Der heilige Bruno - Tillmann Prüfer - E-Book

Der heilige Bruno E-Book

Tillmann Prüfer

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Beschreibung

Auf Spurensuche am Kilimandscharo Wer ist eigentlich dieser streng blickende Mann, dessen Foto über dem Esstisch hängt? Tillmann Prüfer weiß wenig über seinen Urgroßvater – nur, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts als Missionar in Tansania lebte und wenig Sinn für weltliche Zerstreuung hatte. Erst als sich seine Mutter in Afrika auf Spurensuche begeben will, fängt Prüfer an, nachzuforschen. Er erfährt nicht nur, dass sein Uropa einst in der Ferne sein Glück fand, sondern auch, dass er dort noch immer fast wie ein Heiliger verehrt wird. Und so wird aus dem Familienurlaub plötzlich eine höchst offizielle Angelegenheit, während der sich Tillmann Prüfer am Fuße des Kilimandscharo vor Tausenden Gläubigen wiederfindet, die auf weise Worte aus seinem so gar nicht heiligen Munde warten … Eine Familie sucht nach ihrer Geschichte – sehr vergnüglich und hochspannend!

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Seitenzahl: 437

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Tillmann Prüfer

Der heilige Bruno

Die unglaubliche Geschichte meines Urgroßvaters am Kilimandscharo

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Auf Spurensuche am Kilimandscharo

 

Wer ist eigentlich dieser streng blickende Mann, dessen Foto über dem Esstisch hängt? Tillmann Prüfer weiß wenig über seinen Urgroßvater – nur, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts als Missionar in Tansania lebte und wenig Sinn für weltliche Zerstreuung hatte. Erst als sich seine Mutter in Afrika auf Spurensuche begeben will, fängt Prüfer an, nachzuforschen. Er erfährt nicht nur, dass sein Uropa einst in der Ferne sein Glück fand, sondern auch, dass er dort noch immer fast wie ein Heiliger verehrt wird. Und so wird aus dem Familienurlaub plötzlich eine höchst offizielle Angelegenheit, während der sich Tillmann Prüfer am Fuße des Kilimandscharo vor Tausenden Gläubigen wiederfindet, die auf weise Worte aus seinem so gar nicht heiligen Munde warten …

 

Über Tillmann Prüfer

Inhaltsübersicht

Gott und ichBriefe aus TansaniaNirgendwo in AfrikaDas Herz der MissionBruno im WaldBegegnung mit einem MachaTante Frieda ist dabeiAfrika in LondonBruno in Deutsch-OstafrikaDr. GelbfieberAnkunft in AfrikaDie Kirche am BergDer Coca-Cola-BergDer Kidia-KomplexBruno der TäuferDer Fluch von KitimbirihuDer Piff-Paff-Puff-KriegDer Garten von MasamaDas heilige DorfZwei MillionenDie Wiederkehr des ApostelsEssen mit dem ChefDas ganz große WeihnachtenAuf Gottes AckerRingen mit den JungenDer Tag in der GemeindeDas ultimative GebetAuf SafariSchuhplattler am KilimandscharoMonster und LutherWieder WeihnachtDer AbschiedDanke!

Gott und ich

Ich habe meine Kinder katholisch taufen lassen, aus Faulheit. Meine Frau sagte, wenn wir sie evangelisch taufen ließen, sollte ich mich auch um die religiöse Erziehung kümmern. Wenn sie hingegen Katholiken würden, würde sie das übernehmen. Nun war mir völlig schleierhaft, wie ich ein Kind religiös erziehen soll. Gehe ich dann jeden Sonntag in die Kirche? Beten wir vor dem Essen? Lesen wir gemeinsam im Neuen Testament? Im Alten? Diskutieren wir, ob es Dinosaurier gab? Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich selbst eine «religiöse Erziehung» genossen habe. Ich kann kein Kirchenlied auswendig und könnte keine einzige Stelle aus der Bibel zitieren (außer den Anfang und ein bisschen Weihnachten). Mir war die Konfession meiner Kinder einfach egal.

Dabei habe ich kein schlechtes Verhältnis zu Gott. Ich nehme an, wäre Gott bei Facebook, wären wir befreundet. Allerdings haben ich und Gott wenig miteinander zu tun, wir haben praktisch keinen Kontakt. Ich lebe im Osten Berlins. Ostdeutschland ist angeblich das Gebiet mit der welthöchsten Atheistendichte. Gott ist hier wenig unterwegs.

Früher war mal mehr los zwischen Gott und mir. Aber, wenn ich ehrlich bin: So richtig prickelnd war unsere Beziehung nie. Ich erinnere mich noch an meine Konfirmationszeit. Meine Mutter hatte von mir verlangt, dass ich jeden Sonntag in die Kirche gehen sollte. Da saß also die Familie zum Frühstück, schlemmte Knack-&-Back-Croissants, die frisch aus dem Ofen kamen, strich sich fett Sardellenpaste auf den Buttertoast und schenkte sich noch einmal «Hohes C»-Orangensaft nach. Ich aber sollte auf der harten Kirchenbank sitzen – und singen. Für Jungen im Stimmbruch ist singen das Allerschlimmste. Als Konfirmand saß man in der Kirche ganz vorne und konnte sich keiner Sekunde der Aufmerksamkeit des Pfarrers entziehen. Dabei war es mir unmöglich, der Predigt zuzuhören. Ich versuchte immer wieder, den Worten unseres Pfarrers zu lauschen, aber ich konnte nicht. Es klappte einfach nicht. Immer wenn ich meine Gedanken nur einen Moment schweifen ließ, entwischten sie mir, waren bei irgendeinem hübschen Mädchen, dass ich mich nicht anzusprechen traute – aber eben nicht bei Gott. Ich glaube aber, es ging in der Predigt immer entweder um Hunger in Indien oder Hunger in Äthiopien. Nach spätestens einer halben Stunde kämpfte ich mit dem Sekundenschlaf. Ich höre immer wieder, dass Gott auf jeden Menschen schaue und alles sehen würde. Falls das stimmt, hat er mich vor allem dabei gesehen, wie mir bei ihm in der ersten Reihe ständig der Kopf auf die Brust sank. Es könnte aber sein, dass Gott selbst bei der Predigt eingenickt war. Die evangelische Kirche hätte die Texte als Narkotikum vermarkten können. Vielleicht weil ich nie zugehört habe, habe ich Grundlegendes in der Bibel nicht verstanden. Zum Beispiel ist es mir völlig schleierhaft, wer eigentlich der Heilige Geist ist. Was macht der? Er ist irgendwie nicht Gott und nicht Jesus und trotzdem beides. Er hat eine total unklare Jobdescription.

Meine Frau hat viel eher eine religiöse Erziehung genossen. Sie war in ihrer Jugend Ministrantin in einer katholischen Kirche in Hamm. Sie trug Kerzen, Kreuze und Weihrauchfässer, läutete die Altarschelle und pflegte außerdem die Pfarrbibliothek. Beim letzten Gottesdienst des Gemeindepfarrers – er sollte in Pension gehen – fiel dieser tot von der Kanzel. Sie war dabei. Der Pfarrer sagte «Das Wort Gottes war mein Leben» und starb. Das sind natürlich wirklich beeindruckende religiöse Erlebnisse. Wäre mein Pfarrer hingegen während der Predigt gestorben, hätte ich das womöglich überhaupt nicht bemerkt.

Mit meiner Konfirmation endete meine Karriere als Christ. Wir hatten alle schlechtsitzende Anzüge mit Lederschlipsen an. Ich bekam eine Armbanduhr geschenkt und ein in Bronze gegossenes Kreuz mit einem Jesus, der aussah, als ob er nicht nur Nägel in Händen und Füßen hätte, sondern auch noch eine Magenkrankheit. Auch das konnte ich in der protestantischen Kirche nicht nachvollziehen: diesen Hang zur Hässlichkeit.

Gott und ich haben bisher also nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt. Meine Vorfahren aber hatten das ganz anders gehandhabt. Meine Großmutter Gertrud und ihr Bruder Hermann waren zur Nazi-Zeit Mitglieder der Bekennenden Kirche. Das waren Christen, die den Pakt der Kirchen mit den Nationalsozialisten abgelehnt hatten. Der noch viel größere Christ aber war mein Urgroßvater Bruno Gutmann. Er war Anfang des 20. Jahrhunderts sogar Missionar in Afrika, mehr als 30 Jahre hat er als Glaubensstifter bei den Eingeborenen verbracht.

Ich aber lies meine vier Töchter katholisch taufen. Ich wollte nicht verantwortlich dafür sein, an 200 Sonntagen meines Lebens die Kinder auf Kirchenbänke zu scheuchen. Dann sollten sie lieber Katholiken werden, so wäre es Sache meiner Frau und des Papstes. Ich wäre also fein raus.

Leider sieht das die Kirche nicht so. Aber das merke ich erst, als ich der Gemeindereferentin gegenübersitze. Meine Frau hat mich hergeschickt, ich soll unsere Tochter Lotta zur Kommunion anmelden. Die Gemeindereferentin erklärt mir, dass es sehr wichtig sei, dass beide Eltern die Kommunion des Kindes mitbegleiten. Sie schaut mich dabei entschlossen durch ihre eckigen Brillengläser an und sagt, dass das Christentum eine Familiensache sei. Ich nicke und nehme einen Zettel mit Terminen von Familiengottesdiensten mit anschließender Kommunionsschulung entgegen. Die Schulungen sollen jeweils mehrere Stunden dauern. Es wird also nichts aus Knack & Back und Orangensaft am Sonntag. In Berlin ist der Katholizismus im Rückzug, es gibt in der Stadt mittlerweile so viel Muslime wie Katholiken. In unserer Gemeinde empfangen nur eine Handvoll Kinder die heilige Kommunion. Offenbar möchte man die zu Superchristen machen. Mitsamt ihren Eltern. Es ist wohl wie im Islam: In der Diaspora denkt man radikaler.

Als wir an einem Sonntag schließlich zum Familiengottesdienst erscheinen, haben wir Häppchen dabei. Käsespießchen. So war es gewünscht. Wir werden in den kargen Gemeindesaal geführt, dann nehmen wir in einem Stuhlkreis Platz, in dem schon unser Pfarrer wartet. Bevor er nach Berlin kam, hat er in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern Dienst getan, ihn kann nichts mehr erschüttern. Er hat einen gepflegten Bart, ist sehr höflich und spricht eher leise, dafür singt er umso lieber, während er sich auf der Ukulele begleitet.

Wir sollen der Reihe nach sagen, was wir mit dem Wort «Gottesdienst» verbinden. Ein Vater sagt «leidige Pflicht», ein anderer sagt «gähnende Langeweile». Der Pfarrer hält seine Mundwinkel mühevoll freundlich, das scheinen wohl die falschen Antworten zu sein. Ich sage «Gemeinschaft mit Gott». Das ist die richtige Antwort. Die anderen Väter schauen mich an, wie man in der Schule die rückgratlosen Streber angeschaut hat. Mir ist das egal. Jetzt wäre ich auch gerne Katholik, schade, dass man als Protestant von der katholischen Kirche nicht einmal als Mitglied einer Kirche anerkannt wird.

In den folgenden Kommunionsschulungen wird es um die Bedeutung der Sakramente gehen, dann um die Bedeutung der Bibel. Ich fühle mich ein wenig wie in der Christentums-Nachhilfe. Den letzten Familiengottesdienst verpasse ich leider. Meine Frau erzählt mir, der Pfarrer habe die heilige Monstranz präsentiert, einen Schrein, in dem der Leib Christi in Form einer Hostie steckt. Die Monstranz wird bei der Fronleichnamsprozession durch die Gemeinde getragen. Ich habe das allerdings noch nicht in Berlin gesehen. Vielleicht wird sie in Kreuzberg ganz schnell getragen, damit unterwegs nichts wegkommt. Der Pfarrer habe mit bedeutsamer Geste seinen Schal angelegt, dann hätten sich alle an den Händen genommen. Eltern und Kinder seien singend um die Monstranz getanzt. «Ihr habt einen Tanz um eine Hostie herum aufgeführt?», frage ich meine Frau. «Na ja, es war ja die heilige Monstranz. Um die herum haben wir getanzt.» Da bin ich nun doch ganz froh, kein Katholik zu sein. Tanzen kann ich noch schlechter als singen. Und nun wird mir auch wieder bewusst, warum ich mich schon länger nicht mehr bei Gott gemeldet habe.

Allerdings wird er sich schon bald bei mir melden.

 

Meine Mutter ruft bei mir an. Meine Oma ist gestorben. Sie wurde 97 Jahre alt und lebte in einem Altersheim am Rhein. Am Ende hatte sie dazu keine Lust mehr. Sie sagte, sie wolle nun zu Gott, verweigerte das Essen und starb.

Sie war die jüngste Tochter von Bruno Gutmann, dem Missionar. Er war bei ihr praktisch ständig anwesend. Immer wenn ich bei meiner Oma zu Besuch war, schaute er streng mit seinem dünnen Ziegenbart von einer Bleistiftzeichnung über dem Esstisch auf mich herunter.

Ich war meist in den Winterferien bei meiner Oma. Dort, in dem kleinen Dorf Ehingen in Mittelfranken, fiel der Schnee schon Mitte Dezember in dicken Flocken. Meine Oma wohnte am Dorfrand, direkt neben den Feldern, dahinter war der Wald. Manchmal strich der Fuchs umher, man konnte die Rehe sehen und ab und zu die Schüsse der Jäger hören.

Das Frankenland gehört nicht zu den pittoresken Gegenden Bayerns, es ist eher schroff und fad. Dorf, Felder, Wald, Felder, Dorf. Und dann im Winter eben Schnee, Schnee, Schnee. Ich verbrachte die Tage im Garten, stapelte Schneekugeln zu Schneemännern und fragte dann bei meiner Oma nach Kohlen und einer Mohrrübe. Aber sie hatte keine Kohlen. Es gab zwar einen Ofen, aber der wurde mit großen Briketts geheizt. Daraus hätte ich keinem Schneemann Augen machen können. Ich hätte ihm damit höchstens eines auswerfen können. Also half ich mir mit den Kieselsteinen, die auf dem Torweg lagen. Das allerdings war meiner Oma nicht wirklich recht. Sie sagte, die Kieselsteine würden im Frühling überall auf dem Rasen herumliegen und sie müsste sie dann wieder einsammeln. Es war ihr aber auch nicht recht, dass ich dem Schneemann eine Mohrrübennase verpasste, und schon gar nicht, dass ich ihm ihre Wollmütze aufsetzte. Ich maß dem nicht viel Bedeutung bei, denn meiner Oma war oft etwas nicht recht, aber sie verbot es auch nicht, sondern ließ mich mit sanfter Missbilligung gewähren.

Für Ausgelassenheit und Spielerei hatte Oma nicht viel übrig; sie war eher eine Expertin für Verzicht und Askese. Wenn sie kochte, dann stets ein bisschen zu wenig. Nicht viel zu wenig, sondern gerade so viel zu wenig, dass man satt, aber nicht pappsatt wurde. Im der Weihnachtszeit buk sie Plätzchen, aber sie nahm nicht Sternchen und Herzförmchen zum Ausstechen, sondern einen Eierbecher, sodass eine Art Butterplätzchen-Einkaufswagen-Chips entstanden. Sie schmeckten allerdings auch nicht sehr nach Plätzchen, was daran lag, dass meine Oma in ihrem Teig stets ein ganz kleines bisschen zu viel Salz und ein ganz kleines bisschen zu wenig Zucker verwendete. Sie trug fast immer das gleiche Kleid und hatte immer dieselbe Frisur, nämlich keine.

Das Haus meiner Oma allerdings war faszinierend. Dort gab es allerhand aus Afrika. Kram, den man nicht in den Häusern von Omas erwarten würde. Ebenholzschnitzereien, zwei mit Leder bespannte Schilde und die Lehne eines Holzstuhls mit Schnitzereien hingen an der Wand. Geschnitzte Elefantenherden trotteten über das Buffet, auf dem Flügel thronte eine Skulptur, die ineinandergewundene Geisterwesen zeigte. Und dann war da ein langer Speer, gefährlich genug, um ein Kind wie mich zu durchbohren.

Meine Oma war nämlich nicht in diesem Dorf in Mittelfranken geboren, sie kam aus Afrika. Am Fuß des Kilimandscharo war sie zur Welt gekommen. Das fand ich schon als Kind unglaublich. Deswegen war es mir auch egal, dass sie nicht kochen konnte. Was sind schon Schupfnudeln gegen eine Einrichtung, die aussieht, als hätte sie Dr. Livingstone gespendet?

Ihr Vater war ein Mann aus ärmsten Verhältnissen gewesen, der sich davon aber auf seinem Lebensweg nicht hatte aufhalten lassen. Im Jahr 1902 hatte er einen Dampfer bestiegen und sich auf den Weg ins heutige Tansania gemacht, um dort beim Volk der Dschagga eine Kirche zu betreuen, ein Krankenhaus zu errichten und eine christliche Gemeinde aufzubauen. Und eben meine Oma nebst drei weiteren Kindern zu zeugen.

Jedem, der an diesem Esszimmertisch vor einem Teller dünner Suppe saß und in die zürnenden Augen des Mannes auf der Bleistiftzeichnung blickte, war klar: Bruno Gutmann muss ein wahrlich großer Mann gewesen sein. Und dann sprach mein Großvater die Losung des Tages, die er aus einem kleinen blauen Büchlein vorlas, und wir falteten die Hände zum Gebet: «Komm, Herr Jesu, sei Du unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast. Amen.» Am Abend dann trank mein Großvater, ein gemütlicher Herr, der als Archäologe früher ein Museum in Mainz geleitet hatte, seinen Riesling. Und meine Oma sagte: «Ich trinke lieber etwas Gänsewein.» Das war Leitungswasser.

Wenn meine Großeltern bei Feiern eingeladen waren, wo der Wein nur so über die Tische schwappte, verlangte meine Oma nach einem Glas warmer Milch. Das war das höchste der Gefühle. Wenn mein Großvater sich eine Zigarre anzündete und allen das Glas nachschenkte, wenn also ein Hauch von Gemütlichkeit aufkam, räumte meine Oma eilig das Geschirr ab. Müßiggang war nicht ihr Thema. Eher Pflicht, Pflicht, Pflicht. Die Pflicht, sagte sie, ende mit dem Tod. Und was man im Leben gelitten habe, das werde einem im Himmelreich vergolten.

Bruno Gutmann hatte auch in Ehingen gewohnt und seinen Lebensabend in einem kleinen Haus am Kirchplatz verbracht. Auf dem Platz steht schon seit jeher ein Brunnen, ein typischer Dorfbrunnen, aus dem abends die Rinder soffen. Der Brunnen ist allerdings gekrönt von einem komischen Gebilde, das aussieht wie ein liegendes Wagenrad. Es ist der Bruno-Gutmann-Brunnen. Vom Dorfplatz führt ein Sträßchen weg, in Richtung der Weiden. Früher wurde hier das Vieh entlanggetrieben, deshalb war der Weg immer gepflastert mit Kuhfladen: Die Dr.-Gutmann-Straße. An der Dr.-Gutmann-Straße steht auch die protestantische Kirche. Eine schöne Fachwerkkirche mit einem kleinen Friedhof. Auf diesem Friedhof ist ein Grab aus grobem Sandstein. Die Ruhestätte von Bruno Gutmann.

Ich konnte mir als Kind schwer vorstellen, was ein Missionar so machte. Im Gong, dem Fernsehmagazin, das meine Eltern abonniert hatten, waren manchmal Cartoons mit Kannibalen, die hatten immer Knochen im Haar und mächtige Kochlöffel. Und einen großen Kochtopf, der über einem Feuer köchelte. Der Typ im Topf hatte immer einen weißen Bart und einen neckischen Tropenhelm. Das sollte ein Missionar sein. Man konnte sie also essen.

Für meinen Urgroßvater interessierte ich mich eigentlich nur hin und wieder, weil meine Großmutter so tat, als sei er ein Heiliger gewesen. Sie hatte einen Zettel, auf den mein Urgroßvater etwas gekritzelt hatte, gerahmt und an die Wand gehängt: «Der Mensch lebt im Geiste, der Mensch ersteht im Geiste» stand darauf. Dabei war das Wort «im» energisch unterstrichen. Ich konnte mir nie erklären, warum. Was hatte Bruno damit zu betonen versucht? Dass der Mensch IM Geiste lebt? Und nicht etwa «am» Geiste oder gar «unter» dem Geiste? Auch das Wort «ersteht» konnte ich nicht verstehen. Was mochte damit wohl gemeint gewesen sein? «Erstehen» kommt ja bei uns nur in der Bedeutung von Erwerben vor. Oder umschrieben als «Auferstehung». Aber auf beides konnte ich mir keinen Reim machen. Meinte mein Urahn, dass der Mensch geistreich beim Erwerben sei? Oder dass er wiederaufersteht, wenn er versteht? Mein Urgroßvater soll ein besonderes Verhältnis zur deutschen Sprache gehabt und sein ganzes Leben versucht haben, kein amerikanisches Wort zu benutzen. Er nannte seine Schwiegertochter «Schnur», und bei ihm zu Hause wurde zum Braten nicht die Soße gereicht, sondern die «Tunke». Er war angeblich auch Mitglied im deutschen Sprachverein, einer Gesellschaft zur Reinhaltung der deutschen Sprache. Man versuchte, für Amerikanismen deutsche Wörter zu finden; statt Pistole sollte man etwa «Handpuffer» sagen (lustigerweise ist heute die einzige Internetseite, auf der sich das Wort «Hand Puffer» befindet, eine amerikanische, auf der bedruckte Baumwollbeutel verkauft werden).

Für meine Großmutter aber machte alles, was sie an ihrem Vater nicht verstand, ihn nur noch größer, unerreichbarer. Es wurden auch einige Reliquien gehortet, so zum Beispiel eine Holzfigur, die sich Bruno einmal hatte schnitzen lassen. Sie stellt einen alten Mann dar, der auf seinen Schultern ein Schäflein trägt. Begleitet wird er von einem Hund und einem Schafbock. Mein Opa hatte mir erklärt, das sei der Hirte Benedikt aus der Erzählung «Advent im Hochgebirge» des isländischen Schriftstellers Gunnar Gunnarson. Sie handelt von einem alten Hirten, der bei Wintereinbruch im Gebirge nach verlorenen Schafen sucht. Während er durch die Schneefelder stapft, wegen eines plötzlichen Unwetters in Lebensgefahr, hat er etliche Erkenntnisse über das Wesen der Menschen und der Religion: «Es ist die Aufgabe des Menschen, einen Ausweg zu suchen, vielleicht seine einzige», heißt es darin. «Und so wie Benedikt auszog, die verirrten Schafe im Winter zu suchen, zog auch der Vati aus, um die Seelen in Afrika zu retten», sagte meine Oma.

Meine Mutter meinte nur, sie habe sich als Kind immer vor ihrem Opa gefürchtet. Einmal soll er ihr, da war sie vielleicht sechs Jahre alt, gesagt haben: «Du bist ja noch gar kein Mensch.» Es kann also gar nicht so leicht gewesen sein, von diesem Mann überhaupt als menschliches Wesen anerkannt zu werden. Jedes Vergnügen, wie es Kinder umtreibt, soll ihm ein Graus gewesen sein. In seiner Gegenwart wagte man nicht zu lachen oder zu scherzen. Er muss außerdem ein ziemlicher Minimalist gewesen sein, was leibliche Freuden anging. Nur für sein Brot gab er wirklich Geld aus. Es hieß, er kaufte es nicht beim Bäcker, sondern bestellte es. Es kam von der Marke «Das Vorverdaute».

Gutmann liebte Ehingen, das Dörfchen mit etwa zweitausend Einwohnern am Fuße des Hesselberges, der höchsten Erhebung in Mittelfranken. Dass der Hesselberg die höchste Erhebung in Mittelfranken ist, war mir schon bekannt, da wusste ich noch gar nicht, was eine höchste Erhebung ist. Mit meinen Eltern fuhr ich unzählige Male dorthin, stets die Welt vom Rücksitz eines BMW 528i betrachtend. Bei Neustädtlein von der A7 runter Richtung Dinkelsbühl, durch ein Stadttor, auf dem stets ein Storchenpaar nistete, durch Illenschwang, Wittelshofen, dann Ehingen. Irgendwann tauchte der Ort einfach zwischen den Auen auf. Aber schon lange vorher konnte man den Hesselberg sehen, auf seiner Spitze ein hoher Fernsehmast, dessen rote Markierungslichter bis weit ins Land leuchten. Es gab in Ehingen fast nichts Besonderes, nur fränkische Einfirst-Höfe mit ihren Misthaufen und Jauchegruben. Es gab den Bürgermeister Friedrich Bauereisen, der dort mehr als 30 Jahre residierte, er hatte das Amt von seinem Vater übernommen, der es seit dem Krieg innehatte. Es gab den Gasthof Kaiser und den Gasthof zur Sonne, den aber alle nur Gasthof Beck nannten, weil die Wirtin Frau Beck hieß. Für sie war die Gaststube gleichzeitig ihr Wohnzimmer. Die Veteranenvereine hatten dort ihre Gruppenbilder an die holzgetäfelte Wand genagelt, ein paar Pokale standen herum. Über der Theke hing ein Schild: «Gutmann-Bier». Ich habe das natürlich immer meinem Urgroßvater zugeordnet, aber Gutmann ist eine Hefeweizen-Brauerei aus Titting bei Ingolstadt. Bei Becks hatten sie eine hervorragende Hochzeitssuppe, also eine Rindsbrühe mit Eierstich, Semmel- und Leberknödeln. Außerdem gab es Schweinebraten, ebenfalls mit Knödeln. Auf das gute Essen freute sich mein Vater immer schon die ganze Hinfahrt. Es gab auch Salat, wobei der Salat stets aus sauer konserviertem Sellerie und Bohnen aus der Dose bestand. Auch das hielt ich für eine Spezialität von Becks.

 

Als ich das letzte Mal in Ehingen bin, stehe ich am Grab meiner Oma. Es ist frisch aufgehäuft, viele bunte Kränze liegen darauf, einige sind fast fröhlich – mit Sonnenblumen. An einem der Gebinde hängt eine Schleife, auf der auch mein Name steht. «Unserer Oma – Deine Enkel Annette, Tillmann, Benjamin».

Das Haus, in dem ihr Vater gelebt hat, ist nur hundert Meter entfernt. Keine fünf Meter weit liegt seine Grabstätte: ein roter Sandsteinblock, auf dem schmiedeeiserne Buchstaben aufgebracht sind. «Zwischen uns ist Gott» steht darauf und seine Geburts- und Sterbedaten: 4.07.1876–17.12.1966.

Meine Mutter steht etwas gebeugt am Grab, sie steckt noch eine Kerze zwischen die Kränze. Diese Kerze hat sie viele Jahre aufbewahrt und nun zum Grab gelegt; sie muss irgendeine tiefe Bedeutung haben. Mein Vater steht neben meiner Mutter, als wolle er jederzeit bereit sein, sie aufzufangen. Meine Schwester steht neben mir, mit ihrer Nikon, und fotografiert pausenlos. Ich glaube, sie mag Beerdigungen schon der vielen Schwarzweiß-motive wegen. «So ein Begräbnis auf dem Dorf hat doch etwas besonders Schönes», raunt sie. Dicht bei ihr steht Anna, ihre Tochter. Anna ist schon so groß wie ihre Mutter – und so groß wie ich. Sie hat eine vorbildliche Körperhaltung.

Das Bild des Vater, auf dem er mit strengem Blick in die Ferne schaut, hing bis zuletzt über dem Bett meiner Großmutter. Sie war ihm immer sehr nahe, nun liegt sie ein paar Meter neben ihm.

Der Pfarrer spricht beim Trauergottesdienst davon, welche mühevollen Wege meine Oma in ihrem Leben gehen musste und das Ehingen für sie ein Ort der Unbeschwertheit war. Weswegen sie nirgendwo anders wohnen wollte als in Ehingen.

Der Gasthof Beck ist mittlerweile geschlossen, die Kinder wollten den Betrieb nicht weiterführen. In einem anderen Gasthof gibt es als Leichenschmaus Leberwurstbrote mit Gurke. Das letzte Mal war ich in diesem Gasthof bei einer Schlachtschüssel, einem Schlachtfest, bei dem die Bauern im großen Stil zu heißer Leberwurst und Blutwurst und Sauerkraut einluden. Nebenbei deckte sich dabei das ganze Dorf mit Dosenleberwurst ein. Ich war damals 14 Jahre alt, und man schenkte mir wie selbstverständlich Bier ein, sodass ich schon nach kurzem sturzbetrunken war und beim Pinkeln die Rinne nicht mehr traf. Es war ein großer Abend. Nun werde ich vermutlich nie mehr wiederkehren.

Das habe ich schon mal mit Gutmann gemeinsam. Dieses Ehingen war für uns der beste Ort der Welt.

 

Und so hätte alles bleiben können. Wenn meine Mutter mich nicht eines Abends angerufen hätte, um mir zu sagen, dass sie als Grundschullehrerin ja nun pensioniert sei und eine Menge Zeit haben werde. Und sie deswegen nach Afrika reisen wird. Nach Moschi, dem Ort, an dem Bruno Gutmann gewirkt habe. Um endlich einmal das Land zu sehen, von dem ihre Mutter ihr immer erzählt habe. Ich frage sie, ob sie sich denn so eine Reise wirklich zutraue. «Ich fahre ja gar nicht alleine», sagt meine Mutter. «Ihr kommt ja alle mit.»

Briefe aus Tansania

Das stellt sich meine Mutter also so vor: Sie geht auf große Fahrt in die Steppe, und ihre Familie trottet hinterher. Sie will mit unserem Vater, meiner Schwester Annette, deren Tochter Anna und mir fahren. Wie soll das wohl gehen? Ich habe schließlich etwas zu tun. Ich arbeite bei einem Wochenmagazin und bin dort zumindest gefühlt unabkömmlich. Urlaub muss rasiermesserscharf berechnet werden, und ich verbringe ihn normalerweise mit meinen Kindern an einem Strand in Griechenland und nicht mit meinen Eltern im Busch. Ich kann schließlich nicht alles stehen- und liegenlassen, um am Äquator nach den Spuren eines alten Mannes zu suchen. Was habe ich mit dem zu tun? Der war schon lange tot, bevor ich auf die Welt kam. Er hat nie an mich gedacht, warum soll ich jetzt an ihn denken? Ich habe ja nicht einmal irgendein Andenken an ihn.

Mit diesen Gedanke schlurfe ich durch die Wohnung, als mir einfällt: Ich habe ja doch ein Andenken an ihn. Ich habe es mir nur noch nie angeschaut.

Eines seiner Bücher, das «Volksbuch der Wadschagga» von 1913, habe ich im Regal. Ein Buch, das ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg erschienen ist. In meiner Zeitrechnung also vor unglaublich langer Zeit. Meine Oma hat es mir als Kind einmal gegeben. Der Umschlag des Buches sieht großartig aus: Auf dem Buchrücken ist Frakturschrift, das Titelbild zeigt einen Wasserfall im Regenwald, umrankt von Jugendstilornamenten, aus denen wiederum Leopardenköpfe spicken. Das reichte mir als Junge vollkommen. Ich habe das Buch niemals aufgeschlagen. Ich muss etwas länger nach dem Band kramen, er ist in der zweiten Reihe des Regals gelandet, zwischen einem antiquarischen Band über Süßwasseraquarien und einem Biologiebuch, das ich mal in der Schule geklaut habe. Ich blättere hinein.

Das Buch empfängt mich mit einer Widmung: «Ihrer Durchlaucht Prinzessin Luise von Schönhausen-Waldenburg in Ehrerbietung gewidmet», der damaligen sächsischen Monarchin. Wow, denke ich – damals zollte man noch dem König Respekt.

Es beginnt: «Der Kilimandscharo ist ein stimmenreiches Gebirge. Die Kibogletscher krachen. Steinschläge gehen am Mawentsi nieder und manchmal stürzt ein zermürbter Turn herunter, dass die Donner durch die Menschentäler rings um seinen Fuß hallen.

Die Lavablöcke auf der Hochgebirgsheide klingen, umstrudelt von den Wogen des Windes. Die Erikawälder sausen und seufzen in nachtkaltem Sturme, unzählige Singvögel nisten in den Büschen und grüßen jeden jungen Tag mit lichtfrohen Weisen. Aber all’ diese Stimmen: sie tönen und schweigen, sie tönen und schweigen. Nur eine Stimme durchklingt die Täler ohne Ruh: das stürzende Wasser. Erhaben und furchtbar tönt sie im wolkenschweren Tropenwinter, trostvoll sanft in der heißen, erdzerbröselnden Zeit.»

Schon ist mir, als stünde ich in einem Erikawald. Mir fällt ein, dass das Bild, das ich von meiner Oma geerbt habe, ebenfalls aus dem Haushalt von Bruno Gutmann stammen muss. Es zeigt eine Fichte. Eine sehr große Fichte. Man kann fast hören, wie der Wind in ihren Ästen rauscht. Unter ihren Zweigen ist es duster, der Baum ist Teil eines mächtigen Waldes. Das Bild hat mich als Kind immer sehr beeindruckt. Hätte Goya Bäume gemalt, sie hätten wohl so ausgesehen. Allerdings stammt das Bild von einem Malermeister aus Ehingen. Er konnte eben nicht nur Fassaden weißeln, sondern auch Kunstwerke anfertigen.

 

Was weiß ich überhaupt über Bruno Gutmann? Ich mache das, was jeder Mann heute tut, wenn ihn seine Unwissenheit zu sehr peinigt, wenn er ahnt, dass da draußen Wissensschätze warten, die er noch nicht erschlossen hat, die ihn herausfordern: Ich schaue bei Wikipedia nach. Und tatsächlich: Mein Urgroßvater hat einen Eintrag. Wie hat er das gemacht, frage ich mich.

«Bruno Gutmann (*4. Juli 1876 in Dresden; †17. Dezember 1966 in Ehingen am Hesselberg (Mittelfranken) war ein Missionar der Leipziger Mission in Tansania.»

Und:

«Gutmann gilt als einer der stärksten Verteidiger der Chagga-Kultur gegenüber den Einflüssen der europäischen Zivilisation v.a. durch die Kolonialmächte.» Mit großem Einsatz habe er versucht, das Christentum mit der traditionellen Eingeborenen-kultur zu verbinden.

Gerade bin ich dabei, den Eintrag zu lesen, da ploppt eine E-Mail meiner Mutter auf. Meine Mutter ist sehr vertraut mit dem Internet. Sie bestellt Bücher bei Amazon, liest sie in wenigen Tagen und verkauft sie wieder über Amazon. Sie hat ihren gesamten Hausrat bei eBay ersteigert. Und sicher wird sie ihn eines Tages dort auch wieder versteigern. Bestimmt twittert sie auch.

Ich bin allerdings überrascht, als ich sehe, dass es gar keine Mail meiner Mutter ist, sondern eine meines Urgroßvaters. Meine Mutter hat die Handschrift ihres Großvaters abgetippt. Es ist ein Brief an seine beiden Söhne, die in Pflegefamilien in Mittelfranken untergebracht waren, während er und seine Frau Elisabeth am Kilimandscharo missionierten.

Meine lieben Buben!

Heute müsst Ihr mit einem gemeinsamen Brief zufrieden sein, die Zeit leidet nicht mehr. Seid froh, dass Ihr Eure Ferien nicht hier verlebt, sonst müsstet Ihr mit wachen helfen. Als ich gestern nach Schira hinkam und in ein Gewitter ging, fand ich den ganz jungen Mais schon aufgefressen, die ganz jungen Kolben haben ja eine besondere Süße.

Da haben die Meerkatzen den Sonntagsfrieden auf der Station genutzt und sich daran gütlich getan.

Vor acht Tagen musste ich sie ja aus dem Kaffee verjagen. Nun, das Jagen würde Euch sicher Spaß machen – aber auch das frühe Aufstehen?

Doch ich denke, Ihr seid jetzt in dem Alter, wo man den frühen Morgen zu würdigen wissen soll, sei es zum Lernen, fürs Wandern, zur Selbstbesinnung, zur Hingabe an Gott im Gebet.

Heute kommen meine Lehrer wieder zur Instruktionsstunde. Samstags kommen sie zur Vorbereitung auf die sonntägliche Verkündigung in den Bezirkskapellen zu mir. Aber sie brauchen auch Hilfe für den Unterricht. Jetzt sind wir bei den Grundlagen des Rechnens. Da habe ich ihnen erst einmal das Wesen der Ziffern und das Geheimnis darin klargemacht. Diese Ziffern 1234567890 nennt man gewöhnlich arabische Ziffern. Aber die Araber haben sie nicht erfunden, sondern sie von den Indern übernommen. Und die Inder haben die Grundzüge dieser Ziffern höchstwahrscheinlich aus dem Norden mitgebracht, von wo sie ja nach Indien einwanderten …

Fortan erzählt mein Urgroßvater, dass das Geheimnis der Zahlen die Ziffer «2» sei. Die Eins werde überall auf der Welt mit einem Strich oder durch eine Kerbe dargestellt. Bei der zwei aber teile sich der Weg in Abzählen oder Mathematik. Die Römer hätten einfach einen weiteren Strich daneben gemacht – und überhaupt zwischen eins und zehn nur die fünf als Zahl erfunden. Deshalb hätten die Römer zwar mächtige Zahlenreihen in ihre Denkmäler gemeißelt, aber seien nicht fähig gewesen, mit ihren Zahlen zu rechnen. «Sie waren nicht fähig vorauszudenken, passten sich den Schwierigkeiten zu rasch an, weil sie niemals umkehren wollten.» An den römischen Zahlen zeige sich die «die Armseligkeit eines hilflos von den sichtbaren Dingen abhängigen Denkens».

Bruno schließt:

«Gottes Schutz und Segen über Euch!

In herzlicher Liebe Euer Vater»

Wow. Schira, Meerkatzen, Römer. In nur einem Brief hat mein Urahn nicht nur die Affen vertrieben, sondern ist gleich quer durch die Geschichte geritten und hat daraus gleich noch eine moralische Botschaft abgeleitet: Man solle sich nicht an das halten, was man sehe, sondern an das Geistige. Ein Duktus, der mich fast umhaut. Mein Urgroßvater scheint ein Mann gewesen zu sein, der keinen Zweifel kannte und sogar die Römer zu belehren vermochte. Ich schreibe meiner Mutter zurück, ob ich das Original des Briefes haben könnte. Sie antwortet mir, das könne ich ohnehin nicht lesen, es sei ja in Sütterlin-Schrift. Oje, tatsächlich. In Sütterlin könnte ich kein einziges Wort lesen. Da rühmt man sich seiner bürgerlichen Bildung – und wäre vor hundert Jahren ein Analphabet gewesen.

Meine Mutter schreibt, sie hätte noch mehr als hundert Briefe. Alles Briefe von Gutmann und seiner Frau an seine Kinder. An Hermann, Gottfried, Ilse und Gertrud, meine Oma. Sie sind aus dem Nachlass meiner Großmutter. Meine Mutter will sie alle abschreiben. Sie habe nun ja Zeit, jetzt, da sie in Rente sei. Die Briefe, schreibt sie, stammten alle aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg wurde natürlich auch in den Kolonien geführt, und nachdem die Briten sich in Deutsch-Ostafrika durchgesetzt hatten, verwiesen sie alle Missionare des Landes. Erst 1925 durfte Gutmann mit seiner Frau zurückkehren. Sie gingen zunächst nicht nach Moschi, sondern nach Masama, das westlich von Moschi am Kilimandscharo liegt. In Moschi waren zu der Zeit noch amerikanische Missionare am Werk. Die vier Kinder hatte das Missionarspaar in Deutschland zurückgelassen. Das war damals üblich, schließlich glaubte man, den Kindern im Busch keine bürgerliche Bildung angedeihen lassen zu können. Man brachte sie bei Pfarrersfamilien in Franken unter, Jungen und Mädchen getrennt. Die Briefe, die meine Mutter hat, umfassen die Zeit in Masama bis zur Rückkehr nach Moschi, wo Bruno Gutmann bis zur Verbannung gearbeitet hatte. Es sind drei Jahre in Briefen, sie waren der einzige Kontakt, den die Eheleute Gutmann zu ihren Kindern hatten. Ein Brief brauchte etwa vier Wochen von Afrika nach Europa. Um auf eine Frage eine Antwort zu erhalten, musste man also zwei Monate warten. Unvorstellbar in heutigen Zeiten, wo es schon als Zumutung gilt, wenn man auf eine E-Mail nicht binnen zwei Tagen reagiert.

Ich entdecke auch etwas über Bruno Gutmann im Internet auf der Seite des Missionswerks Leipzig. Ich wusste nicht einmal, dass es noch eine Mission gibt. Sind immer noch Missionare in aller Welt unterwegs, um Menschen das Christentum zu lehren? Bruno Gutmann hat einen Eintrag in der Hall of Fame der Missionsseite. Es gibt sogar Bilder von ihm im Netz. Ein Foto von ihm als jungem Mann – mit einer Art Hipster-Bart entschlossen in die Ferne blickend. Es fehlt nur noch ein eigener Facebook-Account. Bei Amazon stoße ich sogar auf Bücher ÜBER Bruno Gutmann. Einige auf Englisch. Es beschämt mich ein bisschen, dass offenbar eine Menge Menschen etwas über meinen Urgroßvater wissen, ich selbst allerdings nicht. Ich lese bei Wikipedia, dass er selbst mehr als 20 Bücher geschrieben hat, darunter kleine Bändchen, aber auch solche mit einem Umfang von mehr als 600 Seiten. Ich kann mir kaum vorstellen, wie man das bewerkstelligen konnte, wenn man nicht einmal eine elektrische Schreibmaschine zur Verfügung hatte. Sein Bestseller war «Dichten und Denken der Dschagga-Neger». Aktueller Amazon-Rang: 4217957.

 

Was weiß ich schon? Ich bin jemand, der sich wie selbstverständlich dafür interessiert, welche Frisur Justin Bieber hatte, als er wegen Drogenkonsums verhaftet wurde, oder wie das aktuelle Wetter in Phnom Penh ist. Ich hänge meine Nase gerne in den Datenwind, um zu erfahren, welche Impressionen von nebligen Landschaften aus fahrenden Zügen heraus meine Bekannten auf Instagram gerade veröffentlichen. Ich lasse Wissen wie eine lauwarme Dusche auf mein Gehirn plätschern. Und anschließend vergurgelt es im Abfluss des Vergessens. So einer bin ich. Aber jenseits meines akuten Aufmerksamkeitshorizontes wird es blass. Solche grundlegenden Sachen, wie etwa eine Ahnung davon, woher meine Familie stammt, wo die eigenen Wurzeln liegen – sorry, dazu gibt es aktuell keinen Hashtag. Ich weiß, wenn irgendwo in meinem Kiez ein neues Restaurant aufmacht oder ein Laden, in dem man Vintage-Möbel kaufen kann. Ich glaube wissen zu müssen, wer irgendwo in New York einen Film empfohlen hat oder ob ein neues Coffee-Table-Magazin erschienen ist. Mein Facebook-Account ist ein ganz guter Indikator dafür, was mich gerade zu interessieren hat. Und was genauso schnell wieder uninteressant wird. Nichts, was in der Timeline steht, ist am nächsten Tag noch von Belang. Meine ganze Welt besteht nur aus jetzt, jetzt, jetzt. Alle diese Reize scheinen mich zu formen. Sie erschaffen mich ständig neu, stelle ich mir vor. Das ist alles wahnsinnig relevant.

Doch über Dinge, die in meiner eigenen Familie in der Generation meiner Urgroßeltern passiert sind, weiß ich nichts. Es scheint mich nicht zu betreffen. Jetzt aber, da meine Mutter mich auf eine Reise in die Vergangenheit schicken will, sollte ich mich aber doch einmal dafür interessieren.

Ich blättere in einer Chronik, die ich mal im Bücherregal meiner Eltern gefunden hatte. Es ist die Geschichte des Dorfes Ehingen. Ich habe sie mir ausgeliehen, weil mein Großvater, der Archäologe, darin einen Text über Gräberfelder in Mittelfranken geschrieben hat. Es ist aber auch ein langer Artikel über Bruno Gutmann darin. Er ist schließlich der bekannteste Ehinger.

Darin steht: Die Vorfahren von Bruno Gutmann kommen aus dem Erzgebirge. Seine Mutter stammt aus einer Bauernfamilie, sein Vater ist Handwerker. Die Familie lässt sich um 1860 herum in Dresden nieder. Brunos Vater plant, der Familie mit dem Bau eines Hauses eine Existenzgrundlage zu verschaffen. Die Mieteinnahmen sollen sie aus der täglichen Mühsal befreien. Vom Erbe kauft er ein Grundstück bei Trachau, ein Landstrich nordöstlich der Neustadt, und baut dort ein Haus. Es ist aber ein schlechter Plan. Der Bau lässt sich weder vermieten noch veräußern. Die Gegend ist zu weit weg von der Stadt. Heute ist es ein Viertel für Wohlhabende, eine Villengegend. Brunos Vater hat also Ende des 19. Jahrhunderts den richtigen Riecher, nur leider 130 Jahre zu früh. So hat die Familie nun eine fußkalte Schrottimmobilie zwischen Feldern am Hals. Sie muss selbst in das Haus einziehen. Die Mutter verdingt sich in der Stadt, sie kommt erst spät nach Hause. Bruno sitzt bis in die Nacht am Fenster in der Stube und schaut hinaus, auf die Heimkehr der Mutter wartend, die irgendwann zwischen den verschneiten Feldern auftauchen würde. So wird es aus seinen Kindheitserinnerungen zitiert. Der Schnee wirft das reflektierte Mondlicht in die Stube, und Bruno erschreckt sich unglaublich vor seinem eigenen Schatten an der Wand. Er rennt davon, überzeugt, der Schattenmann werde ihm folgen. Und das tut er auch tatsächlich. Er folgt ihm das ganze Leben lang.

Es ist ein hartes Leben. Aber es gibt auch große Freude: Weihnachten. Bruno Gutmann schreibt einmal: «Meine erste Kindheitserinnerung ist Weihnachten. Ein Reiterlein als Pfefferkuchen am Fichtenbaum hängend. Ich konnte mich nicht entschließen, es zu essen, so hing mein Herz daran. Ich bewahrte es im Schubfach des Schrankes auf, bis es die Mutter von Mäusen zerbröselt fand. Dies war mein erster seelischer Schmerz, von dem ich weiß.»

Es wird bald schlimmer, ziemlich schlimm. Brunos Mutter erkrankt schwer. Ihre Eltern geben ihren Hof im Erzgebirge in Bobritsch unweit von Freiberg auf und ziehen nach Trachau.Sie können der jungen Frau nicht mehr helfen. Sie stirbt, als ihr Sohn sechs Jahre alt ist.

 

Tödliche Infektionskrankheiten sind im 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitet. Die Behandlungsmethoden sind überschaubar. Zwar werden schon Therapien gegen Milzbrand, Diphtherie, Tuberkulose, Lepra, Pest, Syphilis, Gonorrhö entwickelt, aber am unteren Rand der Gesellschaft sterben die Menschen an Tuberkulose. Es wird so viel gestorben, dass die durchschnittliche Lebenserwartung 1875 bei Männern 35 Jahre und bei Frauen 38 Jahre beträgt. Man lebt damals in den unteren Schichten erbarmungswürdig. In vielen Gegenden gibt es nur einen Brunnen auf dem Hof, von dem trinken Vieh und Mensch, es sickert dort auch der Dung und das Abwasser ein. Man trinkt also ein Wasser-Exkremente-Gemisch. Von dort, vom unteren Ende der Gesellschaft, kommt mein Urgroßvater. Dort sind also meine Wurzeln.

In der Stadt Dresden gibt es damals Arbeit, aber der Witwer verdient wenig. Die Großeltern führen den Haushalt. Die Not ist so groß, dass Sohn Bruno in der Fabrik arbeiten muss, im Alter von elf Jahren. Die Industrialisierung ist in vollem Gange. Der Einfluss der Monarchen schwindet. Es werden in der Stadt nicht mehr vornehmlich handwerkliche Luxusgüter für den Hof hergestellt, sondern immer mehr Konsumartikel. Die Fabrikhallen mit ihren schwarzen Schloten stechen überall hervor: Die Zuckersiederei des Heinrich Calberla, das Gaswerk, die Kaffee- und Schokoladenfabrik Jordan & Timaeus, die Maschinenbau-Aktiengesellschaft des Andreas Schubert. In der Fertigung damaliger Fabriken sind Maschinen am Werk – und oft auch viele kleine Hände, wie die von Bruno. Der Lohn beträgt umgerechnet wenige Euro im Monat, er liefert ihn bei seiner Großmutter ab. Das Sterben geht dabei weiter. Brunos Lieblingsonkel Alvin begeht Selbstmord. Er hatte sich mit einer Witwe verlobt, seine Eltern waren dagegen. Die Großeltern erzählen Bruno, Alvin sei nach Amerika ausgewandert.

Die Gegenwelt zu all diesem Schlechten ist die Schule. Bruno ist der Klassenbeste. In der Schule werden nicht nur seine Hände gefragt, sondern auch sein Kopf. Und dann ist da noch Gott. Brunos Großmutter ist ein sehr frommer Mensch, und so erzieht sie den Enkel. Mein Urgroßvater hat also als Elfjähriger schon Ausbeutung, Elend, Krankheit, Tod und Gott erfahren. Und das Leben ist noch gar nicht richtig losgegangen.

 

Ich habe nur diese paar Zeilen in der Dorfchronik gelesen, fühle mich aber, als hätte mich ein Schwall kaltes Wasser getroffen. Solche Geschichten kennt man aus Romanen von Charles Dickens oder aus Fernsehserien, in denen Veronica Ferres die Hauptrolle spielt. Ich ahnte nicht, dass das auch meine eigene Familie betraf. Aber auch das zeigt nur meine Geschichtsblindheit: Was habe ich denn erwartet, wie meine Herkunft sein würde? Fürstlich? Wahrscheinlich stammen die allermeisten Menschen in Deutschland von Bauern, Handwerkern und kleinen Kaufleuten ab. Menschen, die eben später etwas aus ihrem Leben gemacht haben.

So wie mein Urgroßvater. Jeder hat etwas, das er besonders gut kann. Bei meinem Uropa ist es das Schreiben. Er kann schön schreiben, und dies ist zu seiner Zeit etwas wert: Er beginnt mit 14 Jahren eine Lehre in der kommunalen Verwaltung in Pieschen bei Dresden und wird dort bald als Protokollant eingesetzt. Dann tritt er dem Christlichen Verein Junger Männer bei. In den Männerrunden dort bekommt er eine für ihn großartige Perspektive eröffnet: ganz weit weg. Nach Ostafrika in die deutschen Kolonien. Als protestantischer Missionar.

Mein Urgroßvater hasst die Stadt und den Dreck, und er weiß gleichzeitig, dass nur noch in diesen Städten eine Zukunft zu finden ist. Mit diesem Land, das da heranwächst, will er nichts zu tun haben. Er will weg. Und dank der Mission ist diese Flucht keine Phantasie, sondern greifbar.

Das Fernweh verbindet ihn wiederum mit so manchem seiner Zeitgenossen: den armen Teufeln, den gebeutelten Kleinbürgern, die auf ein schöneres Leben in anderen Breiten hoffen. Schließlich werden die deutschen Kolonien damals besonders als neuer Lebensraum für benachteiligte Schichten propagiert. Auszuwandern ist keine Beschäftigung der Elite, sondern der unteren Schichten. Und somit sind auch die Missionare dieser Zeit oft keine Intellektuellen, sondern junge, streng religiöse Männer, denen das Leben nichts zu bieten hat außer Gott.

Meine Urgroßmutter soll mal gesagt haben, dass Bruno ein Mann mit solcher Würde gewesen sei, dass er sogar beim Kotzen elegant ausgesehen habe. Es ist erstaunlich, dass so jemand aus einer Familie kam, in der es kaum genug gab, um zu überleben. Wahrscheinlich muss der junge Bruno Gutmann damals all seine Würde zusammenkratzen, die ihm noch gelassen wurde.

 

Und was habe ich damit zu tun? Im Erzgebirge, der Wiege meiner Vorfahren, war ich zum ersten Mal im Jahr 2002, als ich als Reporter Hochwasserschäden dokumentierte. Mir kam es damals vor, als bestünde das Gebiet nur aus Schlamm und Geröll. Schließlich waren vor meiner Ankunft Gebirgsbäche zu vernichtenden Strömen geworden. Später war ich mal im Städtchen Glashütte, um eine Uhrenmanufaktur zu besichtigen. Da war es dort schon wieder aufgeräumt und geputzt – ich hatte trotzdem nicht das Gefühl, dass ich viel mit diesem Landstrich zu tun hätte.

Aber eine Sache fällt mir doch ein, die mich mit dem Erzgebirge verbindet. Diese ganzen Schnitzereien. Und die Weihnachtspyramiden und Nussknacker. Bei meinen Eltern stand immer eine Menge davon in der Adventszeit herum. Eine dreistöckige kerzengetriebene Pyramide, in der die Heiligen Drei Könige im Eiltempo an der Heiligen Familie vorbeizogen, ein Kamel im Schlepptau, daran erinnere ich mich genau. Ein Stockwerk höher rotierten die Hirten mit ihren geschnitzten Schafen. Und ganz oben stießen Engel in ihre Hörner. Meiner Mutter war diese Pyramide heilig. Und mir natürlich auch. «Die ist aus dem Erzgebirge!», sagte sie immer, und es klang nach einem besonderen Ort. Und dann war da noch die Weihnachtskrippe mit den vielen Schafen, Hirten, Engeln und anderen Tieren. Alle standen in frischem Moos, das meine Eltern kurz zuvor im Wald gestochen hatten. Die Krippenkultur, sagten meine Eltern, komme aus dem Erzgebirge. Und mein Urgroßvater war berüchtigt dafür, wie sehr er seine Krippe pflegte. Diese Liebe behielt er sein ganzes Leben lang.

Meine Mutter barg einmal einen Karton vom Speicher meiner Großeltern. Er war voll mit Engeln aus dem Besitz meines Urgroßvaters. Es waren golden geflügelte Tonfiguren, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und mit Lauten, Harfen und Gesangbüchern ausgestattet. Die Figuren waren zum Teil angeschlagen, es fehlten ihnen Flügel, Beine, Arme. Die Farben waren verblichen. Ich erinnere mich noch, wie meine Schwester und ich sich ihrer annahmen. Ich versuchte, ihnen aus Ton neue Glieder zu machen, meine Schwester bemalte sie. Damals war leider «Hautfarbe» in Malkästen noch nicht üblich. Deswegen hatten die Engel danach rosa Gesichter wie Miss Piggy, und ihre neuen Glieder waren so klobig, als seien ihnen Monsterarme wie dem «Hulk» gewachsen.

Aber auch ich pflege zu Weihnachten die Krippe sehr. Ich streife im Dezember durch die Baubrachen Berlins am ehemaligen Mauerstreifen entlang, um etwas Moos (meist mit Glassplittern und Kronkorken gemischt) für unsere Krippe zu finden. Vielleicht steckt in mir auch ein Erzgebirgler. Wenn ich daran denke, fühle ich mich dann doch ein bisschen als Urenkel meines Urgroßvaters. Und ein bisschen auf der Reise zu ihm.

Nirgendwo in Afrika

Mein Vater hat ein gutes Gemüt. Er würde nie so etwas sagen wie: Das geht nicht. Mein Vater kann nicht nur missliche Dinge ertragen, er kann ihnen sogar stets etwas Positives abgewinnen. Er sagt: Nichts ist so schlecht, als dass es nur schlecht ist. Einmal hatte meine Mutter das Weihnachtsmenü von Siebeck nachgekocht. Beim Nachtisch, dem Zitronensorbet, hatte sie allerdings den Zucker vergessen. Das Sorbet war so sauer, dass man es als militärischen Kampfstoff hätte listen müssen. Während wir Kinder betäubt unter den Tisch kugelten, löffelte mein Vater stoisch weiter und meinte dann: «Das Gute an diesem Sorbet ist, dass man davon gar nicht so viel essen muss.» So gutmütig ist mein Vater.

Und jetzt sitzt er kerzengerade auf seinem Sofa, mit einem Zug um den Mund, als hätte er gerade eine weitere Portion von Mutters Zitronensorbet gegessen, und sagt: «Das geht nicht. Das geht doch nicht. Afrika. Wie stellst du dir das denn vor!»

Er ist von der Idee seiner Frau kein bisschen begeistert. Wir sitzen im Wohnzimmer meiner Eltern, es ist der Geburtstag meiner Mutter. Wir haben zusammen Ente mit Rotkohl gegessen. Mein Vater hat einen Riesling aus dem Keller geholt, er mag gerne Spätlesen, die haben Restsüße, deswegen leider weniger Alkohol, und man muss mehr davon trinken. Es gibt im Wohnzimmer eine feste Sitzordnung. Vater im Schaukelstuhl (meine Eltern sind die letzten Menschen der Welt, die einen Schaukelstuhl besitzen), Mutter auf dem roten Ledersofa, ich im angeschrammten Biedermeiersessel. Die Katzen meiner Eltern haben daran ihre Krallen gewetzt, die Katzen meiner Eltern dürfen alles. Hätte ich als Jugendlicher meine Krallen am antiken Mobiliar geschärft, hätten meine Eltern mich ins Internat gesteckt. Bei den Katzen aber finden sie das süß. Normalerweise wäre meine Schwester noch dabei, die auf einem Schaffell auf dem Boden hocken würde. Aber Annette musste heute nach Zürich, und mein Bruder wohnt seit Jahren in Kambodscha. Die beiden Katzen hängen sich über die Sofalehne, als wollten sie meine Geschwister ersetzen.

«Afrika, was soll ich denn da?», sagt mein Vater. Er ist pensionierter Zahnarzt.

Kein Zahnarzt, der Menschen Implantate und Schönheits-Bleachings verpasst hätte. Seine Praxis war in einem Teil der Stadt, in dem die Privatpatientenquote gen null geht, die Arbeitslosenquote aber hoch ist. Mein Vater hat etliche Gebisse geflickt, die nach Kneipenschlägereien in ihre Einzelteile zerlegt waren. Und solche, die noch nie Berührung mit einer Zahnbürste hatten. Er hat genug kaputte Sachen gesehen. Und dass Afrika nicht viel mehr zu bieten hat, daran hat er keine Zweifel. «Moschi – das ist doch keine Stadt, das ist eine Ansammlung von Blechhütten, warum sollen wir um die halbe Welt reisen, um uns Blechhütten anzugucken?»

Mein Vater hat als Junge seine Umwelt per Tretroller erforscht. Und irgendwie ist es heute noch so. Jedes Reiseziel, das in Tretroller-Distanz ist, ist ihm sehr recht. Alles andere geht ihn nichts an, glaubt er. Dort, wo die Menschen arm sind, hat er nichts zu suchen. Er kommt selber aus einer armen Familie. Er hat eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert, später hat er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgemacht und Medizin studiert. Mein Vater braucht keinen Bildungsbürger-Tourismus in die Dritte Welt. Er weiß selbst ganz gut, wie es ist, wenig zu haben. Weltgewandte Studiosus-Reisende, die gerne die Armut der Welt besichtigen, um zu erkennen, wie viel besser gelaunt die Menschen sind, wenn sie nicht über Besitz nachdenken müssen, sind ihm ein Graus. Er hat eine konservative Meinung über Urlaub. Urlaub ist zur Erholung da. Zur Erholung fährt man vielleicht nach Schweden, Italien, auch nach Irland. Vielleicht kann man auch nach Masuren reisen. Aber nicht nach Afrika. In Afrika erholt man sich nicht, man fängt sich höchstens schwere Krankheiten ein, wird von den Menschen ganz zu Recht ausgeraubt und bekommt eine Machete in den Schädel. Dass Afrikaner in Nussschalen über das Mittelmeer setzen, um bei uns zu leben, kann er nachvollziehen, dass man sich in umgekehrter Richtung auf nach Afrika macht, ist ihm nicht erklärlich. Und Elefanten, meint er, kann man auch im Zoo angucken. Genau einmal im Leben war er mit uns im Zoo, im Opel-Zoo im Taunus, da hat er Elefanten angeguckt. Damit hatte er eigentlich alles gesehen, was ihn an Afrika interessieren könnte.

Aber er ahnt, dass er gegen den Wunsch meiner Mutter keine große Chance hat. Meine Mutter hat eine unschlagbare Art, ihren Willen durchzusetzen. Sie kann so lange auf einem Standpunkt beharren, bis der Rest der Welt ihn auch annimmt. Meine Mutter ist eine kleine Frau, aber sie hat unglaublich viel Energie. Ich sage, dass Afrika ja vielleicht gar nicht so kaputt ist, wie man sich das aus der Ferne vorstellt. Und Tansania ja auch nicht Somalia ist. Und ich ja auch ein bisschen beim Reisen helfen könne. Ich selbst spüre, wie meine Opposition wegschmilzt. Mit den pensionierten Eltern durch die Savanne. Warum nicht. Und auch mein Vater ahnt – am Riesling nippend –, dass die Reise schon begonnen hat. Die Katzen stehen auf, strecken sich und schnüren Richtung Schlafzimmer. Das ist das Signal, ins Bett zu gehen.

Ein paar Tage später fällt mir eine E-Mail auf, die meine Schwester mir offenbar heute geschickt hat. Sie trägt den Betreff «Momella!»: «Guck mal, Bruder, das ist die Lodge, auf der der Film Hatari! gedreht wurde, da war John Wayne, und die hat später dem Schauspieler Hardy Krüger gehört!»

Meine Schwester ist großer Hardy-Krüger-Fan, ich glaube, seit sie in Hamburg einmal an der Supermarktkasse hinter ihm stand. Die Momella-Lodge ist im Nationalpark von Aruscha. Von dort kann man den Kilimandscharo am Horizont sehen. Es ist ein Link zu einem Reiseforum in der E-Mail, da haben Besucher ihre Eindrücke hinterlassen. «A spooky place», berichtet einer. Über die Betten würden Spinnen krabbeln, es gebe kein warmes Wasser und nachts würde das Personal zwischen den Häusern herumlaufen und versuchen, die Giftschlangen totzuschlagen. «Wenn man nur eine Nacht bleibt, sind die Überlebenschancen gut», meint einer, gibt aber volle Sternchenzahl für das Preis-Leistungs-Verhältnis, immerhin. Das schreckt mich – aber nicht meine Schwester: «Da will ich hin», schließt die E-Mail meiner Schwester.

In Hatari! geht es um eine wildromantische Liebesgeschichte auf einer Großwildfangstation, wo Tiere für Zoos und Zirkusse gefangen werden. In ihrer Vorstellung sitzt meine Schwester bestimmt schon in einem Landrover Defender, der sich durch den roten Sand wühlt, einer Herde von Giraffen hinterher, an ihrer Seite John Wayne.

Aber aus dem Rendezvous mit Wayne wird nichts. Meine Mutter hat nämlich schon Zimmer reserviert. In Moschi, am Fuße des Kilimandscharo-Massivs. Ein Ort, wo sich normalerweise Alpinisten treffen, um von dort aus zum Berg zu starten. Wir starten von dort aus zu Gott. Die Zimmer sind im Uhuru-Hotel, wie sie sagt: Empfehlung aus dem Internet. Das muss ja gut sein. Zwei Doppelzimmer, ein Einzelzimmer. Das Einzelzimmer ist für mich, hoffe ich. Ich setze mich an den Computer und tippe Uhuru ein. «Uhuru-Peak: Höchster Gipfel des Kibo im Kilimandscharo-Massiv, damit höchster Punkt Afrikas.» Was man heute Uhuru nennt, hat man zu Zeiten meines Urgroßvaters als «Kaiser-Wilhelm-Spitze» gekannt.

Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie man in Afrika Urlaub macht. Ich vermutete immer, man habe die Wahl zwischen Pauschaltouristenbunkern an der Küste und Nobel-Lodges in den Safari-Parks. Aber wenn man die Spuren eines Missionars sucht, gibt es wahrscheinlich keinen Badestrand in der Nähe und vielleicht auch keinen Sundowner auf der Veranda, oder? Ich finde das Hotel im Internet, es hat eine eigene Homepage. Das beruhigt mich. Etwas, das es im Internet gibt, ist Teil der Zivilisation, stelle ich mir vor. Im Internet sieht das Hotel sehr ordentlich und professionell aus. Rotbraun verputzte Bungalows und eine sauber gemähte Wiese mit Palmenbeeten. Es gibt Dinner in einem Bambus-Pavillon – fast wirkt es wie ein Ressorthotel auf Capri. Die Anspannung in meinem Magen löst sich und macht einem leichten Urlaubsgefühl Platz. Ich sehe mich schon am Frühstücksbuffet ein Omelett mit Pilzen, Tomaten und extra Käse bestellen. Vielleicht gibt es sogar einen Pool, den sie nur nicht auf den Bildern zeigen, oder einen Wellness-Bereich mit Jacuzzi? Dann lese ich zu meinem Schrecken: «A hotel of the Lutheranian Mission». Und zu meinem noch größeren Schrecken: «No alcohol is served». Ich starre auf die Zeilen, als ob sie davon verschwinden könnten. Das ist also meine erste Berührung mit dem lebendigen Erbe meines Urahns. Er setzt mich trocken. Bruno Gutmann verabscheute den Rausch, er nannte Bars «Hofplätze des Teufels».