Frühe Zimmer, kleine Jahre - Ingeborg Santor - E-Book

Frühe Zimmer, kleine Jahre E-Book

Ingeborg Santor

4,8

Beschreibung

Die Erzählungen basieren auf Manuskripten, die zum Teil Ende der 1990er Jahre entstanden und 2016 bearbeitet und ergänzt worden sind. Drei wurden in der Urfassung veröffentlicht: „Die Wespe“, „Gute Wörter, böse Wörter“ (beide Eßlinger Zeitung 1997), „Gebetet“, ins Polnische übersetzt von Eugeniusz Wachowiak, in der Monatsschrift nova elita (Leszno 2009). Die Kapitel „Im Krieg geblieben“, „Die Leitern“, „Weggezaubert“ und „Der Fisch“ sind Neufassungen von Texten aus meinem Erzählband „Schlafmohntage“ (Weissach i.T. 1998).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 105

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für F. und M.

Die Wahrheit der geschriebenen Erinnerung muss erfunden werden. Ohne ein bisschen Erfindung gelangt man nie zur Wahrheit.

Jorge Semprún

Inhalt

Frühe Zimmer (1)

Die Wespe

Prinzessinnen

Innen waren die Ohren rosa

Lieb gewesen

Der Ball

Gebetet

So klein

Frühe Zimmer (2)

Gute Wörter, böse Wörter

Die Tafel

Frühe Zimmer (3)

Im Krieg geblieben

Jungs

Frühe Zimmer (4)

Die Leitern

Weggezaubert

Wünsche

Frühe Zimmer (5)

Der Fisch

Nicht mehr da

Nette Frauen

Eine kommt und bleibt

„chen“ und „lein“

Das Waschwunder

Ganz heimlich

Nicht gefunden

Zu diesem Buch

Zur Autorin

Frühe Zimmer (1)

Im Zimmer ist es sehr dunkel, als das Kind aufwacht. Es liegt in einem großen, frem-den Bett in einer fremden Wohnung und macht die Augen weit auf. Es ist allein. Aber es braucht keine Angst zu haben, die Nachbarin passt auf, hat die Mutter gesagt. Und sie kommt ja bald wieder.

Nach einer Weile sehe ich das Dunkel durchsichtig werden. Dem Bett gegenüber ist ein hohes und breites schwarzes Rechteck, das an manchen Stellen glänzt. Wenn das Kind den Kopf bewegt, bewegt sich auch der Glanz. Das ist ein Kleiderschrank, hat die Mutter gesagt, vorher, ehe es sich schlafen legen sollte in dem fremden Zimmer. Alle Möbel hat es mit der Mutter angeschaut, bevor sie die samtigen Vorhänge zuzog: den Schrank, das breite Bett, das Ehebett heißt, das niedrige Schränkchen mit dem dreigeteilten Spiegel darüber, das Frisierkommode heißt, die beiden Nachttische neben den Kopfenden des Bettes. So schönes, glänzendes Holz – das Kind streicht darüber, um das Glatte zu spüren. Am besten aber gefällt ihm die Frisierkommode mit dem geflügelten Spiegel. Wenn man die Flügel zur Mitte hin auf sich zu bewegt, hat man ganz viele Gesichter. Sogar von der Seite und von hinten kann man sich dann angucken.

Die vielen Spiegelbilder fallen dem Kind jetzt wieder ein. Es ist ganz wach und würde sie gern noch einmal sehen. Die Frisierkommode steht gar nicht so weit weg vom Bett. Ich schaue hinüber: Noch immer fängt sich in den Spiegeln von irgendwoher ein Restchen Licht, alshätte der Tag es drin vergessen. Vorsichtig setzt das Kind sich auf, lauscht, lässt die nackten Füße auf den kleinen Teppich gleiten, der Bettvorleger heißt. Aus dem Flur hinter der Schlafzimmertür kommt kein Geräusch. Es braucht keine Angst zu haben.

Als das andere Kind ihm in dem nicht ganz dunklen Spiegel entgegen kommt, setzt es sich schnell auf den Hocker davor, rührt sich nicht, bis es ganz sicher ist: Das da bin ich. Und ich habe keine Angst.

Nach einer Weile zieht es langsam erst den einen Spiegelflügel, dann den anderen zu sich heran. Das Kind in der schimmernden Glasfläche tut dasselbe, und schon sind da viele Kinder rechts und links, immer noch eins hinter dem anderen. Sie blicken das Kind nicht an, starren alle in den dunklen Raum hinter den Spiegeln, den es nicht sehen kann. Es sieht ihre Augen glänzen. Es sieht sie atmen unter ihren Nachthemden, die heller zu werden scheinen, während alles ringsum immer dunkler wird. Und mit einem Schlag weiß es, dass es sich nicht umdrehen darf, denn das Bett ist unerreichbar weit weg gerückt hinter seinem Rücken. Hinter seinem Rücken ist ein schwarzes Nichts. Das einzige bisschen Licht ist bei den Kindern im Spiegel. – Eins davon sieht mich noch immer mit großen Augen an.

Die Wespe

E-va-ku-ie-rung. Ein fremdes, schwieriges Wort. Das Kind hört es von der Frau, zu der es Tante sagen soll, manchmal auch von der Mutter. Ob so das Haus heißt, in dem sie zu Besuch sind, weil immer noch Krieg ist? Weidenhahn, das Wort gefällt dem Kind besser. So heißt das Dorf, in dem das fremde Haus steht, und ein Hahn mit bunt schillernden Schwanzfedern geht auf dem Hof hinterm Haus herum zwischen vielen weißen Hühnern. Die Hühner haben Angst vor ihm; wenn er ihnen zu nahe kommt, schreien sie und rennen flügelschlagend weg.

Das Kind sitzt oft am Fenster beim Küchentisch. Damit es nah bei der Mutter ist, die mit der Tante zusammen kocht. Hinter der Wiese vorm Haus kann es eine schmale Straße sehen, auf der fährt manchmal ein Pferdewagen vorüber oder ein Ochsenkarren. Einmal sind große, schwere graue Autos auf der Straße gefahren, sehr viele hintereinander, und sehr lange. Sie haben argen Krach gemacht – man konnte es durch die Fensterscheiben dröhnen hören. Die Tante und die Mutter haben die Kartoffelmesser unbeweglich in der Hand gehalten, sie haben raus geschaut und den Kopf geschüttelt und nichts gesagt.

Was sind das für Autos? hat das Kind gefragt, und die Mutter hat mit einem kleinen Seufzer geantwortet: Das sind Autos mit Soldaten, Militärlastwagen… Sie hat dann wieder Kartoffeln geschält, und es war sehr still in der Küche. Nur der Lärm von draußen schlug an die Fensterscheiben: Als das Kind die Stirn dagegen gelehnt hat, um besser zu sehen, konnte es den Lärm mit der Haut spüren.

An einem anderen Tag ist die Mutter weg gegangen, und das Kind musste bei der Tante bleiben. Es bekam ein Butterbrot mit dicker, roter Marmelade, mit Kirschstückchen drin und ganz süß. Bald surrte eine Wespe drum herum, die wollte auch gern Marmelade. Das Kind hat vorsichtig gegessen, um die Wespe nicht zu beißen. Aber die Tante jagte die Wespe weg. Nur ist die nicht raus geflogen durch die offene Seite vom Fenster, sondern andauernd gegen die geschlossene Scheibe gerumst. Da hat die Tante eine Schere genommen, die Wespe eingeklemmt und dann einfach mitten durchgeschnitten.

Das Kind hat den Rest von seinem Marmeladenbrot auf den Tisch fallen lassen und die Augen zugekniffen, denn es wollte die zwei Wespenhälften nicht sehen. Als es die Augen wieder auf bekam, hat es zur Tante den Spruch gesagt, den es von der Mutter wusste: dass man kein Tier quälen darf, zum Scherz! Denn es spürt wie du den Schmerz! – Wie du! Und weil der Zorn nicht wegging und im Hals so weh tat, hat es noch zur Tante gesagt: Du bist böse!

Jetzt wurde die Tante ärgerlich. Sie hat das Kind am Arm gepackt, aus der Küche in den Flur gezerrt und da eine Holztür aufgemacht. Dahinter führte eine dunkle Treppe in den Keller. Sie hat das Kind auf den Treppenabsatz geschubst und gesagt: So, da kannst du jetzt bleiben, ungezogene Kinder gehören in den Keller! Quietschend drehte sich der Schlüssel im Schloss.

Das Kind hat mit dem Fuß aufgestampft, nur leider hat man auf dem Steinfußboden nichts davon gehört. Totmacherin! hat es laut gesagt. Ein schlimmeres Wort konnte es nicht finden. Und als ob es Angst hätte im Keller! So dunkel ist der gar nicht. Ein Streifen graues Licht fällt von oben aus einem kleinen, schmutzigen Fenster mit vielen Spinnweben. Spinnen tun nichts, sagt die Mutter. Und sie sind auch weit weg. Ziemlich weit.

Das Kind geht ein paar Stufen hinunter und setzt sich auf die Treppe. Unten kann es Regale erkennen mit vielen Einmachgläsern drauf. Die Tante hat genug zu essen, denkt es, sie hat einen ganzen Keller voll Essen und gibt einer Wespe nicht mal ein Tröpfchen Marmelade ab. Macht sie einfach tot.

Von der Kellertür kommt ein Geräusch. Das Kind macht den Rücken steif und lauscht. Es ist ein Trippelgeräusch, und da weiß es: Die Tante krabbelt mit den Fingern übers Holz, damit es Angst bekommen soll. Pffh, macht das Kind. In einem Keller ist nämlich kein Gespenst und auch kein schwarzer Mann. Das hat die Mutter ihm gesagt. Die Mutter weiß das. Und es wird der Tante zeigen, dass es keine Angst hat! So laut es kann, fängt es an zu singen, alle Lieder, die es schon kennt: vom Hänschen, das allein in die Welt geht, von den Vögeln, die alle schon da sind, von den Entchen auf dem See, vom Kuckuck, der aus dem Wald ruft, und wieder von vorn.

Unten bei den Regalen raschelt es manchmal, ganz leise. Und in der Ecke, weit hinten und weit weg vom Fenster, hängt ein länglicher Schatten. Das Kind hört auf zu singen. Totmacherin, sagt es noch einmal.

Nach einer Weile sieht der längliche Schatten in der Ecke mit einem Mal größer aus. Kalt riecht es im Keller, und man weiß nicht, ob draußen noch die Sonne scheint, so grau ist das Licht hinterm Fenster. Die Spinnen hängen schwarz und unbeweglich in ihren Netzen. Und warten. Vielleicht ist schon Abend. Und die Mutter nicht da.

Prinzessinnen

Das Haus, in dem das Kind jetzt mit der Mutter wohnt – ganz oben unterm Dach, in der Mansarde –, gehört dem Onkel Willi. Das Kind muss viele hohe Stufen hinauf steigen und hält sich dabei an den Holzstangen des Geländers fest, denn den Handlauf kann es noch nicht fassen. Dann kommt noch eine Treppe, die heißt Bodentreppe, weil sie zum Dachboden führt. Und zur Mansarde. Sie ist sehr schmal, und ihre Stufen knarren. Zwischen ihnen kann man durchgucken ins Dunkle.

Wo die Bodentreppe anfängt, gleich daneben, ist eine richtige Wohnung. Da wohnt der Onkel Willi mit seiner Frau, zu der es auch Tante sagen soll. Der Onkel hat genauso braune Augen wie die Mutter. Er ist nämlich ihr Bruder und hat ihnen die Mansarde zum Wohnen gegeben, weil sie doch kein Haus mehr haben: Das ist kaputt gegangen, weil Bomben drauf gefallen sind. Durch die großen Löcher in seinen Mauern sieht man Schuttberge, auf denen Löwenzahn wächst, und Wandstücke mit Blumentapete. Wenn der Vater aus der Gefangenschaft zurück kommt, sagt die Mutter, baut er das Haus wieder auf, und wenn es fertig ist, werden sie da drin wohnen.

Es sind viele kaputte Häuser in der Straße. Der Onkel Willi und seine Frau haben Glück gehabt. Aber die Tante freut sich nicht über das Glück. Sie schimpft sehr oft, auch mit dem Onkel. Aber am meisten mit der Mutter. Das Kind geht darum nicht gerne mit, wenn die Mutter zu ihr in die Küche muss, helfen. Es versteht nicht, warum die Tante mit der Mutter schimpft, und vor allem nicht, warum sie es darf. Es wünscht sich, dass die Mutter größer und stärker und viel lauter sein soll als die Tante. Manchmal wünscht es sich, sie soll die Tante hauen. Aber die Mutter wird meistens nur still und senkt den Kopf. Einmal, als die Tante besonders schlimm mit ihrer harten Stimme auf sie eingeredet hat, hat das Kind eine von den leeren Konservenbüchsen genommen, die auf dem Tisch standen, und hat sie mit aller Kraft auf die Tischplatte geschlagen. Es konnte gar nicht aufhören, sie auf den Tisch zu hauen, darum ist die Mutter schnell mit ihm aus der Küche gegangen. In der Mansarde hat sie es an sich gedrückt und gesagt: Geh ein bisschen runter, mit der Annemie spielen. Das Kind ist die vielen Treppen runter gestiegen und hat sich besser gefühlt.

Unten endet das Treppengeländer in einer Säule mit einem glänzenden, geschnitzten Kopf. Sein Gesicht lacht, aber es ist ein grimmiges Hexenlachen. Das Kind geht darum immer schnell um die Säule herum zu der Tür, wo Rebes wohnen. Annemie ist das Kind von Rebes. Sie ist noch nicht drei, aber man kann gut mit ihr spielen. Und die Frau Rebe freut sich, wenn das Kind kommt. Sie muss immer Windeln waschen, denn sie hat noch ein Baby. Das heißt Jörg, und sie legt es, wenn es schreit, an ihre große, weiße Brust. Das Kind spinkst hinüber. Es hört, wie das Baby schluckt und manchmal leise schmatzt. Die Frau Rebe lächelt. Komm, sagt sie und zieht das Kind mit dem freien Arm zu sich und hält es umfasst, du kannst ruhig zugucken. Und nach einer Weile: So hast du auch bei deiner Mutti getrunken, als du ein Baby warst. Das Kind schaut auf seine Schuhe und macht sich los.

Die Wohnung von Rebes ist auch eine richtige Wohnung, keine Mansarde. Sie haben ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, und in der Küche steht ein Herd mit Kohlenkasten und Kohlenschütte. Wenn die Frau Rebe die Eisenringe vom Herd nimmt und mit dem Schürhaken in der Glut stochert, knistert und knackt es, und Funken fliegen auf.

Von Rebes Küche führt eine Tür auf den Balkon, der hat ringsherum ein Gitter aus Ranken und Blumen. Wie in einem Schloss, sagt das Kind zur Annemie, und die Annemie sagt: Wir sind Prinzessinnen. Sie breiten eine alte Decke auf dem Steinboden aus, das ist der Schlossteppich, und sie schmücken sich mit Gardinenstücken aus Frau Rebes Flickkorb. Dann singen sie Dornröschen war ein schönes Kind