Pusch vollkommen ignoriert. Schlimmer noch, sie schickte Rita vor.
„Rita, bist du gerade mal so lieb, ich kann nicht“, rief sie ihrer Freundin vom Kühlschrank aus zu.
Die drehte sich um und erblickte den Hallodri. Natürlich hatte ihr Oma Pusch die Geschichte vom Hafen brühwarm erzählt. Was bildete der sich eigentlich ein? So schön war er nun wirklich nicht mehr, dass sich die Damenwelt alle fünf Finger nach ihm abschleckte. Höchste Zeit, ihm das auch deutlich zu zeigen. Frauensolidarität war hier eine Selbstverständlichkeit!
„Na, überhaupt nicht schwer beschäftigt?“, informierte sich Rita mit süffisantem Unterton, „mit irgendwelchen Körpern?“
„Momentan nicht“, erwiderte er und wusste genau, woher der Wind wehte. Lotti hatte ihrer Freundin das Herz ausgeschüttet. Jetzt hieß es: Vorsicht walten lassen. Ja kein falsches Wort, sonst war das Verhältnis für Wochen getrübt. Er musste sie beide bei der Neugier packen. Wenn die Weiber was von ihm wollten, würden sie nachsichtiger sein. Daher war es die listigste Idee, sie anzufüttern. Kleine Häppchen tatrelevanter Erkenntnisse, hintergründige Vermutungen, spektakuläre Andeutungen. All das eben, worauf die heimlichen Ermittlerinnen abfuhren wie der Teufel auf die Seele. Doch wo konnte er ansetzen? Am ehesten nutzte er die Information, die er von Eike erhalten hatte: Keine Geringere als Oma Pusch hatte die Leiche ins Hafenbecken befördert.
„Mensch, Rita, das war ja ein aufregender Morgen“, begann er.
„Da erzählst du uns nichts Neues“, sagte Rita schnippisch. „Lotti war von Anfang an nah dran am Geschehen.“
„Ja, ich habe schon gehört, dass es ihr zu verdanken war, dass ich …“, er bremste sich, „äh, ich meine, dass es ihr zu verdanken war, dass der Tote so schnell entdeckt wurde.“ Es war nicht zweckdienlich, sich über den nassen Zustand des Verblichenen zu beschweren. Auch nicht darüber, dass er diese schweißtreibende Wathose trug, weil er ja nicht wissen konnte, ob er sie nicht doch gebraucht hätte.
„Lotti hatte ihn schon aus dem Fenster gesehen“, antwortete Rita. „Da war es ja wohl nur zu logisch, dass sie ihn angesprochen und berührt hat, wo der Mann sich doch die ganze Zeit über überhaupt nicht bewegt hatte.“
„Unbenommen“, stimmte Enno zu. „Gibst du mir bitte ein Mettbrötchen und einen Kaffee?“
„Die sind reserviert“, zischte Oma Pusch von hinten.
„Gut, dann nehme ich ein Croissant“, konterte er und schnappte sich eins aus dem Korb auf dem Tresen. „Kaffee nur mit Milch bitte.“
„Kaffee ist aus!“, grummelte Oma Pusch, obwohl es erkennbar nach dem köstlichen Gebräu duftete. „Gibt nur Kamillentee.“
Enno hasste den. Das wusste sie.
„Lecker“, rief er, „den aber dann bitte mit Zucker.“ So leicht ließ er sich nicht abwimmeln.
Zähneknirschend stellte Oma Pusch den Wasserkocher an und brühte ihm einen Tee auf. Schon der Geruch sorgte dafür, dass sich bei ihm der Magen zusammenzog, aber was tat man nicht alles für die Liebe?
„Stand dir übrigens gut, das Outfit mit Sommerhut und Sonnenbrille“, wagte er einen Vorstoß.
Oma Pusch zuckte zusammen.
„Sah richtig schick aus“, fuhr er fort. „Solltest du ruhig mal öfter tragen, vielleicht im Urlaub.“
„Pah, Urlaub“, fauchte sie und knallte ihm den Tee auf den Tresen, „als ob ich da mal zu käme. Und wieso hast du nichts gesagt, wenn du mich schon am Hafen erkannt hattest?“
„Och, ich dachte, es gefiel dir so zu tun, als ob wir uns nicht kennen würden“, erklärte er ihr, „also habe ich mitgemacht bei deinem kleinen Rollenspielchen. War das falsch?“ Sein Blick war vollkommen unschuldig.
Sie brummte nur.
„Oh, dann entschuldige bitte“, führte Enno weiter aus, „aber vielleicht verstehst du, dass ich ziemlich verwirrt war wegen …“ Es folgte eine gekonnt inszenierte Kunstpause.
„Wegen was?“, wollte Oma Pusch wissen.
Auch Rita kam jetzt näher und spitzte die Ohren.
Enno beugte sich über den Tresen und legte verschwörerisch den Finger auf die Lippen. „Wegen der schaurigen Leiche“, flüsterte er. „Ich bin ja einiges gewohnt, aber das war schon harter Tobak.“
Oma Pusch nickte. „Ziemlich tiefer Schnitt.“ Dabei vergaß sie vollkommen, dass sie ihn momentan eigentlich doof fand.
„Aber das ist ja noch nicht alles“, wisperte er weiter, obwohl gar niemand in der Nähe war. „Ich hab das vorhin ernst gemeint mit dem zarten Gemüt, denn ich bin nicht sicher, ob ich euch die Wahrheit zumuten kann. Mir tut ja selbst alles weh, wenn ich nur daran denke, was dem armen Teufel widerfahren ist.“
Ennos Plan ging auf.
Die Frauen hingen an seinen Lippen. Kein Fünkchen Feindseligkeit war mehr zu spüren.
„Nun schieß schon los“, bat Oma Pusch. „Wir können das schon ab.“
„Dem armen Kerl wurden die Fingerkuppen gequetscht und Teile abgetrennt“, berichtete Enno leise. „Ich würde mich nicht wundern, wenn ich noch mehr Verletzungen entdecke, sobald er bei mir auf dem Tisch liegt. Mir schwant sozusagen Schreckliches.“
„Autsch“, sagte Rita. „Hat man so etwas nicht im Mittelalter gemacht?“
„Der Mensch ist jederzeit zu allen Grausamkeiten fähig, die man sich vorstellen kann“, erklärte Enno. „Alles was man sich im Schlimmsten ausmalen kann, ist irgendwo auch schon passiert. Die Welt ist ein düsterer Ort.“
„Komm, das sind aber Ausnahmen“, wandte Oma Pusch ein. „Was mich wundert, ist der Umstand, dass man keine unblutigere Todesursache gewählt hat, wenn man schon jemanden umbringen wollte. Das muss doch eine Riesensauerei gewesen sein.“
„Du sagst es“, pflichtete Enno ihr bei, „die sechs Liter werden sich gut verteilt haben. Darum bin ich mir relativ sicher, dass wir den Tatort auch finden werden.“
„Was für ein furchtbares Ende“, stöhnte Rita.
„Vor allem für so einen jungen Mann“, fügte Oma Pusch noch hinzu. „Der war doch höchstens Mitte dreißig.“
„Jau, würde ich auf den ersten Blick auch so ungefähr einschätzen“, gab Enno zu, „na ja, wenn ich ihn erst von außen und innen betrachtet habe, ist das bestimmt noch genauer einzuordnen.“
„Kaffee?“, fragte Oma Pusch verschmitzt und Rita lachte.
„Sehr gerne“, erwiderte Enno, „übrigens auch mal aushäusig mit der Dame vom Hafen auf ein Stückchen Kuchen.“ Er zwinkerte seiner Lotti zu.
„Und was ist mit mir?“, protestierte Rita.
„Du kommst selbstverständlich auch mit“, versprach Enno. „Wir könnten uns das vornehmen, wenn ich mit der Sektion durch bin. Schätzungsweise haben wir dann jede Menge zu besprechen. Was denkt ihr?“
„Eine sehr gute Idee“, fand Oma Pusch und stellte ihm eine dampfende Tasse Kaffee vor die Nase.
„Euch möchte man auch echt nicht zum Feind haben“, stöhnte Enno und schmunzelte, als Rita ihm einen Teller mit zwei Mettbrötchen reichte.
Als Enno sich verabschiedet hatte, weil nun doch wieder Kunden am Kiosk anstanden, konnten die beiden Freundinnen zunächst nicht weiter über den unglaublichen Fall sprechen. Es war einfach zu viel zu tun. Erst langsam leerte es sich, doch da kam vom Strand her ein Mann auf sie zugehinkt, so schnell er konnte. Dabei trug er einen kläffenden Fiffi auf dem Arm.
„Lotti, Rita, moin erst mal“, schnaufte er, „boah, da am Hafen war was los. Habt ihr das schon mitgekriegt?“
„Was denn?“, tat Oma Pusch so, als hätte sie keine Ahnung. Dabei knuffte sie Rita in die Seite, damit die nicht gleich losplapperte.
„Stellt euch vor, da hat doch eine Touristin einen armen Kerl ins Hafenbecken gestoßen, hörte ich“, berichtete er. „Wahrscheinlich ein Eifersuchtsdrama. Schrecklich! Den muss es wohl erwischt haben. Eben sah ich noch diese Michelinmännchen von der Spurensicherung da rumkriechen. Und an euch ist das alles vorbeigegangen?“ Hinnerk war verwundert. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Der Luzi – momentan unbeobachtet und nicht mehr am Kläffen interessiert – schielte nach den Croissants und versuchte, vom Arm des alten, hinkenden Fischers aus, einen der Leckerbissen zu erwischen.
„Hey, du wirst doch wohl nicht …!“, schimpfte Rita gerade noch rechtzeitig.
Der Köter duckte sich.
„Wir haben noch nicht gefrühstückt“, entschuldigte sich Hinnerk.
„Ich lade euch ein, wenn du ein bisschen für uns spionieren gehst“, schlug Oma Pusch vor. „Ein Rollmopsbrötchen für dich und eine Frikadelle für deinen kleinen Freund.“
„Gibt’s auch einen Kaffee dazu?“, beantragte er dreist. „Dann sind wir im Geschäft.“
Da es darauf nun wirklich nicht mehr ankam, nickte die Kioskbesitzerin und goss ihm eine Tasse voll. Rita schmierte im Hintergrund das Brötchen und legte auch eine Bulette mit auf den Teller.
„Senf braucht der Luzi ja wohl nicht, oder?“, fragte sie schelmisch.
„Gott bewahre!“, rief Hinnerk. „Was soll ich denn für euch rausfinden?“ Dann biss er ab.
„Wo das viele Blut abgeblieben ist“, erklärte Oma Pusch, „das aus dem Hals des Toten gespritzt ist.“
Hinnerk hustete. Er hatte sich verschluckt. So etwas wollte man wirklich nicht hören, während man kaute.
„Woher willst du denn das schon wieder wissen?“, erkundigte er sich leicht genervt, als er seine Stimme zurückgefunden hatte. Es konnte doch kaum sein, dass die Lotti mehr wusste als er selbst.
„Na, weil er meinetwegen ins Wasser gefallen ist“, informierte sie ihn, „allerdings unabsichtlich, und dabei habe ich auch gesehen, dass man ihn … also, es klaffte ein tiefer Schnitt am Hals. Ich sah es, während er fiel.“
„Aha“, sagte Hinnerk und musste wieder schlucken.
„Wir suchen jetzt den Ort, an dem man den Mann umgebracht hat“, erklärte Oma Pusch. „Darum brauchen wir dich.“
Hinnerk winkte ab. „Das kann am Strand passiert sein, dann findet man gar nichts mehr. Im Meer verschwindet so manches.“
„Es taucht auch einiges wieder auf“, bemerkte Rita.
„Natürlich, davon lebe ich unter anderem“, erwiderte Hinnerk. „Das wisst ihr doch. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den Sand absammle. Ihr ahnt ja gar nicht, was so alles angespült wird.“