Führung beginnt bei dir - Whitney Breer - E-Book

Führung beginnt bei dir E-Book

Whitney Breer

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Beschreibung

Führungskräfte werden heute trainiert, gecoacht und in 360-Grad-Umfragen bewertet. Viele wissen alles über Feedbackregeln, Zielvereinbarungen und Motivationsmechanismen. Macht sie das zu exzellenten Führungskräften? In der Regel nicht, denn eine Botschaft, die nur den Kopf erreicht und nicht im Herzen ankommt, bewirkt wenig. Führung betrifft den ganzen Menschen, und Menschen lieben gute Geschichten. Was liegt also näher, als Leadership Excellence in Form einer packenden Geschichte zu vermitteln? Whitney Breer, internationaler Management Coach und erfahrene Trainerin, begleitet seit 25 Jahren Führungskräfte weltweit. Ihr gelingt das Kunststück eines Businessromans, der den aktuellen Stand der Forschung zu Selbstführung, Führungskommunikation, Teams, Projektsteuerung und weiteren Bausteinen des Führungserfolgs in eine ebenso unterhaltsame wie eindrückliche Geschichte verpackt. Bevor Kathleen, eine ambitionierte, aber wenig emphatische Führungskraft, die Leitung des Familienunternehmens für Landmaschinen anvertraut bekommt, schickt ihr Vater sie auf eine Reise um die Welt. Auf dieser Reise, die von Lafayette (Indiana) über Bangalore, Stockholm, Sao Paulo, Neuseeland und zurück in die Staaten führt, erfährt Kathleen viel über sich selbst und über das Geheimnis echter Leadership Excellence. Die Einsichten und Erfahrungswerte ihrer internationalen Sparringspartner werden dabei durch Erkenntnisse der Wirtschaftspsychologie untermauert. So entsteht das PRISM-Modell der Führung, das alle Facetten erfolgreicher Führung kompakt auffächert. Jedes Kapitel schließt mit einer kurzen Übersicht, mit der Führungskräfte die Kernbotschaften für sich reflektieren und anwenden können. Und tatsächlich kann man von einem indischen Start-up so einiges über die eigene Führungsmission und vom Untergang des Kriegsschiffs Vasa während seiner Jungfernfahrt 1628 eine Menge über Führungsversagen lernen.

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WHITNEY BREER

FÜHRUNG BEGINNT BEI DIR

Eine Weltreise zu Leadership Excellence

Ein Businessroman

Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.

Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss.

Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

© 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2020 erschienenen Buchtitel »Führung beginnt bei dir - Eine Weltreise zu Leadership Excellence. Ein Businessroman« von Whitney Breer © 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-023-0ISBN epub: 978-3-96740-022-9

Lektorat: Anna Ueltgesforth, Amorbach / www.arsvocis.de

Umschlaggestaltung: SCOPE we think design / Insa González / scope-ffm.com

Autorenfoto: Rebecca Peetz Fotografie, Odenthal

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg /www.buch-herstellungsbuero.de

Copyright © 2020 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Wir drucken in Deutschland.

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Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet.

Durch ihre Fürsorge, Liebe und, ja, extreme Geduld haben sie »goldene Samen« in mich gepflanzt, die mich mit innerer Stärke, starken Werten, Selbstbestimmung, Selbstvertrauen und Freude ausgestattet haben.

Dafür bin ich erfüllt von Dankbarkeit.

Inhalt

Vorwort von Frank Asmus

Vorwort der Autorin

Aufwachen in Lafayette, Indiana

Die Mappe

Familienangelegenheiten

Der Kampf mit Globalisierung

Spencer – wie alles begann

Mit einem Flügel fliegen

Ernüchternde Zahlen

Abheben in Bangalore, Indien

Ruchii

Kathleen

Bee Perfect

Über die Firma hinaus

Kindheitserinnerungen

Der Schulbesuch

Raum für persönliche Reflexion Die Lektionen von P3 (Purpose – Passion – Perseverance)

Segel setzen in Stockholm, Schweden

Nils

»Hitting it off«

Schwimmen oder untergehen

Aufwärts- und Abwärtsspirale

Eine Perlenschnur

Leidenschaft für Steingut

Raum für persönliche Reflexion Die Lektionen der gesunden Beziehungen fördern

Energie tanken in São Paulo, Brasilien

Ana

Veríssimo

Die Broschüre

Management by …

Die Veranstaltung

Sinnvolle Besprechungen

Der Schmetterlingseffekt

Raum für persönliche Reflexion Die Lektionen von Energie entfachen

Ins kalte Wasser in Christchurch, Neuseeland

Kiwis

Tui

Aus deinem Element heraus

Die goldenen Samen von Pini Honi

Arktische Luft

Raum für persönliche Reflexion Die Lektionen vom Stärken-Erkennen

Sichere Landung in Lafayette, Indiana

Trautes Heim, Glück allein

Lass uns Ball spielen

Home Run

Änderung der Pläne

Miles and More

Raum für persönliche Reflexion Die Lektionen vom Growth Mindset

Hoch hinaus bei Battlefield Harvesters

Die Entscheidung

Ein Elefant in Indiana

Zusammenfassung

Das P3RISM-Modell

Schlusswort

Danksagung

Literaturverzeichnis

Die Autorin

Stichwortverzeichnis

Vorwort von Frank Asmus

Die Herausforderungen, vor denen die Führungskräfte heute stehen, zeichnen sich wie die Basislager ab, die entlang des Weges zum Gipfel des Mount Everest liegen. Erfolgreiche Führungskräfte streben danach, ihr Ziel zu erreichen, und haben eine klare Vorstellung davon, wie dieser Gipfel – ihr persönlicher Mount Everest – aussieht. Doch der Weg dahin ist oft nicht klar vorgezeichnet und wenn ja, manchmal beängstigend.

Und was verstehen Organisationspsychologen unter einem positiven Arbeitsklima?

Dies ist …

… ein Arbeitsklima, in dem sich Mitarbeiter psychologisch sicher fühlen, Bedenken zu äußern, Ideen auszutauschen oder kalkulierte Risiken einzugehen.

… ein Arbeitsklima, in dem sich Mitarbeiter wirklich wertgeschätzt fühlen und starke, gesunde und vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Kollegen sowie zu ihrer Führungskraft haben.

… ein Arbeitsklima frei von verletzendem Klatsch, hinterhältigem Verhalten und Vetternwirtschaft.

… ein Arbeitsklima, in dem Mitarbeiter und Vorgesetzte konstruktives und positives Feedback gegenseitig austauschen.

Im Wesentlichen ist es ein positives, nicht toxisches Arbeitsklima, in dem die Mitarbeiter sich entwickeln und quasi aufblühen können und infolgedessen ihre Produktivität und die der Firma steigt, die Anzahl der Krankheitstage sinkt und innovatives, lösungsorientiertes Denken in die Höhe schießt.

Und die Frage bleibt: Was ist der beste Weg?

In ihrem Buch Führung beginnt bei dir bietet Whitney Breer Führungskräften einen Kompass, um bei ihrem Handeln sicher zu navigieren, diese Herausforderungen zu meistern und ihre Ziele zu erreichen.

Whitneys Vision ist sehr klar: Bei Führung geht es nicht um Mikromanagement, das Erteilen von Aufträgen, das Schreiben obligatorischer Leistungsüberprüfungen oder das Unterschreiben von Genehmigungen für den Urlaub. Zugegeben, echte Führung kann kompliziert, chaotisch und ermüdend sein. Das PRISM-Modell, das sie entwickelt hat, basiert auf der Forschung zu Positive Leadership. Dieser Führungsstil bedeutet, dass Sie sich wirklich für das Wohlbefinden und die Entwicklung Ihrer Mitarbeiter sowie für das Endergebnis interessieren. Es bedeutet auch, mit einem hohen Bewusstsein für sich selbst, Ihre Werte sowie mit einem klaren Sinn für den »Purpose« und persönlicher Integrität zu führen. Whitney hat dieses Modell in eine Geschichte gepackt.

Storytelling baut starke Verbindungen zwischen LeserIn und dem Inhalt auf. Einer der größten Geschichtenerzähler aller Zeiten, Steve Jobs, eröffnete seine berühmte akademische Abschlussrede an der Stanford University mit den Worten: »Ich möchte Ihnen drei Geschichten aus meinem Leben erzählen. Keine große Sache. Nur drei Geschichten.« In den folgenden 15 Minuten auf der Bühne hätten Sie eine Stecknadel fallen hören können. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums. Steve Jobs hätte auf der Bühne stehen und trockene Fakten und Studien rezitieren können, von komplexen Folien gestützt. Aber das wäre abstrakt und bliebe einfach nicht im Gedächtnis – und Steve Jobs wusste das.

Untersuchungen haben gezeigt, dass Fakten 20-fach eher haften bleiben, wenn sie Teil einer Geschichte sind. Gute Geschichten verbinden, engagieren, inspirieren und sprechen alle Arten von Lernenden an. Und genau das hat Whitney hier getan. Die folgende Geschichte über Kathleen Battlefield ermöglicht es Ihnen, durch deren Augen zu schauen und sich sowohl emotional als auch intellektuell zu engagieren. Kathleens persönliche Reise zu Leadership Excellence ermöglicht es Ihnen, sich vorzustellen, was Sie unter ähnlichen Umständen getan hätten. Und hoffentlich sich auch vorstellen zu können, was Sie in Zukunft als Führungskraft anders machen wollen.

Lesen Sie dieses Buch mit einem Textmarker und Stift in der Hand. Am Ende jedes Kapitels stellt Whitney Ihnen Fragen, die Sie zum Nachdenken und zur Reflexion über Ihr Handeln bringen sollen. Führung beginnt bei dir ist nicht darauf ausgelegt, im Bücherregal zu verstauben, dieses Buch wurde für die praktische Anwendung in Ihrer täglichen Arbeit als Führungskraft geschrieben.

Ich hoffe, dass Sie diese Inhalte nachhaltig in Ihren Führungsstil einbauen werden. Auf diese Weise können Sie die rauen und beängstigenden Herausforderungen auf dem Weg zu Leadership Excellence leichter bewältigen, da Sie ein positives Arbeitsklima im Team und der Organisation fördern, das Sie leiten. Durch Kathleen Battlefield haben Sie die einzigartige Möglichkeit, zu lernen und zu erfahren, wie Sie Ihre Mitarbeiter mit Positive Leadership führen können. Ergreifen Sie diese Möglichkeit!

Vorwort der Autorin

In den letzten 25 Jahren hatte ich die Ehre, Tausende von Führungskräften aus der ganzen Welt zu begleiten. Einige dieser Führungskräfte waren sogenannte ›High Potentials‹, standen in den Startlöchern ihrer Karriere und führten kleinere Teams. Andere waren schon auf dem Weg nach oben und leiteten bereits Abteilungen oder Geschäftseinheiten. Und es gab die dritte Zielgruppe, die bereits oberste Führungskräfte waren, zum Teil sogar kurz vor dem Ruhestand standen und bereit waren, den Staffelstab an die nächste Generation abzugeben.

In dieser ganzen Zeit hatte ich zudem die Freude, Hunderte von Teams aus der ganzen Welt zu unterstützen. Einige dieser Teams waren leistungsstark und arbeiteten eng zusammen wie eine gut geölte Maschine. Solche Teams waren leider die Ausnahme. Die meisten Teams, zu denen ich gerufen wurde, waren in Konflikte verstrickt. Es gab einen hohen Krankenstand, wenig Innovation und eine mangelnde Bereitschaft, Fehler einzugestehen. Nicht selten gab es das »Mir doch egal-Syndrom« gepaart mit innerer Kündigung. Die Auswirkungen auf die Mitarbeiter und die Unternehmensergebnisse waren verheerend. Es ist meine Berufung, Teams wie diesen den Weg aus dem Konflikt zu ermöglichen und sie dabei zu unterstützen, die Wunden der gegenseitigen Verletzungen zu heilen und die einzelnen Teammitglieder (wieder) in die Lage zu versetzen, Arbeitsumfeld und Teamklima aktiv mitzugestalten, sodass jeder gerne zur Arbeit kommt.

Mir wurden auch zahllose Ergebnisse von Mitarbeiterbefragungen, Fragebögen zur Mitarbeiterzufriedenheit, 360-Grad-Feedbacks und EQ-Testergebnissen anvertraut, von Unternehmen auf fünf Kontinenten und in über 20 Ländern. Um diese Umfragen zu untersuchen und zur Ursache des Problems zu gelangen, habe ich Einzelgespräche mit Mitarbeitern in allen Unternehmenshierarchien, Debriefings mit ganzen Teams und Abteilungen sowie 1:1-Coaching-Sitzungen mit den Führungskräften durchgeführt. In dieser Zeit wurde mir von Kunden, Schulungsteilnehmern und Coaching-Klienten gespiegelt, dass ich die Fähigkeit habe, Komplexität aufzuschlüsseln und Inhalte verständlich zu machen, die ihnen anfangs überwältigend erschienen. Dieses Talent habe ich nun genutzt, um ein fünfstufiges Modell zu entwickeln, das Führungsqualitäten fördert und greifbare Beispiele dafür liefert, wie Mitarbeiter mit Wertschätzung motiviert und geführt werden können.

Ich bin der Meinung, dass Menschen am besten lernen, wenn Inhalte in einer Geschichte vermittelt werden. Kaum jemand kann sich an lange Faktenlisten erinnern, geschweige denn, sie erfolgreich und nachhaltig umsetzen. Und wer will schon die Zeit damit verbringen, solche Listen auswendig zu lernen? Aber an Geschichten erinnert man sich leicht und gern, wenn sie die Vorstellungskraft und das Herz erobern. Und wenn diese beiden Komponenten zusammenkommen – Fakten und eine gute Geschichte –, dann geschieht etwas Magisches, dann entsteht der Wunsch nach Veränderung und eine klare Vorstellung, wie diese Veränderung initiiert und verfolgt werden kann.

Ich bin Forschern wie Barbara Fredrickson, Martin Seligman, Kim Cameron, Shawn Anchor, Angela Duckworth, Michelle McQuaid, Sigal Barsade und Robert Emmons für ihre bahnbrechende Arbeit und tief gehende Forschung auf dem Gebiet der positiven Psychologie und positiven Führung sehr dankbar. Für Leser, die harte Fakten und wissenschaftliche Studien benötigen, um das Führungsmodell, das ich auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse und meiner Berufserfahrung entwickelt habe, zu verifizieren, habe ich ihre Arbeit und Studien in diesem Buch dokumentiert.

In dieses Buch fließen meine Leidenschaft und mein Bestreben ein, wissenschaftliche Belege mit ungezählten Führungstrainings, Coachings und Kundengesprächen zu einer Geschichte und einem Modell zu verflechten, das für Führungskräfte auf der ganzen Welt greifbar wird. Die Charaktere in diesem Buch sind frei erfunden, und ich bin denen dankbar, die mein Leben so sehr bereichert haben und eine Quelle der Inspiration waren. Wenn es eine Sache gibt, die ich im Laufe der Jahre gelernt habe, dann ist es, dass Führung in der Tat ein Privileg ist, kein Geburtsrecht – und dass man sich auf eine Reise zu sich selbst begeben muss, um andere wirklich exzellent führen zu können.

Whitney Breer

Aufwachen in Lafayette, Indiana

Die Mappe

Kathleen konnte spüren, wie sich Susan Wilsons Blick in ihren Rücken bohrte. Als sie den Aufzugsknopf drückte, waren ihre Hände so verschwitzt, dass ihr Finger fast vom Knopf rutschte. Sie drückte erneut, diesmal fester und in der Hoffnung, dass der Aufzug dadurch schneller kommen würde. Ihr war klar, dass das albern war. Es schien, als ob sich alles in Zeitlupe bewegte, alles in ihrem Kopf fühlte sich wirr an. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie Sorge hatte, auch Susan könne es hören.

Genau in diesem Moment räusperte sich Susan. Kathleen stöhnte innerlich auf und tat so, als hätte sie nichts gehört. Wenn der blöde Fahrstuhl nur schneller käme, könnte sie diesem Gefühl der Demütigung entkommen, das sich bleiern auf ihre Schultern legte. Susan räusperte sich erneut und flüsterte ihren Namen: »Entschuldigung, Ms Battlefield?« Kathleen spürte die Rötung an ihrem Hals und in ihrem Gesicht, als sie sich langsam auf einem Absatz zu ihr umdrehte. »Was ist denn?«, zischte sie durch die Zähne. Susan lächelte mitfühlend und winkte ihr mit einer Mappe. »Ihr Vater hat mich gebeten, Ihnen diese Mappe mitzugeben, wenn Sie das Haus verlassen.« »Was ist das für eine Mappe?«, sagte Kathleen scharf und sah Susan finster an. »Sie enthält Ihre Reisepläne«, flüsterte sie fast entschuldigend. Kathleen ging langsam zu Susans Schreibtisch zurück, nahm die Mappe aus ihrer Hand und stopfte sie in ihre Handtasche. In diesem Moment hörte sie, wie sich der Aufzug hinter ihr öffnete und dann leise wieder schloss. Sie stöhnte noch einmal innerlich auf. »Das ist definitiv nicht mein Tag«, jammerte sie, als sie auf den Abwärtsknopf drückte und fühlte, wie Susans Blick sich in ihren Rücken brannte. »Dumme Kuh«, dachte sie. »Sie genießt wahrscheinlich jeden Augenblick.«

Familienangelegenheiten

Als Kathleens Wecker an diesem Morgen wie üblich um 5:30 Uhr geklingelt hatte, hatte sich Kathleen direkt im Bett hochgesetzt und breit gegrinst. »Heute ist der Tag. Heute werde ich endlich den Lohn für all die Jahre harter Arbeit und Engagement für das Unternehmen meines Vaters bekommen.«

Kathleens Morgenroutine war in Stein gemeißelt: 30 Minuten joggen, Kaffee im Thermobecher, während sie ihre Mails scannte. »Wer hat denn heute noch Zeit für Frühstück?«, dachte sie immer, wenn sie bequem in ihrem Auto in der Drive-in-Schlange stand. Dann eilte sie zur Firma und war immer spätestens um 7 Uhr im Büro und online. Sie glaubte fest an Zeitpläne und hielt sich strikt an sie. Sie glaubte noch fester an harte Arbeit und bemühte sich, jeden Tag die Erste und die Letzte im Büro zu sein. »Ich tue, was ich kann«, beruhigte sie sich.

Als Kathleen um 5:40 Uhr ihre Laufschuhe angezogen hatte und zur Tür hinausgegangen war, hatte sie am Horizont Gewitterwolken aufkommen sehen. Der Geruch von Regen hatte in der Luft gelegen und ein heftiger Wind war aufgezogen. »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung«, hatte sie vor sich hingemurmelt, als sie die Tür fest hinter sich zugezogen und dann überprüft hatte, ob ihre Laufmütze fest über ihren Ohren saß.

Kathleen Battlefield war eines von zwei Kindern, die im Familienunternehmen Battlefield Harvesters arbeiteten. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Nathan war ein aufstrebender IT-Superstar, der am MIT Informatik studiert hatte und auf seinen Abschluss dort noch einen MBA von Harvard draufgesetzt hatte. Kathleen und Nathan verstanden sich gut, aber sie waren nicht die besten Freunde. Ehrlich gesagt hatten sie nur sehr wenig gemeinsam, abgesehen von ihrem Familiennamen, den hohen Kosten für ihre diversen Uniabschlüsse und ihr berechtigtes Interesse am Unternehmen. Und das war aus Kathleens Sicht in Ordnung. Ihr Motto war immer: »Wir müssen uns nicht mögen, um die Arbeit gut zu erledigen.« Und sie hatte auch nie gezögert, diese Philosophie bei der Arbeit kundzutun. Ihr Bruder Nathan war derzeit IT Vice President und in der Nachfolge für die Position des CIO. Kathleen selbst war Vice President für Forschung und Entwicklung und war langfristig für die Position als Geschäftsführerin vorgesehen, da ihr Vater, Spencer Battlefield, beschlossen hatte, in den Ruhestand zu treten.

Der Kampf mit Globalisierung

Der aktuelle CIO, Frank Weatherton, war eine beliebte Führungskraft im Unternehmen. Frank hatte Kathleens Vater, Spencer, kennengelernt, als beide Männer während ihres Studiums in Florida bei einer Hurrikan-Säuberungsaktion als Freiwillige gearbeitet hatten. Spencer hatte bewundert, was für eine natürliche Ruhe und einen mitreißenden Optimismus Frank inmitten dieses Chaos ausgestrahlt hatte. Frank hatte freiwillige Helfer sowie Waren und Material auf seinem Laptop in einem provisorischen Zelt koordiniert. Nach ihrem Aufenthalt in Florida waren sie in Kontakt geblieben, und Spencer hatte ihn schließlich überzeugt, seine Sachen zusammenzupacken und von North Carolina nach Indiana zu ziehen, um die IT zu übernehmen. Das Unternehmen war in dieser Zeit rasant gewachsen, und Spencer hatte nach einem Experten auf diesem Gebiet gesucht, dem er vertrauen konnte. Spencer wusste, dass sie irgendwann den Laden würden schließen müssen, wenn sie die IT-Probleme nicht in den Griff bekämen. Es führte kein Weg daran vorbei. Battlefield Harvesters war zu einem renommierten Global Player geworden, und ihre IT befand sich noch in der Steinzeit, was Spencer so manch schlaflose Nacht gekostet hatte, bis Frank endlich an Bord war.

Frank hatte das verblüffende Talent, die Angst der Mitarbeiter vor neuen Technologien, IT-Tools oder allem, was über eine Steckdose oder einen Stecker verfügte, mindern zu können. Battlefield Harvesters hatte treue, fleißige Mitarbeiter, von denen viele in der zweiten oder dritten Generation im Unternehmen tätig waren. Frank war für viele dieser Angestellten auch heute noch ein Neuling, obwohl er seit über elf Jahren im Unternehmen war. Der Nachteil war, dass viele Mitarbeiter dadurch keine starke Bindung zur IT hatten. »Warum ein laufendes System ändern?«, dachten viele. Während andere einfach nur Angst vor IT hatten. Mit einer Firma wie Battlefield Harvesters, die sich inzwischen zu einem globalen mittelständischen Unternehmen entwickelt hatte, war die IT unvermeidlich, und Spencer war Frank aufrichtig dankbar.

Geht es dir darum, recht zu haben, oder darum, die Dinge richtig zu machen?

Kathleen hatte diese Angst vor neuen Technologien nie wirklich verstanden und den Mitarbeitern, die sich weigerten, neue Dinge auszuprobieren, nie sonderliches Mitgefühl entgegengebracht. Sie hatte Frank immer geraten, die Installation oder Erneuerung eines Systems einfach umzusetzen. Am besten nachts, wenn niemand online oder in der Firma war. Die Nutzer hatten dann keine Wahl, wenn das alte System erst einmal weg war. All diese endlosen Diskussionen und Informationsveranstaltungen waren nur Zeitverschwendung. »Untergehen oder mitschwimmen«, hatte sie immer gepredigt. Wenn sie es nicht mögen, können sie ja woanders arbeiten. Und hier im Herzen der Landwirtschaft in Indiana gab es nicht viele alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Das war eine Tatsache, die sie ziemlich häufig in die Waagschale warf, wenn es darum ging, die Fluktuationsrate so niedrig wie möglich zu halten.

Frank hatte sie freundlich angelächelt, als sie letzten Montag bei einer Vorstandssitzung eine ähnliche Bemerkung gemacht hatte und mit einem Augenzwinkern gesagt: »Kathleen, untergehen oder mitschwimmen, so führe ich Menschen nicht durch Veränderung. Stell dir mal einen Reiter vor, der auf einem Elefanten sitzt.« Kathleen verdrehte die Augen und seufzte hörbar, als sie sich auf eine weitere ausschweifende Geschichte von Frank in tiefstem Südstaatenakzent gefasst machte. Er beschloss, ihre dramatische Geste zu ignorieren. »Dieser Reiter – die Person, die oben sitzt – ist der Projektleiter. Und dieser mächtige Elefant, auf dem der Reiter nur wackelig sitzen kann, symbolisiert die Stakeholder, die von der Veränderung betroffen sind. Dieser Elefant soll nun auf die gewünschte Veränderung zusteuern …«

Kathleen hatte keine Ahnung, was er ihr mit dieser Geschichte sagen wollte und unterbrach ihn mitten im Satz, indem sie brüsk dazwischenging: »Was um alles in der Welt hat ein Elefant mit Erntemaschinen zu tun?« »Es ist eine Metapher, Kathleen.« Sie kommentierte sarkastisch: »Wir befinden uns in Indiana, Frank, verdammt noch mal, nicht auf Bali!« Dann schaltete sie den Projektor ein und schloss ihren Laptop an, um ihre Folien zu zeigen, die sie am Abend zuvor zusammengestellt hatte. »Die Zeit zum Geschichtenerzählen ist vorbei, Frank. Kommen wir zur Sache.« Kathleen bemerkte die eisige Stille im Raum und die Seitenblicke derjenigen, die am Besprechungstisch saßen. Sie entschied sich dafür, dies als ein Zugeständnis der Gruppe zu interpretieren, dass sie wie üblich recht hatte, und tauchte ohne Umschweife in eine Präsentation über Tieflader für Lkw ein. Dies war ein neuer Geschäftsbereich, für den sie sich starkgemacht hatte und der bis zu diesem Zeitpunkt an allen Fronten auf starken Widerstand gestoßen war. Aber sie hatte sich schon in das Projekt verbissen und war nicht bereit, zurückzurudern. Je mehr Widerstand sie bekam, desto entschlossener wurde sie.

Kathleen war akademisch gesehen ein echter Überflieger. Sie hatte einen Doppelabschluss in Betriebswirtschaft und Elektrotechnik von der University of California in Berkeley, gefolgt von einem in Patentrecht und Schutz des geistigen Eigentums von Harvard. Nichts hatte ihr an der juristischen Fakultät mehr Freude gemacht, als einen Fall zu gewinnen und ihren Standpunkt zu beweisen. Noch heute liebte sie es, wenn bei Besprechungen im Unternehmen eine lebhafte Diskussion zustande kam. Es ging ihr nicht unbedingt darum, recht zu haben. Ihr war es wichtig, dass Dinge richtig gemacht wurden. Sie war auf alles gut vorbereitet und hatte ein hohes Maß an Respekt vor denen, die es auch waren. Nichts verabscheute sie mehr als schlampige Arbeit und unzureichende Vorbereitung. Sie hatte meist schon eine klare Meinung, bevor sie sich an den Besprechungstisch setzte. Sie war hartnäckig, wenn es darum ging, zu zeigen, dass ihre Lösungen machbar und für das Unternehmen von hohem Wert waren. Sie hatte keine Probleme damit, dabei auch mal jemandem auf die Füße zu treten. »Das ist schließlich kein Beliebtheitswettbewerb«, merkte sie gern an. »Ich bin nicht hier, um Freunde zu finden. Ich bin hier, um zwei Dinge zu erreichen: zum einen, im nächsten Quartal noch mehr Shareholder-Value zu erzielen, und zum anderen, den Wettbewerb in die Knie zu zwingen.« Sie war der festen Überzeugung, dass Tieflader beide Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten. Im übertragenen Sinne natürlich.

Die Falle extremen Durchsetzungswillens: »Führung ist schließlich kein Beliebtheitswettbewerb!«

Kathleen warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, als sich die Aufzugstüren endlich öffneten. Es war 9:10 Uhr, als sie im Aufzug stand und sich plötzlich nicht mehr sicher war, welchen Knopf sie drücken sollte: Hauptausgang im Erdgeschoss oder ihr ehemaliges Büro im vierten Stock?

Spencer – wie alles begann

Spencer Battlefield parkte an diesem Morgen um 7:45 Uhr auf dem Mitarbeiterparkplatz und war überhaupt nicht überrascht, das Auto seiner Tochter bereits in der ersten Reihe zu sehen. Als er seine Autotür abschloss und zum Haupthaus ging, nahm er wahr, wie schwer sich seine Füße an diesem Morgen anfühlten. »Es ist, als würde ich auf Kaugummi laufen, der an den Sohlen meiner Schuhe klebt«, seufzte er. Der einstige Schwung in seinem Schritt war spurlos verschwunden.

Spencer parkte wie üblich in der letzten Reihe des zwei Hektar großen Parkplatzes für Angestellte und ging nachdenklich auf das Gebäude zu. Vor über 30 Jahren hatte er einen reservierten Parkplatz abgelehnt, als sein Vater Clive in den Ruhestand ging und ihm die Zügel übergab. Zum einen gab ihm der zehnminütige Spaziergang Zeit, nachzudenken und seinen Kopf frei zu machen, und zum anderen stieß er häufig auf Angestellte und nutzte die Zeit, um ein kleines Gespräch zu führen und ihnen auf dieser persönlichen Ebene zu begegnen.

Spencers Vater, Clive Battlefield, hatte das Familienunternehmen vor 60 Jahren gegründet. Obwohl es Mähdrescher schon seit mehr als hundert Jahren gegeben hatte, als das Unternehmen gegründet wurde, war sein Vater entschlossen gewesen, die technischen Probleme, die die Erntemaschinen zu dieser Zeit noch hatten, zu beseitigen. Eines der Probleme, die seinem Vater den Schlaf geraubt hatten, war die Tatsache, dass Kette und Chassis durch Staubkörner verstopft wurden, sodass der Luftstrom blockiert wurde und die Maschine aufgrund der Überhitzung Feuer fing. Diese Brände hatten nicht nur ganze Ernten und damit die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört, wenn zig erntereife Felder in der Hitze von Indiana niedergebrannt wurden, sondern hatten allein in den Vereinigten Staaten jedes Jahr Dutzende von Menschenleben gekostet. Der Purpose seines Vaters war auch heute noch allgegenwärtig. »Spencer«, hatte er immer wieder gesagt, »es ist mein oberster Purpose, das Ernten so sicher wie möglich zu machen. Niemand sollte seine Lebensgrundlage oder sogar sein Leben verlieren müssen, um der Welt Essen auf den Tisch zu bringen. Das treibt mich an.« Also hatte Clive die Ärmel hochgekrempelt und sich an die Arbeit gemacht. Er hatte Tag und Nacht an unzähligen Lösungen gebastelt, bis die Brandgefahr behoben war. Dann hatte er Geschwindigkeit und Kraftstoffeffizienz verbessert, denn die Benzinpreise waren in die Höhe geschnellt und verschlangen einen Großteil der Gewinne der Bauern.

Problemlösung als Basis einer Geschäftsidee

Spencer hatte den Hang seines Vaters zu intensiver Arbeit und höchster Handwerkskunst geerbt und lächelte wehmütig, als er in den schönen Erinnerungen an seinen Vater schwelgte. Er vermisste ihn. Seit seinem Tod vor fast dreißig Jahren hatte er oft das Gefühl, nicht nur einen Vater, sondern auch einen Mentor und Sparringspartner verloren zu haben. Bei seinem Vater war ein Jahr nach Spencers Eintritt in das Unternehmen ein inoperabler Gehirntumor diagnostiziert worden, und er hatte in dieser kurzen Zeit alles getan, um sein Wissen an seinen Sohn weiterzugeben. Er hatte in diesem Jahr viele Gespräche mit Spencer geführt. »Mein Sohn, es sind nicht die technischen Dinge, die ich mit dir teilen möchte. Du bist auf diesem Gebiet ein besserer Experte als ich. Es ist die menschliche Seite der Führung, über die ich mit dir sprechen möchte. Unsere Mitarbeiter sind nicht nur Zahlen oder Statistiken oder Kapital. Sie sind das Herz dieser Firma, verstehst du?« Spencer hatte mit seinem Vater im letzten Jahr vor seinem Tod unzählige Stunden verbracht und war auch noch jetzt, dreißig Jahre später, froh um jede Minute, die er mit ihm hatte teilen können.

Mitarbeiter sind das Herz eines Unternehmens.

Clive hatte die globale Ausrichtung seines Unternehmens nicht mehr miterlebt und auch nicht Nates und Kathleens Einzug in die Firma. Die beiden hatten sich zu zwei außergewöhnlichen Erwachsenen entwickelt und waren mit einzigartigen Talenten und enormem Potenzial gesegnet.

Seine Mutter Betty lebte in einem kleinen Häuschen, das er für sie auf seiner Ranch gebaut hatte, und es war beruhigend, sie in der Nähe zu haben. Sie war stolz auf ihre Enkelkinder und ihrem Sohn Spencer dankbar, dass er Clives Vermächtnis weiterführte. Kathleen und Nate waren vor sechs bzw. acht Jahren in das Unternehmen eingetreten. Obwohl Betty voller Stolz auf die Leistungen der beiden schaute, hatte sie Sorge, dass ihre Privatleben dabei auf der Strecke blieben, besonders Kathleens. »Das Mädchen arbeitet sich die Finger wund! Arbeit! Arbeit! Arbeit! Gibt es denn sonst nichts in ihrem Leben?«, beschwerte sie sich oft bei Linda, ihrer Schwiegertochter.

Nach seinem Abschluss in Agrartechnik und einem MBA kehrte Spencer in das Familienunternehmen zurück und setzte sein Wissen um. Er hatte das letzte Jahr mit seinem Vater verbracht, um all sein Wissen in sich aufzusaugen, und als sein Vater dann starb, wurde er im zarten Alter von 26 Jahren CEO.

In den 60 Jahren, seit sein Vater das Unternehmen gegründet hatte, war Battlefield Harvesters auf 16 000 Mitarbeiter weltweit gewachsen. Der Umsatz hatte im vergangenen Jahr bei rund acht Milliarden Dollar gelegen. In der Zentrale in Indiana waren über 5000 Mitarbeiter angestellt. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte das Unternehmen Produktionsstätten in sieben Ländern und auf vier Kontinenten aufgebaut.

Clive wäre mächtig stolz gewesen auf seine Enkelkinder, so viel war sicher. Nathan, oder Nate, wie er lieber genannt werden wollte, mit seiner Affinität zur IT, war innerhalb von sechs Jahren von einem Praktikum zur Position des IT Vice President aufgestiegen. Er war in der Firma sehr beliebt. Seine einfühlsame Art ließ die Menschen entspannen, wenn sie in seiner Nähe waren, und dies konnte Wunder wirken, wenn in hitzigen Debatten Spannung abgebaut werden musste oder wenn schwierige Entscheidungen getroffen werden mussten. Nate arbeitete direkt unter Frank Weatherton und die beiden hatten sich vom ersten Tag an verstanden. Ihre positive Einstellung und Leidenschaft für ihre Arbeit waren ansteckend für alle, die mit ihnen arbeiteten, etwas, das Spencer schmerzlich vermisste, wenn er sich an seine Beziehung zu seinem Vater erinnerte.

Das Tauziehen zwischen Bauchgefühl und rationalen Analysen

Im Gegensatz zu seiner Schwester Kathleen war Nate sehr intuitiv und verließ sich oft auf sein Bauchgefühl. Dieser Gedanke sorgte bei Spencer für ein schiefes Lächeln. Jedes Mal, wenn Nate einen Satz mit »Nun, mein Bauchgefühl sagt mir …« begann, konnte er förmlich sehen, wie sich die Haare an Kathleens Nacken aufstellten. »Vermutlich fällt der Apfel nicht weit vom Stamm«, murmelte er und dachte an seine Frau Linda, Kathleens Mutter. Beide schienen von Zahlen fast magisch angezogen zu sein und verließen sich bei ihren Entscheidungen stark auf ihre rationalen Analysen.

Nach Abschluss ihres Studiums hatte Kathleen zwei Jahre in einer Anwaltskanzlei in Chicago gearbeitet, bevor sie sich entschied, zum Familienunternehmen zurückzukehren, die Ärmel hochzukrempeln und sich an die Arbeit zu machen.

Seit ihrem Eintritt in die Firma hatte sie nicht mehr aufgehört zu arbeiten. Niemand würde leugnen, dass sie fleißig war, und doch hatte sie in puncto Zusammenarbeit mit den Kollegen in den letzten zehn Jahren viel Erde in der Firma verbrannt. Nach drei Jahren in der Rechtsabteilung glaubte sie ein deutliches Aufatmen gespürt zu haben, als sie als Interim-CFO angetreten war. Cynthia, die beliebte Finanzchefin, hatte bekannt gegeben, dass sie ein Baby bekommen würde, und alle hatten sich sehr für sie gefreut. Nachdem sie einige Wochen später von einer Vorsorgeuntersuchung ins Büro zurückgekommen war, trat sie ziemlich blass und in sichtbarem Schockzustand in Spencers Büro und erzählte ihm, dass sie Drillinge bekommen würde. Spencer hatte ihr daraufhin einen einjährigen, voll bezahlten Mutterschaftsurlaub gewährt, was für die amerikanische Unternehmenskultur sehr ungewöhnlich war. Er empfand es als das Mindeste, was er für sie hatte tun können, und er wollte sie nicht an die Konkurrenz verlieren. Kathleen vertrat sie während ihrer einjährigen Abwesenheit als Interim-CFO. Spencer könnte schwören, er habe an dem Tag, an dem Cynthia zurückgekehrt war, zwei Stockwerke tiefer Jubel und Applaus gehört. Seit fünf Jahren war seine Tochter nun Vizepräsidentin für Forschung und Entwicklung und hatte kürzlich begonnen, die Idee, Tieflader in ihr Produktportfolio aufzunehmen, mit aller Macht voranzutreiben. Eine ihrer größten Gegner in diesem neuen Geschäftsbereich war überraschenderweise ihr eigener Bruder Nate. Nate setzte sich leidenschaftlich für Digital Farming oder Farming 4.0 ein, wie er es liebevoll nannte, und war überzeugt davon, dass die Zukunft von Battlefield Harvesters davon abhängen würde.

Bei den traditionellen Sonntagsmahlzeiten auf der Familienranch hatten Kathleen und Nate mehrere hitzige Debatten zu diesem Thema geführt. Irgendwann hatten sowohl seine Frau Linda als auch seine Mutter Betty während dieser Mittagessen Gespräche über »geschäftliche Angelegenheiten« untersagt, was zu höflichem, aber oberflächlichem Small Talk zu Baseballergebnissen, dem Wetter oder lokaler Wohltätigkeitsarbeit geführt hatte. Es war ein fragiler Frieden, und niemand, der am Tisch saß, fühlte sich wohl.

Nachdem er nachdenklich über den Parkplatz der Angestellten gelaufen war und nun sein Büro erreicht hatte, wurde er herzlich von seiner persönlichen Assistentin Susan begrüßt, die bei Battlefield Harvesters war, seit er denken konnte. Sie hatte ein Herz aus Gold und war bei allen beliebt. Bevor Spencer sein Büro betrat, sagte er Susan, er wolle die nächste halbe Stunde nicht gestört werden. Als er sich an seinen Schreibtisch setzte und aus dem Fenster auf die Reihen verschiedener Testpflanzen starrte, die sich bis zum Horizont erstreckten, seufzte er schwer.

Er setzte sich in seinen Drehstuhl und drehte sich langsam einmal um die eigene Achse. Er schaute sich alle Bilder an den Wänden an, als sein Blick auf einigen hängen blieb: ein Foto von Nate und Kathleen, wie sie als kleine Kinder von einem Heuballen sprangen; ein Bild von Nate in Universitätstracht, als er das MIT-Studium abgeschlossen hatte; beide Kinder auf dem Rücksitz eines Traktors mit seinem Vater am Steuer; Kathleen, als sie einen nationalen Wettbewerb für angehende Ingenieure an der High School gewonnen hatte. Er lächelte, als er auf einem der Schränke ein Schiff in einer Glasflasche bemerkte. Schließlich schweifte sein Blick zu einer Weltkarte an der Wand. Farbige Stecknadeln markierten die Standorte und Produktionsstätten des Unternehmens. Um die Grenzen der Weltkarte herum waren Bilder von Mitarbeitern und Dankesschreiben und Karten aus aller Welt.

Die Pflege persönlicher Kontakte innerhalb eines globalen Unternehmens

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Abgesehen von dem einen Mal, an dem er vor seiner Frau auf die Knie gefallen war, um sich dafür zu entschuldigen, dass er ihren ersten Hochzeitstag vergessen hatte, war dies das härteste Gespräch, das er jemals mit jemandem hatte führen müssen. Aber wer würde behaupten, dass Elternsein ein Zuckerschlecken ist?

Mit einem Flügel fliegen

Pünktlich um 8:30 Uhr stürmte Kathleen in den Empfangsbereich des Büros ihres Vaters, nickte Susan kühl zu und sagte: »Guten Morgen. Können Sie mir bitte einen Kaffee bringen?« Ohne ein weiteres Wort glitt Kathleen in das Büro ihres Vaters und schloss die Tür hinter sich. Spencer stand auf und umarmte seine Tochter fest. »Hallo Kathleen. Schön, dass du hier bist. Nimm bitte Platz«, sagte er und klopfte leicht auf einen schwarzen Ledersessel an einem kleinen Besprechungstisch.

Spencer setzte sich zu ihr an den Tisch und zeigte auf ein Bild an der Wand. »Das da«, sagte er, »war das traurigste Chaos, das ich jemals mit aufgeräumt habe.« Kathleen starrte das Bild an, ein bisschen verwirrt über den Verlauf, den das Gespräch nahm. Das Foto war im September 2004 aufgenommen worden, nachdem der Hurrikan »Ivan« Pensacola, eine wunderschöne Stadt an der Golfküste von Florida, verwüstet hatte. Das Stadtzentrum war weggefegt worden und die Menschen dort hatten mehrere Wochen lang kein fließendes Wasser und keinen Strom gehabt. Kathleen war zu der Zeit auf dem College gewesen, aber sie erinnerte sich, dass ihr Vater mit Mitgliedern ihrer Kirche und der örtlichen Gemeinde dorthin gereist war. Sie hatten ihre Kleintransporter mit Generatoren und Ausrüstung beladen, um umgestürzte Bäume zu entfernen und den Menschen zu helfen, ihr Leben wieder aufzunehmen.

Das Bild, auf das er deutete, zeigte eine einsame Möwe am Strand, umgeben von angeschwemmten Trümmern, die die Küste umrahmten. Kathleen biss sich auf die Lippe, um dem Drang zu widerstehen, ihren Vater zu bitten, auf den Punkt zu kommen. »Habe ich dir erzählt, dass dieser arme Vogel versucht hat, wegzufliegen, als wir ankamen?«, fragte er. »Nun, Dad, dafür sind Vögel gemacht: zum Fliegen«, antwortete sie. Er lächelte und nickte zustimmend. »Genau. Das Problem war nur, dass dieser Vogel nicht mehr fliegen konnte. Er hob ab und nach ungefähr 30 Zentimetern in der Luft stürzte er zu Boden. Dann sahen wir, wie er im Kreis herumlief. Das arme Ding war total erschöpft.«

»Und?« Kathleen stupste ihn an. Ihr Ton klang ungeduldiger als sie beabsichtigt hatte, und sie zuckte zusammen.

Ein Vogel mit einem verletzten Flügel hebt nicht ab.

»Nun, ich habe Jeff Bridges, dem örtlichen Tierarzt, der unserem Such- und Rettungsteam zugeteilt wurde, dieselbe Frage gestellt. Jeff sagte, einer der Flügel sei gebrochen und daher könne die Möwe nicht fliegen. Er sagte, ohne medizinische Hilfe würde dieser Vogel einfach weiter im Kreis herumlaufen.«

»Das klingt nach einer ziemlich trostlosen Zukunft für eine Möwe«, musste Kathleen zugeben. »Was ist passiert?«, fragte sie.

Spencer grinste und sah sie an. »Jeff sagte nur, ich soll sie fangen. Ich dachte, er sei verrückt, aber ich rannte den Strand runter und hoffte, dass mir nicht die Luft ausgeht, bevor ich sie fange.«

Kathleen grinste bei dem Gedanken, dass ihr Vater einer verletzten Möwe am Strand nachjagte, und reichte ihre Hand über den Tisch, um seine Hand zu drücken.

»Ich habe sie am Ende gefangen und vorsichtig zum Transporter zurückgetragen, damit wir sie zu Jeff in die Tierklinik bringen konnten. Jeff hat sie verarztet und sie blieb auf der Station, bis sie wieder fähig war, ihre Flügel auszubreiten und zu fliegen.«

Kathleen konnte sich noch immer keinen Reim machen, was ihr Vater mit dieser Geschichte bezweckte.

Spencer drückte ihre Hand zurück und sagte leise: »Du fragst dich wahrscheinlich, warum dein alter Herr hier Geschichtchen erzählt.«

»Nun, wenn du es so formulierst, ja«, gab sie schmunzelnd zu.

»Wie dieser Vogel sich im Kreis drehte, um dann nach kurzem Flug wieder vornüberzufallen, hat mich in Teilen an dich erinnert.«

Die Stille im Raum war fast ohrenbetäubend. Und gerade in diesem Moment stürmte Susan mit einem Tablett mit Kaffee und Donuts ins Büro. Kathleen drehte sich um und starrte sie an. »Raus! Wissen Sie nicht, wie man klopft?«, zischte sie.

Susan blieb wie angewurzelt stehen und die Kaffeetassen glitten bedenklich nah an den Rand des Tabletts.

Spencer blickte seine Tochter scharf an und wandte sich dann entschuldigend an Susan. »Vielleicht stellst du das Tablett einfach auf meinen Schreibtisch. Wir bedienen uns selbst in ein paar Minuten.« Susan stellte das Tablett vorsichtig auf Spencers massiven Eichentisch und ging auf Zehenspitzen aus dem Büro. Sie flüsterte »Entschuldigung«, als sie die Tür leise hinter sich schloss.

Kathleen sah ihren Vater mit schmerzerfülltem und fragendem Blick an. Sie spürte die Wut in sich aufsteigen und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten, als sie fragte: »Vergleichst du mich gerade mit einem Vogel? Willst du damit andeuten, dass ich auf die Nase gefallen bin? Seit ich vor zehn Jahren bei diesem Unternehmen angefangen habe, habe ich gearbeitet wie ein Stier. Ich war maßgeblich an der Einführung unserer neuen Produktlinie für die Heim- und Rasenpflege beteiligt. Sie sind erst seit weniger als einem Jahr auf dem Markt und die Verkaufszahlen zeigen …« Spencer hob seine Hand, um sie aufzuhalten, und versuchte dann, die Hand seiner Tochter zu nehmen, doch sie zog sie zurück. »Hör zu, Schatz, wenn es um IQ, Gehirn und harte Arbeit geht, bist du ein echter Überflieger. Das alles kannst du, ohne nachzudenken.« Er schmunzelte über seinen eigenen Scherz, aber Kathleen saß schweigend da und starrte über seine Schulter auf das Bild der Möwe. Spencer fuhr fort: »Es ist der EQ-Anteil, der mich beunruhigt.«

Kathleen starrte weiter vor sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass er nun ein Stück Papier nahm und einen Kreis darauf zeichnete. »Bitte schau mal her. Vielleicht überzeugt dich ein Kreisdiagramm mehr als der Vergleich mit einem Vogel.« Er teilte dann den Kreis 50/50, schrieb IQ in den einen und EQ in den anderen Teil. Kathleen nickte, seufzte hörbar und verschränkte weiterhin die Arme vor der Brust.

Herz und Verstand – die beiden Flügel einer Führungskraft

»Leadership Excellence besteht aus IQ und EQ. Ohne Zweifel bist du ein Genie, wenn es um Daten und Fakten geht. Du lässt nicht locker, wenn es darum geht, etwas zu verstehen und dir neues Wissen anzueignen. Du hast dir schon die nötige Kompetenz angeeignet, die entsprechende Qualifizierung erarbeitet, das technische Problem gelöst, bevor die meisten Leute verstanden haben, dass es überhaupt ein Problem gibt. Ich schätze diese Stärken sehr und zweifle nicht im Geringsten daran. – Das gehört alles zum IQ.«

Spencer zögerte einen Moment, als er nach den richtigen Worten suchte. »Um ehrlich zu sein, es ist der EQ, der Anteil emotionaler Intelligenz, den ich gerade erwähnt habe: Einfühlungsvermögen für die Menschen in deiner Umgebung …«

Einfühlungsvermögen gehört genauso zu einem exzellenten Leadership wie analytische Qualitäten.

»Du willst, dass ich mit allen Mitleid habe?«, unterbrach sie ihn.

»Nein, nicht Mitleid, ich spreche von Empathie. Es geht darum, ein gesteigertes Bewusstsein für die Gefühle anderer und auch für deine eigenen zu haben. Aufmerksam zuhören können, also hören, was es über die Worte hinaus zu hören und zu verstehen gibt; sich in die Lage anderer Menschen versetzen können und etwas aus ihrer Perspektive sehen und fühlen, unterschiedliche Meinungen wirklich wertschätzen und nicht nur tolerieren. Das heißt auch, Vielfalt wirklich zu schätzen und zu nutzen, und sie nicht nur in Kauf zu nehmen. In der Lage sein, Feedback so zu geben, dass du Menschen nicht verletzt oder angreifst. Die Fähigkeit, vertrauensvolle Beziehungen zu deinen Mitarbeitern aufzubauen.« Spencer hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen.

»Um es auf den Punkt zu bringen, Dad, du beförderst mich nicht zum CEO? Hatten wir – du, ich und Nate – das nicht so vereinbart? Ich dachte, du planst deinen Ruhestand, und das hier ist ein Familienunternehmen! Wenn ich nicht das Ruder übernehme, wer dann? Willst du etwa dein Versprechen brechen?«, tobte sie vor Wut und die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund.

»Du bist einfach noch nicht so weit. Und ich bin für die 16 000 Mitarbeiter weltweit verantwortlich, die für ihre Arbeit bei Battlefield Harvesters ihr Herz und ihre Seele einsetzen. Es ist zu früh. Du bist noch nicht in der Lage zu führen«, sagte er traurig.

»Das ist nicht fair, Dad! Ich habe alles gegeben. Hast du eine Ahnung, wie viele Stunden ich hier verbringe? Ich komme jeden Tag als Erste und bin die Letzte, die die Firma verlässt. Ich habe neue Produktlinien eingeführt, unseren Umsatz gesteigert, die Betriebskosten drastisch gesenkt – um nur einige Dinge zu nennen!«, kreischte sie.

»Führung ist ein Privileg, kein Geburtsrecht, Liebling. Und wenn du mich fragst, hat Führung nichts damit zu tun, ob man hart arbeitet oder die meisten Stunden im Unternehmen verbringt. Kann ich dich etwas fragen? Und ich möchte eine ehrliche Antwort.«

»Schieß los. Ich bin immer ehrlich, das weißt du.«

»Warum willst du eine Führungskraft sein?«

»Was ist das für eine Frage?«, kreischte sie eine Oktave höher.

»Warum willst du eine Führungskraft sein?«, wiederholte er die Frage ruhig und sah ihr in die Augen.

Kathleens Kopf schien leer zu sein, als sie nach einer Antwort suchte. In ihrem Kopf war ein Vakuum und sie spürte, wie ihr Gesicht langsam rot wurde. Schließlich stammelte sie, »weil die Menschen jemandem folgen wollen, der einen guten Geschäftssinn und eine Vision für dieses Unternehmen hat.« Kathleen setzte sich aufrecht hin und fügte dann selbstbewusst hinzu: »Und ich habe beides.«

Spencer sah seine Tochter liebevoll an. Er musste zugeben, an Selbstbewusstsein fehlte es ihr nicht. Er fuhr fort: »Ich habe in den letzten 30 Jahren so viele Führungskräfte getroffen – viele hier im Unternehmen, andere über Kunden oder Lieferanten, andere durch mein Netzwerk. Führungskräfte aller Couleur. Und das Seltsame ist, einige von ihnen heben nie ab. Die meisten von ihnen sind intellektuell brillant und dennoch: Sie fliegen ein Stück und stürzen dann wieder ab oder laufen einfach im Kreis und gewinnen nie wirklich an Flughöhe.«

Wer sich allein auf seine Intelligenz und seine Geschäftsstrategie verlässt, fliegt mit nur einem Flügel – und hebt nie ab.

»Wie dieser Vogel am Strand«, murmelte Kathleen.

»Ja. Genau wie dieser Vogel am Strand sind sie nur mit einem Flügel geflogen, glaube ich. Wenn man das tut, winkt einem eine ziemlich trostlose Zukunft. Einige von denen, die ich getroffen habe, scheinen sich ausschließlich auf ihre Intelligenz und ihre Geschäftsstrategie zu verlassen. Andere versuchen, es allen recht zu machen, und anstatt sich mitfühlend in andere hineinzuversetzen, leiden sie mit. Keines dieser beiden Extreme ist hilfreich, wenn du als Führungskraft hoch und weit fliegen möchtest.«

Kathleen seufzte hörbar und fragte forsch: »Und du glaubst, ich fliege nur mit einem Flügel? Und dass ich auf eine trostlose Zukunft blicke?«

Ernüchternde Zahlen

Spencer war auf diese Frage vorbereitet. Er ging zur Garderobe in der Ecke, hantierte an der Innentasche seiner Anzugsjacke herum, holte ein paar Karteikarten heraus und wedelte damit in der Luft. Er breitete alle sechs Karten verdeckt auf dem Besprechungstisch aus und sagte: »Wähle eine Karte. Irgendeine Karte, die du willst.«

Kathleen griff nach einer und drehte sie um. Auf der Karte stand 15 Prozent und sie schaute ihn verwirrt an.

Gute Führung spiegelt sich in der Mitarbeiterzufriedenheit.

Spencer erklärte: »Das ist der Prozentsatz der Mitarbeiter, die gebeten haben, in ein neues Team zu wechseln, als du ihre Chefin warst.«

Kathleen griff nach einer anderen und drehte sie um: 20 Prozent.

Spencer war bestens vorbereitet: »Alle Teams, die dir unterstellt waren, hatten durchschnittlich 20 Prozent mehr Krankheitstage als andere Teams in diesem Unternehmen.«

Kathleen drehte stumm die nächste um: 28.

Spencer legte den Kopf schief und sagte: »Die durchschnittliche Anzahl der Überstunden, die du in einer Woche leistest. Und das schließt nicht einmal die Anzahl der Stunden ein, die du am Wochenende online bist.« Bevor Kathleen sich rechtfertigen konnte, sagte er: »Darauf solltest du nicht stolz sein, Liebling. Härter zu arbeiten heißt nicht gleich, klüger zu arbeiten.«

Es waren noch zwei Karten übrig, und Kathleen war sich nicht sicher, ob sie die noch umdrehen wollte. Aber sie war nie jemand gewesen, der einen Rückzieher macht, also drehte sie langsam die vorletzte Karte um: 1,7. Kathleen sah verwirrt auf.

Spencer seufzte, als er sich die Mappe schnappte, die auf seinem Schreibtisch lag. »Nun«, begann er, »die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung sind vor einigen Tagen eingegangen. Ich habe sie noch mit niemandem intern besprochen, nur mit den externen Beratern, die die Umfrage für uns durchgeführt haben.«

»Wenn du dich erinnerst«, fuhr er fort, »war eine der Fragen: ›Bekommen Sie Anerkennung von Ihrer Führungskraft, wenn Sie gute Leistungen erbringen?‹

Wie alle anderen Fragen lag auch hier die Antwort auf einer Skala von 1 bis 5«, erinnerte er sie.

Es war so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Schließlich nahm Kathleen all ihren Mut zusammen, die Frage zu stellen, deren Antwort sie schon erahnte: »Und ich habe eine 1,7 bekommen?«

»Ja«, antwortete Spencer leise.

»Was war der Unternehmensdurchschnitt bei den anderen Führungskräften?«, wollte sie wissen.

Spencer schaute in die Mappe und antwortete: »3,8«.

Kathleen sah niedergeschlagen auf die letzte Karte auf dem Tisch und drehte sie um: 2.

»Was war die Frage und was war der Unternehmensdurchschnitt?«, fragte sie. Sie wollte das alles nur noch hinter sich bringen.

Spencer überprüfte seine Notizen und las: »Ist Ihr Vorgesetzter empfänglich für die Vorschläge, die Sie machen? Unternehmensdurchschnitt war 4.«

Plötzlich richtete sich Kathleen auf und fragte schon fast mit Panik in der Stimme: »Wo oder von wem hast du all diese Daten bekommen, Dad? Die Umfragedaten stammen von den Beratern, aber was ist mit den anderen Statistiken über mich?«

»Die IT-Abteilung«, antwortete er und schaute zu Boden, ihren Blick meidend.

»Du hast Nate gebeten, mich auszuspionieren? Meinen eigenen Bruder? Er weiß das alles?«, kreischte sie.

»Nate hat dich nicht ausspioniert. Er hat die Daten abgerufen, nach denen ich gefragt habe. Wenn nicht er, wer dann? Wen soll ich fragen?«, fragte er und sah ihr diesmal direkt in die Augen.

Spencer beugte sich vor und lächelte. »Hör zu, Schatz, ich sage nicht, dass du niemals CEO dieser Firma sein wirst. Ich sage: jetzt nicht.

Schau mal, letztes Jahr bist du deinen ersten Marathon gelaufen, oder?«

Kathleen lächelte, richtete sich auf und straffte ihre Schultern. »Ja. Wir haben über 10 000 Dollar an Sponsorengeldern für die Krebsforschung gesammelt.«

»Wer ist wir?«, fragte Spencer.

»Wir … waren eine Gruppe von Mitarbeitern hier bei Battlefield Harvesters.«

»Und wie genau habt ihr das gemacht?«, fragte er weiter, um ihr Details zu entlocken.

»Ich habe ein sechsmonatiges Trainingsprogramm organisiert und es Von 0 auf 26 genannt. Innerhalb von sechs Monaten konnten sich alle Läufer von null auf 26 Meilen hocharbeiten«, erklärte sie.

»Was wäre passiert, wenn diese Leute ohne Training am Marathon teilgenommen hätten?«, fragte er unschuldig.

»Was für eine alberne Frage, Dad! Sie hätten versagt. Vielleicht hätten sie sich verletzt. Oder sie hätten auf halber Strecke alles hingeschmissen und wären frustriert und demotiviert gewesen. Sie mussten ihre Muskeln allmählich aufbauen. Die fallen nicht vom Himmel!«, sagte sie gereizt.

»Ich hätte es nicht besser sagen können. Sie mussten ihre Muskeln aufbauen. Was für eine großartige Analogie, Kathleen«, sagte er.

»Worauf willst du hinaus, Dad?«, fragte sie noch gereizter.

»Hör jetzt gut zu«, fuhr er fort, »ich habe einen Vorschlag. Ich möchte dir die Möglichkeit geben, deine Führungsmuskeln durch eine Art Reise aufzubauen und zu trainieren. Und wenn du zurückkommst und deine Führungsmuskeln gestrafft sind, schauen wir weiter.«

Kathleen fühlte sich wie betäubt. Sie hatte hiermit kein bisschen gerechnet, obwohl diese Zahlen im Grunde keine große Überraschung waren. Ihr Vater und sie hatten diese Missstände schon einige Male besprochen, aber jedes Mal hatte sie es geschafft, sich mit einer rationalen Erklärung aus der Verantwortung zu stehlen. Ehrlich gesagt hatte sie jedoch nicht damit gerechnet, dass die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung so verheerend ausfallen würden.

Mit dem Kopf noch in den Händen murmelte sie: »Und jetzt soll ich in Urlaub fahren?«

»Nicht ganz. Obwohl es dir ernsthaft guttäte, ein bisschen Abstand zwischen dich und diese Firma zu bringen. Nur für eine Weile«, sagte er ermutigend.

»Wohin geht diese Reise? Worum geht es?«, fragte sie verwirrt.

»Mach du dir darüber keine Gedanken. Es ist schon alles organisiert.« Er griff nach dem Prisma, das neben einem Familienfoto auf seinem Schreibtisch stand, und hielt es in seiner Handfläche.

»Hey, das ist doch Opas Prisma, oder?« Kathleen erinnerte sich vage an ihren Großvater. Er war gestorben, als sie noch ein kleines Kind war, und die meisten ihrer Erinnerungen stammten von Fotos oder von den Geschichten, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte. Kathleen erinnerte sich gerührt daran, wie ihr Vater das Prisma ins Licht gehalten hatte, während sie durch den Raum gerast waren in dem Versuch, als Erste den Regenbogen an der Wand zu fangen.

»Das stimmt!«, lächelte er aufmunternd. »Dein Großvater hat es mir anvertraut, als er mir vor dreißig Jahren die Zügel für die Firma übergab.«

Spencer warf einen Blick auf ein Bild seines Vaters an der Wand und fuhr fort. »Damals sagte er zu mir: ›Spencer, Leadership Excellence besteht aus fünf Faktoren, ein Faktor für jede Seite dieses Prismas, und nur wenn du jede Seite beherrschst, kannst du in der Tiefe verstehen und wertschätzen, was im Unternehmen vor sich geht. Dann kannst du Menschen wirklich führen.‹«

Spencer hielt einen Moment inne, um im Morgensonnenlicht mit dem Prisma zu spielen. Dann sagte er: »Die Schönheit eines Prismas ist das, was passiert, wenn weißes Licht gebrochen wird, während es sich durch das Prisma bewegt. Du bist ein Superstar der Physik, Schatz. Was genau bedeutet das: Licht wird gebrochen? Wie würdest du es einem Laien wie mir erklären?«

Kathleen nahm das Prisma in die Hand und stand auf. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihre Beine zu strecken und ging zu dem großen Fenster hinter Spencers Schreibtisch. Sie hielt es ins Licht und sagte: »Brechen bedeutet, dass Licht in dem einen Winkel hereinkommt und in einem anderen wieder rausgeht. Das weiße Licht besteht eigentlich aus sieben verschiedenen Farben, die nahtlos miteinander verschmelzen: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigoblau, Violett. Jede Farbe kann in ihrer eigenen Wellenlänge und damit in ihrer eigenen Schönheit und Stärke gesehen werden, wenn das weiße Licht gebrochen wird.«

Unabdingbare Eigenschaften für Leadership Excellence

Spencer trat zu ihr ans Fenster und beobachtete, wie Kathleen das Prisma ins Licht hielt und es schräg hielt, sodass das Farbspektrum auf der Mappe mit den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragung fast tanzte.

»Ich möchte, dass du ernsthaft über meine Frage nachdenkst, warum du Führungskraft sein möchtest. Ich denke, du kannst diese Frage besser beantworten, wenn du wirklich verstehst und schätzt, was jede Seite bedeutet. Jede Seite steht für eine Qualität oder Eigenschaft, die ich für Leadership Excellence für unabdingbar halte.«

Kathleen wurde plötzlich ganz aufmerksam und fragte: »Also, wohin schickst du mich? Was ist mit dieser Reise? Kann ich nicht einfach ein Buch darüber lesen?«

Spencer lächelte und schüttelte den Kopf. »Dieses Mal liest du kein Buch, Liebes. Selbsterforschung und Seelensuche erfordern praktisches Üben. Du musst jede Seite selbst erleben und dann eigene Antworten finden. Außerdem, wie gesagt, wäre es gut, wenn du dieses Unternehmen für eine Weile verlassen würdest.«

»Aber Dad, ich muss doch wissen, wohin ich reise«, sagte sie fast verzweifelt.

»Hier ist der Plan: Du bekommst die Gelegenheit, Menschen oder besser Mentoren zu besuchen, die mein Leben und meinen Führungsstil im Laufe meiner Karriere maßgeblich beeinflusst haben. Jeder wird dir etwas anderes beibringen und dich hoffentlich aus deiner Komfortzone herausholen. Am Ende jedes Besuches erhältst du deine Reisepläne für das nächste Ziel.«

Kathleen starrte ihn an und suchte nach Worten. »Wie lange werde ich weg sein, Dad? Das klingt alles so geheimnisvoll.«

»So lange, wie es dauert, Schatz. Vertraue einfach dem Prozess. Übrigens, pack Kleidung für jedes Wetter ein – warm, kalt, nass … Du brauchst eine Auswahl an Kleidung. Bis zu deiner Rückkehr beschlagnahme ich übrigens dein Firmenhandy, deinen Laptop, dein Tablet und deine Smartwatch. Du machst gleichzeitig eine Medienentgiftung, während du weg bist. Gib mir bitte alle Geräte.«

Kathleen sah perplex aus, als sie sich vorbeugte und ihren Laptop, ihr Handy und ihr Tablet aus ihrer Tasche zog. Sie nahm ihre Smartwatch ab und legte sie auf den Stapel. Sie schob sie in die Mitte des Tisches wie eine Pokerspielerin, die einen Stapel Jetons nach vorne schiebt, um den nächsten Spielzug anzukündigen.

Kathleen stand unsicher auf und umarmte ihren Vater fest. Obwohl sie nicht immer einer Meinung waren, hatte sie großen Respekt vor ihm und dem Unternehmen, das er in den letzten dreißig Jahren aufgebaut hatte.

Kathleen verließ das Büro und ging schnurstracks zum Aufzug. Kathleen konnte spüren, wie sich Susan Wilsons Blick in ihren Rücken bohrte. Als sie endlich im Aufzug war, entschied sie sich für den Knopf »E« – Erdgeschoss. Sie brauchte unbedingt frische Luft. Sie setzte sich dann in ihr Auto auf dem Firmenparkplatz, kramte die Mappe, die Susan ihr gegeben hatte, aus ihrer Handtasche und starrte das erste Flugziel an: Bangalore, Indien. Zusätzlich zu ihrer Reiseroute steckte ein kleines Notizbuch darin. Auf der Titelseite befand sich ein Klebezettel mit einer Notiz ihres Vaters, die lautete: »Dieses Notizbuch wird dir auf deiner Reise nützlich sein.«

Abheben in Bangalore, Indien

Ruchii

Als das Flugzeug in Bangalore die Landebahn berührte, streckte Kathleen ihre steifen Beine und legte die Stirn an das Fenster. Sie starrte aus dem Fenster und schaute zu, wie das Flugzeug langsam auf das Gate zusteuerte. Während die anderen Passagiere in den Gepäckfächern nach ihrem Gepäck suchten, blieb sie regungslos sitzen. Sie fühlte sich, als wäre sie am Sitz festgeklebt, und merkte nicht, was um sie herum vorging. Erst ein leichtes Klopfen auf ihre Schulter holte sie in die Realität zurück. Sie hörte eine sanfte Stimme mit indischem Akzent sagen: »Entschuldigen Sie, Madam. Ist alles in Ordnung? Soll ich den Betreuungsservice für Sie rufen, damit er Sie beim Aussteigen unterstützt?«

Kathleens Tagtraum endete abrupt, als sie sich umdrehte und die Flugbegleiterin vor ihr stand, die sie während des Fluges bedient hatte. Sie sah nun, dass alle anderen Passagiere das Flugzeug bereits verlassen hatten. Die restliche Besatzung hatte sich in der Küche versammelt und sah sie neugierig und ein wenig verunsichert an.