Weiß der Himmel ...? - Tillmann Prüfer - E-Book

Weiß der Himmel ...? E-Book

Tillmann Prüfer

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Beschreibung

»Bis vor Kurzem kam mein Leben sehr gut ohne Gott aus.« (Tillmann Prüfer)

Tillmann Prüfer ist ein renommierter ZEIT-Journalist, der sich in diesem Buch mit den Themen Leben, Sterben, Tod und Sinn auseinandersetzt. Eine schwierige Lebensphase mit Krankheit und Sterben eines Freundes veranlasst den überzeugten Agnostiker, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Grundfeste seines bisherigen Lebens geraten ins Wanken, er stellt in Frage, lernt zu beten, wird zum regelmäßigen Kirchgänger und reflektiert seine Gedanken schließlich in einem Kloster ...
»Urplötzlich bin ich in eine Situation geraten, in der ich Glaube und Zuversicht dringend nötig habe.« Dieses Buch schildert die glaubwürdige Suche des Autors.

  • Persönliche Erfahrungen eines ZEIT-Journalisten
  • Neue Ausfahrt: Glaube
  • Überraschendes zu Leben, Tod und Sinn

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Seitenzahl: 315

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Tillmann Prüfer

Weiß derHimmel ...?

Wie ich über die Fragenach Leben und Tod stolperteund plötzlich in der Kirche saß

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: pixabay.com

ISBN 978-3-641-22764-7V002

www.gtvh.de

INHALT

1 MEIN FREUND

2 DIE FEIER

3 DIE KIRCHE

4 MEIN GOTT

5 DIE TRAUER

6 INS KLOSTER

7 IN NEUMARKT

8 DIE BRÜDER

9 HEILIGES HOLZ

10 ICH CHRIST?

11 DIE GEMEINDE

12 HEILIGES LAND

13 ICH PILGER

14 ABRAHAMS GRAB

15 DIE ZWEIFEL

16 DIE REDE

17 DAS GRAB

18 DIE TAUFE

19 ZEHN ARGUMENTE

20 IN BREMEN

1 MEIN FREUND

Leben.

Das denke ich, während ich vom Krankenhaus zur U-Bahn gehe. Die kalte Winterluft in meinen Lungen, der Boden unter mir gefroren, ich muss darauf achten, nicht hinzufallen, einen Schritt behutsam vor den nächsten zu setzen. Das ist Leben.

Gerade habe ich mich von meinem Freund verabschiedet, ich habe ihn auf die Stirn geküsst. Sie war fiebrig heiß. Der Körper voller Aktivität. Unvorstellbar, dass der Mensch, dem er gehört, im Begriff ist zu gehen. Dass es seine letzten Stunden sind. Unbegreiflich das alles.

Drei Monate zuvor hatten wir noch einen Spaziergang durch die letzten Tage des sich verabschiedenden Berliner Sommers gemacht. Ich versuche, das alles innerlich nachzuvollziehen, es einzuordnen, aber es gelingt mir nicht.

Vor drei Monaten hat sich die Welt verdunkelt. So lange ist die Diagnose eines bösartigen Gehirntumors im linken Schläfenlappen bei meinem Freund her.

Er war ins Krankenhaus eingeliefert worden, nachdem seine Frau ihn bewusstlos in der Wohnung aufgefunden hatte. Am gleichen Tag hätten wir uns am Abend zum Essen treffen wollen.

Als ich davon erfuhr, dachte ich zunächst an zahllose Gründe, warum man ohnmächtig werden kann: Blutdruck, Hitze, Stress. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch überzeugt, dass wir uns bald wiedersehen und darüber lachen werden. Dass diese Episode sich auflösen wird wie die allermeisten Ereignisse im Leben, die bedrohlich wirken, und man auf das Beste hofft. Man irgendwie darauf vertraut, dass alles gut wird.

Später am Tag erfuhr ich, dass mein Freund nicht in die Kardiologie eingeliefert worden war, sondern in die Neurologie. Er hatte einen epileptischen Anfall gehabt. Das klang ernst, aber nach etwas, das man mit Medikamenten in den Griff kriegen kann. Dann aber berichtete seine Frau, dass die Ärzte eine »Raumforderung« im Gehirn als Ursache vermuteten. Der Begriff hörte sich auf eine bedrohliche Weise harmlos an. Ich gab ihn bei Google ein. Und sah, dass es eine Chiffre für Gehirntumor ist. Und bald darauf sollte es sich als Gewissheit herausstellen. Mein Freund war an einem der aggressivsten bösartigen Gehirntumoren überhaupt erkrankt. Bei dem es nicht die Frage ist, ob man ihn überlebt – eher die Frage, wie lange und wie gut man damit leben kann.

Die Tage waren voller schlechter Nachrichten, die jeweils von noch schlechteren Nachrichten abgelöst wurden. Der Tumor beeinträchtigte vom ersten Tag an den Mann, an den man sich gewöhnt hatte. Das Tröstende war, dass hinter allen Beschwerden immer die Persönlichkeit meines Freundes leuchtete, dass er nie seine Liebe und seine Güte verlor. Der Tumor konnte ihm so viel nehmen, aber nicht seine Menschlichkeit und nicht einmal seinen Humor.

Seine Persönlichkeit hatte mein Leben gewärmt, vom ersten Tag an, als ich ihn kennengelernt hatte. Er war ein Mann der Sprache. Der schönen Sprache. Er hatte ein Gespür für die richtigen Worte. Er liebte gute Worte und gute Bücher. Und er wusste, was die richtigen Worte bewirken können.

Wir kannten uns seit zwölf Jahren. Ich erinnere mich noch, wie er mir an dem Abend, als wir uns kennenlernten – wir waren bei ihm zu Hause – viele Fragen stellte. Aber keine diente dazu, mich abzuprüfen oder einzuordnen. Er war unvoreingenommen interessiert. Er machte keine Anstalten, sich selbst in einem möglichst positiven Licht darzustellen oder zu beeindrucken. Er war humorvoll, aber ohne jede Spur von Eitelkeit. Sondern in einer schmeichelnden und zugewandten Weise. Alles war so bestellt, dass man sich in seiner Gegenwart wohlfühlte.

Als wir an jenem Abend später beisammen saßen, holte er eine Flasche Linie Aquavit hervor. Es ist ein altmodisches Getränk. Ein Anis-Geist, der in Sherry-Fässern reift, während er im Bauch eines Containerschiffes mitfährt. Mein Freund sagte, dass für ihn der Geist der Schiffsreise im Aquavit zu schmecken sei. Das Rollen der Wellen.

Man könne sitzen und trinken und gleichzeitig reisen. Was man auch tue, man könne dabei reisen. In dem Augenblick wusste ich, wir würden Freunde werden.

Und jetzt verlässt er mich.

Die vergangenen Monate sind wie ein Horrorfilm in meinem Kopf. Operation, Chemotherapie, Bestrahlung, Angst, Bangen. Ich hatte mir zuvor nie bewusst gemacht, wie wichtig mein Freund für mich geworden war. Und jetzt Abschied zu nehmen, das geht über meine Vorstellungskraft.

Die letzte Zeit lebte ich in dem ständigen Gefühl, zu wenig zu tun. Zu wenig Trost zu spenden, zu wenig zu tun, um stark an der Seite seiner Angehörigen zu sein. Die Kinder mussten in der Schule begleitet, der eigene Job musste bewältigt werden. Plötzlich bestand meine Welt, die gerade noch so geordnet schien, nur noch aus Chaos. Und ich hatte immer das Gefühl, alles zu tun – und trotzdem alles schuldig zu bleiben.

Das erste Mal in meinem Leben spürte ich, dass ich Gottvertrauen brauche. Dass ich eine beruhigende Stimme in mir nötig hätte, die sagt, dass alles gut werde. Eine Quelle der Kraft. Sie fehlt mir, ich hab sie irgendwann verloren. Ich tastete nach etwas in mir, das mir Halt geben könnte, aber ich griff ins Leere. Nur Erschöpfung in mir.

Ich habe viel Zeit damit verbracht, über meinen Freund nachzudenken. Es gibt zwei Dinge, die ich erst von ihm über die Welt gelernt habe: Es gibt keinen uninteressanten Menschen. Und wenn man vom Besten bei einem anderen Menschen ausgeht, hat man die größten Chancen, auch das Beste von ihm zu bekommen. In den zwölf Jahren, die ich ihn kannte, habe ich ihn kaum einmal über jemanden schlecht reden hören. Er war ein Mensch, der ohne Arg war. Er hatte niemals versucht, jemandem das Leben schwer zu machen. Er hatte keine Rechnungen zu begleichen. Wenn zwei im Streit waren, war er es, der schon an die Zeit nach dem Streit dachte. Der verhindern wollte, dass sich beide Parteien so auseinandersetzen, dass kein Ausgleich mehr möglich wäre. Er dachte meist an seinen eigenen Vorteil zuletzt. Er war bereit, zuzuhören und immer wieder zuzuhören. Er war bereit zu verstehen. Er konnte sich dem Standpunkt eines anderen Menschen annähern. Es machte ihm keine Probleme, die eigene Position zu verlassen, um erfahren zu können, wie jemand anderes die Welt sieht. Er war ein guter Streitschlichter, weil er die Fähigkeit besaß, Brücken zwischen Menschen zu bauen.

Und jetzt verlässt er mich.

In all seiner Grausamkeit hatte der Tumor eine einzige Gnade. Mein Freund spürte keine Angst. Die Krankheit hatte ihn vom ersten Tag an stark eingeschränkt. Der fortschreitende Krebs, so schien es zumindest, machte es ihm wohl die meiste Zeit unmöglich, die Lage in ihrer ganzen Härte zu begreifen. Er wusste, dass er schwer krank war, aber es ließ ihn nicht verzweifeln.

Die meiste Zeit, die ich noch mit ihm verbrachte, war er dankbar für das Leben, das er gehabt hatte, und die Zeit, die ihm blieb. All die Qualen der Therapie ertrug er stoisch, erwähnte sie kaum einmal. Manchmal verdunkelte sich sein Zustand, sodass er kaum Worte fand. Dann wieder war es gewesen, als bräche die Sonne hervor, und er machte Witze. Er konnte gutes Essen und guten Wein genießen, Zuneigung zeigen und empfangen. Immer wieder saßen wir gemeinsam vor dem Fernseher und schauten Sportschau und kommentierten die dürftige Spielweise seines Lieblingsvereins Werder Bremen, die schlechten Spielerzukäufe und die Chancen, jetzt noch die Liga zu erhalten. Dann redeten wir, als sei das einfach irgendeine Bundesliga-Saison, als fürchteten wir nicht, es sei unsere letzte.

Ich habe den Tod mein ganzes Leben lang weggedrängt, in die Ecke gestellt. Jetzt trifft er mich, als wäre ich gegen eine Wand gerannt. Ich habe immer so getan, als wäre es ein Problem, das vor allem andere betrifft. Mit dem man sich irgendwann mal beschäftigen könnte. Irgendwann ist jetzt. Aber ich bin noch im Irgendwo.

Bis jetzt lebte ich in dem Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Wo ein Problem war, da konnte man etwas tun. Es gab eine Lösung, die zumindest eine Besserung versprach, ich konnte Zuversicht versprechen und Hoffnung verbreiten. Nun weiß ich, dass das eine kühne Annahme war. Es müssen nur die allerbanalsten Dinge geschehen, Dinge, die ständig überall auf der Welt passieren, wie der Tod eines geliebten Menschen. Und schon sind alle Strategien hinweggefegt.

Die Frage nach dem Jenseits. Nichts, was ich erlebt habe, kann eine Antwort darauf geben. Aber als ich mich von meinem Freund verabschiedet habe, war ich mir auf einmal ganz gewiss, dass es etwas nach dem Leben gibt. Ich sah einen schwer atmenden Menschen, der sich auf einen Übergang vorbereitet. Wie ein Junge, der auf einem Zehn-Meter-Brett steht und sich nicht traut zu springen.

Die letzten Stunden verbringt er mit seinen engsten Angehörigen. Man sagt, dass Sterbende mit über ihr Sterben bestimmen. Vielleicht muss man sich zum letzten Atemzug wirklich entscheiden. Mein Freund entscheidet sich wenige Stunden nach meinem Abschied zu sterben. Die dabei waren, sagen, er habe ausgesehen wie eingeschlafen, nur ohne eine Regung. Alle Anspannung sei von ihm gewichen, und dann, nach einer Weile, habe er sich in die sterbliche Hülle seiner selbst verwandelt. Ganz, als ob die Seele aus ihm gefahren sei. Mein Freund ist gegangen.

Kurz bevor ich das Krankenhaus verlassen habe, hatte ich auf dem Weg nach draußen in der Krankenhaus-Kapelle vorbeigeschaut. Ein düsterer Raum mit wenig Trost. Aber vermutlich wird keiner der Besucher hier mit gleichgültigen Gefühlen sitzen. Ich betete zu Gott, dass er meinen Freund gut begleiten möge.

Es war in dieser Situation ganz selbstverständlich zu beten.

2 DIE FEIER

Das erste Gefühl nach dem Tod eines geliebten Menschen, der schrecklich krank gelegen hat, ist Erleichterung. Das Unvermeidliche ist eingetreten, die Leiden sind vorbei, kein Schmerz, kein Röcheln nach Luft mehr. Und es gibt noch Sachen zu tun. Handlungen, die einen mit dem Verstorbenen verbinden. Eine kurze Phase der regen Beschäftigung, des Organisierens und der Vorbereitungen. Bevor einen die Trauer mit voller Wucht ergreift und verschlingt.

Die Trauerfeier ist in einer Kirche in der Nähe der Wohnung meines Freundes. Eine Wohnung, die seine Frau und er seinerzeit bezogen hatten. Meine Bemühungen, an der Trauerfeier mitzuwirken, kommen mir hilflos vor. Aber sie sind das Einzige, was ich tun kann. Es sind viele Menschen gekommen, unglaublich viele, wenn man bedenkt, dass mein Freund erst vor kurzer Zeit in diese Stadt gezogen war. Auch der Pastor ist eigens angereist.

Der Sarg steht vor uns aufgebahrt, er ist da – und doch begreife ich nicht, dass er da ist. Die Musik ist schön. Freunde reden auf der Kanzel über ihn. Sein Foto steht auf einer Staffelei neben dem Sarg. Er blickt darauf freundlich lächelnd, gleichzeitig ein bisschen zweifelnd. Ein Bild, das sein Leben trifft.

Nach dem Gottesdienst machen sich die Gäste auf, zum Café, welches für die Trauerfeier gemietet ist. Die Blumen werden abgebaut, das Bild meines Freundes wird auch dorthin gebracht.

Der Sarg wird in einen Wagen getragen, man fährt ihn ins Krematorium. Hier vor der Kirche, an einer Berliner Hauptstraße, ist der eigentliche Abschied. Zwölf Jahre durfte ich diesen Mann kennen, und nun trennen sich unsere Wege. Er fährt davon.

Ich finde, das Essen nach einer Trauerfeier ist das eigentlich Wichtige. All die Menschen, mit denen sich jemand umgeben hatte, kommen noch einmal zusammen. Manche werden sich danach im Leben nicht wiedersehen, manche lernen sich hier erst kennen. Was für ein Leben jemand geführt hat, wie er mit anderen umgegangen ist, das wird hier spürbar. Es ist, als würde noch einmal der Geist des Verstorbenen in die Mitte seiner Leute gerufen.

Trauerfeiern können trostlose Anlässe sein, bei denen Menschen in schweigender Bedrücktheit Kuchen essen. Und dann gibt es solche wie die meines Freundes. Die Leute essen, trinken und lachen sogar miteinander, Kinder spielen und albern. Ich lerne einen Akrobaten kennen. Er erzählt mir von seinem Leben als freischaffender Künstler.

Ich glaube: Ein Teil unseres Wesens, vielleicht sogar unserer Seele, besteht aus den Menschen, mit denen wir uns umgeben, den Leuten, die uns kennen. All diese Menschen, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie mit meinem Freund verbunden waren, harmonieren auf dem Fest wunderbar miteinander. Der Akrobat zeigt den Kindern, wie man einen Handstand macht. Unglaublich, denke ich: eine Totenfeier, auf der Handstand geübt wird. Das hätte meinem Freund sehr gefallen.

Einerseits ist es so, als feiere er mit. Als wäre er gerade irgendwo hier im Raum unterwegs, mal an diesem Tisch parlierend, mal an jenem jemanden umarmend. Nur immer wohl gerade dort, wo man selbst nicht ist. Dann wiederum wird mir auf unwirkliche Weise klar, dass er hier fehlt. Das hätte meinem Freund so gut gefallen. Doch jetzt fehlt er hier, denke ich. Und trotzdem ist er irgendwie da. Weil meine Liebe für ihn spürbar ist. Und diese ist lebendig. In dem Moment ahne ich, was das Wesen der Seele ist.

So viele Momente auf der Welt schienen mir vor allem dafür geschaffen, dass mein Freund sie wahrnimmt und genießt. Oft denke ich, dass er etwas besser wahrnehmen könnte, mehr sehen und mehr schmecken könnte als ich. Und dann kommt es mir wieder unglaublich vor, dass er nicht mehr da ist. Dass er fehlt. Er wird noch so oft ganz furchtbar fehlen.

Ich habe mir nie Gedanken über die Seele gemacht, jetzt denke ich ständig daran. Plötzlich sinniere ich wie selbstverständlich über solche scheinbaren abstrakten Dinge. Plötzlich sind die großen Fragen nach Leben und Tod einfach bei mir angekommen.

Wo ist mein Freund jetzt? Kann er einfach so verschwinden? Wie kann jemand für viele Menschen so bedeutend sein und dann vollkommen verschwinden? In den Nachrichten ist der Tod nur eine Zahl. Er klingt so selbstverständlich. Wenn man ihn aber direkt miterlebt, ist er völlig unverstehbar und eine mächtige Gewalt.

Mein Freund war ein Seelenmensch. Alle waren sich darin einig. Aber die Seele ist gewichen. Wo ist sie? Das beschäftigt mich ständig, die Gedanken drehen Schleifen in meinem Kopf. Wo ich etwas über den Tod lesen kann, sauge ich es in mir auf, als könnte es mir helfen, das Erlebte zu bewältigen. Ich lese im ZEITmagazin ein Interview mit Gerold Eppler. Der leitet in Kassel das Museum für Sepulkralkultur, also Begräbniskultur. Er sagte, dass früher die Angehörigen für den Sterbenden beteten, damit die Seele »vom Bösen in der Nachwelt verschont würde«. Heute stünden eher die Angehörigen im Vordergrund, die sich mit der Vorstellung von der Seele über den Verlust hinweghelfen würden. Das stimmt, ich stelle mir vor, dass für meinen Freund die Dinge nun gelöst sind. Wir, die Zurückgebliebenen, sind es, die Beistand brauchen.

Es ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, philosophische Fragen würden mein Leben direkt betreffen. Ich versuche, mehr über den Begriff der Seele zu erfahren. Ich beschäftige mich das erste Mal im Leben damit, die Philosophie macht das schon die ganze Menschheitsgeschichte lang. Dass der Mensch eine Seele habe, wurde selten bestritten. Homer glaubte, dass die Seele von außen in den Körper eindringe und nach dem Tod wieder entweiche. Später haben Philosophen darum gerungen, ob die Seele stofflich sei oder nicht und ob sie sterblich sei oder unsterblich. Ob sie eine Einheit ist oder aus mehreren Teilen besteht. Ob sie sich bewegen könne oder an einen Körper gebunden sei. Und wo im Körper sie sitzt. Man vermutete sie im Gehirn, im Herzen oder im Blut. Man stellte sich vor, dass sie über einen Botenstoff, das Pneuma, mit dem Körper kommuniziere.

Die Anhänger Epikurs glaubten, die Seele würde mit dem Körper sterben. Für Platon war der Großteil der Seele unsterblich, nur der Teil, der für die Begierde zuständig war, würde vergehen. Mit dem Erstarken des Christentums näherte man sich Platons Idee von der Seele an: einer Seele, die nach dem Tod den stofflichen Körper verlässt und in einem geistigen Körper weiterlebt.

Im Christentum verlässt die Seele nach dem Tod den Körper und fährt auf zu Gott, wo sie wohnt bis zum Jüngsten Gericht. Martin Luther war ebenso von der Seele überzeugt. Für ihn begann das Leben nach dem Tod schon vor dem Tod. Das irdische Leben sei nichts anderes als »ein Vorlauf oder besser ein Anfang des zukünftigen Lebens«. Das gelte für jeden Menschen: »Der Mensch ist hinsichtlich seines zeitlichen Körpers im gegenwärtigen Zeitraum, hinsichtlich der Seele aber im zukünftigen. Beide nämlich enthält er, und an beiden hat er teil.« Im Sinne Luthers hat mein Freund also nur seinen zeitlichen Körper hinter sich gelassen. Der Tod ist bei ihm eine neue Geburt. In diesem hätte mein Freund mich nicht verlassen, er wäre nur vorangegangen.

Aber je mehr ich versuche, über die Seele zu erfahren, desto verzweifelter komme ich mir vor. Als wollte ich etwas Übersinnliches in die messbare Welt zerren, damit ich es einordnen und verstehen kann, damit ich daran glauben kann. Aber wie kann Rationalität bei meiner Traurigkeit helfen? Es ist wohl das Wesen der Seele, dass man sie nicht verstehen kann.

Deswegen wirkt alle Forschung über die Seele schnell bizarr. Am bekanntesten wurde damit wohl der amerikanische Arzt Duncan MacDougall. In seinem später als unwissenschaftlich erkannten Experiment wog er sechs sterbende Patienten – vor und nach deren Tod. Er errechnete die durchschnittliche Gewichtsdifferenz auf 21 Gramm – das war für ihn das Gewicht der Seele.

So fruchtlos es für mich ist, die Seele verstehen zu wollen, so hilft es mir doch, mit anderen darüber zu sprechen. Über die Seele zu reden, das fällt den meisten leichter, als sich über Gott oder das Leben nach dem Tod auszutauschen. Ich führe im Rahmen einer Recherche ein Interview mit der Philosophin Theresa Züger. Sie beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen künstlicher Intelligenz. Ich befrage sie auch zur Seele. Ob eines Tages eine intelligente Maschine eine Seele haben könnte. Sie bezweifelt das. Sie sagt, der Begriff habe viel mit der menschlichen Empathie zu tun. Wir Menschen sprechen allen möglichen Dingen eine Seele zu. Wir geben unserem Auto einen Namen, und wenn es erst anspringt, wenn wir das Lenkrad streicheln, sehen wir darin ein Indiz für seine Persönlichkeit. Theresa Züger erzählte von einem Experiment der US-Forscherin Kate Darling: Man hat Menschen mit kleinen Spielzeug-Robotern spielen lassen und ihnen gesagt, dass sie einen Namen haben. Danach gab man ihnen den Auftrag, das Spielzeug zu zerstören. Sie konnten es nicht. Die Apparate waren ihnen ans Herz gewachsen. Sie empfanden sie als beseelt.

Ich glaube, diese Teilnahme am anderen macht für mich die Seele aus: Es gibt wohl kein anderes Lebewesen, das so komplexe empathische Fähigkeiten hat wie der Mensch. Wir können das Leid eines anderen empfinden, als sei es unser eigenes. Wenn wir leiden, wenn wir uns freuen, existieren diese Gefühle also nicht nur in uns, sondern auch in jenen, die uns nahestehen. Gewissermaßen breiten wir uns so in andere Menschen aus. Das Seelische verbindet uns.

Auch der Begräbnisforscher Eppler wurde zur Seele befragt. Er meinte, die Seele sei »etwas, was unzerstörbar ist«. Man bewirke mit seinem Handeln etwas, das auch ohne die persönliche Anwesenheit wirkt. Allein schon bei einer einzigen Begegnung. Man sage etwas, der andere ginge darauf ein. Ein Gedanke gehe in den anderen über und lebe so fort. Die Seele sei also etwas, das Individuen verbindet. Der Sitz der Seele wäre demnach nicht in den Menschen – er wäre zwischen den Menschen.

Diese Vorstellung gefällt mir. Es bedeutet, dass mein Freund schon vor seinem Tod nicht nur in seinem Körper gelebt hat, sondern auch in den Gedanken der Menschen, die um ihn herum waren. All die liebende Teilnahme der Menschen, die ihn umgaben, gehört zu seiner Persönlichkeit. Sie ist nicht von ihm zu trennen. Die lieben Worte, die mein Freund mir immer wieder aus heiterem Himmel gesagt hat. Die Anteilnahme, mit der er nie »Wie geht es dir?« gefragt hat, ohne auch in diesem Moment aufrichtig wissen zu wollen, was in mir vorgeht. All diese Erinnerungen an ihn gehören zu dem Gewebe, aus dem seine Seele besteht. All das ist auch nach seinem Tod noch in der Welt. Es besteht in den Gästen der Trauerfeier, es besteht in mir.

Das bedeutet natürlich auch etwas für die Lebenden. Alles, was man für andere tut, tut man für seine Seele. Mein Freund hat unglaublich viel für andere getan. Ich verstehe ihn nun sehr gut. Manche sagen, er sei zu selbstlos gewesen, er hätte mehr an sich denken sollen. Aber es war gar keine Selbstlosigkeit. Es war sogar das Gegenteil von Selbstlosigkeit, es war die Behauptung seines Selbst.

Wenn mir das nächste Mal jemand sagt, man müsse unbedingt mehr für sich selbst tun, werde ich mich daran erinnern. In meinem Badschrank steht eine Schachtel Badeperlen. Sie heißen »Die Seele baumeln lassen«. So viel weiß ich jetzt: Ich will keine baumelnde Seele. Ich will eine bärenstarke Seele wie die meines Freundes haben.

Sonst weiß ich nichts. Da ist nur das Loch in mir, durch das ich falle, falle, falle.

Und Dunkelheit.

3 DIE KIRCHE

Ich würde gerne mit Ihnen über Gott sprechen.

Das war ein Satz, den ich schon öfters gehört habe. Meist von Leuten, die ein Exemplar des »Wachtturm« in der Hand hielten. Ich wollte dann nie über Gott sprechen. Ich entfernte mich stets zügig. Sorry, ich kenne niemanden, der einfach mal so über Gott sprechen möchte. Es ist auch nicht so einfach, über Gott zu sprechen, oder?

Mit Gott und mir ging es gleich kompliziert los. So früh, dass ich fast nicht auf die Welt gekommen wäre. Meine Mutter ist Protestantin, mein Vater Katholik. Als die beiden heiraten wollten, machte es der katholische Pfarrer zur Bedingung, dass er die Trauung nur vollziehen würde, wenn meine Mutter ihm zusicherte, dass sie alle Kinder, die aus dieser Verbindung entspringen würden, katholisch taufen lassen würde. Meine Mutter schlug empört aus. Sie wollte nämlich ganz bestimmt keine kleinen Katholiken gebären.

Also hätten meine Eltern beinahe nicht geheiratet. Ich wäre vielleicht nie auf die Welt gekommen, hätte sich nicht doch noch ein freundlicher Pfarrer gefunden, der bereit war, meine Eltern ohne Schäfchenklausel vor den Altar zu bringen. Und so wurde ich evangelisch getauft. Ich kann nicht sagen, ob Gott wirklich viel Freude an mir hatte.

Ich muss allerdings sagen, dass ich seit einiger Zeit nichts lieber höre, als wenn Menschen mir von Gott erzählen. Ich habe nie zwei Erzählungen gehört, die sich glichen. Für jeden ist Gott etwas anderes. Mal ist er ein enger Freund, mal ein tief sitzendes Gefühl. Mal eine Sehnsucht. Mal hasst man ihn. Ich habe niemanden getroffen, für den Gott nichts ist.

Manche berichten sogar von Begegnungen mit Gott. Das würde ich für mich nicht so feststellen wollen. Ich könnte höchstens behaupten, dass Gott vor einiger Zeit eines Morgens zwei Topfdeckel über meinen schlafenden Ohren zusammengeschlagen hat. So hörte es sich an jenem Morgen zumindest an.

Ich fuhr hoch und stellte fest, dass es die Glocken der nahen Kirche waren, die mich geweckt hatten. Ich versuchte, die verschiedenen Glocken auseinanderzuhalten. Eine große und zwei kleine, glaube ich. Dann fiel mir ein, dass es ja tatsächlich um mehr ging. Hier begann gerade ein Gottesdienst. Ein Pfarrer, der vorne am Altar Position bezieht, ein Organist, der in die Tasten haut. Mir fiel ein, dass ich den Pfarrer nicht kannte und dass ich den Organisten nicht kannte und schlicht keine Ahnung hatte, wie es in dem Gebäude aussieht.

Die Kirche in meinem Stadtteil liegt nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt. Ich zahle Kirchensteuer. Es ist also, als ob ich den Beitrag für ein Fitnessstudio löhnen würde, ohne hinzugehen. Mein Blick fiel auf meine Frau, die neben mir lag und schlief. Bestimmt würde sie noch eine Stunde weiterschlafen. Ich könnte weiter nachdenken oder einfach in diese Kirche gehen. Bis sie aufstehen würde, wäre ich schon wieder da. Ich schlüpfte in eine Hose, zog ein T-Shirt über, und schon war ich an der Tür. Meine Frau hob den Kopf. »Wo gehst du denn hin?« – »In die Kirche«, sagte ich, als sei das das Selbstverständlichste der Welt. »Hm«, sagte meine Frau und drehte sich wieder in die Kissen. Unglaublich, dachte ich. Ich bin tatsächlich auf dem Weg in die Kirche. Draußen vor der Haustür traf ich auf vereinzelte Berliner Partygänger, sie trotteten von den Clubs, wo sie die Nacht durchtanzt hatten, nach Hause oder in ihre Hotels. Aber keiner von denen ging jetzt in die Kirche. Etwas Verrückteres als ich macht jetzt gerade niemand in Berlin, dachte ich.

Ich überlegte, wann ich das letzte Mal in einem Gottesdienst gewesen war. Also außer an Weihnachten. Ich glaube, es war in London. Es war mehr als ein halbes Jahr her. Ich bin Modechef eines Magazins. Das bedeutet auch, sehr viel unterwegs zu sein. Und zwar zu Modeschauen, die an allen möglichen spektakulären Orten abgehalten werden. Je ausgefallener die »Location«, desto größer die Medienaufmerksamkeit. So war ich auch einmal bei einer Vorführung einer italienischen Luxuskollektion in der Westminster Abbey.

Im Rahmenprogramm der Schau wurde auch angeboten, den Männerchor der Abtei zu hören. Was den Veranstaltern allerdings nicht klar gewesen war, war, dass solch ein Chor in den meisten Fällen nun einmal im Rahmen eines Gottesdienstes auftritt. Also saß plötzlich die gesamte Gesellschaft, die es eher gewohnt war, teure Handtaschen anzubeten, in einem anglikanischen Gottesdienst und musste das Vaterunser beten und knetete dabei nervös die Smartphones wie andere den Rosenkranz. Es war manchen sichtlich unangenehm. Offenbar konnten sie nicht verstehen, wir man einen so tollen Ort wie eine alte Kirche für so etwas Grässliches wie einen Gottesdienst nutzen könnte.

Ich weiß noch, dass der Gesang der Männer mich sehr viel mehr beeindruckt hatte als die Looks auf der Modenschau. Es war, als würden die Stimmen wie Wellen eines aufgewühlten Meers ineinanderschwappen. Im Chor gab es alle Arten von Männern: alte, junge, gepflegte, ungepflegte, fette, dürre. Sie alle hatten würdevoll die Hände vor dem Bauch ineinandergelegt. Es sah nicht so aus, als sängen sie selbst, sondern als ströme eine Stimme von irgendwo anders her durch sie hindurch und recke ihre Körper. Vor allem aber sahen sie aus, als seien sie alle genau am richtigen Platz in ihrem Leben angekommen. Das haben sie mir voraus, dachte ich bei ihrem Anblick.

Den anderen Besuchern war es nicht so gegangen. Dass Gott sie eine Stunde davon abgehalten hatte, ihre Smartphones zu benutzen, war für sie offenbar die Hölle gewesen. Einer war davongestürmt, sein Handy in die Luft gereckt wie eine Monstranz, und hatte gerufen, er müsse die ganze Welt zurückrufen: »I have to call back everyone.«

Vielleicht war es auch der Eindruck dieser stolzen Männer gewesen, deren fester Platz auf der Kirchenbank war, der in mir die Neugier auf die örtliche Kirche geweckt hatte. Die Kirche in meiner Nachbarschaft ist ein mächtiger Ziegelbau mit einer Kuppel, so groß wie die eines Atomkraftwerkes. Man konnte sich schon vorstellen, dass dort würdevolle Gottesdienste abgehalten würden.

Als ich nun an der Kirche in meiner Kreuzberger Nachbarschaft ankam, waren die Glocken schon verstummt, und stattdessen war Orgelmusik zu hören. Vor der Kirche stand ein Schild: »Gottesdienst. Bitte verhalten Sie sich angemessen, die Kirche steht Ihnen danach wieder zur Besichtigung zur Verfügung.« Wahrscheinlich ist es besser, das hinzuschreiben, damit die Leute nicht mit ihren Bierdosen das Gotteshaus betreten. Das haben die Menschen heute nicht mehr so parat, dass es in einer Kirche sonntags mitunter Gottesdienste gibt. Als ich die Tür öffnete, stand ich in einem gewaltigen Raum. Mir orgelten Etüden von Bach entgegen.

Sie waren auch der Grund, warum ich nicht sofort wieder die Tür schloss, denn ansonsten hätte ich gedacht, nicht zu einem Gottesdienst, sondern zu einer Sitzung einer Selbsthilfegruppe gestoßen zu sein.

Ich sah einen großen Raum, der oben mit einer großen Kuppel abschloss, gut 40 Meter hoch. Rechts und links der Kuppel wölbten sich zwei Seitenschiffe. An der Seite verlief ein Säulengang mit Türen, die ins Irgendwo führten. Die Wände weiß gekalkt. Es hingen keine Figuren an der Wand, kein Kruzifix, keine Sinnsprüche. Es gab keine Kanzel und keine Bänke, nur ganz viel Platz. Auf dem Boden ein großer, wenig charmanter Sisal-Teppichboden und Stühle wie in einem Konferenzraum.

Und auf diesen Stühlen saßen einige Wenige. Eine Handvoll Leute in dem riesigen Gebäude, die wirkten wie Bojen in einem Stühlemeer. Das war also die Gemeinde. Die Pfarrerin erhob sich vorne von ihrem Platz und schritt zum Altar. Der Gottesdienst – jetzt ging er los.

Ich hatte das schon gehört, dass sich in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Gottesdienstbesucher halbiert hat. Was bedeutet, dass kaum eine Institution effektiver die eigenen Mitglieder von ihren Veranstaltungen fernhält. Früher war es eine Sache des Standesbewusstseins, den Gottesdienst zu besuchen, wer da war, war wer. Heute ist es keine Sache des persönlichen Prestiges oder eine gesellschaftliche Pflicht mehr, sonntags in die Kirche zu gehen. Aber ich hätte nicht gedacht gehabt, dass das bedeutete, dass eine große Kirche in Berlin sonntagmorgens so leer ist wie ein Kaufhaus nach Ladenschluss.

Aber ich war nun einmal da – und bekam gleich richtig zu tun. Für den Gottesdienstbesucher lagen Programme bereit. Es war eine gefaltete DIN-A4-Seite. Eine Art fromme To-do-Liste. Auf der ersten Seite ein Bild von der Kirche. Der Rest gefüllt mit Anweisungen. Es ging gleich voll los. Ich hatte in Erinnerung, dass man bei Gottesdiensten vor allem lauscht oder singt. Aber mein Zettel hier war so ausführlich, als sollte ich eine Rolle in einem Sprechtheater übernehmen. Nun wurden Psalmen gesprochen (mein Vater hatte früher im Gottesdienst, wenn es etwas zu sprechen gab, immer »Hrmbrmbrmhrm« gebrummt, und so machte ich es nun auch). Im »Wort des lebendigen Gottes« ging es darum, wie Jesus einen Blinden sehend gemacht hatte. Jesus sagt, der Mann sei blind, damit Gottes Werk an ihm offenbar werde. Das klang etwas hart, fand ich.

Es wurde gesungen (ich fand das Lied nicht, konnte der Melodie nicht folgen und auch keine Noten lesen), und zum Friedensgruß sollte man dem Nachbarn die Hand geben. Problem: Es gab keinen Nachbarn. Niemand neben mir, nur zwei Damen ein paar Reihen weiter. Plötzlich großes Stühlerücken im Raum. Eine der Damen schaute mich fest an, sagte »Schalom«, sie hielt meine Hand fest.

Allerdings: Die Orgel klang wunderbar. Durch eines der hohen Fenster fiel ein Lichtstrahl genau auf mich. Es hatte etwas Salbendes. Als dürfte ich mich kurz ausruhen, als würde mir dieser Raum kurzfristig Asyl anbieten. Asyl vom Leben.

Jetzt hob die Pfarrerin zum Fürbitten-Gebet an, und nun hieß es schon wieder aufstehen. Und nun wusste ich wieder, was mich an der Kirche immer gestört hat. In dem Gebet ging es darum, dass überall auf der Welt Schlimmes passierte, in Syrien, in Libyen, aber auch in Sachsen – wir aber so täten, als ginge uns das nichts an. Und dafür würden wir Gott um Verzeihung bitten. Das hatte mich schon als Konfirmand im Gottesdienst aufgeregt. Wie kann diese Pfarrerin wissen, ob ich das Leid der Welt tatsächlich schulterzuckend hinnehme? Ich fühlte mich wie als Kind, als meine Eltern sich bei Gästen schon vorsorglich für mein schlechtes Benehmen entschuldigten. Dabei hatte ich noch gar nichts gemacht. ICH HABE NICHTS GEMACHT, dachte ich ganz laut bei mir. Als ich Konfirmand war, hatte sich der Pfarrer redlich bemüht, einem ein schlechtes Gewissen zu machen. Darauf war ich gar nicht aus. Als 14-Jähriger hatte man das schlechte Gewissen durch seine Eltern sozusagen frei Haus bekommen, man musste dafür eigentlich nicht aus der Tür gehen. Darüber hinaus mussten wir damals in der Kirche für die Vergebung der Sünden beten. Verdammt, als 14-Jähriger hätte ich ja gerne mal ein paar Sünden begangen, aber ich bekam dazu keine Gelegenheit.

An all das musste ich denken, da kam schon das nächste Lied dran, und ich kam mal wieder mit Blättern nicht hinterher. Wie konnten die hier alle in diesem Buch so schnell die Seiten finden?

Dann passierte etwas, auf das ich nicht vorbereitet war. Die Orgel spielte »Lobet den Herren«. Die Gemeinde sang – und ich sang mit, denn dieses Lied kannte ich.

Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren,

meine geliebte Seele, das ist mein Begehren.

Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf,

lasset den Lobgesang hören!

Es war eines der wenigen Kirchen-Lieder, die mir etwas sagten. Es war das Lieblingslied meines Großvaters. Mein Großvater, der einerseits als Wissenschaftler Wissen nur auf Beweise stützte und andererseits einem völlig unbeweisbaren Glauben anhing. Wie konnte das zusammengehen? Ich habe das nie verstanden, aber nun, während ich dieses Lied sang, spürte ich es. Ich vermisste meinen Opa, das letzte Mal habe ich das Lied bei seiner Beerdigung gesungen. Ich hatte damals geheult, bis kein Tropfen mehr in mir war. Die ganze Zeit war ich gefasst gewesen und nüchtern, aber als ich meinen Mund zum Singen aufmachen musste, war alles in mir zusammengebrochen.

Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet,

der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet.

In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott

über dir Flügel gebreitet!

Für mich handelte dieses Lied vom Tod und von der Sehnsucht nach Ewigkeit, von der Liebe der Menschen zueinander und einer Liebe, die die Welt beherrscht. Es handelte für mich in diesem Moment von allem.

Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen.

Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen.

Er ist dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht.

Lob ihn in Ewigkeit! Amen.

Als die Orgel verhallte, war ich innerlich komplett aus den Fugen. Ein Lied hatte genügt, um mich aus der Fassung zu bringen. Meine Augen waren feucht, ich hätte in diesem Moment in Schluchzen ausbrechen können.

Von der Predigt bekam ich nichts mit, so sehr war ich mit mir beschäftigt. Es folgte das Vaterunser. Das hatte ich im Religionsunterricht auswendig gelernt. Ich sprach es leise mit. Ich weiß nicht, ob ich betete, oder ob ich einfach stolz war, auch etwas auswendig zu können.

Ich ließ den Schlusssegen über mich ergehen und wollte mich davonmachen. Allerdings kam ich nicht weit. Am Ausgang stand die Schalom-Frau. Sie streckte mir unvermittelt die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Marie-Luise, wir haben uns bestimmt schon einmal gesehen.« Ich erklärte ihr, dass ich in der Nachbarschaft wohne und einfach mal habe vorbeischauen wollen. Marie-Luise meinte, das sei sehr schön. Sie freue sich immer über neue Gesichter in der Gemeinde. Ich nickte und sagte, es sei ein netter Gottesdienst gewesen, eine tolle Orgel. Marie-Luise drückte mir ein Heftchen in die Hand. »Das ist der Gemeindebrief«, sagte sie. Ich nahm das Heft, »Thomasbote« stand darauf. Ich nickte mit einem starren Lächeln, dann trollte ich mich.

Den Thomasboten entsorgte ich bald in einem Straßenmülleimer. Insgesamt aber war ich nach meinem Kirchenbesuch seltsam beschwingt. Die Dinge in mir waren geerdet. Ich hatte ein gutes Gefühl. Ähnlich, wie wenn man nach langer Zeit wieder mal mit seinen Eltern telefoniert hat. Als ob nach langer Zeit wieder etwas in mir zusammengefunden hatte. Aber was hatte ich denn verloren? Das Licht, die Stimmen, die Musik, irgendwie hatte mir das gutgetan. Hatte es mir denn gefehlt?

Die Kirche hatte mich seit meiner Jugend vor allem negativ beschäftigt. Ich fand die Gegner der Kirche interessanter. Ich war links und hielt mich daran, was Karl Marx gesagt hat über die Religion: Sie sei das Opium des Volkes. Auch Trotzki hatte über die Kirche geschrieben. Trotzki war Kommunist, ein Feind der Kirche. Und da ich in meiner Jugend Mitglied einer trotzkistischen politischen Gruppe war, las ich Trotzki und war auch ein erklärter Feind der Kirche. Die Kirche war aber auch ein dankbarer Feind, man konnte gegen sie schimpfen, wie man wollte, sie schlug nie zurück.

Ich erinnerte mich, dass Trotzki, der Kommunistenführer, einmal genau vor der Sinnlichkeit der Kirche gewarnt hatte: »Das Element der Zerstreuung und des Vergnügens spielt beim kirchlichen Ritual eine große Rolle. Die Kirche wirkt durch bühnenmäßige Einwirkung auf das Auge, auf das Ohr und auf die Nase.« Er propagierte das Kino, um der Kirche den Garaus zu machen: »Ohne eine Priester-Hierarchie notwendig zu haben, wirft das Kino auf seine weiße Leinwand noch viel packendere Bilder als die Kirche, die Moschee, die Synagoge, als das reichste dieser ›Gotteshäuser‹ kann.«

Der Kommunismus ging schließlich noch früher futsch als die Kirche. Und hatte ich an jenem Sonntag nicht überlegt, mit meiner Frau ins Kino zu gehen?

Als ich nach meinem Kirchenbesuch nach Hause kam, war ich ganz zufrieden. Zufrieden, dass ich der Erste war, der im Gegensatz zu der sich gerade aus den Betten schälenden Familie etwas erlebt hatte.

Ich ahnte nicht, dass das nur der Anfang eines viel größeren Abenteuers werden würde.

4 MEIN GOTT

Meist musste ich nicht viel über das Jenseits nachdenken. Ich hatte schon mit dem Diesseits ziemlich zu tun. Meine Jobbezeichnung bei dem Magazin, wo ich arbeite, ist »Style Director«. Wer fragt, was ein Style Director eigentlich so macht: Das ist der Sinn des Titels. Als ich meinen Job angetreten habe, habe ich mir diese Bezeichnung selbst ausgedacht. Ich kann nur empfehlen, sich den eigenen Beruf stets selbst auszudenken. Es hört sich imposant an, nach Verantwortung, Kompetenz und Führung. Gleichzeitig wird für Außenstehende schwer erkennbar, was man denn so tut.