Frühfarbtaucher - Sabine Grassy - E-Book

Frühfarbtaucher E-Book

Sabine Grassy

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Beschreibung

Können wir einem Teenager helfen, der mehr Zeit im Hospiz verbringt, als in Schulhefte zu gucken? Das Leben hat sie zerlegt. Ein Regenbogen, der Hände verbindet? Zu spät für eine zweite Chance? Diese Fragen brennen mir unter den Krallen, als wir Leonie kennenlernen. Trauerbegleitung als Mission bringt Eddy und mich an emotionale Grenzen. Sie ist viel zu jung, um vom Leben abgestraft zu werden. Übungen beherrschen zum Loslassen und eine Familie, die gedanklich in einem Zug an ihr vorüberfährt, ihr zuwinkt, während sie an den Gleisen zum Straucheln kommt? Wir reißen ihr den Erledigt-Stempel aus der Hand und bewegen die Welt, die für sie stillsteht. Es darf noch nicht zu spät sein ... EDDY und MO Wer sind die zwei? Eddy (West Highland White Terrier) und Mo (Shih Tzu) kommen an ihre Grenzen bei jeder Mission. Aufgeben ist keine Option, weil sie wissen, dass das ehrlichste Lächeln von Menschen ausgeht, die gelitten haben.

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Die Autorin

Nicht alles, was im Leben trägt, lässt sich in Worten verpacken. An Stellen, an denen der Autorin viele fehlen, kommen ihre Hunde ins Spiel.

Menschlich enttäuscht von ›Schauspielern‹, die sich ihr beruflich in den Weg stellten, nahm sie Abschied vom – vielfach idealisierten – ›Traumjob‹ und findet seither Erfüllung in der Auseinandersetzung mit Themen, die WIRKLICH wichtig sind.

Trauer, Mobbing, zwischenmenschliche Irritationen und gesundheitliche Dekompensationen, selbst wenn es die Tragik spiegelt, jahrzehntelang für eine Psychiatrie tätig gewesen zu sein; als ›notwendiges Aufwachen‹ von ihr bezeichnet.

Widmung An Kristiane Allert-Wybranietz

(Diese deutsche Lyrikerin hat mich mein Leben lang begleitet, ›verzaubert‹ und inspiriert.)

Widerstand

oder Erfahrung

beim Erwachsen werden

Man fordert mich auf,

Stellung zu beziehen.

Man will die Parole wissen,

damit man mich einordnen kann,

ablegen im Regal, wo schon so viele liegen.

Aber

es ist noch so viel in mir;

ich fühle mich nicht bereit,

abgelegt zu werden.

Ihr habt den Erledigt-Stempel

zu früh in die Farbe getaucht.

Noch bin ich es nicht!

© Kristiane Allert-Wybranietz (*1955), deutsche

Dichterin und Lyrikerin

Quelle: Allert-Wybranietz, Trotz Alledem, lucy körner Verlag 1980

INHALTSVERZEICHNIS

MISSION SEELE

EISKALTE LEONIE

ZUGANG

LEER

SIE

JOHANNA OHNE ›HA‹

HIMMLISCHE FEIER

›TABALUGA‹

MAMA MIT HERZ

DUNKELHEIT

VERSCHWUNDENE LEONIE

STADTPARK

ERWACHEN

REGENBOGEN

TRÜMMER-CLIQUE

FAIRE ABRECHNUNG?

ZWEITE CHANCE

GESTÖRT

SCHRECKLICHE SZENEN

DADDY OHNE RÜCKGRAT

ERSTE SCHRITTE

FREI

VERSÖHNUNG

BEI NULL

IM ALLEINGANG

HERZBEWOHNER

Mission Seele

Eddy ist mir eine Pfote voraus in der Überlegung, auf welche Weise wir auf Menschen treffen, deren Seele zum Schattenträger wurde.

»Wir fahren Schulbus, Mo« offenbart mir Eddy seine nächsten Pläne.

»Wie wir ohne aufzufallen Zutritt zu den Lehranstalten finden, klügele ich noch aus«.

Mir leuchtet nicht ein, in welche Richtung er will.

Kein Jugendlicher wird durch den Anblick zweier Hunde animiert, seine Lebensgeschichte breitzutreten.

Vielmehr befürchte ich ›Streichelsymphonien‹ jener, die Hunde lieben.

Abstrakt und unlogisch ist seine Herangehensweise.

Ich werde nicht mit ihm auf Halbstarke zustürmen und direkt fragen, ob sie Hilfe benötigen.

Noch weiter weg erscheint mir, dass die jungen Menschen angesichts ihres Alters mit Trauer konfrontiert wurden.

In kurzen Worten: Das beinhaltet Eddys neue Mission.

Die Bewältigung von Zeiten, die jemanden versteinern.

Einkratzen werde ich mich nirgends. Ich bin ein Hund der klaren Worte und finde es verlogen, erst später ehrlich zuzugeben, in welchem Auftrag wir unterwegs sind.

»Hast Du Angst vorm Busfahren?«, fragt mein Freund aufgrund meines Schweigens.

»Das ist es nicht, Eddy. Ich sehe keinen Sinn im Vorgaukeln. Warum suchen wir nicht nach Heranwachsenden, die wir fragen, ob noch Vater und Mutter auf sie warten?«, schlage ich vor und bin überzeugt, Eddy stuft es als ›genial‹ ein.

»Bist Du des Wahnsinns, ›Klo-Mo-tzi‹?«, ereifert er sich, um mir eine wertvolle Erklärung zu bieten, warum seine Idee die einzig richtige ist.

»Kinder verlieren nicht einzig einen Elternteil. Trauer beinhaltet viel mehr. Es kann der Verlust einer Tante, eines Opas, einer Schwester oder eines Haustieres sein. Jeder geht mit der ›Leerstelle im Herzen‹ unterschiedlich um. Manchen ist es möglich, darüber zu sprechen, womit sie Erleichterung verspüren. Wiederum gibt es die Schweigenden, die bei jedem Wort über den Verlust befürchten, es niemals vergessen zu können. Man muss sensibel an sie herantreten und einen Zugang zu ihnen ›buddeln‹.

Bewusst bezeichne ich das so, was nichts mit dem Erdausheben, das Hunde lieben, zu tun hat.

Wir dringen nicht zu jedem vor.

Mo, es ist das schwierigste Thema und Du würdest jeden vor den Kopf stoßen, wenn Du nicht aufpasst, was Du sagst oder wie Du mit jemandem sprichst«.

»Können wir diese Mission abwählen?«, bitte ich verstört. »Vielleicht ist Verdrängen der beste Weg für Betroffene?«.

»Ist er nicht«, weiß Eddy aus Erfahrung.

»Ich habe die ganze Palette von traurigen Gefühlen hinter mir und es hat mich krank gemacht. Wenn wir es nur bei einem Einzelnen schaffen, ihm die Trauer zu erleichtern, indem wir die Leere füllen und für Verständnis sorgen, dass der Tod zum Leben gehört, haben wir Großartiges vollbracht«.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle grübele ich.

Scheitern ist Gewöhnungssache.

Unvorstellbar bleibt in meinen Augen, dass uns Wildfremde von sich erzählen.

Ich rede nicht drauf los, selbst wenn mir viele Dinge auf der Seele brennen.

Dennoch glaube ich auf unerklärliche Weise an Eddy.

Wenn es jemand hinbekommt, Unmögliches möglich zu machen, dann einzig er.

Von Weitem sehe ich viele Teenager.

Einige raufen, was ich befürchtete, und andere sprechen miteinander.

Keiner von ihnen sieht aus, als bräuchte er unsere Hilfe.

Bevor ich Eddy auf die glücklichen Gesichter ansprechen kann, hält der Schulbus vor der Gruppe und ich werde von meinem Freund unvermittelt reingezogen.

Gebongt!

Einen Versuch ist es wert.

Ich erhebe noch Einwände, sobald ich merke, dass dieser Plan nicht aufgeht.

Eiskalte Leonie

Die erste Hürde ist genommen.

Die nette Busfahrerin lässt uns bereitwillig rein, nachdem wir bestätigen, zu einem der Fahrgäste zu gehören, was sie uns förmlich in den Mund legte.

Ein Pluspunkt, dass sie sich zu den Hundeliebhabern zählt.

Als ich durch diesen Bus laufe, sehe ich links und rechts viele Beine, die mich nicht gerade beruhigen.

Wie eine Klette hänge ich an meinem Buddy, dem ich bis in den hinteren Teil des Busses folge.

Überall Geschrei und Gelächter.

Reihenweise Kopfwendungen und alle schauen uns hinterher.

Ein junges Mädchen steht von ihrem Sitz auf und hebt uns auf den freien Platz neben sich.

Warum dieser leer und sie die Einzige ist, die Interesse an uns zeigt, verstehe ich nicht.

Zusammengekauert sitzen wir neben ihr und schauen sie an.

Attraktiv ist sie mit ihren blonden, engelsgleichen Haaren, die ein ›dunkles Ding‹ zusammenhält.

»Was will sie von uns?«, flüstere ich.

»Pst«, mahnt Eddy, »sie hilft uns gerade, dem Tumult zu entkommen«.

Ernste Zweifel an unserem Vorhaben sind geschürt.

»Eddy? Nicht uns muss geholfen werden. Ich wusste, dass wir das falsch angehen«.

Ich möchte von diesem Sitz runter, mehr noch, ich will hier raus.

»Hunde, die sprechen, beunruhigen mich«, höre ich das Mädchen sagen. »Ich habe genug Probleme und brauche es nicht, dass mir mein Arzt sagt, dass ich ›kopfkrank‹ bin, wenn ich in seiner Sprechstunde das Stimmenhören schildere als sei es das Normalste dieser Welt«.

Wie bitte?

Nicht der Ton ihrer Aussage erschreckt mich. Vielmehr, dass sie von einem Doc spricht.

Ein Mensch ihres Alters sollte nicht dermaßen erwachsen klingen und von ärztlicher Behandlung sprechen, als handele es sich um einen Kinobesuch.

»Nicht jeder hört uns«, wagt Eddy einen Vorstoß.

»Wer das bei uns wahrnimmt, trägt eine besondere Gabe in sich«.

Fragend guckt sie ihn an.

»Verdammt, was wollt Ihr von mir?«, fährt sie ihn an.

»Moment mal, Du hast nach uns gegriffen«, lässt Eddy das nicht auf uns sitzen.

»Übrigens heiße ich Eddy und das ist mein Freund Mo. Wir lieben junge Menschen und die Wahl traf auf Dich, doch Du bist uns zuvorgekommen«.

Vertrauensaufbau gelungen.

»Ich bin Leonie und frage mich, was ich mit Euch mache. Ich muss zur Schule und kann mich nicht um zwei herrenlose Hunde bemühen. Ein Obdach findet Ihr wahrlich bei mir nicht. Genauso wenig kümmere ich mich um das zerzauste Fell, das auf Streuner schließen lässt«.

Überrumpelt und ein wenig wütend blicke ich ihr direkt in die Augen.

Es zeigt Wirkung.

Sie stellt ihr vorlautes Trara ein und wartet mal fünf Sekunden, die ich nutze, um ihr Paroli zu bieten.

»Wir sind keine Straßenhunde, Leonie. Ich liebe schon gar nicht jeden dieser prolligen Jugendlichen, die Großen nachahmen und denken, ihnen was vorauszuhaben. Warum besuchst Du noch die Schule? Deinem Mundwerk zufolge bist Du mit allen Wassern gewaschen. Besserwisserei unterstelle ich Dir nicht, empfinde Dich aber zu erwachsen für Dein kalendarisches Alter«.

Ihre Hände greifen nach uns und mit einem Ruck landen wir unsanft auf dem kalten Boden des Busses.

»Blöde Tussi«, schreie ich in ihre Richtung, was sie mit einem Lachen beantwortet.

Eddy legt mir seine Pfote auf den Nacken.

»Mo, das ist sie nicht«.

»Nicht wert, meinst Du?«.

»Blöd! Und Tussi empfinde ich, als wertest Du jemanden ab, den Du nicht im Geringsten kennst. Sie ist ES«.

Mag sein, dass seine Worte ins Schwarze treffen.

Erst später verstehe ich seine Äußerung.

Mit ›sie ist ES‹, meint er tatsächlich, dass Leonie die Erste sein wird, der wir helfen.

Pures Entsetzen, bis ich zweifele, ob hinter ihrem Verhalten etwas anderes stecken könnte.

Zum Grübeln bringt mich die Fragen meines Buddys.

Warum sitzt Leonie alleine im Bus?

Aus welchem Grund lässt sie uns nicht an ihre Seele.

Was führt zu dem erwachsenen Rapport?

Ich zermartere mir das Hirn, ohne eine Erklärung zu finden.

Hoffentlich ist Eddy nicht böse, wenn ich nicht konform mit jeder seiner Sichtweisen gehe.

Wenn auch ausnahmsweise, verfestigt sich in mir eine andere Meinung.

Vergebene Liebesmüh, sich schmierig behandeln zu lassen von einem Mädchen, das uns nicht deutlicher machen könnte, dass sie nichts mit uns zu tun haben will.

Ich bieder mich nicht an und atme auf, als der Bus anhält.

Als Erster draußen warte ich auf Eddy.

War klar, dass er ›Gentlemanlike‹ andere durchlässt.

Schließlich blitzen seine Ohren auf.

»Warum gibst Du zu schnell auf?«, will er wissen, ohne sich für sein Trödeln zu entschuldigen.

Gleich explodiere ich.

»Was musst Du noch hören? Blöde Köter? Würde das reichen, Leonie als Kratzbürste einzustufen?«.

Gespannt auf seine Antwort wartend sehen unsere Augen plötzlich was, das die nächsten Fragen aufwirft.

Leonie geht nicht – wie alle anderen – den Asphalt zur Schule entlang, sondern biegt ab in eine Seitengasse, als der Bus außer Reichweite ist.

Langsam vermute ich, dass hier vieles nicht stimmt.

Neugierig folge ich Eddy und verkneife mir Behauptungen, die aufgrund fehlender Indizien nicht beweisbar sind.

Noch glaube ich, dass sie zu den Schulverweigerern gehört, die inmitten einer Clique abhängen und ›Gras rauchen‹.

Das sage ich Eddy nicht, weil er ohnehin einer anderen These folgt.

»Mo? Bist Du überzeugt? Sie trägt ein Geheimnis in sich. Wir sind Hunde und besitzen ein Gespür für Gefahren, Probleme, Kummer und Sorgen«.

Gleichzeitig bezweifele ich, ein Hund zu sein, ich spüre nichts.

Wir befinden uns auf einem Irrweg und ich überlege lieber, wie ich Eddy später aufbaue, sollte er doch noch zur Vernunft kommen.

Zugang

Sie sitzt da, weder eine lärmende Clique

um sich geschart, noch hält sie eine Kippe in ihrer Hand.

Vorhin noch mit einer Ausstrahlung von unerschütterlichem Selbstbewusstsein sehe ich nichts mehr außer einem traurigen Gesicht.

Die abgewetzte dunkle Parkbank wirkt farbenfroh im Gegensatz zu ihrer Haltung.

Die Hände zittern, als sie zum Handy greift und unbeholfen tippt.

Am liebsten würde ich hinüberlaufen, wenn mich nicht das abhalten würde, was ich noch vor fünf Minuten empfunden habe.

Wie kann man vorlaut sein und parallel einen Eindruck von Sentimentalität vermitteln?

Wieso wechselt ein Stimmungsbild innerhalb weniger Minuten?

Tat es das oder schauspielert Leonie?

Fand das Vernebeln vorhin statt oder befindet sie sich jetzt in einer anderen Welt?

Unvermittelt schaut sie zu uns und wirkt alles andere als erfreut.

Wenn ich jemandem nie hinterherlaufen würde, dann dieser undurchsichtigen Person.

Ich mag sie nicht, tue einzig Eddy den Gefallen, nicht meinem Namen des Fluchttieres alle Ehre zu machen.

Leonie steht auf, bringt mit einem heftigen Tritt gegen einen Mülleimer ihre Abwehr zum Ausdruck, funkelt uns an und verlässt ihren gewählten Rückzugsort, den wir scheinbar zerstörten.

»Eddy? Sie muss in die Schule«.

Ich versteh nicht, warum ein Kind dermaßen vom Durchschnitt abweicht.

Hallo?

Schulpflicht!

Alle anderen haben es begriffen und lernen vorschriftsmäßig für ihr weiteres Leben.

Eddy unterbricht meine Gedanken.

»Mich interessiert, was dahintersteckt. Nichts geschieht grundlos. Möglich, dass sie in der Schule gemobbt wird oder dass sie Sorgen drücken. Es ist an uns, das rausfinden«.

Mein ›wir müssen das nicht‹ überhört er geübt und folgt Leonie.

Ich weiß nicht mal, wo wir uns befinden und wo ich abbiegen muss, um nach Hause zurückzufinden. Folglich bleibt mir nichts anderes übrig, mich anzuschließen.

Als wir um die Ecke blicken, hinter der sie verschwunden ist, sehen wir ein großes Gebäude.

Einem Wohnhaus ähnelt es nicht, sondern eher einer Einrichtung, wenn man den großen Parkplatz und die vielen Menschen berücksichtigt.

»Eddy? Guck mal. Überall stehen Kübel mit außergewöhnlich schönen Pflanzen. Meinst Du, sie jobbt in einer Gärtnerei oder Baumschule? Sie ist viel zu jung zum Arbeiten«.

»Irgendwas stimmt hier nicht«, meint mein Freund. »Dieser Ort trägt was Sonderbares. Hier werden keine Blumen verkauft. Schau mal zu den zwei Rollstuhlfahrern am Eingang. Daneben steht jemand – angeschlossen an einer mobilen Pulle mit Flüssigkeit. Ein Krankenhaus ist es eindeutig nicht«.

Gibt es Menschen, die nicht selbstständig trinken, sodass es ihnen über Infusionen zugeführt werden muss?

Mein Hundelatein ist erschöpft.

Ich kann Eddy folgen, denn nach Krankenhaus sieht es wahrlich nicht aus, obwohl viel dafürspricht, dass sich hier keine gesunden Menschen aufhalten.

Ist Leonie krank?

Zumindest verschwindet sie hinter der großen Glastür.

Schlagartig weckt das mein Mitleid.

Wie konnte ich schlecht über sie denken und sie verurteilen für eine Haltung, deren Ursprung ich nicht beurteilen kann?

Meinen Freund haben die letzten Eindrücke überfordert, doch seinen Vorschlag, hier abzubrechen, lehne hingegen ich jetzt ab.

Mitnichten bezeichne ich mich als einen Shih Tzu mit Sensationsgier, allerdings spielt sich gerade eine Menge in meinem Inneren ab.

Umstrittenes ohne Erklärungen hinzunehmen, es zu verdrängen oder voreiliges zu vergessen, erscheint mir weit weg.

»Sei mir nicht böse, Eddy, wenn es mir schwerfällt, Dich zu verstehen. Eisern betest Du mir vor, dass man sich durchbeißen müsse, nicht nur durch Kausnacks.

Seit wann gibst Du auf, weil Du Dir eine Situation nicht erklären kannst?

Hast Du Angst?«.

»Vor dem, was wir zu sehen bekommen? Genau das habe ich und davor, nichts tun zu können«, gibt er unumwunden zu.

Entweder ist er weiter im Analysieren dieser Situation als ich oder er benutzt es als Ausrede.

Angst habe ich seltsamerweise nicht, zählt sie auch sonst zu meinem täglichen Begleiter.

»Schau Eddy. Leonie«.

Wer ist die Frau an ihrer Seite?

Ein trauriges Bild zeichnet sich ab.

Eddys Blick bedrückt mich noch mehr.

»Das wollte ich Dir ersparen Mo. Längst hatte ich gelesen, dass es sich um ein Hospiz handelt«.

»Ein Hos was?«.

Noch ist mir schleierhaft, vor welchem Hostel wir stehen.

Mysteriös und aufwühlend.

Leonie hakt sich bei der Frau unter und geht mit ihr spazieren.

Merkt die Kleine nicht, dass die Begleitung zu schwach zum Laufen ist?

Diese dünnen Beine können nicht tragen.

»Eddy? Was passiert hier? Und warum trägt die Frau ein Kopftuch und einen Bademantel an diesem eisigen Tag? Sie holt sich den Tod«.

»Erwiesen, Mo«, erklärt mir Eddy traurig und leise.

»Die Menschen sind zum Sterben in diesem Haus. Sie werden auf dem schwersten Weg ihres Lebens bis zum letzten Atemzug von ihren Liebsten begleitet«.

Ich kann nicht glauben, was ich höre und will ihn überzeugen, dass er irrt.

»Nein Eddy. Ein dünner Körper macht lange noch keine Aufgebende. Und Leonie ist jung, in der Blüte ihres Lebens und voller Energie. Würde sie freiwillig diesen Ort der Schule vorziehen? Du liegst falsch, wenn Du nach Erklärungen suchst. Deine sind schlecht«.

Eddy lässt den Kopf hängen und murmelt: »Ich wünschte, Du hättest recht«.

Habe ich, denke ich und schlage vor, dass wir Leonie einen Wink geben, dass sie hier tagsüber nichts zu suchen hat. Gerade als ich losrennen will, reißt mich mein Freund nicht gerade sanft zurück und weist mich in meine Schranken.

»Lass ihr diese Momente mit ihrer Mutter«, bittet er eindringlich.

»Viele werden sie davon nicht mehr haben«.

Ich verstehe nichts, sehe allerdings, wie die zwei auf der anderen Seite sich fest im Arm halten.

Beide weinen und küssen sich.

Die Befürchtung, Eddy könnte recht behalten, schnürt mir die Kehle zu.

Ob Leonie allein im Schulbus gesessen hat, um nicht darüber sprechen zu müssen, was sich in ihrem Leben abspielt?

Ist ihre ruppige Art ein eigens initiierter Schutz vor Gefühlsausbrüchen?

Ich wünschte, nicht so schnell Menschen abzuwerten, solange ich nicht die Geschichte hinter ihnen kenne.

Wie bewege ich Eddy dazu, dass wir Leonie weiter begleiten?

Meine anfängliche Meinung revidiere ich und wünsche mir nichts sehnlicher als mehr zu erfahren von dieser äußerst tragischen Lebensgeschichte, die wir befürchten.

Wir haben uns kürzlich entschieden, Trauerbewältigung zu unterstützen.

Makaber erscheint mir, diese bei Leonie leisten zu wollen.

Verdammt, ihre Mama lebt und wir sollten uns auf die Jugendlichen konzentrieren, die jemand Wichtigen verloren haben.

Ein perfekter Sterbebegleiter steckt ohnehin nicht in mir, mit all den Verlustängsten, die mich hemmen, mein Leben im Hier und Jetzt zu genießen.

Aus diesem Grund verwerfe ich meinen Wunsch und gebe Eddy ein Signal zum Abbruch.

Plötzlich ist er es, der nicht einlenkt.

»Du willst sie sich überlassen?«, fragt er sichtlich fassungslos.

»Gerade jetzt braucht sie uns, Mo. Wir müssen da sein und bleiben. Beständigkeit ist das, was ihr am meisten fehlt«.

Ich suche nach einer adäquaten Antwort, als mir plötzlich von hinten jemand grob übers Fell streicht.

»Leonie«, stottere ich erschrocken und selbst Eddy scheint überfordert von dem plötzlichen Aufeinandertreffen.

»Was wollt Ihr von mir?«, poltert sie los, ausgerechnet die Frage an mich stellend, dem es angeboren ist, unpassend zu reagieren.

Ich wünschte, ich könnte eine Tarnkappe aufsetzen und mich davon machen.

»Du wählst einen Weg, der menschlich nachvollziehbar ist«, rettet mich Eddy aus einer ausweglos scheinenden Situation.

»Prioritäten setzen in jeder Konsequenz ist mutig und zeugt von Stärke. Deine Mama ist das Wichtigste«.

»Woher weißt Du, wer sie ist?«.

Leonie blickt Eddy skeptisch an.

»Wenn ich das nicht spüren könnte, wäre ich einer Deiner Mitschüler und kein Hund«.

Zum ersten Mal hören wir sie lachen und nehmen ihr Angebot liebend gern an, sie nach Hause zu begleiten.

Leer

Zu Hause bei Leonie treffen wir nicht – wie erwartet – auf ein Zimmer mit Ballerspielen oder ähnlichen Utensilien, die dem Abbau von Stress und überschüssiger Energie dienen.

Keine Ahnung, was ich in ihr gesehen habe, sie ist ein ›normales‹ Mädchen mit den üblichen Wünschen und Träumen aller Teenager in ihrem Alter.

»Macht es Euch bequem, bevor ich das Schlachtermesser hole. Ich habe Hunger auf ein saftiges Terrier-Schnitzel oder neu definiertes Shih Tzu-Sushi«, witzelt Leonie.

Der Humor, den Eddy liebt, mich hingegen abschreckt und für Verweigerung prädestiniert ist.

In der Hand hält sie nicht das angepriesene Besteck, sondern eine Schale mit Wasser und zwei Kauknochen.

Überrascht ob der Tatsache gerüstet für das Wohlergehen zweier Hunde zu sein, interessiert mich zuerst, woher sie weiß, was wir lieben und brauchen.

Fragen erübrigen sich, als sie unmittelbar erklärt, dass ein vierbeiniger ›Allesklauer‹ ihr über Jahre den Gedanken vermittelt hätte, dass er ihr erster fester Freund fürs Leben sei. Lange habe sie sich nicht vorstellen können, ihn gegen einen aus Fleisch und Blut einzutauschen. Kein Junge hätte das gehabt, was ihn auszeichnete.

Ein schwarzer Tag, als sie ihn vor knapp sechs Monaten von einem schweren Leiden erlösen musste in dem Glauben, wenn ihm was injiziert werde, mitgehen zu müssen, weil sie beide sich ewige Treue geschworen hätten.

Eddy bewies das richtige Gespür.

Wir sind richtig bei Leonie.

Nach sechs Monaten kann sie die Trauer weder abgeschüttelt noch bewältigt haben.

Wir sind gefragt.

Am meisten interessiert uns, was für ein ›Pfoten-Freund‹ mit ihr durchs Leben ging und aus welchem Grund er nicht mehr an ihrer Seite ist.

Nicht nur darüber berichtet sie bereitwillig.

Er war DER Minko und sei ein echt treuer Begleiter gewesen, ein Golden Retriever mit dem Charakter eines Kuschelbären. Nichts habe sie ohne ihn unternommen, da er den intensiven Kontakt ebenso gebraucht habe wie sie. Bis er sich eines Tages ohne erkennbaren Grund von ihr zurückgezogen habe. Spaziergänge seien eine Qual für ihn geworden, ebenso der Kontakt zu Artgenossen, der ihm einst immerhin nicht unwichtig gewesen sei.

Bei einem Tierarztbesuch wurde die erschütternde Diagnose gestellt. Dass ihr der Boden unter den Füßen entzogen worden sei, sei nicht das erste Mal in ihrem Leben geschehen.

Minko litt unter Lymphdrüsenkrebs, eine Heilung war ausgeschlossen.

Immer mehr hätte er abgebaut und sie habe alles getan, um ihm das Leben zu erleichtern.

»Ich habe ihn sein lassen«, sagt Leonie ergriffen.