Fritz Lang - Norbert Grob - E-Book

Fritz Lang E-Book

Norbert Grob

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Beschreibung

Seine Filme erfanden die Kinowelt neu, sein Name steht für Meisterschaft. Fritz Lang, der Erschaffer von »Metropolis«, »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« oder »Dr. Mabuse«, ist eine Legende: Geschichtenerzähler und Bildkompositeur, Schauspieler, Autor, Bonvivant und vor allem begnadeter Regisseur. Er war ein obsessiver Visionär, als Künstler so innovativ wie unerbittlich, als Privatmann gern geheimnisumwittert. Norbert Grob, einer der besten Kenner von Fritz Langs Leben und Werk, legt die erste umfassende Biographie des Filmgenies vor. Die Weimarer Republik feierte ihn als Star, das Berlin der 1920er Jahre war ihm glanzvolle Bühne. Die Nationalsozialisten umwarben ihn, doch er zog das Exil in den USA vor, wo er zur zentralen Figur der Emigrantenszene wurde. Hollywood ermöglichte dem eleganten Monokelträger, dessen Regiearbeit als diktatorisch galt, eine zweite Karriere. Doch wer war Fritz Lang, der mit Theodor W. Adorno befreundet war und mit Bertolt Brecht über Weltanschauungen stritt, außerhalb des Filmsets? Anhand einer Fülle kaum beachteter Quellen folgt Norbert Grob den Spuren des großen Filmmagiers und bringt uns erstmals auch den Menschen Fritz Lang nahe.

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Das Buch

»Kino ist kein zweites Leben – es ist mein eigentliches.«

Fritz Lang

Seine Filme erfanden die Kinowelt neu, sein Name steht für Meisterschaft. Fritz Lang, der Erschaffer von »Metropolis«, »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« oder »Dr. Mabuse«, ist eine Legende: Geschichtenerzähler und Bildkompositeur, Schauspieler, Autor, Bonvivant und vor allem begnadeter Regisseur. Er war ein obsessiver Visionär, als Künstler so innovativ wie unerbittlich, als Privatmann gern geheimnisumwittert. Norbert Grob, einer der besten Kenner von Fritz Langs Leben und Werk, legt die erste umfassende Biographie des Filmgenies vor.

Der Autor

Norbert Grob, geboren 1949 in Frankfurt am Main, ist Professor für Mediendramaturgie und Filmwissenschaft in Mainz. Zahlreiche Buchpublikationen, Artikel und Filmkritiken u.a. für Die Zeit sowie fi lmische Essays für das WDR-Fernsehen. Fritz Lang und seine innovativen Vorstellungen von Kino zählen zu seinen Leidenschaften, der klassische Film und Stilepochen der Moderne zu seinen Forschungsschwerpunkten.

Norbert Grob

Fritz Lang

»Ich bin ein Augenmensch«

Die Biographie

Propyläen

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ISBN 978-3-8437-0948-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Lektorat: Ulrich Callenberg

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

Coverbild: © Prismatic Pictures / Bridgeman Images

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

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E-Book: LVD GmbH, Berlin

Inhalt
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Inhalt
Zitat
Späte Rückkehr
Frankfurt, Berlin · 1956–1958
Lehr- und Wanderjahre
Wien, München, Paris · 1890–1914
Die Familie
Drei Stationen
Der Erste Weltkrieg
1914–1918
Ankunft in Deutschland
Berlin · 1918–1921
Die Goldenen Jahre
Berlin · 1921–1929
Das Reich des Zauberhaften
Spiele um die Macht
Symphonien der Bewegung
Erste Tonfilme und Aufbruch aus Berlin
1930–1933
Zeit-Phantasien
Heikles Angebot und heimlicher Abschied
Zwischenzeit
Paris · 1933–1934
Ankunft in Hollywood
1934–1936
Fury
Abenteuer und Arrangements
Hollywood · 1936–1956
Im Räderwerk der Systeme
Einfachheit der Gefühle
Kriegsbeiträge
Verloren in (Alp-)Träumen
Genre-Spiele
No way in
Letzte Filme
Berlin, Paris · 1956–1964
Gefühl für Tiefe und Größe
Kalte Realität
Noch einmal Paris
Letzte Jahre
Los Angeles · 1964–1976
Dank
Anmerkungen
Literatur
Texte von Fritz Lang
Bücher/Broschüren
Aufsätze
Interviews
Filme
Filmographie Fritz Lang
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

»Bei jeder Kunst, aber beim Film ganz besonders, gilt als oberstes Gesetz, dass man von einem Werk, von seiner Arbeit selbst aufs Innerste ergriffen und besessen sein muss.«

Fritz Lang, 1924

Späte Rückkehr

Frankfurt, Berlin · 1956–1958

Fritz Lang und Theodor W. Adorno: »Badger« und »Nilpferd« – zwei Freunde, mal lachend, mal streitend, aber stets seelenverwandt. Links: Langs Lebensgefährtin Lily Latté

Anfang Oktober 1956 traf Fritz Lang nach 23 Jahren wieder in Deutschland ein. Ihm war klar: Irgendwie kommt er in die Fremde, und irgendwie kommt er nach Hause. Der Tag war wolken­verhangen, nicht mehr herbstlich mild, aber auch noch nicht kalt.

Ein paar Wochen zuvor hatte Lang sich in Indien mit einem Virus infiziert. Deshalb war er von London, wo er sich von einem Arzt behandeln ließ, nicht zurück in die USA geflogen, sondern nach Frankfurt am Main. Er wollte dort einen renommierten Facharzt aufsuchen und diese Gelegenheit nutzen, seinen Freund Theodor W. Adorno und dessen Frau Gretel zu treffen, die er über seine Lebensgefährtin Lily Latté 1942 in Los Angeles kennen­gelernt hatte. Lang und Adorno, der führende Vertreter der »Kri­tischen Theorie«, Autor der Dialektik der Aufklärung1 (1947) und der Minima Moralia (1951), fühlten sich von der ersten Begegnung an seelenverwandt. Sie hatten einen ähnlichen Humor, sie lachten gerne über absurde Situationen. Als sie sich nun nach sieben Jahren wiedertrafen, war die Szene fast filmisch: Sie drückten sich fest die Hand. Danach ein kurzer Klaps auf die Schulter. Keine Umarmung.

Der Facharzt in Frankfurt mahnte ihn zur Geduld. So zwang ihn die Krankheit, seinen Aufenthalt um einige Zeit zu verlängern. »Dabei«, so bekannte er in einem Radio-Interview gegenüber Ludwig Maibohm, habe er eigentlich »nie wieder zurückkommen« wollen, »nach allem, was mir und vielen einstigen Leidensgenossen und Heimatvertriebenen angetan worden war.«2

Lang war dennoch, trotz seiner Vorbehalte, gespannt auf alles, was in diesem Land vor ihm lag. Er wollte genau hinschauen: Was ist mit Deutschland, was mit seinen Bewohnern? Nach zwölf Jahren unter nationalsozialistischer Diktatur? Und was mit der Regierung, die sich gerade anschickte, erneut aufzurüsten? Unter dem Kanzler Konrad Adenauer hatte die Bundesregierung zwei Jahre zuvor mit den Westmächten die Aufhebung des Besatzungsstatus vereinbart und am 5. Mai 1955 die volle Souveränität der Bundesrepublik Deutschland proklamiert. Damit verbunden war der Beitritt zur NATO. Ein halbes Jahr später, am 12. November, wurde den ersten freiwilligen Soldaten ihre Ernennungsurkunde überreicht. Damit war die deutsche Bundeswehr gegründet. Kurz vor Langs Ankunft, Ende September, bestimmte Bundespräsident Theodor Heuss schließlich das »schwarze Kreuz mit weißer Umrandung« als offizielles Hoheitszeichen der Bundeswehr. Lang war über diese Entwicklung besorgt, sah aber mit Genugtuung die Einbindung der deutschen Militärkräfte in die internationalen Organisationen.

Lang musste oft an die Zeit denken, bevor er Deutschland 1933 verlassen hatte. Ihn ärgerte seine damalige Haltung. Sein politisches Desinteresse zu dieser Zeit, auch wenn er selbstverständlich registriert hatte, was Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre in Deutschland passierte. Aber es glitt an ihm vorbei, als ginge es ihn nichts an. Später erklärte er, er sei damals wie ein »Schlafwandler«3 durch die Welt gegangen. Interessiert nicht an der gesellschaftlichen, sondern ausschließlich an seiner filmkünstlerischen Entwicklung. In dieser Zeit hatte er sich vor allem als Maler gefühlt. Seine Bilder sollten künstlerische Kompositionen sein und gleichzeitig aufregende Seherfahrungen für die Zuschauer: mit Linien und Flächen, Licht und Schatten. So hatte er gehofft, der Rembrandt des Kinos zu werden: geheimnisvoll in den Hell-Dunkel-Effekten, aufregend in der Zeichnung von Figuren und Konflikten. Nie hatte er seine Geschichten bloß als ausgedachte Phantasien gesehen, sondern als künstlerische Umspielungen einer lebenslangen Faszination für alles Dunkle und Düstere menschlicher Existenz: für die Macht des Bösen, für die Lust am verbotenen Tun, für die Dominanz des Zufälligen, für die spielerische Nähe zum Tod. »Lang ist seinem Werk immanent«, schrieb der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser. »Was immer seine Aufmerksamkeit auf sich zog, er verwandelte es und brachte es zum Sprechen (…). Auch wenn er (…) in allen Genrespielarten arbeitete (…) er blieb doch immer derselbe: nirgends sichtbar und überall spürbar.«4

Noch im Februar 1932 hatte Lang selber geschrieben:

»Der Existenzkampf des deutschen Films wird auf einer rationellen Fabrikation basieren, die in diesen Zeiten größter Kapital­knappheit mehr als je auf die Investierung von Geist, Erfindungsgabe und Können wird zurückgreifen müssen, um dem Publikum Neues in neuer Form bieten zu können und es damit in die jetzt leeren Kinotheater zurückzuholen.«5

Ein Jahr später, 1933, war dieses Interesse am »Existenzkampf des deutschen Films« erloschen. Der Umzug nach Paris und kurz darauf nach Los Angeles hatte ihn verändert. Er spürte, dass er nun Farbe bekennen musste. In den USA entschied er, sein En­ga­gement radikal zu verstärken: Er begann, Exilanten zu helfen, und hielt Kontakte »zu politisch linken wie zu konservativen Kreisen des deutschen Exils«6. Lang war in den USA »keine isolierte, sondern in hohem Maße eine gesellschaftliche Figur«7. Er gab, wie die Malerin und Kunstsammlerin Galka Scheyer schrieb, »sein ganzes Geld für den Kampf gegen Hitler« aus8.

Lang war im Deutschland Anfang der 1930er Jahre zwar nicht wie seine damalige Frau Thea von Harbou anfällig gewesen für die Politik der Hugenberg/Hitler-Fraktion. Aber es hatte auch nicht die klare Distanz gegeben, wie sie später so selbstverständlich angenommen wurde. Doch im Exil »mischte (er) sich ein, verfolgte das aktuelle politische Geschehen (…), engagierte sich«.9

Lang, »hochgewachsen und elegant«, sei »Hollywood ganz vorzüglich bekommen«, notierten Klaus und Erika Mann in ihrem Buch Escape to Life, nachdem sie sein amerikanisches Debüt Fury gesehen und ihn mehrfach auf Partys getroffen hatten. Sie waren überrascht von seiner neuen Klarheit. Keine Gedanken mehr an Ewiges oder Übermenschliches und nur noch wenig spöttische Überheblichkeit. Ihm gehe es inzwischen

»um die Problematik des menschlichen Zusammenlebens, um Irrtum, Schuld, Gerechtigkeit, Fortschritt (…) Er ist Emigrant mit Leib und Seele; und obwohl er Amerika liebt und sich dem Lande zugehörig fühlt, das ihm so beglückende Wirkungsmöglichkeiten bietet, hängt er mit zäher Zärtlichkeit an Deutschland, dessen Schande er als die seine empfindet.«10

Bei seinem Aufenthalt in Deutschland Ende 1956 war Lang daher nicht mehr nur passiver Beobachter, sondern aktiver, debattierender Demokrat: bewusster in politischen Situationen, interessierter an Details, aufmerksamer für Tendenzen. Viele seiner Freunde zeigten sich überrascht, dass er während ihrer Begegnungen konkrete Fragen stellte nach der politischen Realität in der Bundesrepublik, nach Parteien und Personen. Und sie waren erstaunt, wie sehr er Wert darauf legte, auch ihre Ansichten kennenzulernen. Der ehemals so barsche, selbstgewisse, arrogante Künstler kam als älterer, freundlicher, neugieriger Gentleman ins alte Zuhause.

Kurz vor Langs Reise nach Deutschland, im Januar 1956, hatte der Filmpublizist Kurt Pinthus, auch er ein Exilant, den Regisseur in der Zeitschrift Aufbau als »Meister des Films« geehrt – für seinen »Einfluss auf die Entwicklung der Filmproduktion« ganz ­allgemein und für seine »fast unwahrscheinlichen Vorahnungen künftiger Dinge.« Lang kannte Pinthus noch aus seiner Berliner Zeit, er hatte ihn auch in Hollywood mehrfach getroffen. Deshalb war er umso erfreuter, nun von ihm eine derartige Würdigung seiner Arbeit zu lesen. Pinthus hatte einige Tendenzen seines Œuvres hervorgehoben: die »weder vorher noch nachher in der Weltproduktion gese­hene malerische Phantastik«; »das Unheimliche, Grauenhafte, ­Abgründige, das (…) schließlich ins Psychologische gewendet« wurde; die Beachtung »soziale(r) Probleme in den amerikanischen Filmen; und insgesamt das »tiefe Mitgefühl für die Unterwelt im Einzelmenschen und in der Gesellschaft und ein fast prophe­tisches Wissen um die chaotische Angst un­serer Epoche«.11 Lang fühlte sich durch den Text, der ein Fazit seines Werks zog, aus dem Achtung vor seiner Kunst sowie Sympathie für seine Themen und Bilder sprachen, überaus geschmeichelt. Aus heutiger Sicht wirkt es wie eine Ironie des Schicksals, dass Langs Karriere in Hollywood noch im selben Jahr, präzise am 1. Oktober, mit Beyond a Reasonable Doubt en­dete.

Theodor W. Adorno hatte, als Lang nach Frankfurt kam, ge­rade seine Studien über den Philosophen Edmund Husserl publiziert (Zur Metakritik der Erkenntnistheorie) und freute sich nun darauf, mit seiner Frau Gretel seinen Freund zu verwöhnen. Schon am ersten Abend in Frankfurt luden sie ihn zum Essen ein: zu Forelle Blau und Perlhuhn, dazu tranken sie einen Pfälzer Riesling, den Lang besonders schätzte, während Adorno Weine von der Mosel bevorzugte. Sie debattierten, erzählten, scherzten und lachten. Sie flachsten auch über ihren unterschiedlichen Weingeschmack – und stritten darum, sehr ernst. Und sie amüsierten sich wieder darüber, wenn Gretel und Lily Latté, die in dieselbe Schule gegangen waren, erzählten, dass sie dort beide »für den jungen Lateinlehrer geschwärmt« hatten.12 Lang tat diese alte Vertrautheit gut, so fühlte er sich rasch wohl. In den USA hatten sie sich bis 1949, als Adorno zurück nach Deutschland ging, da ihm von der Frankfurter Universität ein außerordentlicher Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie angeboten worden war, regelmäßig getroffen. Dieser Kontakt war nie abgerissen, viele Briefe wurden hin- und hergeschrieben und darin auch weiterhin die Kosenamen gepflegt: »Badger« für Fritz, »Nilpferd« für Theodor, »Micky« für Lily und »Giraffe« für Gretel. Adorno, eigentlich am Kino eher desinteressiert, bewunderte an Lang den künstlerischen Impuls, das Visionäre seiner Bildkompositionen. Lang seinerseits mochte an Adorno die Radikalität und Schärfe des Denkens, er schätzte die Minima Moralia, diese »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«. Dass beide zudem Albernheiten zu schätzen wussten, vertiefte ihre Gefühle füreinander. So nahm Adorno wie nur wenige Freunde es ohne Verwunderung hin, dass der Regisseur seinen Stoffaffen Peter, den er auf Reisen stets dabeihatte, wie ein Mitglied der Familie behandelte. Kaum ein Brief von Adorno, der nicht mit herzlichstem Gruß an Peter endete.

Am 7. Oktober machten sie eine Autotour in den Spessart und den Odenwald. Dabei wurde Lang in der Wertheimer Gaststätte »Zum Schwan« von den Wirtsleuten erkannt. Sie drängten ihn, sich ins Gästebuch einzutragen. Er kramte in seinem Jackett nach dem Füllfederhalter, skizzierte ein kleines Männlein und unterschrieb mit Schwung.

Als er sich erholt hatte von seiner Krankheit, packte er seine Koffer und begann durch Deutschland zu reisen: München, Hamburg, Berlin – und zurück nach Frankfurt. In allen Städten waren deutlich die Spuren des Krieges zu sehen. Haufenweise zerstörte Gebäude, und in den Straßen viele leere, von Trümmern geräumte Flächen.

Auf dieser kleinen Rundreise, auf der ihn der Journalist Paul Erich Marcus begleitete, der unter dem Pseudonym »Pem« pub­lizierte, besuchte er einige Kollegen und Mitarbeiter, denen er sich nahe fühlte: zunächst den Kameramann Fritz Arno Wagner. In den 1920/30er Jahren hatte der für ihn Teile von Der müde Tod, danach Spione, M und Das Testament des Dr. Mabuse pho­tographiert. Momentan arbeitete er für die Bavaria in München. Bei dem Gespräch sicherte Lang ihm zu, sollte er je wieder in Deutschland drehen, werde er ihn für die Kamera anfordern.

In München traf Lang auch den Schauspieler Willy Fritsch, den er in Spione und Frau im Mond besetzt hatte und der am Ende der Weimarer Republik mit Die Drei von der Tankstelle (1930) und Der Kongress tanzt (1931) zum großen Star avanciert war. Seine Filme mit Lilian Harvey zählten zu den Hits des frühen deutschen Tonfilms. Mitte der 1950er Jahre hatte sich Fritsch im deutschen Nachkriegskino zum älteren Herrn gewandelt, der als Amtsrichter oder Arzt oder Professor gelassene, altersweise Positionen vertrat. Es war ein freundschaftliches Treffen, bei dem beide viel lachten. Fritsch erzählte dabei von einem Buch, das gerade im Stern-Verlag erschienen war: Das gab’s nur einmal von Curt Riess, der Lang würdigte und auf der letzten Seite zurückdachte »an die Großtaten des deutschen Films zwischen 1915 und 1933 (…) an die UFA, wie sie einmal war (…) an Ernst Lubitsch und Fritz Lang (…) an die blonde Henny Porten und die schwarze Asta Nielsen (…) an Pola Negri und an Renate Müller (…) an Madame Dubarry und DieNibelungen (…)«13. Lang, der mit Riess in Kontakt stand, er hatte ein paar Tage zuvor noch in London mit ihm telefoniert, war gerührt.

Noch erfreulicher wurde für ihn die Begegnung mit Gerda Maurus, die Ende der 1920er Jahre seine große Liebe gewesen war und in Spione und Frau im Mond die Hauptrolle spielte. Sie gab gerade am Theater in Düsseldorf die Wassilissa Kostylew in Maxim Gorkis Nachtasyl. Beide waren anfangs ein wenig gehemmt, wurden dann aber immer freier, gelöster, offener. Sie erzählte von ihrem Alltag und ihrer Ehe, er von seinem Leben in den USA, von den Problemen mit den Studios und den großen Stars. Pem, Langs »Reisemarschall«14, hatte das Treffen arrangiert und die beiden später in einer Bar getroffen, wo sie ihm vorkamen »wie zwei junge Verliebte, als wären nicht inzwischen mehr als 20 Jahre vergangen. Vergessen schienen Erfolge, andere Erlebnisse und andere Länder.«15 Wenn die Rede davon ist, wie wundersam Liebesgefühle zwischen Regisseur und Star in Filmen durchzuschimmern vermögen: so bei Josef von Sternberg und Marlene Dietrich, bei William Wyler und Bette Davis, auch bei Roberto Rossellini und Ingrid Bergman, dann muss man nur Gerda Maurus in Spione sehen. Wie sie ihren Partner Willy Fritsch anblickt, als sie ihn das erste Mal sieht! Oder wie sie an den Ort des Zugunglücks eilt, um ihm zu Hilfe zu kommen und ihn rettet! Das ist ein einziges Liebesspiel für – Fritz Lang. Ihm war dies während der Aufnahmen sehr wohl bewusst gewesen. Deshalb fand er es wunderbar, dass ihre Sympathie füreinander die Zeiten überdauert hatte. Maurus’ Ehe mit dem Autor und ­Regisseur Robert A. Stemmle, 1937 geschlossen, war inzwischen geschieden, ihre Tochter außer Haus. Sie schäkerte und flirtete mit Lang und erklärte ihm, dass sie in der NS-Zeit nicht oft, aber doch regelmäßig in Filmen gearbeitet habe. Und sie erzählte ihm von einem Treffen mit früheren Kollegen, das auf Einladung der Illustrierten Stern während der Berliner Filmfestspiele im Titania-Palast stattgefunden hatte. Vor dem Palast habe eine riesige Menge begeisterter Zuschauer gestanden und sie frenetisch umjubelt – unter anderem Lilian Harvey und Henny Porten, Hans Albers und Harry Piel. Es sei wie ein Wunder gewesen.

Am Ende seiner Reise traf Lang schließlich noch Lil Dagover, den Star seiner Filme Harakiri und Der müde Tod, die später in ihren Memoiren von der lebenslangen, »herzliche(n) Freundschaft« mit Lang schwärmte16, sowie Brigitte Helm, die für ihn die doppelte Maria in Metropolis war.

Mit all den alten Freunden und Kollegen tauschte er Erinnerungen aus, besprach aktuelle Pläne, diskutierte die Lage in Kultur und Gesellschaft. Wie ist die Situation in der Filmbranche? Wer sind die wichtigsten Produzenten? Mit welchen Autoren, Regisseuren, Schauspielern kann man überhaupt noch arbeiten? Sein Bild differenzierte sich mehr und mehr, und er reagierte auf seine ehemaligen Landsleute nicht mehr ausschließlich mit Skepsis und Misstrauen. Er trug zwar »immer noch die Erinnerung an Hitler« in sich, mochte es aber, »überaus liebenswürdig aufgenommen« zu werden. Er kam »zu dem Schluss (…): Hass hat nichts Kreatives an sich. Hass ist ein mieses Gefühl, und es ist nicht produktiv. Ich kann vergeben, aber ich werde mich immer erinnern – ich werde niemals vergessen.«17.

Und er vergaß nicht. Bis ins hohe Alter betonte er, dass nicht nur die Politiker, nicht nur die SA, die SS, die Gestapo »die Nazis« waren, sondern auch die Mitdulder und Mitläufer. Dabei war er nicht starrsinnig, sondern eher vorsichtig. Er wollte wachsam bleiben, ohne auf seinen Vorurteilen zu beharren.

Adorno hatte Lang in mehreren Briefen schon früh über die soziale und politische Situation in der jungen Bundesrepublik informiert. Bereits am 29. November 1950 schrieb Adorno:

»Sicher scheint mir (…), dass die Deutschen ein unbeschreibliches Schuldgefühl haben (und zwar keineswegs nur die Nazis). Dass sie es aber nicht aufkommen lassen, wahrscheinlich weil sie sonst überhaupt nicht atmen könnten, und es übertäuben und überkompensieren, was ihnen natürlich durch ihre gegenwärtige politische Rolle sehr leicht gemacht wird. (…) Die äußeren Lebensverhältnisse sind für die materiell gut Gestellten erstaunlich angenehm; freilich ist (…) ein Abgrund zwischen der alten und neuen leisure class und dem Elend der Ungezählten, die immer noch in Bunkern untergebracht sind oder in Kellern hausen. (…) Das Erstaunlichste aber sind eigentlich in dem virtuell zerstörten Land nicht die sozialen und wirtschaftlichen Schäden, sondern gerade umgekehrt, dass trotz allem ein zumindest an der Oberfläche ›normales‹ Leben sich wieder durchgesetzt hat.« Drei Jahre später, am 2. Oktober 1953, äußerte sich Adorno noch euphorischer: »Der deutsche Boom geht ins Phantastische, von der Aktivität und der Arbeit, die in allen Sphären herrscht, kann man wirklich keine Vorstellung geben (…). Es ist gar kein Zweifel daran, dass Deutschland heute bereits wieder eine Schlüsselposition in Europa errungen hat mit allem Gefährlichen, das darin impliziert wird, aber doch unleugbar durch eine unbeschreibliche Energie.«18

Lang stellte sich oft die Frage, was Deutschland für ihn eigentlich bedeutet. Er verdankte dem Land seine größten Erfolge. Aber er musste hier auch die größte Niederlage hinnehmen: den Gang ins Exil. Dadurch war er gewissermaßen aus dem Himmel gefallen. Was nun tun? Am 16. August 1956 hatte er auf seinem Flug von London nach Indien einen kurzen Zwischenstopp in Düsseldorf eingelegt. Auf dem Flughafen las er die Schlagzeilen einer Zeitung und erfuhr so, dass Brecht gestorben war. Das traf ihn wie ein Schlag. Deshalb wollte er an die frische Luft und den Transitbereich verlassen. Er wurde aber »auf sehr unverschämte Weise« von einem Polizeibeamten daran gehindert.

»Ich brach einen Streit vom Zaun, ich konnte nicht anders. Ich sagte: ›Sind wir hier wieder bei den Nazis?‹ Ich machte ein Riesentheater. Die Leute haben sich später entschuldigt, der Mann wurde vom Dienst suspendiert, aber das waren meine Eindrücke bei meiner Rückkehr nach Deutschland.«19

Lang spürte dennoch, die Zeit ist reif für eine Wiederbegegnung. Er nahm sich fest vor, in möglichst naher Zukunft Deutschland endlich ausführlicher zu bereisen.

In Indien wollte Lang zusammen mit dem britischen Pro­duzenten Bishu Sen den Film The Pearl of Love vorbereiten, die Liebesgeschichte einer Frau zwischen zwei Männern, die im 17. Jahrhundert spielen sollte, zu der Zeit von Planung und Bau des Tadsch Mahal. Lang wurde in Indien mit großer Aufmerksamkeit empfangen. Er folgte offiziellen Einladungen, besuchte am 18. August das Prince-of-Wales-Museum und tags darauf die Hanging Gardens in Bombay, gab dem Sunday Standard und der Times of India Interviews, schaute sich in den Studios um, in Bombay und Neu-Delhi. Er sah viele Filme, oft zwei an einem Tag, und traf sich mit vielen Kollegen, Schauspielern, Tänzern. Die Zeitung Bombay Screen feierte ihn als »einen der größten ­Kino-­Giganten aller Zeiten«.

Ursprünglich war The Pearl of Love ein Projekt von Alexander Korda für David Lean, der es aber rasch aufgab. Nach Kordas Tod suchte sein Assistent Bishu Sen nach einer anderen Lösung und bot Lang, da er von dessen Faszination für Indien gehört hatte, die Regie an. Der akzeptierte und unterschrieb Ende Juli 1956 den Vertrag. Wesentlich für diesen Entschluss war wohl das Angebot, mehrere Wochen lang durchs Land reisen zu können. Sein Plan war, ein möglichst authentisches Bild zu zeichnen von der Zeit und den Ereignissen beim Bau des Tadsch Mahal, dabei aber die Konflikte und Intrigen melodramatisch zu überhöhen. Lang staunte darüber, was er sah, in Bombay, Neu-Delhi, Jaipur, Udaipur und Akra. Er hatte so oft geträumt von den fernen Orten, den opulenten Palästen mit ihren runden, geschwungenen Formen, den vielen Menschen mit ihren unterschiedlichsten Religionen, den fremden Gerüchen und den exotischen Speisen. Nun konnte er endlich erleben, wie es tatsächlich war – und es gefiel ihm. Für den bunten Abenteuerfilm voller Schauwerte, mit exotischen Effekten, die erstaunen und faszinieren sollten, würde, das musste Lang dann aber einsehen, das vorgesehene Budget in Höhe von 400 000 Dollar nicht ausreichen. Deshalb entschied er noch in Indien, den Vertrag mit dem britischen Produzenten aufzulösen. Als er schließlich am 20. September über Rom, Genf und Paris nach London zurückflog, notierte er in seinem Kalender auf Deutsch: »Wüste wie Meer beim Flug in der Früh!«

Während seines Aufenthalts in Deutschland nutzte er eine Reise nach Berlin auch dazu, seine und Lily Lattés Ansprüche auf Entschädigung für aufgegebene und verlorene Besitztümer zu klären. Sie beauftragten zwei Anwälte damit, diese Ansprüche geltend zu machen. Die Angelegenheit wurde äußerst diskret behandelt und am Ende zu aller Zufriedenheit erledigt. Lily akzeptierte eine monatliche Rente in Höhe von DM 600, Lang eine einmalige Auszahlung in Höhe von DM 40 000 (das durchschnittliche Monatseinkommen eines deutschen Arbeiters lag zu der Zeit bei DM 400). In Berlin meldete sich bei ihm auch die Schauspielerin Klaramaria Skala, die Abend für Abend in dem kleinen Berliner Theater »Tribüne« auftrat, in Arnold Kriegers Fjodor und Anna. Sie kam ein wenig schüchtern auf ihn zu, mit eckigen Bewegungen und leiser Stimme. Doch als sie ihm eröffnete, die Tochter von Alois Skala zu sein, geriet er außer sich vor Freude. Alois war jener Kriegskamerad, der ihn 1916 nach einer schweren Verletzung aus den vorderen Schützengräben geborgen hatte. Das vergaß er ihm nie. Mit viel Geduld und Eifer widmete er sich deshalb in den folgenden Tagen der jungen Frau. Er lud sie ein zum Tee, ging an den Abenden, an denen sie nicht auftrat, mit ihr essen und besuchte eine ihrer Vorstellungen. Eines Nachmittags nahmen sie gemeinsam ein Taxi und fuhren zur Schorlemer Allee. Er wollte ihr seine alte Villa zeigen, die er gemeinsam mit Thea von Harbou Ende der 1920er Jahre hatte bauen lassen, voller Stolz. Doch was er sah, entsetzte ihn. Das Haus hatte inzwischen einen Anbau, den er als völlig unpassend empfand. Den ganzen Weg zurück in die Stadt konnte er seine Empörung nicht bändigen; dort rief er dann »mit zitternder Stimme« vor Freunden aus: »Alles zerstört! Alles zerstört!«20

In Berlin lud Lang zudem am 19. Oktober 1956 prominente Vertreter der Presse ein. Die waren erstaunt über seine strikte Weigerung, sich über das neue, demokratische Deutschland zu äußern. Stoisch blieb er bei seiner kurzen Erklärung, Deutschland sei für ihn das Land, das er sehr liebe und sehr hasse. Die kritische, kulturpolitisch äußerst engagierte Journalistin Karena Niehoff schrieb danach im Tagesspiegel über dieses Treffen, Lang habe einst »den Film zu einer neuen Art des Malens werden« lassen. Nun komme er mit seinem Monokel aus Amerika, schaue damit aber »weder albern noch dämonisch noch preußisch aus, eher ein wenig professoral-bürgerlich.« Es sei »kein Spiegelglas«, sondern »ein ruhiges Fenster in einem sicheren, für viele Reize bereiten Gesicht. Er sieht, so scheint es, unter den schweren Lidern langsam, als gälte es, den Bildern Zeit zu lassen, ehe sie einzufangen sind.« Einige der Journalisten sprachen ihn auch auf mögliche Projekte an. Seine Antwort lautete, ja, es gebe eine Reihe von Stoffen für neue Filme: das Tagebuch der Anne Frank, Probleme der Jugend, die berufstätige Frau in Deutschland des Jahres 1956. Niehoff dazu:

»In der fast wegwerfenden Beiläufigkeit merkt man es wohl: Er würde ganz gern in Deutschland zwischendurch einmal drehen, und sei es auch nur aus Anhänglichkeit. Er sitzt in seinem Hotelzimmer mit den ihm fremden Berliner Presseleuten, als befände man sich wie eh und je im Romanischen Café.«21

1956 waren seine großen, visionären Filme aus den 1920er ­Jahren, die ihn zum Genie des deutschen Kinos gemacht hatten, noch gut in Erinnerung: Der müde Tod und Dr. Mabuse, der Spieler, Die Nibelungen und Metropolis. Mit diesen Filmen, die ra­dikal waren im erzählerischen Entwurf sowie kühl und klar in der Inszenierung, galt er als Meister des »modernen« Kinos. Er bevorzugte einen labyrinthischen Stil, der dem Zuschauer aufbürdet, den eigentlichen Sinn hinter dem Sichtbaren selbst zu entziffern. Wieder und wieder ging es um die Bezüge seiner Phan­tasie zur jeweiligen Zeit. Um das Räderwerk der Systeme, die Menschen in ausweglose Situationen geraten lassen. Und um die Notwendigkeit der Auflehnung: um den Kampf selbst. Und stets erzählte er von »Schuld und Sühne, Liebe und Tod, Hass und Rache.«22

In der Filmbranche galt Lang ob dieser künstlerischen Erfolge als Legende. Einige freuten sich, ihn wiederzusehen. Andere zeigten sich glücklich, ihn endlich kennenzulernen. In München traf er Herbert Tischendorf, der dabei war, für Alfred Weidenmann Scampolo zu produzieren, sowie Fritz Thiery, Mitglied des Vorstands der Bavaria. Und es kam zu einer Begegnung mit dem jüdischen Produzenten Artur Brauner, der, wie Lang gegenüber dem Filmhistoriker und späteren Filmemacher Peter Bogdanovich, äußerte, »ausgesprochen nett« gewesen sei23. Brauner hatte Lang bereits 1955 eingeladen, für seine Central Cinema Comp.-Film (CCC), die er 1946 in Berlin gegründet hatte, einen Film über den 20. Juli 1944 zu drehen, nach einem Buch von Günther Weisenborn und Werner Jörg Lüddecke. Lang hatte jedoch viele Bedenken, er fand das Buch historisch ungenau und viel zu pädagogisch, es ähnele eher einem »Sprechchor mit aufgeteilten Rollen«24. Brauner zeigte Verständnis für Langs Skepsis – und übergab das Projekt an Falk Harnack. Er versprach Lang allerdings, nach einem anderen Stoff zu suchen, den sie gemeinsam machen könnten. Brauner galt als Spezialist für einfache Unterhaltungsware, die er selbst gerne »Tralala-Filme« nannte, hatte aber Ende der 1940er Jahre mit dem Regisseur Eugen York Morituri produziert, einen Film, der von einer Gruppe Häftlinge erzählt, die aus einem Konzentrationslager fliehen und sich ein neues Leben in den Wäldern an der polnisch-russischen Grenze einrichten. »Mit diesem Film«, so schrieb er in seiner Autobiographie, wollte er »an das Gewissen der Welt appellieren«. Er habe »dunkel« geahnt, dass er damit »kaum Geld verdienen würde«, ihn aber »trotzdem« gedreht, weil er »spürte«, dass er »ihn einfach drehen musste.«25Morituri erzielte einen Achtungserfolg bei der Kritik, war jedoch an der Kasse ein Flop. Diese Erfahrung prägte Brauners weitere Filmproduktionen. Er setzte danach auf Leichteres, Vergnüglicheres. In den 1950er Jahren zog Brauner, so seine Biographin Claudia Dillmann,

»ein Ein-Mann-Unternehmen auf und machte es zur erfolgreichsten unabhängigen europäischen Filmproduktionsfirma. Als indus­trieller Potentat mit jährlichen 30 Millionen Mark Umsatz herrschte er von einem schäbigen Büro in seinem Spandauer Atelier aus über einen allein auf ihn zugeschnittenen Betrieb.«26

Brauner zählte zu den großen Bewunderern von Langs Filmen. In seiner Autobiographie bekannte er, ein Photo von ihm über sein Bett aufgehängt zu haben – »zwischen Tarzan und Buffalo Bill«. Und seinen Dr. Mabuse, der Spieler sah er »genau dreiundzwanzigmal«, angeblich.

»Es war der erste wirkliche Gangsterfilm, garniert mit jenen Delikatessen, die seitdem für (…) dieses Genre typisch sind: dem Rattern der Maschinenwaffen, den Autos als Mordwerkzeugen, den durch die Nacht jagenden D-Zügen, den Zeugen, die auf geheimnisvolle Art sterben, und so fort.«27

Für Brauner war Lang mit »Sensationen, Nie-Dagewesenem, Spannung auf der Leinwand verbunden«; dazu »Vorstellungen von Größe und Berühmtheit und: Ruhm, filmgeschichtliche Bedeutung (…), internationale Anerkennung.« Außerdem rechnete er es Lang »hoch« an, »dass er Goebbels’ Angebot, eine führende Rolle in der NS-Filmwirtschaft zu übernehmen, abgelehnt hatte und über Frankreich in die USA emigriert war.«28

Mitte November flog Lang zurück in die USA. Er blieb allerdings nur kurz in Los Angeles, um seine Situation in der Branche zu sondieren. Er las die Skripte Torch in the Dark (für Warner) sowie Man for Man (für den Produzenten Josef Somló, der für ihn bereits in Berlin bei Spione und Frau im Mond als Rechts­berater gearbeitet hatte). Er versuchte auch Jack Warner zu erreichen. Der aber hielt sich in Washington D. C. auf und rief ihn nicht zurück. Erstmals fühlte er sich seit Jahren unbehaglich. Geriet seine Position in Hollywood noch weiter ins Wanken? Sollte er etwa für die düsteren Filme, die er zuletzt im Kino hatte: While the City Sleeps und Beyond a Reasonable Doubt, bestraft werden? Oder erwarteten die entscheidenden Leute einfach keinen Film mehr von ihm?

Dennoch versuchte er das ganze Jahr 1957 hindurch neue Filmstoffe für Hollywood zu erarbeiten. Anfang Januar war er in New York, er wohnte im Hotel Plaza, und traf sich mit dem Wissenschaftsjournalisten und Science-Fiction-Autor Willy Ley. Dessen Buch Die Möglichkeit der Weltraumfahrt (1928) hatte ihn in den 1920er Jahren zu Frau im Mond inspiriert. Ley lebte seit Mitte der 1930er Jahre in den USA und hatte gerade, was ihn sehr stolz machte, das Angebot erhalten, für die NASA zu arbeiten. Am 5. Januar sprach Lang mit mehreren Produzenten, unter anderem mit Bill Shiffrin, der ihm das Skript Glare anbot. Am 10. Januar flog er zurück nach Los Angeles, dort sah er in den Goldwyn-­Studios Stanley Kubricks The Killing, der ihn stark beeindruckte. Er prüfte seine Chancen für die Realisierung von Glare. Dafür ­besuchte er den Produzenten Erich Pommer, für den er seine deutschen Meisterwerke gedreht hatte, der aber sofort absagte. Danach konferierte er mit David Stillman und Leo Joffe, zwei Produzenten, »Deal Makers« nannte er sie, die für Paramount arbei­teten. Die beiden sahen in Glare jedoch nur den Stoff für ein B-Picture mit einem Budget von maximal 450 000 Dollar. Größeres Interesse brachten sie einer Idee entgegen, die Lang selbst entwickeln wollte: Wire Trap, der Geschichte einer kriminellen Intrige um eine Richterin in der Provinz. In den Wochen darauf arbeitete er intensiv an diesem Skript, schloss es Mitte April ab und gab es sofort an Paramount weiter. Das Studio lehnte es jedoch Ende Juli ab. Anfragen bei anderen Produzenten brachten ebenfalls keinerlei Erfolg.

Danach war klar, Wire Tap ist gekippt. Aus und vorbei. So musste Lang schließlich als einer der Letzten der großen, professionellen Filmregisseure, die in den 1930er Jahren aus Deutschland nach Hollywood gekommen waren, das Ende seiner Zeit in der amerikanischen Filmindustrie akzeptieren. Vor ihm hatten die gleiche Erfahrung bereits 1946 Edgar G. Ulmer, sechs Jahre später Robert Siodmak und 1955 Curtis Bernhardt und John Brahm machen müssen. Nur William Dieterle, Fred Zinnemann und Billy Wilder arbeiteten noch. Dieterle konnte gerade noch einen Film für Paramount inszenieren: Omar Khayyam (1957). Zinnemann drehte bis 1964 regelmäßig für die großen Studios, bis Behold a Pale Horse (für Columbia), Wilder sogar bis 1981: Buddy, Buddy (für MGM).

Alles zu Ende! Lang spürte, dass Hollywood dabei war, sich grundlegend zu verändern. 1948 hatte der Supreme Court der USA den großen Studios den Besitz eigener Kinoketten verboten, sie durften nur noch produzieren und verleihen. So büßten sie nach und nach ihre marktbeherrschende Stellung ein und konnten ihren allseits vertrauten, homogenen Stil nicht beibehalten. Damit wurde es für die Studios schwieriger, ihre Stars und Regisseure, Autoren und Techniker längerfristig zu binden. Und die alten Meisterregisseure kamen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum noch zum Einsatz. An ihre Stelle traten Jüngere mit unabhängigen Agenten, einige davon kamen vom Theater, andere vom Fernsehen.

Alles zu Ende! Es war eine bittere Erkenntnis für Lang, aber er blieb äußerlich gelassen. Er las weiterhin die Skripte, die ihm vorgelegt wurden: BreakAway (für Josef Somló) und Strangle Hold (für Boris Karloff) sowie Mr. Boston (für Bill Shiffrin). Er ging viel ins Kino und sah Cecil B. DeMilles Ten Commandments, Sidney Lumets Twelve Angry Men und Billy Wilders Love in the Afternoon, in denen er, so unterschiedlich sie auch waren, einiges mochte: das Monumentale bei DeMille, das Kämpferische eines Einzelnen bei Lumet, Audrey Hepburns Liebreiz bei Wilder.

Ansonsten übte er sich in Geduld. Wenn er nicht gerade las, arbeitete er tagsüber im Garten. Abends spielte er Scrabble mit Lily oder Poker mit Freunden. Manchmal, und auch das konnte ihn entzücken, saß er einfach nur auf der Terrasse und schaute dem Abbrennen der Kerzen zu. Zwei-, dreimal pro Woche traf er Verabredungen, mit dem Regisseur Richard Oswald, dem Produzenten Erich Pommer, dem Agenten Paul Kohner, dem Autor Ben Hecht, dem Schauspieler Thomas Mitchell. Er redete und hörte zu und verstand dennoch die neuen Trends in der Branche immer weniger. Ende April schließlich flog er für zehn Tage nach Washington D. C., wo ihm in der deutschen Botschaft neben Richard Oswald und William Dieterle das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde. Dabei lernte er eine Frau kennen, die ihn sofort faszinierte: groß, brünett, deutsch, Anfang vierzig, im Dienst des diplomatischen Korps. Sie ließ sich mit ihm ein. Anfang August, Lily Latté war seit Juni in Europa, besuchte sie ihn in Los Angeles, wohnte in seinem Haus, schlief in seinem Bett. Wenn er eine Frau aufrichtig liebe, bekannte Lang einmal, habe er den Wunsch, alles mit ihr zu teilen, das Schöne wie das Schmutzige. Am 18. August nahmen sie Abschied, für immer. Sie flog zurück nach Washington. Er wartete auf Lily, die zehn Tage später nach Los Angeles zurückkehrte.

Anfang September litt er unter starken Magenkrämpfen, er hatte Fieber und Kopfschmerzen, sein ganzer Körper schien in Aufruhr zu geraten. Am 6. September wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, wo er sich nur langsam erholte. Er schlief viel, dachte nach über seine prekäre Situation, las Richard Masons Roman Die Welt der Suzie Wong, der drei Jahre später von Richard Quine verfilmt wurde. Nach seiner Entlassung aus dem Hospital nahm er sein gewohntes Leben wieder auf: viel lesen, viel telefonieren, morgens schreiben und diktieren, nachmittags Post und Skripte prüfen, abends Verabredungen zum Dinner wahrnehmen oder Filme schauen.

Im November 1957 konnten sich Lang und Brauner schließlich auf einen gemeinsamen Stoff einigen: auf das Remake der Indien-Filme Der Tiger von Eschnapur und Das indische Grabmal, die der Regisseur und Produzent Joe May 1921 nach einem Buch von Thea von Harbou und Lang gedreht hatte. Eigentlich war Lang schon damals als Regisseur vorgesehen, dann jedoch von May ausgebootet worden, der in dem Projekt eine große Chance für die eigene Karriere sah. Noch viele Jahre danach war Lang verärgert über Mays Verhalten und deshalb erfreut darüber, dass er die Filme nun machen durfte. »Im Grunde hat man mir mein Drehbuch gestohlen«, bekannte er gegenüber der französischen Zeitschrift L’Express, »und als man mich dann dreißig Jahre später aufforderte, den Film zu drehen, fand ich das großartig. Es war, als ob der Kreis sich schlösse.«29 Und in dem Gespräch mit Peter Bogdanovich nannte er die Chance, die Filme doch noch zu machen: »a kind of fate«!30

Ein Kreis, der sich nach 36, 37 Jahren schließt: in der Arbeit wie im Leben! Zurück zu einem Filmstoff, den er schon einmal bearbeitete, und zurück in die Stadt, in der für ihn alles begann. Um das zu verstehen, lohnt sich der Blick auf eine andere Stadt: auf Wien, die Geburtsstadt des Mannes, der das Kino neu erfinden sollte.

Lehr- und Wanderjahre

Wien, München, Paris · 1890–1914

Ein frühes Selbstporträt Fritz Langs – gezeichnet 1917, im Stil seines lebenslangen Idols Egon Schiele

Friedrich Christian Anton Lang, der sich später einfach Fritz nannte, wurde am 5. Dezember 1890 geboren. Seine Eltern waren der Stadtbaumeister Anton Lang, der den Sohn als seinen Nachfolger zu erziehen suchte, und Pauline Schlesinger, die Tochter eines jüdischen Textilfabrikanten aus dem mährischen (heute: tschechischen) Brünn. Sie hatten im Mai 1883 geheiratet und ein Jahr später ihr erstes Kind, Adolf, bekommen. Sie bewohnten ein Haus in der Schön-Laterngasse im ersten Bezirk Wiens, innerhalb der Ringstraße, in der Nähe des Stephansdoms. Beide waren nicht sonderlich religiös, der Vater gestattete sich hin und wieder sogar Witze über Glaubensfragen, wollten aber ihre Kinder im katho­lischen Glauben erziehen, »katholisch und sehr puritanisch«, wie Lang später erläuterte. Drei Wochen nach der Geburt wurde das Kind in der Wiener Schottenkirche getauft. Paten waren der k. u. k. Hoflieferant Christian Cabos und der zweite Ehemann seiner Großmutter väterlicherseits, Karl Schott.

Auf Bitten dieser Großmutter hatten Anton und Pauline bei ihrer Hochzeit Gütertrennung vereinbart, ungewöhnlich für die Zeit, aber vielleicht verständlich, da beide vermögend waren und auf ihrer Eigenständigkeit bestanden. Als Pauline sieben Jahre später einen Teil ihrer Mitgift dem Ehemann überließ, tat sie das für eine gemeinsame Beteiligung an der Firma seines Arbeit­gebers; dabei legte sie großen Wert darauf, als Eigentümerin eingetragen zu werden. Dass Lang später in seinen Filmen so viele weibliche Figuren als stark und selbständig charakterisierte, hat sicherlich mit dem Vorbild zu tun, das er in seiner Mutter und seiner Großmutter fand.

Kurz vor der Jahrhundertwende, Lang besuchte noch die Volksschule, kam es unter dem Bürgermeister Karl Lueger, der 1893 die Christlichsoziale Partei (CS) gegründet hatte, um eine antikapitalistische, antiliberale und antisemitische Politik zu forcieren, zu einer drastischen Polarisierung zwischen den verschiedenen Zuwanderungsgruppen. Lueger warf vor allem der jü­dischen Bevölkerung vor, sich einen größeren Einfluss sichern zu wollen, als es ihr nach Zahl und Bedeutung zukomme. Diese Politik beeindruckte unter anderem den jungen Adolf Hitler, der seine Bewunderung für Lueger später mehrfach kundtat. Aufgrund dieser antisemitischen Tendenzen in Wien entschied sich Pauline Lang im Jahr 1900 zum Katholizismus zu konvertieren, und auch Anton fasste den Entschluss, sich wieder mehr in die Gemeinschaft der Kirche einzubinden. Es lag wohl am starken und ei­sernen Willen der Mutter, dass die Familie sich in die katholische Gesellschaft Wiens assimilierte, um ein ruhigeres Leben zu führen.

Das Wien der Jahrhundertwende sei, so Fritz Lang, »eine Märchenstadt« gewesen, »die nur für den Augenblick lebte, sorglos, unbekümmert um das, was in der Welt vor sich ging, und die von einer unvorstellbaren Süße war.« Man habe es »eine Konditorei am Rande des Balkans« genannt.31 Langs Geburtsstadt war Ende des 19. Jahrhunderts eine der großen Metropolen der westlichen Welt, kosmopolitisch gewachsen durch viele Immigranten aus allen Teilen Europas. Nach der Volkszählung von 1891 hatte Wien insgesamt 1,365 Millionen Einwohner. Aus dem Osten waren Böhmen, Tschechen und Ungarn gekommen, aus dem Süden Italiener und Spanier, aus dem Westen die Franzosen, und sie alle hatten eine ganz eigene Mentalität entwickelt, die eine betont gleichmütige, fatalistische Lebensart mit schwermütigen Gefühlen verband. Eine seltsame Gemengelage prägte das Zeitgefühl der Menschen: Einerseits gab es eine deutliche Euphorie für alles, was neu war, für Aufbruch, Entwicklung, Zukunft; andererseits herrschten Ängste gegenüber Unbekanntem und Kommendem: eine Stimmung von Lebensüberdruss, Resignation, Weltschmerz.32

Diese Ambivalenz war auch bei vielen Künstlern und Intellektuellen spürbar: Die einen waren fasziniert von den neuen technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die anderen fühlten sich abgestoßen von der zunehmenden Kapitalisierung der Märkte und der damit einhergehenden Kälte und Anonymisierung der Gesellschaft. Dennoch standen Architektur und Baukunst, Me­dizin und Psychoanalyse, Literatur, Musik und Malerei in voller Blüte. In Wien waren bis etwa 1900 Salon und Café die Institu­tionen, »wo Intellektuelle verschiedener Art (…) sich noch mit einer Elite der Geschäftswelt und der Universität mischten, die stolz war auf ihre Allgemeinbildung und künstlerische Kultur«.33 1893 begann Sigmund Freud mit seinen Forschungen zum Un­bewussten. 1901 entdeckte der Wiener Arzt Karl Landsteiner die menschlichen Blutgruppen. Die Architekten Camillo Sitte und Otto Wagner, »der romantische Archaiker und der rationale Funktionalist«34, erneuerten die Prinzipien des Städtebaus, sie wollten modern sein und zugleich »Inseln menschlicher Gemeinschaft im kalten Meer des vom Verkehr dominierten Raums«35 schaffen. Hugo von Hofmannsthal entwickelte nach und nach seine Dichtung der Moderne, verliebt in die eigene Sprache und zugleich skeptisch ihr gegenüber. Auch Arthur Schnitzler arbeitete, dichtete, wirkte in Wien, in seinen Werken standen Egoismus und Kälte im Verhalten der Menschen und die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühlswelt im Zentrum. Lang wird davon sein Leben lang geprägt bleiben. »Illusionen, Trugschlüssen, Missverständnissen und Fluchtanstrengungen ist Arthur Schnitzler vor dem Ersten Weltkrieg auf der Spur.«36 Johann Strauß komponierte seine Operetten und Walzer, Gustav Mahler als Hofoperndirektor seine großen sinfonischen Werke, die in ihrer ungewöhnlichen Vielfalt an der Schwelle zur Neuen Musik standen, die Arnold Schönberg dann zwischen 1906 und 1909 schuf. Gustav Klimt entwickelte in Wien seine ornamentale Malerei, die bewusst spielerisch mit der Weltuntergangstimmung der Zeit umging. Auf die Formen und Farben dieser Bilder wird Lang in seiner Arbeit häufig zurückkom­men, auch weil sie etwas zeigten, wofür es bisher keine Sprache gab, weder in Bildern noch in Worten. Klimts Gemälde und Zeichnungen wurden häufig mit Attributen charakterisiert, wie »raf­finiert sinnlich«, »ästhetisch überhöht« oder »ornamental-deko­rativ«, Attribute, die zwei, drei Jahrzehnte später in ähnlicher Weise bei Lang wiederkehren; wie auch die Entrüstung ob des »anstößigen Inhalts« seiner Kunst, die Klimt vielfach entgegengebracht wurde. »Wahrscheinlich«, so bekannte Lang in seinen Erinnerungen an Wien, hatten in seinem Unterbewusstsein »die stilisierten Bilder Klimts Pate gestanden zu meinen stilisierten Dekorationen in den Nibelungen«.37 Egon Schiele, Langs »nie erreichtes Vorbild«38 in der Darstellung menschlicher Körper, und Oskar Kokoschka, die Klimt nachfolgten, begannen ihre Arbeit um 1909, zwei Jahre, bevor Lang Wien verließ. Lang war in eine Zeit faszinierenden Umbruchs hineingeboren:

Im »heftigen Ausbruch gegen den Ästhetizismus des Fin de siècle schufen Kokoschka und Schönberg neue Sprachen in der Malerei und Musik, um das allgemeine Leiden der Menschheit in kühner Leugnung der erklärten Werte ihrer Gesellschaft zu verkünden. Mit der Definition des modernen Menschen als eines, der dazu verdammt ist, ›sein eigenes Universum neu zu erschaffen‹ (Kokoschka), hat die Kultur Wiens im 20. Jahrhundert ihre Stimme gefunden.«39

So bedeutsam der kulturelle Reichtum in Wien sich entwickelte, so brisant war und blieb jedoch die politische Situation, die der junge Lang erlebte: Fin de siècle und Décadence konterkarierten bereits, was sich im Gerangel um europäische Vormacht und Einfluss ankündigte: 1882 wurde der Dreierbund zwischen Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich und Italien in Wien geschlossen. 1887 verständigten sich Österreich-Ungarn und Ita­lien darauf, die Expansion ihres Machtbereichs auf dem Balkan ge­gen­seitig abzustimmen. 1888 gründeten Sozialdemokraten auf dem Hainfelder Parteitag ihre Partei (die SPÖ). 1890 beteiligte sich Österreich-Ungarn am Boxerkrieg in China. 1906 führte Öster­reich das »allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht« ein. In Ungarn dagegen blieb das Zensuswahlrecht bestehen. 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien und Herzegowina. 1909 wurde die Annexion völkerrechtlich anerkannt. Am 28. Juni 1914 kam Erzherzog Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sa­ra­jewo ums Leben. Einen Monat später, am 28. Juli, brach der Erste Weltkrieg aus.

Wie das Wien der Jahrhundertwende war und was das, nicht nur für Lang, sondern für viele Menschen bedeutete, die damals dort lebten, hat Stefan Zweig präzise beschrieben.

Wiens »Größe und seine Geschichte war nie gebunden an (…) na­tionale Grenzen, sondern an die Dynastie der Habsburger, die mächtigste Europas, und je weiter das Habsburgerreich sich entfaltete, um so mehr wuchs die Größe und Schönheit dieser Stadt. (…) All diese Kaiser dachten, planten, sprachen kosmopolitisch. Aus Spanien hatten sie sich die Etikette mitgebracht, Italien, Frankreich fühlten sie sich durch die Kunst verbunden, und durch Heirat allen Nationen Europas. Durch zwei Jahrhunderte ist am österreichischen Hofe mehr Spanisch, mehr Italienisch und Französisch gesprochen worden als Deutsch. (…). Immer kam von außen neues fremdes Blut in diesen kulturellen Kreis, und ebenso mischte sich in ständigem Zustrom die Bürgerschaft. Aus Mähren, Böhmen, aus dem tirolerischen Gebirgsland, aus Ungarn, aus Italien kamen die Handwerker und Kaufleute: Slawen, Magyaren und Italiener, Polen und Juden strömten ein in den immer weiteren Kreis der Stadt. Ihre Kinder, ihre Enkel sprachen dann Deutsch, aber die Ursprünge waren nicht völlig verwischt.(…) Die Gegen­sätze verloren nur durch die ständige Mischung ihre Schärfe, alles wurde hier weicher, verbindlicher, konzilianter, entgegenkommender, liebenswürdiger – also österreichischer, wienerischer.«40

Das Kosmopolitische als Grundhaltung, die Neigung zu höf­licher, vornehmer Etikette im alltäglichen Verhalten, die Achtung und Liebe zur Kunst sowie die ständige Erneuerung durch fremde Einflüsse: Zweigs Hinweise auf die Grundzüge der wiene­rischen Mentalität lesen sich wie eine Charakterisierung der Persönlichkeit von Fritz Lang. Sein Leben lang dachte und fühlte er kosmopolitisch, sein Leben lang war er galant, höflich, geistreich, und immer blieb er offen für Inspiration durch Historiker, Philosophen, Psychologen sowie durch andere Künstler – durch Architekten, Bildhauer, Maler, Schriftsteller.

Die Familie

Fritz Langs Vater Anton wurde am 1. August 1860 unehelich in Wien geboren. Seine Mutter Johanna Lang stammte aus Sichelbach, einem kleinen Dorf im südlichen Mähren, etwa 120 km von Wien entfernt. Sie hatte als junges Mädchen eine Stelle als Haushälterin bei reichen Fabrikanten angenommen, sich in den Sohn des Hauses verliebt und war schwanger geworden. Da der junge Mann sich nicht zu ihr bekennen wollte, befand sie sich als tiefgläubige Katholikin in einer furchtbaren Lage.

Johanna erwies sich allerdings als energische Frau, sie suchte rasch nach einer Lösung und heiratete, um ihrem Sohn einen Namen zu geben. Doch der Plan ging nicht auf. Ihr Mann weigerte sich, Anton als eigenes Kind anzuerkennen. Nach dem Tod des Gatten heiratete sie 1876 ein zweites Mal, den Schullehrer Karl Schott, aber da war Anton bereits 16 Jahre alt und hatte wenig Interesse an einem anderen Namen. Für den amerikanischen Autor Patrick McGilligan ist Johanna deshalb die eigentliche Ahnin des späteren Künstlers Fritz Lang: Sie habe ihm den Namen gegeben und mit ihrem strengen Katholizismus, der in Wien besonders barock und bildmächtig war, seine spätere Identität grundlegend ­geprägt,41

Bis heute ist weder die Familie, bei der Johanna gearbeitet hatte, noch der Vater ihres Sohnes bekannt. Anton, der sogar im Geburtsregister als »uneheliches Kind« eingetragen wurde, soll bis zu seinem Tode den Namen seines Vaters nicht gekannt haben. Nachgewiesen ist allerdings, dass Johanna ein nicht unbeträchtliches Erbe antreten konnte, das sie sehr sorgsam für ihren Sohn verwaltete und ihm übergab, als er erwachsen war. Das Erbe bestand aus einer Beteiligung an der Baufirma »Endl & Honus«. Deswegen gab es lange Zeit Gerüchte, einer der Endl-Söhne sei Antons Vater; aber dies ist bis heute nicht belegt. Nach seiner Ausbildung bekam Anton 1878 eine Stelle als Bauzeichner in dieser Firma. »Endl & Honus« hatte in der Gründerzeit nach der ­gescheiterten Märzrevolution in den 1850er/1860er Jahren eine Reihe von Geschäftshäusern gebaut. Wohn- und Arbeitsräume waren Mangelware nach der Eingemeindung der Wiener Vorstädte und der Zuwanderung vieler Menschen aus Böhmen und Mähren. Angeblich war die Firma auch am Bau des luxuriösen Wiener Zentralbads in der Nähe des Stadtparks beteiligt. Anton lebte zu der Zeit in der Oberen Augartenstraße 64 (in der Leopoldstadt), in dem Haus, in dem auch die Firma residierte. 1885 wurde er Mitglied der Innung Wiener Bauunternehmer, 1890 offizieller Partner der Firma, er investierte dafür die erwähnte, nicht unbeträchtliche Mitgift seiner Frau Pauline und übernahm den Anteil der Endl-Familie. Dabei änderte er den Firmennamen in »Honus & Lang«. Im Jahr 1900, als Josef Honus in den Ruhestand ging, wurde er alleiniger Geschäftsführer und nannte die Firma »A.Lang & Cie.«. Anton galt als untadelig in seinem Beruf, hoch qualifiziert als Handwerker und gewieft in kommerziellen Dingen. Unter seiner Leitung gedieh die Firma prächtig. Er war weder an Kunst noch an Politik oder Sport interessiert und kümmerte sich nicht sonderlich um seine Kinder. Im Zentrum seines Lebens stand der Erfolg seiner Geschäfte und das Vorhaben, viel Geld damit zu verdienen.

Dass Fritz Lang ein distanziertes Verhältnis zu seinem Vater hatte, wundert da nicht. Die beiden Mitglieder der Familie, die er mochte, mehr noch, bewunderte, waren die Frauen: seine Mutter und seine Großmutter Johanna. Pauline wurde am 26. Juli 1864 in Brünn geboren, dem südmährischen Industrie-, Kultur- und Universitätszentrum. Ihr Vater Jakob Schlesinger besaß eine mittelgroße Textilfabrik. So wuchs sie in so behüteten wie begüterten Verhältnissen auf, sorgenfreie Umstände, die sie sich auch für ihre eigenen Kinder wünschte. Dafür tat sie alles. Anfang der 1880er Jahre war sie nach Wien gekommen, hatte eine Wohnung in der Leopoldstadt bezogen und arbeitete in einem Bekleidungsgeschäft in Mariahilf, das ihrem Vater gehörte. Durch die geschäftlichen Verbindungen, die ihr Vater zu »Endl & Honus« unterhielt, lernte sie Anton Lang kennen und heiratete ihn ein paar Jahre später.

Ab 1896 besuchte Fritz Lang die Volksschule in der Wiener Josefstädterstraße, die er ohne größere Probleme absolvierte. Seine Eltern waren in den Jahren zuvor mehrfach umgezogen, zuletzt von der Schenkenstraße in der Nähe des Burgtheaters in die Zeltgasse im achten Bezirk, in die Nähe des Theaters in der Josefstadt und der Piaristenkirche. In dieser Zeit war Lang fasziniert von den schaustellerischen Attraktionen der Stadt, von Pferde-Omnibussen und vom Wurstel-Prater, vor allem aber vom alljährlichen Christkindlmarkt, der für ihn »etwas ganz Besonderes« war: »Auf einem niedrigen Bretterpodium, das nur ein bis zwei Stufen höher war als das Niveau des Kopfsteinpflasters, standen einfache Bretterbuden mit billigen Weihnachtsdingen. Zwischen diesen Bretterbuden, auch die Passagen waren überdacht, konnte man selbst bei heftigstem Schneesturm stundenlang beim Licht von vielen bunten Kerzen und Öllampen von einem Stand zum anderen gehen.« Man kann sich gut vorstellen, wie der kleine Junge zwischen den Buden hin- und her sauste und »die herrlichsten Sachen« bewundernd anhimmelte:

»Bunten Christbaumschmuck, Kugeln und Sterne und glitzernde Silbergirlanden und rotbackige Äpfel und goldgelbe Orangen und Datteln und Windgebäck und getrocknete Malagatrauben und Lebkuchen, die man in Wien ›Lebzelten‹ nannte, und hinreißendes Spielzeug, Schaukelpferde und Hampelmänner und Kasperletheater (den Kasper nannte man in Wien ›Wurschtel‹) und Zinnsoldaten, Husaren und Dragoner und die Wiener Burgmusik und Infanterie, mit denen man große Schlachten aufführen konnte, und das aus ›Lebzelten‹ gebaute Märchenhaus von Hänsel und Gretel mit der Hexe natürlich, die in ihrer abgründigen Hässlichkeit auf einem Besen reitend aus dem Schornstein flog, und Theaterbühnen in den verschiedensten Aufführungen mit den handelnden Figuren aus Pappendeckel. (…) Es gab tausend Dinge zu sehen.«42

Noch im hohen Alter sprach Lang mit kindlicher Freude davon. Das bezeugt seine frühe Faszination für Attraktionen, deren bunte Mischung ihn besonders anzog. Später in seinen Filmen wird gerade das Nebeneinander von Mensch und Ding, von Raum und Licht ein konstitutives Element sein. In seinen Bildern findet sich diese Verzauberung durch die Macht der Dinge häufig wieder, mal hervorgehoben in Großaufnahmen, mal eingegliedert in die Ausstattung der Szene, um die Spannung zwischen den Figuren zu akzentuieren.

1901 wechselte Lang an die k. u. k. Staatsrealschule in der Neustiftgasse im siebten Bezirk, wo er Englisch und Französisch lernte, auch Geographie und Geschichte, vor allem aber in naturwissenschaftlichen Fächern ausgebildet wurde: Physik, Chemie, Mathematik. Seinen Wunsch, doch lieber für acht, neun Jahre ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, um Griechisch und Latein zu lernen sowie in Philosophie und Literatur unterrichtet zu werden, hatte der Vater abgelehnt. Die Realschule galt zu dieser Zeit als ideale Ausbildungsstätte für Kinder aus der Mittelschicht, die sich für höhere Aufgaben in kaufmännischen oder technischen Berufen qualifizieren sollten. Die sieben Jahre in dieser Schule behielt Lang nicht in angenehmer Erinnerung. Später erzählte er, das wichtigste Ereignis für ihn blieb, dort den ersten Film seines Lebens gesehen zu haben.

Mit einigen Schulkameraden war er etwas zu früh in den Saal gekommen, voller Vorfreude auf die neue Sensation. Einige lachten, andere schrien, ein paar trampelten sogar mit den Füßen auf dem Boden. Als dann der Film begann: Edwin S. Porters The Great Train Robbery43, wurde es mucksmäuschenstill. Alles war fremd – und so aufregend! Die zwei maskierten Männer, die in den Bahnhof eindringen und den Telegraphisten fesseln! Die Räuber, die danach den Postwaggon eines Zuges stürmen, den Wachhabenden erschießen und den Safe sprengen! Die anderen Banditen, die unterdessen die Lokomotive unter ihre Kontrolle bringen: den zusammengeschlagenen Heizer vom Tender werfen und den Lokführer mit ihren Revolvern in Schach halten! Und weiter: Wie die Lok vom Zug getrennt wird! Wie die Passagiere ausgeraubt werden! Wie die Spitzbuben mit der Lok zu dem Ort fliehen, an dem ihre Pferde grasen, und davonreiten. Und wie sie am Ende von einer Bürgerwehr eingeholt und bestraft werden. Die Bilder überraschten, erregten, schockierten, bis zur Großaufnahme des Banditen am Ende, der auf die Kamera feuert – und damit auf die Zuschauer. Noch tagelang war Lang erfüllt von dem, was er gesehen und dabei gefühlt hatte. Ein Initiationserlebnis!

Die Freundschaften, die er an dieser Schule schloss, blieben flüchtig; sie überdauerten die Schulzeit nicht. Hinzu kam, dass er weder Freude am Unterricht noch größeres Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen entwickelte. Erst viele Jahre danach, als er in den 1920er Jahren in Berlin seine monumentalen Filme inszenierte, konnte er auf das eine oder andere Wissen aus Mathematik oder Physik zurückgreifen und damit seine Techniker in Erstaunen versetzen.

1908, als Lang seine Matura ablegen musste, nahm er die ­Herausforderung nicht sonderlich ernst. Mit einem seiner Lehrer war ausgemacht, dass dieser ihm zwei, drei Fragen stellte, die er gut hätte beantworten können. Aber der Mann stellte ihm dann am Tag der Prüfung »vier völlig verschiedene Fragen«, so dass er »natürlich bei der Reifeprüfung mit Glanz« durchgefallen sei. Lang erinnert sich, dass ihm nicht klar gewesen sei, »dass es zum guten Renommee einer Mittelschule gehörte, dass ein gewisser Prozentsatz von Schülern eben durchfallen musste«.44 In der Nacht nach dem Desaster an der Schule habe er sich »sinnlos betrunken, zum ersten Mal in meinem Leben.«45 Ein halbes Jahr später bestand er die Reifeprüfung doch noch. Aber das änderte nichts an seinen schmählichen Gefühlen für die Schule. 1909 wechselte er schließlich auf die Technische Hochschule, da sein Vater darauf bestand, dass er seinen Beruf ergreifen und die Firma übernehmen solle. Seine Einwände, eigentlich andere Interessen und Pläne zu haben, wurden nicht akzeptiert.

»Es war nicht der erste Zusammenstoß mit meinem Vater. Ich hatte ihn zu oft sich über die negativen Seiten seines Berufs beklagen gehört, als dass mich eine Karriere als Stadtbaumeister, wo ich also mein ganzes Leben ständig in Wien hätte verbringen müssen, hätte begeistern können. Um des lieben Friedens willen, denn ich hatte ganz andere Pläne, einigte ich mich mit meinem Vater darauf, dass ich auf der Technischen Hochschule Vorlesungen für ein Ingenieurstudium belegen würde. Ich hielt es aber trotz allem guten Willen nur ein Semester aus, denn ich wollte Maler werden.«46

Ob Lang in dieser Zeit Kurse an der Wiener Kunstgewerbeschule besuchte, ist nicht zu belegen. Er selbst behauptete später mehrfach, an der Akademie der Bildenden Künste studiert zu haben. »Nachweisbar an seinem späteren Werk ist aber«, so die Potsdamer Filmhistorikerin Heide Schönemann, die sich besonders mit der Beziehung zwischen Malerei und Film beschäftigt hat, »der nachhaltige Einfluss verschiedener Künstler der Wiener Sezes­sion und des Werkbundes, insbesondere Carl Otto Czeschkas und Wenzel Habliks.«47 Czeschka, Dozent an der Kunstgewerbeschule, zählte zu den wichtigsten Grafikern des Verlages Gerlach und Wiedling, dessen Illustrationen für die Jugendbücherei Lang beeindruckten und stark beeinflussten. Sowohl im Müden Tod als auch in den Nibelungen gibt es Motive, die sich an Czeschkas Arbeiten orientieren.

Langs Sinn für alles Künstlerische wurde von seiner Mutter Pauline gehegt und gepflegt. Sie war es auch, die Wert darauf legte, die eigene Wohnung und das kleine Sommerhaus im Salzkammergut erlesen einzurichten. Es gab geschmackvolle Möbel und Teppiche, wertvolle Bilder, angeblich hingen über 40 Gemälde in den Wohnungen, dazu ausgesuchte Accessoires: Kronleuchter, Schnitzereien, Statuen, Vasen. Unumstößlich galt die eherne Tradition, regelmäßig ins Theater zu gehen, »zweimal im Monat«, wie Lang erklärte, »und danach diskutierten sie darüber mit ihren Freunden, es war ein Ereignis«.48 Eine kleine Bibliothek mit Klassikern und aktuellen Autoren wurde liebevoll bestückt. Den neuesten Zweig oder Hofmannsthal oder Schnitzler zu lesen, war für Langs Mutter selbstverständlich. Sie war fasziniert von Arthur Schnitzler, las seine Texte und sah seine Stücke am Burgtheater. Lang sog die Anregungen seiner Mutter auf und nutzte die Zeit, in der er sich in der Technischen Hochschule langweilte, für intensive Lektüren am Tag und Theaterbesuche am Abend. Er las alles kunterbunt durcheinander, mal die großen Klassiker, mal Philosophen wie »Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche«49, mal die aktuellen Modernen, mal einfach nur Schundliteratur. 1909 war auch das Jahr, in dem er Karl May entdeckte, dessen Romane er bis ins hohe Alter schätzte und dem er in seinen frühen Filmen Die Spinnen eine liebevolle Hommage widmete. In hohem Maße war Lang zudem von Karl Kraus fasziniert, er besuchte »all seine öffentlichen Vorlesungen« und verschlang »mit Begeisterung die von ihm herausgegebene, rot eingebundene ­FACKEL«50. Auch bei seinen Theatervorlieben blieb er der Linie treu, sich nicht festzulegen, sondern sich offenzuhalten für alle Seiten: Seit seiner Schulzeit liebte er das magische Kratky-Baschik-Theater im Prater, auf dessen Bühne ein Illusionist mit großen Spiegeln Teufel und Geister erscheinen und verschwinden ließ51. Er ging auch ins Burgtheater zu den großen Inszenierungen, er sah dort die Uraufführungen von Schnitzlers Der junge Medardus im November 1910 und DasweiteLand im Oktober 1911. Und er ging ins Theater an der Wien zu den Lehar-Operetten und ins Volkstheater, wo Anzengruber und Grillparzer gegeben wurde, und zu den Zauberstücken ins Raimundtheater.

Er »werde nie den Abend vergessen«, notierte er, an dem er den Schauspieler »Girardi in dem Stück DerBauerals Millionär sah. In diesem Stück ist eine Szene, in der ihn ›die Jugend‹ besucht, um von ihm Abschied zu nehmen, die Jugend wurde immer von einer vollbusigen Soubrette gespielt, und Girardi wurde auf der Bühne ohne Zuhilfenahme von Schminke oder einer weißhaarigen Perücke plötzlich ein alter Mann. Es ist mir unvergesslich.«52

In dieser Zeit begann Fritz Lang mit Verve und Leidenschaft, er war inzwischen 19 Jahre alt, seine Stadt auf eigene Faust zu erkunden. Er bemerkte wachsam die vielen Veränderungen, manche mit Bedauern und Ärger, andere mit Erstaunen und Freude. So beklagte er etwa das Verschwinden der »Stellwagen«, dieser von zwei Pferden gezogenen Transportmittel, auf denen die Kinder, wenn sie Glück hatten, vorne neben dem Kutscher sitzen durften. Und ihm missfiel die Umstellung von den Gaslaternen auf elektrisches Licht, das er als grell empfand. Andererseits begrüßte er sehr, dass die luxuriösen »Fiaker« weiterhin die Hauptalleen befuhren, »ein teures, aber großes Vergnügen«. Er wusste zu würdigen, dass neben dem Nobel-Prater auch weiterhin der »Wurschtel-Prater« existierte, »die Domäne des Volkes«53, wo der Salamutschi-Mann hauchdünne Salami oder heiße Würstchen und der Brot-Schani Salzstangen oder Bosniaken, eine Art Roggen-Wecken, und der Maronibrater heiße Kastanien anbot. Von seinem Vater wurde er zudem auf technische Errungenschaften hingewiesen, die ihn verblüfften: so auf den ersten »Phonographen«, bei dem die Musik auf Blechzylindern eingeritzt war, und schließlich auch auf einen Wagen, der sich ohne Hilfe durch Pferde bewegte: »das erste Automobil«54.

Die Konflikte, die Lang mit seinem Vater hatte, prägten ihn zutiefst: der Streit um seine Zukunft als Maler, die Diskussion um die Werte, um die es im Leben geht, das väterliche Beharren auf der Familientradition und Langs Wunsch nach etwas ganz Un­gewohntem, nach Aufbruch und Neuanfang. Die Auseinan­dersetzungen quälten ihn, er fühlte sich von seinem Vater un­terdrückt. Später sollte er diese Erfahrung in seinen Filmen mehrfach thematisieren. All diese väterlichen Freunde, die oft so besorgt wirken, am Ende aber zu Gegnern, manchmal sogar zu Feinden werden: in Die Nibelungen, Spione und Metropolis, später auch in You Only Live Once, Western Union und Beyond a ­ReasonableDoubt. Seine Haltung ist eindeutig: Kein Mitleid mit den Vätern! Konzentration allein auf das, was man selber kann und will!

Der Wunsch zur Rebellion und das Bekenntnis zu den eigenen Vorstellungen und Wünschen war bei Lang deshalb früh ausgeprägt. Statt den Vorstellungen des Vaters zu entsprechen, ließ sich der 19-Jährige lieber von den vielen Vergnügungsstätten Wiens, seinen Cafés, Kabaretts, Varietés und Wirtshäusern in den Bann ziehen. Dass dabei wenig Raum blieb für das Studium an der Technischen Hochschule, liegt auf der Hand.