Früher war das aus Holz - Tillmann Prüfer - E-Book

Früher war das aus Holz E-Book

Tillmann Prüfer

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kinder aufziehen könnte so schön sein! Wenn die Kleinen nur mitspielen würden... Tillmann Prüfer ist Mitte 30, und er möchte seinen Töchtern eine Kindheit bieten, wie er sie selbst erlebt hat: mit der Augsburger Puppenkiste und BMX-Rädern, mit Lagerfeuer und Nachtwanderung, Segelschiffchen-Bauen, der Muppet-Show, Pan Tau, mit Monchichis und einer Carrera-Bahn. Denn gibt es einen schöneren Grund, Vater zu werden, als den, die alten Spielsachen wieder hervorzuholen? Prüfer stürzt sich in den Kampf mit Erziehern, Lehrern, seiner Frau – und vor allem mit seinen Kindern, den kleinen Spielverderbern, die partout keine glückliche Kindheit haben wollen...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 407

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tillmann Prüfer

Früher war das aus Holz

Warum Eltern immer die schönere Kindheit hatten

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Prolog: Bleigießen1. Kapitel: Januar – Geburtstag à la PapaElternzeitkraftwerkeBandsalatMirácoli-TagLutschkugelnSeid ihr alle da?Reise nach JerusalemWundermuschel2. Kapitel: Februar – Cowboy und IndianerSchafsfelleStormtrooperPeng! Peng! – Piu! Piu!FriedenspfeifeWinnetou und Nscho-tschi3. Kapitel: März – Die EierschlachtKaulquappenfangenZwergkaninchen und LandschildkrötenZwiebackGelee-EierHanni und NanniEierfarbenOstergrasEierlaufKinderstarsPonys für alleImmenhofStockbrot4. Kapitel: April – Fliewatüüt und MupfelRegenbogenfischTimm ThalerKikaninchenKrümel und BiboNeues aus UhlenbuschAusschalten!Der Schrecken der StraßeHeidi, Heidi …Onkel OttoHerr RossiSchlupp vom grünen SternCaptain FutureKaninchentodKleintierfriedhof5. Kapitel: Mai – Holzkinder gegen PlastikkinderEin Bagger!Große TiereBauklötzchenPlaybigLegolandMärklinPlaymobil-RitterSpace Invaders6. Kapitel: Juni – Fußball zum AbziehenStielikeRollerskatesPaniniFalsche NummerAus, aus, das Spiel ist aus!AusrittGips7. Kapitel: Juli – UrlaubsmythenGrünholzDer Cowboy Jim aus TexasEndlich UrlaubDurchfahrenFerienfliegerSonnenmilchBeach BallSandburg8. Kapitel: August – ABC-AlarmSchulwahlBildungsflüchtlingeScoutMengenlehreABC-SchützenGummitwistSchulmilchSchreibschrift9. Kapitel: September – Der Drachen in dirStandhafter ZinnsoldatBlechtrommelDrachensteigenRetrokollerSkateboardsWassergewöhnung10. Kapitel: Oktober – Der große KürbisKürbisStricklieslSalzstangen und ColaFreudlose RiesenGarnrollenpanzerZirkus, Circus!11. Kapitel: November – Brenn, Laterne, brenn!Sankt MartinHerbstStutenkerleRabimmelrabammelrabummVaterkoller12. Kapitel: Dezember – Wir warten aufs ChristkindAdvent, AdventSchokoladen-KalenderWunschzettelKnusperknäuschenSchachbrett-PlätzchenSpritzgebäckChristkind vs. WeihnachtsmannStille NachtEpilog – Petri Heil fürs nächste Jahr
[zur Inhaltsübersicht]

Prolog: Bleigießen

Ist es ein «Zisch»? Oder ein «Plopp»? Oder beides, ein «Zschplopp»? Ich habe mir schon oft überlegt, welches Geräusch es macht, wenn das geschmolzene Zinn beim Bleigießen ins Wasser plumpst. Und dann diese seltsamen Figuren in der Schüssel hinterlässt. Ich feiere nun das siebenunddreißigste Silvester meines Lebens, und fast genauso oft habe ich einen Löffel über die Kerze gehalten und zugeschaut, wie darauf ein glänzendes Glücksschweinchen zuerst matt wird und dann in einer Pfütze geschmolzenen Metalls versinkt. Wieder ein Jahr zu Ende. Und aus den bizarren Chimären, die wir aus der Schüssel fischen, sollen wir ermessen, wie das nächste wird.

Johanna hält den Löffel, und ihr Blick versinkt zusammen mit der Zinnfigur. «Los, Träumelchen», sage ich zu meiner fünfjährigen Tochter, «das ist alles längst geschmolzen, jetzt mach mal hinne!» Ruckhaft, wie aus einem Sekundenschlaf erwacht, führt sie den Löffel zur Wasserschüssel und lässt das heiße Zeug hineinplumpsen. «Zisch» macht es oder «plopp» oder «zschplopp» oder «flump».

Meine Frau Anna ist gerade dabei, unsere Gäste Daniel und Magda zu begrüßen. Sie haben Blumen gebracht (Freesien gemischt mit Gerbera – das ist wohl gerade in) und Champagner. Und ihre Töchter Lea und Lena. Silvester ist der Tag, an dem die jungen Familien zusammenfinden, um nicht alleine feiern zu müssen.

«Papa, guck mal, ein Totenkopf!», sagt Johanna. Sie dreht die Figur zwischen ihren nassen Fingern. «Das ist doch ein Totenkopf, oder?» – «Quatsch, das ist kein Totenkopf, das ist … (ich sehe eindeutig einen Schädel, man erkennt den schön gewölbten Hinterkopf und mit etwas Phantasie auch die Augenhöhlen …), das ist ein Herz, guck, wie schön rund das ist, und hier so spitz – das ist auf jeden Fall ein Herz.» Ich schaue auf den Zettel mit den vorgegebenen Deutungen: «Neue Liebe steht ins Haus.» – «Hä, Liebe?» – «Klar, Mama und Papa haben dich doch lieb!»

Schon macht es «zzzzlosch», und das flüssige Zinn, das Frida aufgeheizt hat, landet im Wasser. «Ich habe einen Säbel!» – «Du bist erst drei, da braucht man noch keinen Säbel», sage ich: «Das ist eine … Blume, eine Freesie sogar, glaube ich.» Frida ist impulsiv genug, da braucht sie keine Säbel. «Guck mal, Frida, hier steht, dass du im nächsten Jahr neue Freunde findest!» – «Ich will aber keine Freunde, ich will einen Säbel!» – «Du kriegst aber keinen Säbel, du kriegst eine Blume! Das ist mein letztes Wort!» Frida knallt die Zinnfigur auf den Tisch (sie hat recht: eindeutig ein Säbel) und rennt weg: «Mama, der Papa will mir keinen Säbel geben!» – «Wie, das Kind darf keinen Säbel haben, das ist aber schade!», ulkt Daniel, der sich gerade seines Mantels entledigt hat. «Nein, keinen Säbel», sage ich gedankenverloren, denn schon beobachte ich selbst, wie sich ein silbriger See in der Löffelmulde bildet. Mit einem «Glong» (ich glaube, es war tatsächlich «glong») fällt die Schmelzmasse ins Wasser. Am Grunde der Schüssel liegt etwas Langgezogenes. «Eine Peitsche», sagt Daniel. Eine Peitsche? Ich ahne nichts Gutes. In der Liste von Deutungen steht: «Sie werden getrieben.»

«Schmelz es doch wieder ein, gieß dir was Schöneres», sagt Anna.

«Quatsch, das geht nicht, das bringt Unglück!» Anna findet Bleigießen eher albern, sie kennt das nicht aus ihrer Kindheit. Ich aber habe mir als kleiner Junge die silbernen Gestalten das ganze Jahr aufgehoben. Das werde ich auch mit der Figur tun, die ich selbst gerade gegossen habe. Ist es nicht doch eher ein Speer («Sie verfolgen ein Ziel»)?

 

Wir brennen mit den Kindern noch Tischfeuerwerk ab (es macht «peng», und ein Teelöffel voll Konfetti stiebt heraus, nachher ist ein Brandfleck auf dem Tisch) und zünden noch ein paar von diesen Feuerwerkskörpern, die keinen Krach machen (aber auch irgendwie keinen Spaß), dann bringen wir sie zu Bett und setzen uns zum Essen.

Für Daniel und Magda war es offenbar ein tolles Jahr. Sie reden die ganze Zeit davon. Sie haben sich gleichzeitig Elternzeit genommen und waren drei Monate in Kalifornien. Sie sind in eine neue Wohnung gezogen – mit Garten. Garten sei ganz wichtig für die Kinder, sagt Daniel. Er habe sich ganz viel Zeit genommen und tolle Unternehmungen mit den Töchtern gemacht. Einen Töpferkurs, einen Urlaub auf dem Reiterhof – und Daniel hat sogar Kochen gelernt, wie Magda nicht zu erwähnen vergisst. «Man merkt schon: Es ist einfach die beste Zeit unseres Lebens!», fasst Daniel zusammen.

Ich sage nicht viel während des Essens, aber ich denke viel. Ich überlege, von welchen Ereignissen ich eigentlich schwärmen könnte. War es das beste Jahr meines Lebens? Oder doch eher so ein normales Jahr? Sollte ich nicht wenigstens von einem tollen Urlaub erzählen können? Mir fällt auf, dass ich noch gar keine guten Vorsätze gemacht habe. Dann wird es aber Zeit: Das nächste Jahr soll ein besonderes werden. Das beste aller Jahre. Wir werden es feiern, wie noch nichts gefeiert wurde. Und Anlässe gibt es wohl genug: Geburtstage, Fasching, Ostern, Sommerferien – und hey, wir sollten auch mal Halloween feiern! Wenn man es nur richtig anstellt, kommt man aus dem Feiern gar nicht mehr heraus, finde ich. Wenn man es richtig anstellt, wird man wie auf einer Woge durch das ganze Jahr getragen, man muss nur richtig darauf surfen. Und diesmal werde ich es ganz bestimmt richtig anstellen. Wann, wenn nicht jetzt?

Es schlägt 12 Uhr. Ich küsse meine Frau und sage: «Das wird mein Jahr.» Entschuldigend füge ich hinzu: «Also, deins natürlich auch.»

[zur Inhaltsübersicht]

1. Kapitel:Januar – Geburtstag à la Papa

Von Benjamin-Blümchen-Torten, Kasperltheater und dem Essen von Schokotafeln mit Messer und Gabel. Und der Frage, ob ins Nachhauseweg-Tütchen eine Leckmuschel gehört.

Elternzeitkraftwerke

Spielplätze machen mich fertig. Heute hat Johanna wieder mal gesagt, dass sie auf den Spielplatz will. Und Frida hat wieder mal gesagt: «Au ja!» Also sind wir dorthin gegangen. Meine Kinder vorangaloppierend, ich hinterhertrottend. Und während die beiden auf die Wippe zustürmen, lasse ich mich auf eine Bank sinken. Ich vergrabe meine Hände in den Jackentaschen, gucke den Kältewölkchen hinterher, die vor meinem Gesicht aufsteigen. Und meinen Kindern, die sich anschicken, ein Kletternetz zu erklimmen. Ein Glück, denke ich mir, dass sie noch nicht auf die Idee gekommen sind, dass ich mit ihnen gemeinsam dort klettern sollte. Ein Glück, dass ich hier einfach sitzen darf. «Hey, Tillmann!», ruft jemand. Die Stimme kenne ich. Sie bedeutet: Jetzt hat die Gemütlichkeit ein Ende.

Ich habe nichts gegen Spielplätze, aber Spielplätze haben offenbar etwas gegen mich. Wann immer ich sie besuche, bekomme ich Probleme. Ich hatte schon Probleme mit Spielplätzen, da wusste ich noch gar nicht, dass es welche sind. Meine Mutter verbrachte mit mir viele Nachmittage dort. Wir waren gerade in eine neue Gegend gezogen. Es war eine moderne Gegend, was man an den Häusern erkennen konnte, die wie Bauklötzchen geformt waren und überhaupt nicht nach Häusern aussahen, wie ich sie damals gemalt hätte, nämlich mit einem spitzen Dach, roten Ziegeln und einem qualmenden Schornstein. Diese hier waren flach. Zuvor hatte ich noch gar nicht gewusst, dass so etwas als Haus gilt, jetzt wohnten wir darin. Das sei ein Bungalow, meinte meine Mutter, auch der Bundeskanzler wohne in so einem. Es war ein modernes Haus. Meine Mutter war eine moderne Frau, was man daran sah, dass sie eine Brille mit handtellergroßen Gläsern trug. Ich war ein moderner Junge, weil die paar Haare, die ich hatte, mir bis zum Kinn gingen.

Und es war wohl auch ein moderner Spielplatz, schließlich sahen die Schaukelpferde eher aus wie zwei Drogenvisionen von Schaukelpferden. Ich hockte mich in den Sandkasten. Man konnte in einem Sandkasten nicht viel anderes tun, als mit einem Schäufelchen herumzurühren und kleine Häufchen zu formen, die man entweder als «Kuchen» interpretieren kann oder als «Burg». Beides sah gleich aus. Aber stets, wenn ich als Kind so ein Kuchenburghäufchen aufgeschichtet hatte, kam ein anderes Kind und trat es kaputt. Oder sie nahmen mir die Schaufel weg oder beides.

Es waren die anderen Jungs, derentwegen ich nicht gerne auf Spielplätze ging. Das ist heute noch so. Allerdings sind die anderen Jungs heute Mitte 30. Und sie zertrampeln keine Burgen, sondern bauen die ganze Zeit welche. Für ihre Kinder. Es sind eigentlich keine Sandburgen, sondern eher Paläste, die aussehen, als habe König Ludwig II. sein Reich in einer Buddelkiste wiederaufleben lassen. Die anderen Jungs haben immer Spaß. Es sind die sogenannten neuen Väter. Wenn ich so einem neuen Vater gegenüberstehe, fühle ich mich sehr wie ein alter Mann auf einer Parkbank. Es fehlt nur, dass ich die Tauben füttere.

 

«He-ey, Tillmann!», schallt es noch einmal. Es ist Ansgar. Ansgar ist mein Nachbar, wir wohnen im selben Haus in Berlin. Er ist der Papa von Sophie, einem Kind, das mit meiner Tochter zusammen in die Kita geht. Ich glaube, Ansgar wurde von Ursula von der Leyen in einem Frankenstein’schen Labor geschaffen, so perfekt ist er. Seine Frau arbeitet als Vermögensberaterin, er selbst ist in Elternzeit. Seit ich Ansgar kenne, ist er in Elternzeit. Vermutlich ist er direkt nach seinem Studium in Elternzeit gegangen, wahrscheinlich hat er sogar Elternzeit studiert. Anders ist seine unbedingte Passion nicht zu erklären. «Tillmann, komm hilf mir, die Kids auf die Rutsche zu heben», ruft Ansgar.

Immer wenn ich auf dem Spielplatz bin, sehe ich dort Ansgar. Eigentlich erkenne ich ihn eher, als dass ich ihn sehe. Ansgar ist nämlich unter all den Kindern gar nicht so leicht auszumachen. Er tobt wie ein Kind, er lacht wie ein Kind, er turnt wie ein Kind. Die Kinder mögen Ansgar, wahrscheinlich sind sie noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ein Erwachsener sein könnte.

Mein Problem mit Ansgar ist: Sobald man einmal nichts Schweißtreibendes tut, gibt er einem das Gefühl, dass man sich nicht genug für seine Kinder anstrengt. Wäre Ansgar nicht, könnte ich hier einfach sitzen und hoffen, dass der Typ mit dem Latte-Macchiato-Mobil vorbeikommt. Das ist ein kleines Auto mit eingebauter Kaffeemaschine. Er macht neben den Spielplätzen halt und versorgt die dort ausharrenden Eltern mit koffeiniertem Milchschaum. Ansgar aber braucht kein Heißgetränk. Er ist selber heiß. Ansgar ist ständig in Bewegung. Er bringt das Mini-Karussell in Fahrt, er bewegt die Wippe, er schwingt die Schaukel. Wenn ich Ansgar angucke, muss ich an all die Energie denken, die bei so einem neuen Vater frei wird. Man könnte Generatoren anschließen und aus all den Schwing- und Schaukelbewegungen Strom gewinnen. Elternzeitkraftwerke. Vielleicht, denke ich mir, ist dieser kalte Januarnachmittag ein historisches Datum, an dem die Idee geboren wurde, wie man all die Atomkraftwerke ersetzen kann. Vielleicht bin ich gerade zum Helden geworden. Vielleicht muss ich mich jetzt aber auch einfach zu Ansgar begeben.

«Tillmann, kommst du schaukeln?» Meine Tochter Johanna ist schon dabei, sich von Ansgar bewegen zu lassen, er schubst abwechselnd meine und seine Tochter an. Jetzt kann ich nicht mehr sitzen bleiben, jetzt muss ich auch aktiv werden. Ich stemme mich von meiner Bank, an der ich ohnehin bald festgefroren wäre. Frida, meine vierjährige Tochter, hat sich schon auf die Schaukel gesetzt und rutscht erwartungsvoll mit dem Hinterteil hin und her. Ich gebe ihr einen leichten Schubs. «Höher», befiehlt sie.

«Hat Johanna nicht bald Geburtstag?», fragt Ansgar, seine Hornbrille ist leicht beschlagen. «Ich werde sechs!», ruft Johanna fröhlich von der Höhe herunter, in die sie Ansgar aufgeschwungen hat. «Ja, das wird ganz toll!», sage ich. «Und Sophie muss natürlich auch kommen.» – «Ja, natürlich, da lassen wir sogar Sophies Englischkurs ausfallen.» – «Hö-her», kräht Frida. «Lernst du auch schon Englisch?», fragt Ansgar Johanna. «Was ist denn Englisch?», antwortet sie. «Das erklärt dir dein Papa bestimmt noch.» – «HÖÖÖ», will Frida ansetzen, da habe ich ihr schon einen Schubs gegeben, der sie weit in die Höhe katapultiert. «Menno, Papa! Nicht so doll!»

Bandsalat

Ich frage mich manchmal, ob es in meiner Kindheit auch Väter wie Ansgar gab. Ich könnte bestimmt damit leben, einfach ein durchschnittlicher Vater zu sein, wenn all diese überdurchschnittlichen Väter nicht wären. Ansgars Frau kann die Familie mit ihrem Verdienst gut versorgen. Ansgar sagt, er könne es nicht verantworten, zu arbeiten, wenn das Kind in einem Alter sei, in dem es auf die Nähe seiner Eltern angewiesen ist. Er ist Sophie also immer nah. Er beugt sich so oft zu ihr herunter, dass man den Eindruck bekommt, er werde von Tag zu Tag etwas kleiner und gebückter – und es würde höchstens noch ein Jahr dauern, da könnte Ansgar als Sophies großer Bruder durchgehen, und nach einem weiteren Jahr als ihr kleiner Bruder. Was Ansgar für sein Kind tut, ist bestimmt großartig. Es ist vorbildlich für alle Eltern. Er sagt Dinge wie: «Meine Frau und ich trinken zu Hause keinen Alkohol. Wenn man dem Kind als Eltern gewohnheitsmäßiges Trinken zum Vorbild macht, legt man in ihm einen problematischen Umgang mit Alkohol an.» Er fürchtet also offenbar, dass meine Töchter später einmal an der Flasche hängen. Eben weil ihr Vater abends zu Hause Bier trinkt. Nach Ansgars Meinung könnte ich wohl alle pädagogischen Bemühungen einstellen, weil meine Kinder später ohnehin nicht auf einen Platz in Harvard, sondern in der Entzugsklinik warten werden. Ich frage mich, ob Ansgar seine Tochter überhaupt zu Johannas Geburtstag lassen wird – oder ob er befürchtet, ich würde dort Likör an die Kinder ausschenken.

Natürlich weiß ich, dass ich kein schlechter Vater bin. Schlechte Väter sind die, die zum Frühstück Wodka trinken und danach den Couchtisch aus dem Fenster werfen. Das habe ich noch nie gemacht. Wir haben nicht einmal einen Couchtisch. Aber bin ich gut genug, so gut, wie ich sein könnte oder müsste?

Ich lebe mit zwei Töchtern und meiner geliebten Frau in Berlin. Ich arbeite als Journalist, genau wie meine Frau Anna. Wir sind beide Ende 30. Da wir beide einen Beruf haben, gehen Johanna und Frida in die Kita – bis zum späten Nachmittag. Da geht es schon los. Als ich selber ein Kita-Kind war, hießen solche Kinder bei uns «Hortkinder». Die Hortkinder mussten in der Kita essen, weil niemand sie abholte. Weil niemand zu Hause etwas für sie gekocht hatte. Die Hortkinder taten uns leid. Unsere Eltern erklärten uns, dass die Papas von den Hortkindern nicht so viel verdienten, also müsste die Mama auch arbeiten gehen. Sie könnten sich nicht um ihre Kinder kümmern. Hortkinder waren für mich damals der Inbegriff des sozialen Abstiegs. Nun habe ich selbst also zwei Hortkinder, die in der Kita ihre Suppe löffeln, während ihre Eltern arbeiten müssen. Sicher, die gesellschaftlichen Werte haben sich seitdem geändert. Aber ich bin mir eben nicht so sicher, ob sich seither auch meine Werte geändert haben. Eine schöne Kindheit stelle ich mir ungefähr so vor, wie ich sie erlebt habe.

 

Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an Monchichi und Playmobil und Puppen, die «Mama» oder «Ich möchte spielen» sagen konnten, weil sie einen klitzekleinen Plattenspieler im Bauch hatten. Ich denke an Dschungelbuch-Hörspielkassetten und Bandsalat. An Fingerfarben, mit denen wir an die Fenster malten. An Käse-Igel und Schnittchen mit Schmelzkäse-Ecken und Billy, der Schinkenwurst mit dem lachenden Gesicht drauf, zum Abendbrot, während man die Sesamstraße guckte. Oder an die ganz, ganz seltenen Fälle, in denen man «Einer Wird Gewinnen» mit Hans-Joachim Kulenkampff gucken durfte, das immer durch die Eurovision-Musik angekündigt wurde. Das war es, was ich von Europa kannte – mir hätte niemand weismachen können, dass ich jetzt auch schon eine Sprache können soll, um mich mit diesem Europa verständigen zu können. Es reicht doch, wenn man gemeinsam fernsehen kann.

Es ist kein Zufall, dass wir es so schön hatten. Die Generation unserer Eltern war die erste in der Bundesrepublik, die sich allumfassend der Kindererziehung widmen konnte. Sie mussten nicht in den Krieg ziehen oder sich in Luftschutzkeller ducken, wie es ihre Eltern noch taten. Sie wurden in den Aufschwungsjahren groß. Es war normal für sie, dass man sich um das körperliche Wohlergehen keine großen Sorgen machen musste – die Kinder rückten in den Mittelpunkt des Lebens. Sie wollten ihren Kindern eine bessere Kindheit bieten als jene, welche die Kriegsgeneration ihnen bieten konnte. Sie wollten alles anders machen als ihre Vorgänger.

Ich erwische mich dabei, wie ich alles genauso machen möchte wie meine Eltern. Ich wäre gerne fortschrittlich, aber je älter ich werde, desto deutlicher wird mir, dass ich ein konservativer Knochen bin. Ich mag die Dinge, wie sie damals waren – und alles, was neu ist, ist mir suspekt. Die Menschheit hat in den vergangenen drei Jahrzehnten Magnetschwebebahnen gebaut und Waschmaschinen, deren IQ höher ist als der ihrer Besitzer. Aber sie hat zum Beispiel nicht geschafft, ein sinnvolles Spielzeug zu entwerfen. Als ich neulich in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses war, um für den Geburtstag von Johanna einzukaufen, fand ich ein lila Tagebuch mit Codewortschutz und Stimmerkennung, ein Wissensspiel mit einen sprechenden Stift, ein ganzes Geschwader von Indoor-Helikoptern, einen elektronischen Hamster – aber nichts, das ich als sinnvolles Spielzeug für mein Kind sehen würde. Am Schluss stand ich wieder vor dem Regal mit den Schleich-Figuren. Jene handbemalten, naturgetreuen Hartgummi-Tiere aus Schwäbisch Gmünd. Die sind schön, Kinder lieben sie – aber können wir unserer Tochter jedes Jahr Schleich-Tiere schenken? Das geht doch nicht!

 

Wir verlassen den Spielplatz, nachdem Frida und Johanna genug geschaukelt worden sind. «Warum spielt eigentlich niemand mit dir, wenn wir auf den Spielplatz gehen?», fragt Johanna auf dem Weg nach Hause. «Äh, was meinst du denn?» – «Na, ich hab jemanden zum Spielen, Frida hat jemanden zum Spielen, Sophie hat jemanden zum Spielen, ihr Papa hat jemanden zum Spielen … aber du sitzt da immer nur allein.» – «Aber natürlich würde man mit mir spielen, wenn ich wollte, aber ich will gar nicht.» Johanna geht eine Weile stumm neben mir. «Und warum willst du nicht?» – «Na, weil ich ja ein Erwachsener bin, die spielen nicht!» Johanna schweigt wieder ein paar Schritte: «Und wie lange musst du noch ein Erwachsener sein?»

Mirácoli-Tag

Johanna kommt dieses Jahr in die Schule. Sie freut sich schon sehr darauf, vielleicht, weil sie noch nicht richtig weiß, was Schule ist. Es scheint ihr als Fortsetzung der Kita mit anderen Mitteln. Für sie ist die Schule ein riesengroßes Spielzimmer mit Bildungsanschluss. Und diese Vorstellung ist so schön, dass ich sie unmöglich zerstören will. Wenn Johanna nicht von der Schule träumt, bastelt oder malt sie. Zurzeit bastelt sie Weihnachtssterne, Weihnachten ist zwar längst vorbei, aber das akzeptiert Johanna nicht, sie feiert einfach weiter. Vergangenes Jahr hat sie aus der Kita eine Engelsfigur aus Plastik mit Rauschgoldhaaren mitgebracht, die sollte dort eigentlich ausgemistet werden. Der Engel hat Batterien im Bauch und dudelt den ganzen Tag «Jingle Bells», und zwar so, als würde man es auf einem dieser Mini-Keyboards von Fisher Price spielen, das man selbst als Kind geschenkt bekommen hat. Wahrscheinlich gehe ich deswegen bei Winterskälte mit meinen Kindern auf den Spielplatz, um eine Stunde lang nicht «Jingle Bells» hören zu müssen.

Abgesehen von Spielplatzbesuchen hasst Johanna körperliche Anstrengung. Johanna meidet Sport, müsste sie um ihr Leben laufen, würde sie sich, wie es scheint, spontan dagegen entscheiden. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die gerne Kinder hätte, die so sportlich sind wie sie. Annas Vater war schon mal Deutscher Meister im 400-Meter-Staffellauf, Anna läuft Marathon, sie ist sogar Marathon gelaufen, als sie mit Johanna schwanger war. Vermutlich war das Geschaukel der Tochter im Bauch zu viel, sage ich.

Johannas zwei Jahre jüngere Schwester Frida hingegen rennt sogar über Strecken von zwei Metern. Frida mag kein Rosa und kennt keine größere Beleidigung, als wenn man ihr sagt, sie wäre klein. Ihrer Meinung nach ist sie nämlich genauso alt wie Johanna, und wer versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, bekommt Ärger. Man kann auch Unannehmlichkeiten bekommen, wenn man versucht, ihr etwas anderes zum Mittagessen vorzusetzen als Nudeln.

Das stört Anna mehr als mich, denn ich bin selbst mit Mirácoli und Ravioli aufgezogen worden. Hätte ich nicht Anna getroffen, würde ich heute noch denken, dass Tomatensoße mittels eines Tütchens mit «einzigartiger Würzmischung» hergestellt wird, Parmesankäse nur in staubfeinem Zustand existiert und der natürliche Lebensraum einer Ravioli die Hackfleischsoße ist. Ein kleines Steak wurde für mich in einem Fruchtzwerge-Joghurtbecher gereicht. Bei Anna hingegen wurde immer alles frisch zubereitet. Es gab nie Tiefkühlkost. Bei ihr ging Käpt’n Iglo nie vor Anker, und der Bofrost-Mann hatte Hausverbot. Manchmal denke ich, dass sie etwas verpasst hat. Es gab so viele Spezialitäten, die Kinder heute praktisch nicht mehr vorgesetzt bekommen:

Toast Hawaii: eine Spezialität, die es nur sonntags gab. Weißer Toast mit einer Scheibe Dosenananas, einer Scheibe Formschinken und einer Scheibe Cheddarkäse obendrauf. Steht heute leider in Verdacht, krebserregend zu sein.

Zucker-Ei: zwei rohe Eier mit zwei Esslöffeln Zucker verquirlen.

Milchnudeln: Nudeln statt mit Wasser und Salz mit Milch und Zucker kochen, kann mit Zimt garniert werden.

Zuckerbrot: einfach ein Butterbrot schräg unter die Zuckerdose halten und den Zucker über die Butter rieseln lassen. Was hängen bleibt, schmeckt prima.

Mit Hackfleisch gefüllte Paprika: die einzige Methode, ein Kind dazu zu bringen, die Gemüsebeilage zu essen.

Knack & Back: Das waren Brötchen und Croissants, die man aus einer Art Spachtelmasse selbst formte und ausbuk. Waren beliebt, weil sonntags die Bäckereien noch nicht öffnen durften.

Paradiescreme: eine kalte Dessert-Creme, die von Dr. Oetker vertrieben wird. Einfach mit Milch aufrühren, schon wird der Mund verklebt!

Götterspeise: Wurde am liebsten in verschiedenen bunt glibbernden Schichten kredenzt.

Dosensalat: Sellerie, Karotten, Erbsen und Bohnen lernten wir Kinder normalerweise in eingelegtem Zustand kennen. Übereinandergeschichtet und mit Majonäse und Eisbergsalat kombiniert, kannten wir es als «Schichtsalat». Das Zeug irgendwann frisch vorgesetzt zu bekommen war ein Schock.

Bami Goreng: ein indonesisches Nudelgericht, das in Deutschland aber ausschließlich als Tiefkühlgericht mit neongelber Soße bekannt wurde. Wer kein Bami Goreng mochte, mochte Nasi Goreng mit Reis.

Arme Ritter: eine in gerührtem Ei getränkte Scheibe Toastbrot auf beiden Seiten in der Pfanne angebraten. Dazu Ketchup von Kraft.

Mikrowellen-Menüs: Die Mikrowelle war gerade dabei, sich in der Küche durchzusetzen, und alles sprach vom «Mikrowellen-Kochen», wie man zuvor schon den Dampfdrucktopf vergeblich als Küchenrevolution gefeiert hatte. Eine Auswirkung davon waren Plastiknäpfe mit Foliendeckel, die ein volles Tellergericht beinhalteten. Es schmeckte allerdings so schlimm, dass sich das Mikrowellen-Menü nicht durchsetzte. Wir Kinder wussten das Gerät ohnehin besser zu nutzen: Wenn man Schokoküsse hineinsteckte, blähten diese sich zu Schaumbergen auf.

Das alles gibt es bei uns nie zu essen, bis auf eine Tiefkühlpizza für den äußersten Notfall halten wie nur frische Sachen vor. Als Anna an diesem Abend nach Hause kommt, gibt es Kartoffelgratin und Salat. Freitags bleibe ich immer zu Hause, und sie geht arbeiten, also ist es an mir zu kochen. Und da Kartoffelgratin das Einzige ist, was ich beherrsche, gibt es jeden Freitag Kartoffelgratin.

Wenn die Kartoffeln im Ofen sind, versuche ich die Kinder schnell in ihre Schlafanzüge zu stopfen, damit es schon ein bisschen nach Feierabend aussieht.

Was dann passiert, ist fast ein Ritual. Ich höre, wie sich der Schlüssel im Haustürschloss dreht, dann klackern ihre Absätze über das Parkett. Anna gibt mir einen Kuss und lobt: «Wie gut es hier riecht!», dann kommt Frida um die Ecke, guckt entsetzt und fragt: «Gibt es SCHON WIEDER Kartoffelgrateng? Ich mag kein Kartoffelgrateng!» Dann beruhige ich Frida, für sie gebe es selbstverständlich Nudeln, Nudeln ohne alles. Nur mit Butter.

Später am Abend, wenn die Kinder unter Protest in ihrem Doppelstockbett eingeschlafen sind, reden wir über Johannas anstehenden Geburtstag. Es ist gar nicht so einfach. An Geburtstagen brauchen Kinder Kuchen, und sie brauchen Geschenke. Kinder haben aber meist schon alles. Sie haben Stofftiere, Puppen, Lego, Kinderbücher, Hörspiele, Puppenhäuser, Klettergerüste, Hochbetten, Eisenbahnen, Arztkoffer, Zauberkästen. Es fällt einem kaum noch etwas ein, was man dem Kind denn zusätzlich noch schenken mag. Mein Vater hat mir von seiner Kindheit berichtet, er habe zum Geburtstag jeweils neue Strumpfhosen bekommen. Strumpfhosen klingen gut. Die sind nach einem Jahr durchgescheuert, dann kann man neue kaufen. Später hat er jedes Jahr jeweils einen Wagen für die Modelleisenbahn geschenkt bekommen. Als er einen kompletten Zug beisammenhatte, war die Kindheit auch schon fast vorbei.

In meiner Kindheit hingegen mussten Geschenke dann schon Sensationen sein: Zum einen Geburtstag gab es die Eisenbahn, zum nächsten die Playmobilburg mit dem Turnierritter-Set. Und es gab das Western-Fort von Playmobil zusammen mit dem Indianerdorf und der Postkutsche. Es gab auch ein Postamt-Spieleset mit Briefmarken, Umschlägen und Poststempel (ja, damals machten Behörden noch Eindruck auf Kinder). Später kamen eine Darda-Bahn hinzu mit den kleinen Flitzern, die man aufzog, indem man sie vor und zurück schob. Dabei machten sie ein knackendes Geräusch, wie alle anderen Spielzeuge sie nur machten, wenn sie kaputtgingen. Und dann kam Fischer-Technik, bei der man Seilbahnen, Raupenbagger und Atomkraftwerke aus kleinen, ineinanderschiebbaren Steinen bauen konnte.

In den späten siebziger Jahren ging es nicht um Bedarfsdeckung, es ging um fröhlichen Konsum. Ganz so fröhlich möchte man heute nicht mehr verbrauchen. Heute wollen wir nachhaltig schenken. Es soll alles einen Sinn haben, nicht gleich kaputtgehen. Es soll gewissermaßen wertvoll sein. Kein schäbiger Plastikkram, der sich schon bald in seine Einzelteile zerlegt und sich eines Morgens in den nackten väterlichen Fuß bohrt, wenn dieser gerade durch die Küche tapst.

Das macht den Spielraum für Geschenke klein. Ich schiele ständig darauf, was andere Eltern ihren Kindern schenken. Sie scheinen ähnlich verzweifelt. Ein Nachbar hat seinen Mädchen eine Karaoke-Maschine gekauft. Einen Höllenapparat mit eingebauter Lautsprecheranlage, Videoschirm und Mikrofon. Eine Freundin schenkte ihrem Sohn ein Schlagzeug. Das mache ich lieber nicht nach.

Allerdings haben kleine Kinder in dieser Hinsicht einen Vorteil: Sie werden ständig größer. Sie brauchen größere Kleider, größere Schuhe und auch größere Fahrräder. Wir schenken Johanna also ein neues Fahrrad. Bei Fahrrädern gibt es zwei Typen. Solche, die Kinder haben wollen, und solche, die Eltern vernünftig finden. Als kleiner Junge schaute ich mit Bewunderung auf die großen Jungs, die Bonanzaräder hatten. Sie fuhren darauf so lässig wie nur möglich. Sie lehnten sich auf ihrem langgezogenen Sattel nach hinten und lenkten mit einer Hand, während sie in der anderen ein Dolomiti-Eis hielten. Auf diesen Rädern fuhr man stets unglaublich langsam, sodass man fast umzukippen drohte. Die Räder hatten am Rahmen eine Dreigangschaltung wie beim Auto, die aber immer kaputt war, und hinten baumelten Wimpel. Von diesen Bonanzarädern herunter schienen die Jungs die Welt zu regieren. Meine Eltern kauften mir aber kein solches Fahrrad von Raleigh, sie kauften mir eines von Puky. Später kamen die BMX-Räder auf. Die hatten kleine Reifen mit breiten Stollen. Sie waren gewissermaßen der SUV des Kinderzimmers. Mit BMX-Rädern konnte man rücksichtslos durch das Gelände rasen und waghalsige Rampen überspringen. Man musste aber nicht. Es reichte völlig, so auszusehen, als könnte man es jederzeit tun. Und meine Eltern? Sie schenkten mir stattdessen ein Kettler-Alu-Rad zum Geburtstag.

Lutschkugeln

Meine Idee, ein Bonanza-Rad bei eBay zu ersteigern, verwerfe ich sofort, als ich sehe, welche Preise Retro-Räder mittlerweile erzielen. Ich bin offenbar nicht der einzige Vater, der Nachholbedarf hat. Ich kaufe also ein normales Kinderrad. Aber etwas aufmotzen will ich es trotzdem. Ich schraube eine Hupe daran und klemme bunte Klickerperlen in die Speichen. Ich hätte gerne auch noch einen Abstandhalter an den Gepäckträger geschraubt. Das war ein oranger Wimpel mit einem Reflektor dran, der Autos dazu animieren sollte, das kleine Kind großräumig zu umfahren. Wir fanden diese Dinger damals toll, weil sie aussahen wie Polizeikellen. Es gibt sie heute aber leider nicht mehr. Wahrscheinlich geht man davon aus, dass nicht einmal in Berlin Eltern so wahnsinnig sein könnten, Kinder auf der Straße fahren zu lassen.

Und dann ist es so weit: Ein paar Tage später stehen wir morgens an dem Bett, in dem sich Johanna noch in die Daunendecke rollt: «Heute kann es regnen, stürmen oder schnei’n/Denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein/Heut ist dein Geburtstag/darum feiern wir/alle deine Freunde freuen sich mit dir», singen wir für Johanna. Anna hat einen Kuchen gebacken, und wir haben eine kleine Eisenbahn mit sechs kleinen Kerzen um ihren Frühstücksteller herum aufgebaut. Johanna freut sich zwar über das Prinzessin-Lillifee-Federmäppchen, das ihr ihre Tante geschickt hat, viel mehr als über das Fahrrad, aber das macht mir keinen Kummer. In Gedanken bin ich ohnehin schon viel weiter: nämlich beim Kindergeburtstagsfest, das am darauffolgenden Samstag sein soll.

Auf diese Feste kommt es schließlich an. Es mochte einmal gereicht haben, ein Hanuta unter einen Topf zu legen und die Kinder mit verbundenen Augen und einem Holzlöffel danach suchen zu lassen. Oder sie ein Eis balancieren lassen und ihnen nachher Nudeln zu verfüttern. Das alles geht nicht mehr. Einen Geburtstag, sage ich Anna, muss man vom Ende her denken. Nämlich von der Nachhauseweg-Tüte her. Das ist das Tütchen mit Süßigkeiten, welches es am Ende des Tages für alle gibt. In meiner Kindheit waren Süßigkeiten ein Grundnahrungsmittel. Ich wäre keinesfalls zum regelmäßigen Schulbesuch zu überreden gewesen, hätte es nicht auf dem Schulweg einen Kiosk gegeben, bei dem eine Reihe von roten Boxen in der Auslage stand, die uns ein tägliches Hochgefühl im Mund offerierten: saure Gurken und saure Pommes. Und Leckmuscheln und Kirsch-Lollies von Küfa und Pfirsich-Ringe. Ich stand jedes Mal lange vor dem Angebot und überlegte, wie ich mein Taschengeld am besten anlegen sollte. Es gab große, saure Gurken für zehn Pfennig und kleine für fünf Pfennige. Es ließen sich auch richtig umfangreiche Investitionen tätigen, etwa mit Schleck-Brausestangen, die gerne 30 Pfennig kosten konnten, dafür aber auch den ganzen Rest des Schulweges vorhielten. Die günstigste Ware war der Brausetaler für zwei Pfennig. Ich hatte schon damals nicht verstanden, warum es Ein-Pfennig-Münzen gab, wo man doch an meinem Kiosk gar nichts für einen Pfennig erwerben konnte. Schließlich musste doch jeder Geldbetrag in Süßigkeiten umsetzbar sein, sollte das Währungssystem funktionieren.

Viele der Süßwaren gibt es noch, einige sind fast ausgestorben: etwa die Schokoladen- und Kaugummi-Zigaretten (Marke: Pell Mell). Wir fanden sie großartig, denn wir konnten damit «erwachsen» spielen. Da gehörte rauchen einfach dazu. Heute würden Eltern, die ihren Kindern Schokozigaretten offerieren, sich wahrscheinlich strafbar machen. Die Frage ist nur, welches Accessoire man ihnen stattdessen anreichen würde, damit sie die Welt der Großen nachspielen können. Oder wollen Kinder die Welt der Erwachsenen überhaupt noch nachspielen?

Für mich erstaunlich war damals übrigens, dass der Mann, dem der Kiosk gehörte, offenbar gar nicht so versessen darauf gewesen war, mich als Kunden zu haben, obgleich ich zweifelsohne zu seiner Stammklientel gehörte. Jeden Morgen stand ich vor der Auslage und überlegte und erwog, rechnete den Salmiak-Geschmack eines Lakritztalers gegen die Klebrigkeit auf, mit der die blauen Schlümpfe an den Zähnen haften blieben. Während ich also überlegte, drängte der Mann hinter dem Kiosk-Tresen (er blieb zeitlebens für mich nur der «Kiosk-Mann»), er hätte noch andere Kunden. Wollte er meine 30 Pfennige etwa nicht? Die anderen Kunden jedenfalls kauften keine Süßigkeiten bei ihm, die rochen schon morgens um halb acht wie ein Spiritusbrenner und gerierten sich keineswegs sehr freundlich. Sie waren zweifellos durch das Schild «Trinkhalle», das am Kiosk prangte, angezogen worden. Es war außerdem kein Wunder, dass diese «Kundschaft» morgens am Kiosk ihre Entscheidungen schneller treffen konnte als ich. Denn ihre Konsumwünsche bezogen sich nur auf «Korn» beziehungsweise «Doppelkorn» oder «Apfelkorn».

Die Welt der Süßigkeiten hingegen war ein Universum: Es war eine wahre Verführungsindustrie, die in immer neuen Anordnungen versuchte, Glucosesirup in unbekannte Formen zu gießen, damit er von mir in einem kleinen Papiertütchen vom Kiosk weggetragen würde.

Dabei war das Entscheidende keineswegs, wie süß das Zuckerzeug war, sondern was es mit einem anstellte. Heute würde man das als sinnliches Erlebnis bezeichnen. Da war zum Beispiel die Wunderkugel: eine taubeneigroße Lutschkugel, die in mehreren Schichten aufgebaut war, sodass sie während des Lutschens ständig ihre Farbe wechselte – und die Farbe der Zunge dazu. Es gab das «süße UFO», das aus zwei tellerförmigen Oblaten bestand, zwischen denen ein sauersüßes Brausepulver war, welches sich in den Mundraum ergoss, wenn man das UFO aufaß. Es gab Esspapier in dünnen Blättchen, die sich auf der Zunge auflösten. Und natürlich Nappo, holländischer Nougat mit Schokoladenüberzug, der vehement das Gebiss verklebte. Am liebsten aber hatten wir Kinder das Magic-Gum-Pulver: ein Tütchen mit einen grünen Marsmännchen darauf. Es enthielt ein Brausepulver, das im Mund erste knallte und bitzelte – um sich dann zu einem Kaugummi zusammenzuklumpen. Heute nennt man so etwas Molekularküche. Ich habe meine Erfahrungen damit schon als Sechsjähriger gemacht.

Seid ihr alle da?

Die Herausforderung eines Kindergeburtstages beginnt schon mit dem Einladen anderer Kinder. Man sagt, dass man immer so viele Kinder einladen dürfen sollte, wie das Kind Lebensjahre hat. In Johannas Fall also zwölf, wie sie sagt. Ich freue mich, wenn mein Kind irgendwann mal Mathe kann. Zwölf Kinder, wer soll die alle hüten? Unser Wohnzimmer ist doch nicht das Småland von Ikea. Aber Johannas Einladungsliste ist so wenig verhandelbar wie die Zehn Gebote. Sie besteht aus Freundinnen, aus Kindern, die man einladen muss, weil sie einen auch eingeladen haben, und aus Kindern, die man einladen muss, damit sie einen später auch einladen. Auf die richtig wichtigen Geburtstagspartys. Die nämlich, bei denen die Väter ganze Busladungen ins Spaßbad karren oder in den Klettergarten oder den Vergnügungspark. Die Geburtstage, wo Zauberer als Showact gebucht werden. Es sind die gesellschaftlichen Anlässe meiner Kinder, bei denen sie nicht fehlen wollen. Wenn Kindergeburtstage die Währung für glückliche Kindheitserinnerungen sind, dann steigt sie gerade steil im Preis. Es herrscht ein Wettrüsten der Elternliebe wie zur Hochzeit des Kalten Krieges. Eine Bekannte mobilisierte für den fünften Geburtstag ihrer Tochter einen zweispännigen Planwagen, mit dem es einen Ausflug zum Kinderbauernhof gab. Der Sohn von anderen Eltern unseres Umfeldes genoss einen Themengeburtstag «Bagger», für den selbstverständlich ein Mini-Bagger angemietet wurde. Vielleicht muss es für den nächsten Geburtstag dann ein Panzer sein. Oder ein U-Boot, ein Helikopter, ein Dinosaurier. Wo kriege ich nur einen Dinosaurier her?

Es gibt eine reichhaltige Literatur über Kindergeburtstage – oder wie man heute auch sagt: Themenfeste. Es reicht für ambitionierte Eltern nicht mehr, einfach Kinder zu versammeln und mit ihnen Spiele zu machen – heute geht es um Märchenschlösser, Piratenschiffe, Meeresköniginnen und Mittelalter-Zauber. Es soll alles einen inneren Zusammenhang haben und vielleicht sogar ein pädagogisches Ziel. Geburtstagsfeste haben heute ein Drehbuch, und die Dramaturgie soll nichts stören, schon gar nicht die Kinder. In einer Elternzeitschrift fand ich neulich eine Empfehlung, was zu tun ist, wenn Kinder nicht mitspielen wollen – «Wie stoppt man kleine Spaßbremsen?»: «Nehmen Sie das Kind zur Seite, um abseits von den anderen mit ihm zu sprechen», wird da geraten. «Sagen Sie ihm, dass Sie davon ausgehen, dass es gekommen ist, weil es Ihr Kind gern mag. Und dass Sie darauf vertrauen, dass es genau wie Sie dem Geburtstagskind ein schönes Fest wünscht. Nehmen Sie es richtig in die Verantwortung mit: ‹Ich muss mich da ganz auf dich verlassen können.› Machen Sie gleichzeitig klar, dass es gehen muss, wenn es nicht klappt.»

Kinder, die nicht kooperieren, sind auszusortieren. Den Ärger mit den Eltern müsse man dann eben hinnehmen: «Aber der gelungene Geburtstag Ihres Kindes ist es wert, dass Sie diesen möglichen Stressmoment aushalten.» Das ist das Gesetz der Kindergeburtstage: Glück um jeden Preis.

Ich bin bereit.

Für mich war es als Kind ganz normal, dass zu meinem eigenen Geburtstag eine zweistellige Zahl von Kindern eingeladen wurde. Ich lud Matthias, Kai, Nils, Oliver, Julia, Barbara, Susanne, Thorsten, Thilo, Christoph, Martin, Gabriele, Petra, Ute, Nicole ein. Andere Namen waren ja damals nicht in Umlauf. Es gab zur Einstimmung Kasperltheater. Meine Eltern haben das Stück immer selbst geschrieben und geprobt. Meist handelte es davon, dass Kasper auf einen Schatz aufpassen soll, der aber leider vom Krokodil entwendet wird. Danach muss Kasper allerlei Aufgaben lösen – und schließlich kann er den Schatz zurückerlangen und dem Geburtstagskind überreichen. Also mir. Der Schatz bestand zum Beispiel aus einer Tüte mit in Goldpapier verpackten Schokomünzen. Oder aus einer Wundermuschel. Das ist eine Muschel, die aufgeht, wenn man sie ins Wasser legt, worauf ihr eine Blume entwächst. Ich kann mich an die Kasperltheaterstücke nicht mehr so genau erinnern – allerdings weiß ich noch genau, dass einmal die Muschel, die mir aus dem Maul des Krokodils überreicht wurde, kaputt war. Meine Mutter sagte zur Entschuldigung, sie sei wohl vom Krokodil zerbissen worden. Ich heulte trotzdem. Was fiel diesem Krokodil ein? Und was fiel meinen Eltern ein, dass sie dieses Krokodil überhaupt eingestellt hatten? Eigentlich erinnere ich mich vor allem an Tränen, die ich an meinen Geburtstagen vergoss, und an die verzweifelten Versuche meiner Eltern, diese irgendwie einzudämmen. Sie müssen eine Menge Spaß mit mir gehabt haben.

Ich habe die Kasperlpuppen meiner Eltern noch. Das Ensemble besteht aus: Kasper (der ein so verzerrtes Lächeln hat, als wäre er geliftet), das Krokodil, die Hexe, der Zauberer, der Polizist, der Hund, der König, der Räuber. Die Figuren sehen so aus, wie die heute nie mehr produziert werden dürften. Der Räuber hat eine übel zugerichtete Fresse und zitiert ganz eindeutig Zigeuner-Stereotypen. Die Hexe sieht so schrecklich aus, dass man sie wegen der Verbreitung frauenfeindlicher Vorurteile verhaften müsste. Aus ihrem hässlichen Mund stehen braune Zähne hervor, sie trägt ein riesiges Kopftuch. Ich habe mir einmal angeschaut, wie Kasperlfiguren aussehen, die heute verkauft werden: Da lächelt die Hexe wie das Kräutermädchen auf dem Rotbäckchen-Saft, und der Räuber trägt eine lustige schwarze Maske, die ihn eher wirken lässt wie einen Waschbär. Im Grunde kann ich meine Theatertruppe kaum im 21. Jahrhundert auftreten lassen. Aber ich habe kein anderes Ensemble. Ich habe ja nicht einmal ein Theaterstück. Wo bekomme ich nur einen Text her? Es gibt im Internet eine ganze Reihe einschlägiger Seiten mit Stücken. Die Handlung ist etwa: Kasper schenkt der Großmutter einen Kuchen, die Großmutter freut sich, aber dann kommt die Hexe und stiehlt den Kuchen – Kasper schleicht sich zur Hexe und tauscht den Kuchen gegen eine Schüssel Kieselsteine aus. Die Hexe beißt auf die Kieselsteine und schimpft. Kasper singt «Tri, tra, trullala» und kann nun in Ruhe mit der Großmutter Geburtstag feiern. Aber ich habe keine Großmutter in meiner Kasperl-Kiste. Soll ich Kasper dem Krokodil einen Kuchen schenken lassen? Oder der Hexe – und der Polizist stiehlt ihn dann? Aber «Tri, tra, trullala» – das gefällt mir.

 

Zu einem Kindergeburtstag gehört auch eine Schatzsuche. In meiner eigenen Kindheit begann sie damit, dass mein Vater ganz zufällig hinter einem Schrank im Kinderzimmer einen Zettel fand, dessen Ränder sorgfältig mit einer Kerze angekokelt waren. Er erzählte dann davon, dass in diesem Haus vor Jahrhunderten einmal ein Pirat gelebt habe, der gefürchtete Korsar Hackepeter – und dass der legendäre Schatz des legendären Hackepeter nie gefunden wurde. Selbstredend mache man sich nun aber, da die Karte gefunden sei, sofort auf die Suche. Ich hatte damals erhebliche Zweifel an Papas Theorie. Meines Erachtens müssten etwaige Schätze tief unter dem Fußboden vergraben sein. Wir würden mit schwerem Gerät vorgehen müssen – und das wäre viel besser möglich, hätten mir meine Eltern, so wie ich es mir gewünscht hatte, einen Bagger geschenkt. Es gab aber nur einen Roller. Da hatten wir also den Salat. Die Schatzsuche ging allerdings schon los. Mein Vater sagte, wir sollten uns alle aufs Bett setzen, das sei nämlich unser Schiff. Dann machte meine Mutter einen Staubsauger an und sagte, das sei jetzt ein schrecklicher Sturm, der das Piratenschiff erfasst habe. Wir mussten uns auf eine Insel retten, die von einem Sofa dargestellt wurde, das im Flur stand. Auf dieser Insel begann dann die Schatzexpedition. Bei dieser Suche mussten wir Kinder uns an einem Monster vorbeischleichen, das von unserem Familienhund dargestellt wurde, der unter dem Tisch lag und döste. Wir mussten an einem Vulkan vorbei, der in Wirklichkeit der Hochstuhl meines kleinen Bruders mit einer Kerze darauf war. Schließlich kamen wir aber im Wohnzimmer an, konnten dort einen mit bunten Straußenfedern geschmückten Korb bergen, in dem eine Süßigkeitstüte für jedes Kind war. In jeder Tüte war außerdem ein Gummiball. Daraufhin warfen alle Kinder die Flummis durch die Wohnung, wobei sie gegen die Wände dotzten, dabei alle möglichen Sachen umwarfen, was ein Riesenspaß war. Zum Schluss durften wir uns selbst Hamburger aus Sandwichbrötchen, Frikadelle, Tomate, Salat, Käse und ganz viel Ketchup belegen. Nachdem die anderen Eltern ihre Kinder abgeholt hatten, machten meine Eltern einen müden Eindruck und wollten uns seltsamerweise schon bald ins Bett bringen – was mir nicht recht in den Kopf wollte – der Spaß hatte doch eben erst angefangen …

Reise nach Jerusalem

Anna hat einen Kuchen gebacken. Einen Kuchen für zwölf Kinder?, frage ich. Ein Kuchen ist doch zu wenig! Wie soll das gehen? Die Kinder kommen, setzen sich hin und bekommen nicht einmal ordentlich zu essen? Anna beruhigt mich. Die Kinder seien meist gar nicht so hungrig, wenn sie ankämen – und ich könne ja auch noch einen Kuchen im Supermarkt kaufen, wenn ich Angst habe, dass es zu wenig sei. Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen und ziehe los. Ich muss ohnehin noch so einiges besorgen. Schließlich wird das mein Tag, an dem ich beweisen werde, was für unglaubliche Kindergeburtstage ich zu feiern imstande bin. Ich sehe die anderen Väter, vor allem Ansgar, blass ihren Nachwuchs abholen. Völlig verstört den begeisterten Erzählungen lauschend, während sie sich trollen wie Hunde, denen man ins Hinterteil getreten hat.

Im Supermarkt finde ich tatsächlich eine Benjamin-Blümchen-Torte von Coppenrath & Wiese. Ich durfte sie als Kind nie haben. Benjamin Blümchen mit seinem albernen Trompeten und Taröööen war meinen Eltern suspekt. Aber meine Eltern sind nicht hier. Ich wusste damals: Eines Tages wird die Gelegenheit kommen, da werdet ihr mich nicht stoppen können. Ich werde einfach eine Benjamin-Blümchen-Torte in den Einkaufswagen legen, und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könntet. Ich kaufe auch Hamburger-Brötchen und Tomaten, Hackfleisch, Salat, Gurken und Ketchup für das Abendessen. Mit großen Erwartungen biege ich in die Süßwaren-Abteilung des Supermarktes ein. Die Verführungsindustrie hat immerhin 30 Jahre Zeit gehabt, neue psychedelische Zucker-Erlebnisse für junge Menschen zu kreieren. Mit was wird sie mich überraschen? Leider nur mit Haribo, Haribo, Haribo, Haribo. Der Bonner Gummibärchen-Hersteller dominiert mittlerweile alles. Und die Produkte sind dieselben, die ich schon aus meiner Kindheit kenne. Die einzigen Innovationen sind «Saftbären» und Fledermäuse, die teils aus Gelatine, teils aus Lakritz bestehen. Kein Wunder, dass es mit Deutschland nicht weitergeht. Ich kaufe also Haribo-Familienpackungen in kleinen abgepackten Tütchen. Dann finde ich noch Maoam («Wollt ihr Elfmeter?»). Auf der Packung ist jetzt eine komische Kartoffel abgebildet, die sich von süßen Früchtchen verwöhnen lässt, was ich etwas seltsam finde. Zu meiner Überraschung finde ich noch Ahoj-Brause. Das Pulver, das man ins Glas kippen konnte, was ein wässriges, nach Waldmeister schmeckendes Getränk ergab. Was aber nicht so schlimm war, denn es wusste sowieso keiner, wie Waldmeister eigentlich schmecken sollte. Meist kippte man sich die Ahoj-Brause pur in den Schlund. Das Zeug gibt es schon seit den zwanziger Jahren, und es wurde damit schon eine Sexszene in der Verfilmung von Günter Grass’ «Blechtrommel» gedreht. Die Ahoj-Brause, beschließe ich, wird der Held meiner Süßigkeitstüte. Ich kann kaum erwarten, bis ich sie den Kindern zum Abschied in die Hand drücken kann. Leider müssen wir bis dahin noch ein ganzes Geburtstagsfest hinter uns bringen.

 

Endlich ist Samstag. Johannas Gäste kommen, unsere Tochter ist in Hochstimmung. Sie bekommt allerlei Kram, von dem ich gar nicht wusste, dass es ihn gibt. Ein Brikett, aus dem man mit einem kleinen Spatel einen Dinosaurier herauskratzen kann. Einen Frosch, den man ins Wasser wirft, wo er sich dann in einen Prinzen verwandelt. Stifte, die in allerlei Regenbogenfarben malen.

Die Kinder verspeisen den Kuchen, es sind mehr Jungs als Mädels. Ich überlege, was es bedeutet, dass meine Tochter eher mit Jungs spielt – geht das denn jetzt schon los? Muss ich mich schon jetzt mit Typen herumschlagen, die meine Tochter mit nach Hause schleppt?

«Was ist denn das für ein komischer Elefant da auf dem Kuchen?», fragt einer von ihnen. «Ja, warum ist denn da ein Elefant auf dem Kuchen?», kommt es von der anderen Seite des Tisches.

Ich verziehe mich hinter das Kasperltheater und warte, bis Anna die Kinder davor versammelt hat. Dann kommt mein Auftritt: «Tri-Tra-Trullala», singt Kasper fröhlich. Anna hat mir geraten, die Handlung nicht zu kompliziert zu machen. Ich halte es also einfach: Kasper soll auf einen Schatz aufpassen, aber er schläft ein, also wird er vom Krokodil beklaut. Dann muss Kasper zur Polizei und mit dem Polizisten das Krokodil stellen und ihm kräftig eins über die Rübe geben. Als das Krokodil den Kasper bestiehlt, ruft ein Kind: «Ich hab Angst!», und rennt weg. Dann kommt die finale Prügelei, Kasper hält mit beiden Armen eine Rute fest und lässt sie unablässig auf das Reptil niedersausen, bis es den Schatz herausrückt und sich vom Polizisten in den Zoo bringen lässt. «Heeee, man darf keine Tiere hauen», protestiert ein Mädchen, «die sterben sonst aus.» – «Ja, und in den Zoo gehören Tiere sowieso nicht», schallt es aus einer Ecke. Den Schatz, in Silberfolie eingepackt, bekommt das Geburtstagskind. Es ist eine Wundermuschel. Ich habe sie tatsächlich im Internet bei einem taiwanesischen Versand bestellen können. Leider interessiert sich Johanna gar nicht dafür.

Die anderen Kinder gucken etwas betreten, aber ich lasse mich davon natürlich nicht beirren. Ich blase zur Schatzsuche. Anna und ich haben mehrere Stationen aufgebaut. An jeder Station müssen die Kinder einen kleinen Parcours bewältigen, der sie zur nächsten Station führt. Zu einem Schatz, den ein Pirat, der auf der Spree Schiffbruch erlitten hatte, hier im Haus versteckt hat, wie ich mit großen Augen erkläre: «Man nannte ihn Hauptmann Hackepeter, weil er aus seinen Gegnern gerne Hackfleisch mit dem Säbel machte», erzähle ich düster. «Wie kommen denn hier Piraten rein?», will Johanna wissen. «Die Haustür soll doch immer abgeschlossen sein.» – «Der ist über die Mauer geklettert», erläutere ich. «Mama, kommen Räuber wirklich über die Mauer?», jammert das Kind. Können Kinder nicht einmal einfach etwas so hinnehmen, wie es Erwachsene ihnen sagen?

Es sind einige Aufgaben, die die Kinder an diesem Nachmittag zu bewältigen haben. Sie müssen Überraschungseier, die in schwimmenden Plastikbeuteln in der Wanne dümpeln, mit einer Angel herausfischen. Sie müssen über ein über Bierkästen verlegtes Brett trippeln. Sie müssen eine Schatzkarte aus Puzzleteilen zusammenlegen. Und sie machen einfach alles viel zu schnell.

Nun verstehe ich, wie Spiele wie Stopp-Essen entstanden sind. Dabei musste man reihum würfeln. Wer eine Sechs hatte, musste Mütze, Hemd und Handschuhe anziehen und dann beginnen, mit Messer und Gabel eine Tafel Schokolade zu verspeisen. Man hatte nur Zeit, bis der Nächste eine Sechs gewürfelt hatte. Ein anderes beliebtes Spiel war das Apfelessen. Ein Apfel schwamm in einem Eimer, und die Kinder mussten versuchen, ihn ohne Zuhilfenahme der Hände zu verspeisen. Der Trick bei diesen Spielen: Sie dauerten ewig.

Ich aber bin weit vor meinem Zeitplan, als ich zusammen mit den Kindern in den Keller gehe, den ich mit einigen roten Blinklichtern und Grabkerzen in eine Geisterbahn verwandelt habe, um dort nach dem Schatz zu suchen. Ich habe eine Weinkiste mit Goldpapier und Euromünzen aus Schokolade gefüllt. Die Kinder sind zufrieden damit. Sie haben offenbar keine Ahnung, wie es um den Euro steht.

Ich hätte gerne noch Sackhüpfen gespielt. Aber wir haben keinen Sack. Ich kenne eigentlich niemanden, der einen Sack hat. Woher hatten unsere Eltern denn damals eigentlich immer diese Säcke? Und wozu brauchten sie die, wenn mal kein Kindergeburtstag war? Was macht man mit einem Sack außer Sackhüpfen? Haben sie darin Katzen ertränkt?