Für eine andere Gerechtigkeit - Ute Gerhard - E-Book

Für eine andere Gerechtigkeit E-Book

Ute Gerhard

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Beschreibung

Jetzt erst recht! Im Recht spiegeln sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Doch mit ihm lässt sich auch die Gesellschaft verändern. Was bedeutet das für die Geschlechtergerechtigkeit und die Frauenrechte? Die Frauenbewegungen sind schon immer Motoren gesellschaftlichen Wandels gewesen: Sie haben politische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeit benannt und Gerechtigkeit eingeklagt. Dieses Buch setzt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Mittel politischer Einmischung auseinander, die Geschlechtergerechtigkeit als konkrete Utopie nicht aus den Augen verliert. Den Rechtsgrundsatz der Gleichheit versteht Ute Gerhard dabei nicht als absolutes Prinzip, sondern als dynamisches Konzept. Rechte müssen im jeweiligen Kontext erkämpft, verteidigt und neu verhandelt werden. Sie schildert die Geschichte der Frauenrechte in Europa seit dem 19. Jahrhundert bis heute und zeigt verschiedene Dimensionen feministischer Rechtskritik auf. Die Lebensrealität von Frauen und Männern behält sie dabei fest im Blick.

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Ute Gerhard

Für eine andere Gerechtigkeit

Dimensionen feministischer Rechtskritik

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Jetzt erst recht!

Im Recht spiegeln sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Doch mit ihm lässt sich auch die Gesellschaft verändern. Was bedeutet das für die Geschlechtergerechtigkeit und die Frauenrechte?

Die Frauenbewegungen sind schon immer Motoren gesellschaftlichen Wandels gewesen: Sie haben politische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeit benannt und Gerechtigkeit eingeklagt. Dieses Buch setzt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Mittel politischer Einmischung auseinander, die Geschlechtergerechtigkeit als konkrete Utopie nicht aus den Augen verliert. Den Rechtsgrundsatz der Gleichheit versteht Ute Gerhard dabei nicht als absolutes Prinzip, sondern als dynamisches Konzept. Rechte müssen im jeweiligen Kontext erkämpft, verteidigt und neu verhandelt werden. Sie schildert die Geschichte der Frauenrechte in Europa seit dem 19. Jahrhundert bis heute und zeigt verschiedene Dimensionen feministischer Rechtskritik auf. Die Lebensrealität von Frauen und Männern behält sie dabei fest im Blick.

Vita

Ute Gerhard ist emeritierte Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Gründungsdirektorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse.

Inhalt

Einleitung

I. Frauenbewegung und Recht

Nicht nur Gleichberechtigung – Frauenbewegung, Feminismus und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik

Zur Vorgeschichte

Die 1970er Jahre: Die Neue Frauenbewegung

Die ostdeutsche Frauenbewegung

Eine gesamtdeutsche Frauenbewegung? – 1989 als Zäsur

Ein ›neuer‹ Feminismus?

Von der Frauen- zur Geschlechterforschung zur Geschlechterdifferenz und Differenz unter Frauen

Die Grundlagenkrise des Feminismus als Theorie

Und nun? – Eine dritte Phase

Geschlechterforschung und feministische Theorie in der politischen Auseinandersetzung

Gleichstellungspolitik

Feministisches Alltagswissen

Schlussfolgerung

Feminismen im 20. Jahrhundert – Diskurse und Konzepte

Die ›langen Wellen‹ der Frauenbewegung

National oder international?

Wohlfahrts- oder Gleichheitsfeminismus

Gleichheit und/oder Differenz

Frauenrechte sind Menschenrechte

Wozu Menschenrechte?  Über Unrechtserfahrungen oder das Aussprechen einer Erfahrung mit Recht, das (bisher) keines ist

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948: Anlass und Begründung

Frauen und Menschenrechte

Ein Meilenstein: Die Verabschiedung der Frauenrechtskonvention

Vorbehalte der Vertragspartner

Exkurs: Frauenrechte und Islam

Fortsetzung: Vorbehalte und Verfahren

Der Durchbruch: Die Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien 1993

Am Ziel? Die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995

Unrechtserfahrungen – Die Menschenrechte als Instanz des Sprechens

II. Zur Geschichte der Frauenrechte und den Kämpfen um Anerkennung

Frauenrechte im Europa des 19. Jahrhunderts – Die Bedeutung des Privatrechts für die Rechtsungleichheit der Frauen

Die Ausgangslage bis zur Französischen Revolution

Die Zeit der Französischen Revolution: Der Auftakt zu Frauenrechten als Menschenrechten

Die Rechtsstellung von Frauen in verschiedenen Rechtskreisen

Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794

Der französische Code civil

Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811

Gemeines und kirchliches Recht

Das englische Common Law

Exkurs zum amerikanischen Common Law

Das russische Familienrecht

Das skandinavische Recht

Ergebnis des Rechtsvergleichs

Der Kampf um das Frauenwahlrecht – Deutschland und England im Vergleich

Drei Strömungen der Stimmrechtsbewegung

Zur Vorgeschichte der Stimmrechtsbewegungen in Großbritannien und Deutschland im Vergleich

Großbritannien

Deutschland

Die Radikalisierung der britischen Suffragetten

Die Bewährungsprobe 1914

Schlussbemerkung

Europäische Bürgerinnenrechte – Feministische Anfragen und Visionen

Vorbemerkung

Europa als Rechtsgemeinschaft

Europäische Frauen- und Gleichstellungspolitik – ein Erfolgsmodell?

Das demokratische Defizit

Bürgerinnen und Bürgerrechte

Das Paradox des demokratischen Defizits

III. Gesellschaftskritik in der Geschlechterperspektive

Feministische Perspektiven in der Soziologie – Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen*

Jenny P. d’Héricourt als Opponentin von Auguste Comte

Pionierinnen der empirischen Sozialforschung um 1900

Viola Kleins soziologische Dekonstruktion der Geschlechtertheorien

Die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung im Zuge der Neuen Frauenbewegung

Die neue Geschlechter(un)ordnung – Feministische Perspektiven auf Ehe und Familie

Die neue Vielfalt der Familienformen: Trends im europäischen Vergleich

Unterschiedliche Familienregime oder nationale Profile

Alte Probleme und neue Freiheiten

Müttererwerbstätigkeit

Familienrechtliche Reformen und widersprüchliche Botschaften

Die eingetragene Lebenspartnerschaft und die ›Ehe für alle‹

Eine neue Geschlechterordnung: Ehe, Liebe und Gerechtigkeit

Das Konzept fürsorglicher Praxis – Care als sozialpolitische Herausforderung moderner Gesellschaften

Vom erweiterten Arbeitsbegriff zu fürsorglicher Praxis – Vorläufer der aktuellen Debatte

Care als Schlüsselkonzept einer zukunftsfähigen europäischen Sozialpolitik

Care als soziales Bürgerrecht, als Menschenrecht?

Resümee

Schlusswort: Eine andere Gerechtigkeit

Literatur

Dank

Einleitung

Rechte sind immer wieder neu zu verhandeln, zu verteidigen und zu erwerben. Sie können daher nicht verstanden werden als Haben oder Besitz, vielmehr sind sie Ausdruck von institutionalisierten Regeln für soziale Beziehungen und für die Verbundenheit mit anderen Menschen.1 Das gilt ›erst recht‹ für die Rechte von Frauen, zumal im aufgeklärten, neuzeitlichen Rechtsverständnis nicht eine »austeilende oder vergeltende Gerechtigkeit von oben«, sondern »eine aktive von unten«2denkbar wird, also ein von den Menschen, mit Rücksicht auf die gleiche Freiheit der jeweils anderen vereinbartes Recht möglich ist. Doch obwohl Frauen als die eine ›Hälfte des Menschengeschlechts‹ grundsätzlich an allen Revolutionen, Protest- und Reformbewegungen beteiligt waren, mussten sie im Nachhinein immer wieder mit Verwunderung und Empörung feststellen, nicht mitgemeint und um die ›Früchte der Revolution‹ betrogen worden zu sein. »Mann, bist Du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt Dir diese Frage.« Mit diesem Zuruf hatte Olympe de Gouges 1791 ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin eingeleitet. Die französische Revolutionärin hat darin nicht nur gleiche Freiheiten und Bürgerinnenrechte, nicht etwa ›nur‹ die Rechte der Männer eingeklagt, sondern sehr konkret die spezifischen Unrechtserfahrungen von Frauen und Müttern benannt und ein für alle Menschen mögliches Maß von Freiheit und Gleichheit gefordert. Sie kennzeichnete damit eine auch für ihre Geschlechtsgenossinnen typische, verallgemeinerbare Erfahrung als Unrecht und zwar in der Form des Rechts. Allein mit der öffentlichen »Inszenierung des Widerspruchs«, einer »Deklaration« in der Sprache der Menschenrechte, war die von de Gouges geforderte Gleichheit noch nicht realisiert. Aber es war ein neuer »Erfahrungsraum« eröffnet und ein grundlegender Dissens angeklungen, in den später andere einstimmen sollten.3

Seit dem 19. Jahrhundert ist von vielen politischen Interventionen, sozialen Protesten und persönlichen Befreiungskämpfen zu berichten, in denen es um Emanzipation und die Rechte von Frauen ging. In diesem Sinne hat Anita Augspurg vor mehr als 100 Jahren argumentiert, als ihr wie anderen Akteur_innen der Frauenbewegung in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass sie sich einmischen müssten in die Arbeit an der Kodifikation des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), einem Jahrhundertwerk, das die Bevormundung und Zurücksetzung von Frauen im Privaten noch im 20. Jahrhundert fortsetzen sollte. Augspurg versuchte als erste deutsche promovierte Juristin ihre Geschlechtsgenossinnen davon zu überzeugen, dass die »Frauenfrage in allererster Linie [eine] Rechtsfrage« sei, denn

»was immer eine einzelne Frau erreicht und erringt in Kunst, Wissenschaft, in Industrie, an allgemeinem Ansehen und Einfluss: es ist etwas Privates, Persönliches, Momentanes, Isoliertes – es haftet ihm immer der Charakter des Ausnahmsweisen und als solchem Geduldeten an, aber es ist nicht berechtigt und kann daher nicht zur Regel werden und Einfluss nehmen auf die Allgemeinheit.«4

Nach vielen Rückschlägen und Flauten bedurfte es neuer Mobilisierungen und besonderer politischer Konstellationen, um über nationale Grenzen hinweg in den ›langen Wellen‹ der Frauenbewegung da anzukommen, wo wir heute sind. Ja, formal sind Frauen in den demokratisch verfassten Gesellschaften heute gleichgestellt, als Staatsbürgerinnen mit Wahl- und Partizipationsrechten ausgestattet, auch im Privaten in der Familie, nicht nur in heterosexuellen Beziehungen gleichberechtigt. Doch jenseits dessen, erst recht weltweit, lebt die Mehrheit der Frauen überwiegend in prekären Verhältnissen, in ökonomischer Abhängigkeit und bedroht von Gewalt. Dabei sind die Errungenschaften in vielen Ländern der westlichen Welt keineswegs gering zu achten, im Gegenteil, es ist nicht genug hervorzuheben, welche nachhaltige Veränderung im Bewusstsein der Menschen, welche »kulturelle Revolution« in den Beziehungen der Geschlechter und welch nachgerade dramatischer sozialer Wandel in den privaten Lebensformen etwa seit den 1970er Jahren von den neuen sozialen Bewegungen, den Bürgerrechts- und Frauenbewegungen angestoßen und getragen wurde. Der Erfolg scheint so überwältigend zu sein, dass viele den Feminismus, besonders den Kampf um Rechte, um Freiheit und Gleichheit für unzeitgemäß und überflüssig halten.

Dem möchte ich mit Nachdruck widersprechen, denn auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 bedurfte und bedarf weiterhin der Umsetzung und zusätzlicher völkerrechtlicher Verträge. Ein Meilenstein in der Geschichte der Frauenrechte weltweit ist deshalb das Übereinkommen über die Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau, das 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Es nimmt die Einzelstaaten in die Pflicht, weitreichende Maßnahmen zur Entdiskriminierung zu ergreifen und konkretisiert im Einzelnen, was »die Beseitigung der Apartheit, jeder Form von Rassismus, Rassendiskriminierung, Kolonialismus, Neokolonialisms, ausländischer Besetzung und Fremdherrschaft […] für die volle Ausübung der Rechte von Mann und Frau« heute bedeutet.5

Im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklungen, politischer Umbrüche und globaler Transformationsprozesse der vergangenen 200 Jahre wurde die Frage nach Recht und Gerechtigkeit immer wieder neu gestellt, müssen die gesellschaftlich erreichbaren Standards für Gerechtigkeit jeweils neu vermessen werden. Denn zwischen Recht und Gerechtigkeit liegt viel zu oft eine unüberwindliche Kluft. Deshalb führt die Frage nach Gerechtigkeit immer über das bestehende Recht hinaus.6 Doch wenn schon Kant in seiner »Einleitung in die Rechtslehre« schreibt: »Die Frage ›Was rechtens ist‹? möchte wohl den Rechtsgelehrten […] in Verlegenheit setzen«,7 so sind wir vorgewarnt. Der vielschichtige Begriff von Recht (im Englischen rights und law) ist daher in mindestens drei Dimensionen zu erläutern: Recht ist nicht nur das, »was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben«, also das positive, geltende Recht, das seinem Inhalt oder seiner Auswirkung nach höchst ungerecht sein kann. Auch nicht – so Kant in anderen Worten – ihre praktische Rechtsanwendung, die bloße Empirie, die die Rechtssoziologen Rechtstatsachen nennen. Vielmehr enthält die Bezugnahme auf Recht zumindest seit der Aufklärung und der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte immer auch die Vorstellung von einem anderen, gerechteren oder ›richtigen‹ Recht, von Gerechtigkeit und davon, wie die Beziehungen zwischen Personen unter der Voraussetzung ihrer Freiheit und Gleichheit und Solidarität aussehen sollten. Dieses utopische Verlangen nach Gerechtigkeit ist ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz. Was ungerecht ist, weiß jede von ihrem Standpunkt aus intuitiv zu sagen, doch wie dieses Empfinden oder diese Erkenntnis in ›richtiges‹ Recht zu übersetzen und umzusetzen ist, bleibt strittig. Die Schwierigkeit im theoretischen wie praktischen Umgang mit Recht liegt somit in seiner Doppeldeutigkeit. Jurist_innen und Philosoph_innen sprechen vom Janusgesicht, dem Doppelcharakter oder der Dialektik von Recht, da Rechtsnormen, je nachdem, aus welchem Interesse oder Blickpunkt betrachtet, »zugleich Zwangsgesetze und Gesetze der Freiheit« sind.8 Recht hat folglich in der bürgerlichen Gesellschaft immer zwei Seiten, es hat sowohl der Legitimation bestehender Verhältnisse als auch zu ihrer Kritik und gesellschaftlichen Veränderung gedient und kann ebenso Befreiungs- wie Herrschaftsinstrument sein. Entscheidend ist, dass gewährleistete Rechte auch in Anspruch genommen werden. Da es immer um den Ausgleich von Interessen, um Kooperation oder Konkurrenz und um die Gestaltung des Zusammenlebens von Beziehungen geht, sind auch subjektive, individuelle Rechte nur eingedenk der Rechte Dritter zu bestimmen. Dies bedeutet, dass die Ermöglichung und Verwirklichung der demokratischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit aller Menschen die Anerkennung und Praxis gleicher Freiheitsrechte auch des und der anderen und damit die Aufhebung von Herrschaft und Unterdrückung beinhaltet.

Nun ist die Anknüpfung des Feminismus, gar einer feministischen Rechtskritik an rechtstheoretischen Überlegungen und die herrschenden Denktraditionen und Theorien bürgerlichen Rechts keineswegs selbstverständlich: Denn unter Feministinnen war und ist Recht aus vielen Gründen diskreditiert. Rechtsskepsis und Rechtsnihilismus gründen sich auf die vielfältigen, schlechten Erfahrungen von Frauen mit Recht, auf die noch immer nicht verwirklichte Gleichberechtigung und die Erkenntnis, dass Recht in Theorie und Praxis männliche Denkweisen, Maßstäbe und Interessen verkörpert. Und selbst Rechtsfortschritte haben gemessen an den Forderungen und Erwartungen von Frauen in vielen Fällen ein durchaus zweischneidiges Ergebnis, da gleiche Freiheiten in der Regel nur um den Preis der Anpassung und Integration in eine Arbeitswelt oder politische Öffentlichkeit ermöglicht werden, die nicht zwingend den Interessen und Bedürfnissen von Frauen entspricht. Denn Gesetze sind in einer pluralistischen, in viele Teilinteressen ausdifferenzierten Gesellschaft nicht nur Ergebnis und Ausdruck gesellschaftlicher Kompromisse, sondern auch von Machtverhältnissen, in denen Frauen noch immer eher Alibifunktionen erfüllen. Wie die historische Erfahrung lehrt, unterlagen Frauen in der Vergangenheit weitaus häufiger Zwangsgesetzen als Gesetzen der Freiheit. Und doch hat es Rechtsfortschritte, Emanzipationen und paradoxe Entwicklungen gegeben. Deshalb ist es meines Erachtens sinnvoll, sich da »wo gegen Unrecht gekämpft wird«, nicht »ins Gras« zu legen,9 sondern auf den inzwischen weltweit von Frauenbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen erhobenen Forderungen nach Verwirklichung des Rechts auf Freiheit und Gleichheit zu bestehen und zwar einer Gleichheit, die unter Berücksichtigung sozialer Ungleichheit und Differenzen auf materiale Gerechtigkeit zielt.

Der Widerspruch zwischen der befreienden und ermächtigenden Funktion von Recht einerseits und andererseits den historischen Erfahrungen von Frauen mit Rechtlosigkeit bzw. Unrecht waren Anlass und Beweggrund für meine Studien zu Frauen und Recht. Feministische Rechtskritik führte mich zunächst zu den Hauptakteur_innen im Kampf ums Recht in der Geschichte der Frauenbewegung, zu ihren persönlichen Motiven, ihrem Mut und den politischen Zielsetzungen, zur Erkundung ihrer Netzwerke, Aktionsformen und Bewegungsorganisationen, zu Widerständen und partiellen Erfolgen, die immer in einen historischen Kontext, in Zeit und Ort, in eine bestimmte Gesellschaft und Politik eingebunden waren und sind. Sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung hilft, die strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit und Unterordnung im Geschlechterverhältnis, die Verknüpfungen von struktureller Gewalt mit symbolischer Herrschaft aufzudecken. Dabei interessieren neben der Empirie der Rechtstatsachen die Denk- und Wissensstrukturen, die Ideologien und Klischees, die die Hierarchie in der traditionellen Geschlechterordnung über Sprache, Wissenschaft und Kultur auch im Recht stützen. Die Geschichte, insbesondere die Sozial- und Geschlechtergeschichte aber bietet den Lernstoff, um die Geschichtlichkeit der ebenso oft beschworenen wie kritisierten Geschlechterdifferenz zu erkennen und den sozialen und kulturellen Wandel in den Geschlechterverhältnisse analysieren zu können. Das Studium der Rechtsgeschichte schließlich, ein nicht nur in der Geschlechterforschung bisher lückenhaftes, aber weites Forschungsfeld, eröffnet eine Fülle erhellender Einsichten in die Wandelbarkeit, aber auch die Traditionalität und das Eigenleben des Rechts. Gerade im historischen juristischen Detail des Privatrechts wird so ein Flickenteppich von Frauenrechten ausgebreitet, der bei aller Buntheit die Formen patriarchaler Herrschaftssicherung noch in der Systematik des geltenden Rechts erkennen lässt.

Nachdem seit den 1990er Jahren auch Vertreterinnen einer feministischen Rechtswissenschaft an den deutschen Universitäten sowie in höchsten Gerichten angekommen sind, hat die Geschlechterforschung im Recht enorme Verstärkung erhalten. Denn es hatte sich gezeigt, – wie eine ihrer Pionierinnen, Jutta Limbach, betont – dass »aus dem positiven Recht und der juristischen Dogmatik allein kein Maßstab zur Kritik des geltenden Rechts und seiner Anwendung zu gewinnen [ist].«10 Offensichtlich hat auch die feministische Rechtswissenschaft von den kritischen Impulsen und Erkenntnissen der Frauen- und Geschlechterforschung profitiert und ist bei der Anwendung und Auslegung des Gleichheitssatzes ebenso auf die sozialwissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeiten angewiesen, wie die Diskussion um Gerechtigkeit nicht ohne ideengeschichtliche und kulturwissenschaftliche Ansätze der Diskursanalyse auskommt. Mit einer Fülle grundlegender und weiterführender Arbeiten auf allen Rechtsgebieten trägt feministische Jurisprudenz seither selbst zu einer geschlechtergerechten Forschung bei.11

Dies zeigt, Geschlechterforschung im Recht ist notwendig interdisziplinär. Die unterschiedlichen Positionen feministischer Rechtskritik und Rechtswissenschaft eint ein nicht nur formales, sondern ›materiales‹ und zugleich problemorientiertes Verständnis von Gleichberechtigung. Das heißt, im Mittelpunkt steht die Frage nach der Realisierung des Gleichheitskonzeptes in der Lebensrealität von Frauen und Männern. Tatsächlich gibt es bisher keinen allgemein verständlichen oder akzeptierten Begriff für die »Verwirklichung« von Gleichberechtigung. »Materiale« oder »substanzielle« Gleichheit sind im Gegensatz zu »formaler« Gleichberechtigung Begriffe, die inzwischen in der feministischen Rechtswissenschaft, insbesondere auch im internationalen Menschenrechtsdiskurs verwendet werden. Es ist der Versuch, in der Verständigung über unterschiedliche Gleichheitskonzepte (equality, equal opportunity oder égalité) die ungleichen Ausgangsbedingungen der Menschen für die Realisierung des Gleichheitskonzepts zu berücksichtigen und die grundlegende Zielsetzung zu betonen, ohne doch immer zugleich die relevanten Hinsichten und materiellen Bedingungen dessen, wie Gleichheit herzustellen ist, im Einzelnen benennen zu können. Zudem verweist die Begrifflichkeit auf das ›Andere‹ bisheriger Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit.

Die folgenden Kapitel sind Resultate meiner interdisziplinären Arbeiten. Dabei bin ich mir der Unabgeschlossenheit, aber auch der Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache, Konzepte und Verstehensweisen jenseits der disziplinären Logiken zu finden, bewusst. Bei allen programmatischen Forderungen nach Interdisziplinarität wird diese methodische Problematik regelmäßig unterschätzt. Gleichwohl hat mich das politische Motiv, »für eine andere Gerechtigkeit« zu streiten, immer wieder ermutigt; es bildet gleichsam den roten Faden, der durch das Buch leitet.

Im ersten Teil werden aus der Perspektive der Neuen Frauenbewegung die Anlässe und Entwicklungen sowie ihre theoretischen und politischen Auseinandersetzungen bis in die Gegenwart nachgezeichnet, ergänzt durch einen Blick auf die internationalen Diskurse und politischen Konzepte der verschiedenen Feminismen im 20. Jahrhundert. Es folgt ein Beitrag über die weltweite Mobilisierung für »Frauenrechte als Menschenrechte«, der ihre Errungenschaften als Antworten auf spezifische Unrechtserfahrungen diskutiert.

Im zweiten Teil geht es um die Geschichte von Frauenrechten, zunächst um die Vielfalt der Rechtslagen im Privatrecht des 19. Jahrhunderts in einem Vergleich der wichtigsten europäischen Rechtskreise. Gerade in den für die Stellung von Frauen existenziellen Rechtsfragen in Ehe und Familie offenbart die detaillierte und vergleichende Analyse der Gesetzgebungsdiskurse und Familienrechtsbestimmungen die Widersprüchlichkeit der traditionellen Herrschafts- und Geschlechterordnung ebenso wie ihre Veränderbarkeit. Im Blick auf die unterschiedlichen Strategien der Suffragetten in England und Deutschland steht das Frauenwahlrecht hier beispielhaft für den schwierigen Kampf um das Recht, Rechte zu haben. Ein interessantes neues Kapitel der Rechtsgeschichte über das Verhältnis von Recht und Geschlecht wird mit der Entwicklung zu einer europäischen Rechtsgemeinschaft aufgeschlagen. Es behandelt die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union und die Bedeutung der Bürger- und Bürgerinnenrechte im europäischen Integrationsprozess.

Der dritte Teil des Buches enthält soziologische Analysen zu den Kernthemen geschlechtsspezifischer Benachteiligung und Unterordnung im Bereich Arbeit, Familie oder privaten Lebensformen und besonders zu Care als Ensemble fürsorglicher Praxen, an denen die Notwendigkeit sozialpolitischer Reformen verdeutlicht wird. Es sind zugleich Anwendungsbeispiele für konkrete sozialwissenschaftliche Analysen, um herauszufinden, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich gleiche Freiheit für Frauen und Männer realisieren ließe. Bemerkenswert ist die Kontinuität feministischer Kritik an einer Gesellschaftstheorie, die die Doppelung in der Lebensweise von Frauen, zwischen Arbeit und Leben, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bis in die Gegenwart legitimiert hat. Schon im 19. Jahrhundert wurde diese Dichotomie von Außenseiterinnen der Wissenschaft scharf kritisiert und fand im Konzept der ›doppelten Vergesellschaftung‹ bzw. der ›Widersprüche im weiblichen Lebenszusammenhang‹ in der Frauen- und Geschlechterforschung der 1970er Jahre eine Fortsetzung. Doch erst mit einer veränderten, notwendig solidarischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wird sich in Zukunft erweisen, inwieweit es gelingt, Gleichberechtigung und Autonomie für beide Geschlechter zu ermöglichen.

Die unterschiedlichen disziplinären Ansätze in der Behandlung meines Themas – Frauen und Recht – sind der Grund, weshalb sich die Problematiken in den drei Teilen des Buches gelegentlich berühren oder überschneiden. Doch letztlich ergänzen sie sich meines Erachtens zu der hoffentlich erhellenden Einsicht, dass die Bedeutung von Recht, seine materielle Struktur und befreiende Kraft, in der Analyse der Geschlechterverhältnisse nicht fehlen sollte.

Vorab noch eine Anmerkung zur verallgemeinernden Rede von ›Frauen‹ und der Kategorie ›Geschlecht‹, die heute im Wissen um die Diversität der Geschlechterdifferenzen und die Überlagerung verschiedener, vielfältiger Dimensionen sozialer Ungleichheit für die Avantgarde der Post-/Feminist_innen überholt zu sein scheint. Da die soziale Gruppe der Frauen in der Geschichte des Rechts der bürgerlich-modernen Gesellschaft, ihr Ausschluss und Einschluss, die erkämpften Zugeständnisse und die noch nicht für alle möglichen Schritte zu Selbstbestimmung und Emanzipation paradigmatisch für andere Figurationen der Ungleichheit stehen kann, ist die Vielfalt der imaginären und realen Konstellationen in den Geschlechterverhältnissen Teil der Geschichte.12 Einer Geschichte, in der Geschlecht als politische Kategorie eine zentrale Bedeutung erlangte und gerade deshalb den Ansatzpunkt für die Analyse und Kritik der herrschenden Festschreibungen bietet. Unsere Denkwege und unser Tun sind also in die »Geschichtlichkeit der Geschlechterdifferenz«13 eingebunden. Diese ist ja nicht nur durch Unterdrückung und fortwährende Diskriminierung von Frauen zu kennzeichnen, sondern auch eine Erzählung vieler einzelner und gemeinsamer Befreiungsschritte, weltbewegender Erfahrungen und gewonnener Kämpfe um Gleichberechtigung und Emanzipation. Wie andere soziale und demokratische Bewegungen haben die Frauenbewegungen als Seismographen für die Anmaßung von Macht, für politische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeit seit dem 19. Jahrhundert wesentlich dazu beigetragen, Veränderungsprozesse zu Selbstbestimmung und einer Freiheit in Gang zu setzen, an der alle teilhaben können.

I. Frauenbewegung und Recht

Nicht nur Gleichberechtigung – Frauenbewegung, Feminismus und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik

Zur Vorgeschichte

Die vergangenen Jahrzehnte frauenpolitisch nur als Fortschrittsgeschichte zu erzählen, wäre unangemessen. Und doch lohnt es, Bilanz zu ziehen. Wer die 1950er Jahre erinnert oder heute Bilder oder Filme aus jener Zeit sieht, wird gewahr, wie anders, fügsam oder gar ergeben Frauen ihre Rolle gespielt haben, spielen mussten, und wie grundlegend sich die Geschlechterbeziehungen im alltäglichen Umgang seither verändert haben. Insbesondere die ersten zehn Jahre nach der Verabschiedung des Artikel 3 Grundgesetz (GG) – Männer und Frauen sind gleichberechtigt – im Jahr 1949 sind aus heutiger Sicht eher als Rückfall in ein emanzipatorisches Mittelalter zu kennzeichnen. Der Rückruf der Frauen in die Familie als wahrer Ort weiblicher Bestimmung beinhaltete nicht nur erneute Beschwörungen über das Wesen der Frau, bizarr anmutende Konventionen und Moden (erinnert sei an Petticoat und Stöckelschuhe), sondern auch die klare Platzanweisung, zu Heim und Kindern zurückzukehren. Nach zwei Weltkriegen und ihren Katastrophen war die Wiederherstellung rigider Geschlechterrollen sowie das Leitbild von Ehe und Kernfamilie als dominanter Lebensform wichtiger Bestandteil einer angeblichen ›Normalisierung‹ der Lebensverhältnisse. Und dies geschah, obwohl Frauen, vor allem die Mütter in der Kriegs- und Nachkriegszeit, auf sich allein gestellt, das Leben unter schwierigsten Bedingungen gemeistert hatten und eigentlich die ›Stunde der Frauen‹ hätte schlagen sollen.

Diese Restauration einer konservativen Geschlechterordnung wurde möglich, obwohl oder gerade weil die Gleichberechtigung der Frauen nun gesetzlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert war. Das klingt paradox, und doch entspricht dieser Rückschlag hinter bereits erreichte Selbstverständnisse einer historischen Erfahrung. Das Auf und Ab sozialer Bewegungen versteht die Bewegungsforschung als »Flaute« oder als »Stillstand«,14 da ein wesentliches Ziel nach jahrzehntelangen Kämpfen erreicht schien – im Fall der westdeutschen Bundesrepublik war dies die verfassungsrechtliche Anerkennung und also das Versprechen, Frauen in allen Rechtsbereichen, insbesondere auch im Familienrecht, bis spätestens 1953 gleichzustellen. Die in dieser Sache zuständigen Frauenverbände meinten denn auch, dass es nun keine ›Frauenfrage‹ mehr gebe, allenfalls Teilfragen, die im Wege einzelner Reformschritte zu bewerkstelligen seien.15

Bemerkenswert ist, dass die erwähnte ›Normalisierung‹ in allen westlichen Industrienationen, die am Weltkrieg beteiligt waren, in der Nachkriegszeit zu einer Restrukturierung traditioneller Geschlechterverhältnisse und Re-Familialisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt hatte. Denn die Bewährung der Frauen in männlichen Domänen, ihre erzwungene Selbständigkeit und ihr neues Selbstbewusstsein hatten die traditionelle Geschlechterordnung ›gestört‹ und wurden als Krise der Familie wahrgenommen, die doch angesichts der Integrationsprobleme der aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten und einer später als »vaterlos« diagnostizierten Gesellschaft16 vor allem auf einer Krise der Männlichkeit beruhte. Vergleichende Studien belegen, dass die Wiederherstellung und Stabilisierung der Familie als Fluchtburg und »letzte Grundlage der sozialen Zuflucht und Sicherheit«17 zugleich mit einer Re-Maskulinisierung der Gesellschaft in Politik, Wirtschaft und Kultur verbunden war.18

Die Besonderheit der westdeutschen Entwicklung19 liegt gleichwohl darin, dass sie sich in der Gleichberechtigung der Geschlechter immer wieder eine Verspätung leistete, ihr die nachholende Entwicklung in eine moderne, geschlechtergerechte Gesellschaft nicht gradlinig gelang, vielmehr den zwei Schritten nach vorn – wie in der Echternacher Springprozession – mindestens ein Rückschritt folgte. Denn im Grunde waren die von Elisabeth Selbert im Parlamentarischen Rat 1948/49 errungenen Zusagen für die Gleichberechtigung der Frau auch im Privatrecht und damit für die Reform des Familienrechts bereits in den Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages im Jahr 1924 weitgehend akzeptiert und von der ersten Richterin in Deutschland, Dr. Marie Munk, die von der ersten Frauenbewegung geprägt war, kompetent und überzeugend vorbereitet worden.20 Doch die Vorschläge etwa zur Reform des ehelichen Güterrechts fanden erst 1957 durch die im Ersten Gleichberechtigungsgesetz eingeführte Zugewinngemeinschaft ihren Niederschlag. Auch im Parlamentarischen Rat, der mit dem Entwurf einer vorläufigen Verfassung, dem Grundgesetz, beauftragt wurde, war Elisabeth Selbert als eine von nur vier Frauen zunächst sehr allein mit ihrer klaren, durch kein »grundsätzlich« eingeschränkten Formulierung des Art. 3 Abs. 2 GG: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Denn nicht nur die Mehrheit der konservativen Parteivertreter, auch der SPD und der FDP fürchteten, dass »dieser Satz, als gesetzliche Bindung im Staatsgrundgesetz verankert, unabsehbare zivilrechtliche und sozialpolitische Folgen« haben würde, zumal dadurch »fast alle Bestimmungen« des geltenden Bürgerlichen Gesetzbuches über Ehe- und Familienrecht »über den Haufen geworfen würden.«21 Selbert gelang es schließlich – jede Frauenrechtelei weit von sich weisend – nicht nur mit juristischer Sachkompetenz zu überzeugen, sondern auch für jene von Not und Krieg gezeichnete Zeit eine beachtliche Frauenöffentlichkeit herzustellen und die ersten Frauenzusammenschlüsse nach dem Krieg, Verbände, Gewerkschaftsfrauen und Einzelpersonen zu mobilisieren.22 So sehr die Herren Abgeordneten, allen voran der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, über das außerparlamentarische »Stürmlein« witzelten, dieser Sieg des Prinzips war schließlich einem strategischen Kompromissangebot Selberts zu verdanken. Damit wurde der Reform des der Gleichberechtigung entgegenstehenden Rechts – das war insbesondere das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches – gemäß Art. 117 Absatz I GG eine Frist bis 1953 eingeräumt. Tatsächlich hat der Bundestag dann bis 1957 gebraucht, um ein Gleichberechtigungsgesetz zu verabschieden, das dennoch in vielen Hinsichten unvollkommen blieb. Insbesondere hatte es die Hausfrauenehe und damit die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Ehe weiterhin zur Leitnorm erhoben, aber auch das Letztentscheidungsrecht des Vaters in allen Erziehungsfragen noch einmal bestätigt. Dieser »Stichentscheid« (1959) musste allerdings sogleich, wie auch später andere offensichtliche Diskriminierungen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig kassiert werden. Die formale Gleichberechtigung auf der Basis eines egalitären Ehemodells wurde tatsächlich erst 1977 durch die Reform des Ehe- und Familienrechts zusammen mit der Abschaffung des Schuldprinzips im Scheidungsrecht eingelöst.

Die Rechtsgeschichte des Art. 3 Abs. 2 GG soll hier nicht in ihren juristischen Einzelheiten verfolgt werden, sie ist vielfältig nachzulesen.23 Doch es interessiert, inwieweit sich der gesellschaftliche und kulturelle Wandel im Geschlechterverhältnis im geltenden Recht niedergeschlagen hat, das immer das Ergebnis von Kompromissen, eines Konsenses von Mehrheiten und letztlich von Machtfragen ist. Die seitdem erreichten Rechtspositionen sind daher sichtbare Wegmarken eines wechselvollen und immer wieder strittigen Emanzipationsprozesses. Denn Recht hat immer zwei Seiten, ein Doppelgesicht, wie die Juristen sagen: Einerseits zeigt die Reihe der Rechtsreformen an, inwieweit gesellschaftliche Kräfte, in diesem Fall die Frauenbewegung, Unrechtserfahrungen erfolgreich als Rechtsproblem thematisiert haben. Andererseits haben die schrittweisen Rechtserrungenschaften, die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts24 und des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Kap. 6) und die daraus folgenden Gesetzesänderungen als Wegbereiter bzw. Verstärker gesellschaftlichen Wandels gedient. Die im Parlamentarischen Rat 1948/1949 und auch in der Presse immer wieder kolportierte Befürchtung, mit der Gleichberechtigung im Familienrecht werde ein Rechtschaos ausbrechen, zeigt die harten, ideologisch verbrämten Widerstände an und welch weiter Weg zurückzulegen war, um auch im Geschlechterverhältnis ›mehr Demokratie zu wagen‹. Die uns heute so fernen Frauenbilder und Debatten der 1950er Jahre verdeutlichen aber auch, dass es noch anderer gesellschaftlicher Kräfte und eben einer neuen Frauenbewegung bedurfte, um den patriarchalen Schutt der Tradition und die autoritären Überhänge aus der NS-Zeit abzuräumen und mehr Gleichberechtigung nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch im privaten Bereich von Familie und Beruf für Frauen durchzusetzen.

Die 1970er Jahre: Die Neue Frauenbewegung

Wenn heute über die Frauenbewegung der 1970er Jahre gelästert wird, über all ihre Grenzüberschreitungen und skandalösen Auftritte, wenn die angeblich lila Latzhosen oder der Ausschluss von Männern aus den neu entdeckten Frauenräumen gescholten werden, so gerät bisweilen aus dem Blick, wie notwendig diese Grenzüberschreitungen waren, weil die Widersprüche zwischen dem Gleichheitsversprechen und den realen Verwirklichungschancen nicht mehr zu ertragen waren. Zugleich erforderte der Ausbruch aus der Frauenrolle Mut und verursachte einen ungeheuren Spaß. Denn mit der Mobilisierung in Gruppen, Projekten und Protestveranstaltungen, als politische, kulturelle und soziale Bewegung, wurden nicht nur neue Lebensformen erfunden, es entstand eine Gegenöffentlichkeit, die Politik und Medien zur Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage herausforderte. Es handelte sich keineswegs um einen Verein von Klageweibern, nur, weil nun endlich und viel darüber geredet, geschrieben und gelesen wurde, was an Zumutungen, Zwängen und Ungerechtigkeiten für Frauen bis dahin selbstverständlich erschien. Die Gespräche, der Austausch in Gruppen und selbstorganisierten Frauen-Seminaren waren vielmehr ein Akt der Befreiung und der Erkenntnis über gesellschaftliche Zusammenhänge, die nicht zuletzt von individuellen Schuldvorwürfen entlastete, weil die Verstrickung auch der Partner in vorgegebene Geschlechterrollen und in gesellschaftliche Strukturen aufgedeckt wurde. Das ›Private als politisch‹ zu erkennen war der Deutungsrahmen, der die Mobilisierung, die Gruppenbildung und zivilgesellschaftlichen Netzwerke trug. Diese Arbeit in Gruppen, die in der Übersetzung der englischen consciousness raising groups im Deutschen abweichend »Selbsterfahrungs-Gruppen« genannt wurden, beschreibt daher treffend den auf Erfahrungen und eben auch Unrechtserfahrungen beruhenden Verständigungsprozess, der sich zu einem kollektiven Lernprozess entwickelte. Es war befreiend, stärkte das Selbstbewusstsein, ähnliche oder gleiche Erfahrungen, ja, eine Frauengeschichte und Frauenliteratur wieder zu entdecken, oder auch allein auszugehen, mit Frauen Feste zu feiern und über Institutionen und Ländergrenzen hinweg Freundschaften, Verbindungen und Netzwerke zu knüpfen, die zu neuem Selbstbewusstsein und gemeinsamen Handeln ermutigten. Maßgeblich war, dass die Neue Frauenbewegung einen internationalen Charakter hatte: Die Problemstellungen und Diskurse waren von Anfang an im transnationalen Kontakt und im Austausch miteinander entstanden.25

Insofern kamen in der Frauenbewegung all jene Bedingungen und Voraussetzungen zusammen, die inzwischen in der Bewegungsforschung als typische Kriterien ihres Entstehens und Erfolgs gelten.26 Denn es sind nicht lediglich strukturelle Ursachen, soziale Ungleichheit oder Bevormundung und Unterdrückung, die Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte zwischen Klassen, den Geschlechtern oder ethnisch definierten Bevölkerungsgruppen, die im Sinne einer Marx’schen Dialektik Widerstand und Protest notwendig aus sich heraustreiben, »gibt es [doch] viel mehr Gründe für soziale Bewegungen als es Bewegungen gibt.«27 Auch ein allgemeiner Bewusstseins- oder Wertewandel im Hinblick auf Erwerbsarbeit und Lebensformen allein vermag die seit dem Ende der 1960er Jahre in Europa und den USA sich entfaltende Mobilisierung von Frauen unter der Gemeinsamkeit der Kategorie Geschlecht nicht zu erklären. Vielmehr treten vor dem Hintergrund der Krisen und zahlreicher struktureller Veränderungen in den spätkapitalistischen Gesellschaften gerade auch angesichts ökonomischer Prosperität und erweiterter Bildungs- und Berufschancen einerseits und traditioneller Rollenerwartungen und patriarchaler Gewohnheiten andererseits die Ambivalenzen dieser Form der Modernisierung umso deutlicher hervor. Die Aufrechterhaltung männlicher Dominanz in allen Lebensbereichen, im privaten wie im öffentlichen Bereich, auf dem Markt wie in der Politik, stand im krassen Widerspruch zum juristischen Versprechen der Gleichberechtigung. Diese Widersprüche wurden im weiblichen Lebenszusammenhang in einer doppelten Weise erfahren: in den widersprüchlichen Anforderungen einer »Doppelrolle« in Familie und Beruf und in der Besonderheit eines »weiblichen Arbeitsvermögens«, das als Ware auf dem Markt dequalifiziert und diskriminiert wurde, als Familien- und Sorgearbeit gleichwohl unentbehrlich und unbezahlbar blieb.28

Diese Erfahrungen und die Thematisierung gesellschaftlicher Widersprüche als Kehrseite der Moderne waren seit den 1960er Jahren der Ausgangspunkt für die Mobilisierung von Protest durch die sogenannten neuen sozialen Bewegungen und für die Formulierung politischer Zielsetzungen, die auf eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse und der sie tragenden Geschlechterordnung drängten. Die Frauenbewegung war Teil dieser sozialen Bewegungen. Es handelte sich zunächst um aus der Student_innenbewegung rekrutierte Gruppen, sogenannte Weiberräte in Berlin und Frankfurt am Main, Selbsthilfegruppen wie die Aktion 218, die jedoch feststellten mussten, dass die Reproduktionssphäre, also die Kinder- und damit auch die Geschlechterfrage in der Terminologie der Linken erneut als »Nebenwiderspruch« ausgeblendet blieb. Helke Sanders denkwürdige Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im September 1968 in Frankfurt29 und der Tomatenwurf der SDS-lerin Sigrid Damm-Rüger, der den nachfolgenden Redner traf, weil die Delegierten sich weigerten, Sanders’ Thesen zu diskutieren, und zur Tagesordnung übergingen, gelten daher als Gründungsakt der Frauenbewegung in der Bundesrepublik. Da es sich anfangs um eine Minderheit unter den Frauen handelte, setzte nun eine Mobilisierung ein, die getragen war von Akteurinnen, die andere zu überzeugen, um sich scharen, zu mobilisieren verstanden und bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage stellten. Die Grundlage bildeten neue Freiheiten und Ressourcen (keineswegs nur Geld, sondern Bildung und Wissen), eine zunehmende Zahl von Gruppen und Netzwerken, die eine Gegenöffentlichkeit, ja, neue Öffentlichkeiten herstellten mithilfe von Zeitschriften, einem neuen Buchmarkt sowie eigenen Räumen, den sogenannten Frauenzentren. Sie waren die Anlaufstelle für neue Initiativen und eröffneten Foren, in denen Unmut und aus der Geschlechtsrolle erwachsene Unrechtserfahrungen eine Sprache fanden. Autonome, außerhalb der Studienordnungen organisierte Frauenseminare an den Universitäten, Volkshochschulkurse, vielfältige Selbsthilfeprojekte (wie Notrufe für vergewaltigte Frauen, Gesundheitszentren und die Organisation von Fahrten zu Abtreibungskliniken) und ihre Vernetzung bildeten bald eine Bewegungskultur, die zum Nährboden für ein neues Selbstbewusstsein und gemeinsamen Protest und Widerstand wurde.30

Unerlässlich für die Schubkraft dieser Bewegung war die Herstellung von Solidarität, die Entwicklung eines »Wir«-Gefühls, einer kollektiven Identität. Und doch ist die beschworene Gemeinsamkeit im Sinne von sisterhood is powerful und die Vereinigung unter einer gemeinsamen politischen Zielsetzung »ein delikater Prozess«, der »des ständigen Einsatzes«31 und steter Erneuerung bedarf, schließlich sind Frauen nicht allein durch ihre Geschlechtszugehörigkeit bestimmt. Auch wenn sie als ›die Hälfte der Menschheit‹ bezeichnet werden, ist ihre Lebenslage doch je nach Klasse, Bildungsstand, Alter oder nationaler bzw. ethnischer Herkunft unterschiedlich geprägt. Und weil sie außerdem mit denen, gegen die sie sich wehren und aufbegehren, alltäglich, oft abhängig und intim zusammenleben, oder weil einige auch als Angehörige einer höheren Klasse oder Schicht von der Benachteiligung anderer profitieren, ist ihr Zusammenschluss auf der Basis gemeinsamer Erfahrungen eher unwahrscheinlich, historisch kontingent,32 auch wenn das Konzept der ›langen Wellen‹ hilft, einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Strömungen und Perioden der Frauenbewegungen herzustellen.33 Das Problem der Differenz unter Frauen, die »Achsen der Differenz«34 und unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Positionierung und Marginalisierung sind im Hinblick auf das Entstehen einer sozialen Bewegung somit immer gegenwärtig und etwa bereits bei Georg Simmel in seiner Theorie sozialer Differenzierung im Bild der »Kreuzung sozialer Kreise« angesprochen.35 Dass die Anhänger einer sozialen Bewegung – in diesem Fall die Gruppe der Frauen – unterschiedliche gesellschaftliche Positionen einnehmen und erst auf gemeinsame Interessen eingestimmt, für kollektives Handeln umworben werden müssen, war den Beteiligten zu Beginn der Neuen Frauenbewegung bewusst. Die Analyse des Verhältnisses von Klasse und Geschlecht war seit den 1970er Jahren der Drehpunkt empirischer und theoretischer Auseinandersetzungen und Forschungen in marxistischer und Kritischer Theorietradition,36 ebenso wie women, race and class in den USA bereits relevante Themen waren.37 Darum und weil es nun einmal ums Ganze der Person und der Politik ging, gab es in der Neuen Frauenbewegung auch harte politische Auseinandersetzungen, persönliche Verletzungen und dogmatische Abgrenzungen, die gerade in den Anfängen, als die Differenzen unter Frauen das Motiv »Gemeinsam sind wir stark« gefährdeten, schwer zu tolerieren waren.

Selbst wenn die Frauenfrage und die Ungerechtigkeit der Geschlechterdifferenz zum Thema werden, bedarf es zum ›Lautwerden‹ einer Bewegung »politischer Gelegenheitsstrukturen«.38 Dieser in der Bewegungsforschung vielverwendete Begriff versucht, den historischen und politischen Kontext, die besonderen Anlässe in Zeiten gesellschaftlicher Reformen oder sozialer Umbrüche zu berücksichtigen. Gegen die restaurative Politik der frühen Bundesrepublik, die auf Westintegration, auf Anpassung an die liberal-kapitalistischen Demokratien des Westens und »Wohlstand für alle« setzte, hatten sich seit dem Ende der 1950er und Beginn der 1960er Jahre Protestbewegungen formiert, die als Außerparlamentarische Opposition, Bürgerrechts- oder Anti-Atomkraftbewegung sowie seit 1967/68 als linksgerichtete, anti-autoritäre und anti-faschistische Student_innenbewegung das politische Klima grundlegend veränderten und eine sozial-liberale Reformära einleiteten. Die für viele Frauen existenzielle Erfahrung, dass die Geschlechterproblematik auch in diesen Bürgerrechts- und ›linken‹ Protestbewegungen ausgespart und ungelöst blieb, war der Anlass und historische Kontext für das Entstehen einer neuen autonomen Frauenbewegung.39 In der Aufarbeitung der Historiographie zur 68er-Bewegung kommt Christine von Hodenberg zu dem Schluss »Achtundsechzig war weiblich«, da die von Frauen betriebene Revolution der Lebensstile und privaten Lebensformen langfristig viel nachhaltiger gewirkt habe als das Eintreten für eine antiautoritäre, sozialistische Gesellschaft.40 Im Gegensatz zur alten Frauenbewegung gründete die neue zunächst keine Vereine oder Organisationen, sie verstand sich ausdrücklich als Basisbewegung, die Stellvertreterpolitik oder Führerinnen strikt ablehnte. Vielmehr bestand sie aus einem losen Netzwerk von Gruppen, Projekten und organisierten Treffen, die für bestimmte Themen und Anliegen erst eine Öffentlichkeit herstellten und damit zur Mobilisierung und Verbreiterung der Bewegung beitrugen. Die lockere Form der Organisation war Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil sie vielfältig und kreativ, nicht berechenbar und politisch nicht zu vereinnahmen war. Dennoch war das Prinzip der Autonomie, das die westdeutsche Frauenbewegung im Vergleich zu anderen ›neuen sozialen Bewegungen‹ charakterisierte und von ihr mit besonderer Rigidität verfochten wurde, durchaus zweischneidig,41 ging es doch um Autonomie in einer doppelten Hinsicht: Individuell war Selbstbestimmung gemeint, vor allem auch über den eigenen Körper, sowie Befreiung aus männlicher Bevormundung und ökonomischer Abhängigkeit. Befreiung war daher das vorrangige Motiv, nicht Gleichheit oder Gleichberechtigung. Politisch beinhaltete Autonomie aber auch die Separierung und Unabhängigkeit von den Institutionen männlicher Politik, folglich die Unabhängigkeit der Bewegung von den Institutionen des Staates, insbesondere von den etablierten Parteien, die jedoch eine unmittelbare politische Einflussnahme erschwerte.42

Bekanntlich hat sich die Neue Frauenbewegung zunächst nicht um Gleichberechtigung gekümmert. Das anfängliche Desinteresse an Rechtsfragen war eine Konsequenz aus dem Scheitern der in der Verfassung versprochenen Gleichberechtigung und ein Ergebnis der hinhaltenden Widerstände gegen ihre Einlösung im Rechtsalltag. Die Politik der ›Nur-Gleichberechtigung‹ wurde aus zweierlei Gründen und in doppelter Hinsicht kategorisch abgelehnt, einerseits wegen der Frontstellung gegen die etablierten Frauenverbände, die sich seit der 1949 verfassungsmäßig verankerten Gleichberechtigung gemäß Art. 3 GG rechtspolitisch am Ziel wähnten und die offensichtlichen Diskrepanzen zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit auf dem Wege einer schrittweisen und geziemenden Reform zu lösen versuchten. Von den zunächst ›linken‹ Feministinnen wurde die nur formale Gleichberechtigung kritisiert, weil sie ohne materielle Umsetzung die Voraussetzungen wahrer, »menschlicher Emanzipation« verfehle und sich im »engen bürgerlichen Rechtshorizont«43 einrichte, ohne die bestehenden kapitalistischen Strukturen und ungleichen Verhältnisse in der Gesellschaft anzugreifen. In der Anknüpfung linker Feministinnen an die Tradition der proletarischen Frauenbewegung wurde daher der Kampf um Gleichberechtigung erneut als bürgerliche Frauenrechtlerei denunziert, obwohl er doch bei den linken Genossen erneut Gefahr lief, lediglich als »Nebenwiderspruch« behandelt zu werden.44

Dabei war die Frauenbewegung von Anbeginn mit Rechtsproblemen konfrontiert. Unrechtserfahrungen und Enttäuschungen begleiteten sie in ihren großen Auseinandersetzungen um die Einführung einer Fristenregelung und die ablehnende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch im Jahr 1975,45 bei der Veröffentlichung von Gewalt gegen Frauen46 und im Kampf um die Finanzierung von Frauenhäusern47, in den Diskussionen um die Bestrafung von Vergewaltigern und um den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe, der erst 1997 gesetzlich verankert wurde.48 All diese mithilfe der Medien inszenierten Kampagnen, für die es internationale Anknüpfungen und Vorbilder gab, stellten die geltende hierarchische Ordnung im Geschlechterverhältnis, vor allem aber ihre alltägliche Form der Herrschaftssicherung im Privaten in Frage: etwa die im Stern 1971 veröffentlichte Selbstbezichtigungskampagne prominenter Frauen als Protest gegen die Kontrolle weiblicher Sexualität und Gebärfähigkeit, beispielhaft und symbolisch umkämpft in der Auseinandersetzung um § 218 StGB; die Debatte um ›Lohn für Hausarbeit‹, in der die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als wichtigster Grund für die soziale Benachteiligung zur Sprache kam; schließlich die Aufdeckung der Gewalt/Vergewaltigung in der Ehe wie in den sexuellen Beziehungen überhaupt, die bis heute in den überall in der Bundesrepublik flächendeckend belegten Frauenhäusern zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen ihren skandalösen Ausdruck findet.49

Mit der Problematik der Gewalt gegen Frauen, die seit der Mitte der 1970er Jahre öffentlich verhandelt wurde, fand eine Ablösung des ursprünglich linksorientierten Feminismus statt, der vor allem die Strukturen sozialer Ungleichheit, die Arbeits- und Klassenverhältnisse und die Verbindung von Kapitalismus und Patriarchat kritisiert hatte. Die Zuspitzung auf die Ausbeutung der Frau als Sexualobjekt, die Thematisierung der allgegenwärtigen Gewalt gegen Frauen und die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung, die weltweit durch internationale Initiativen, Diskurse und Lektüren zur Sprache gebracht wurden, gaben dem neuen, radikalen Feminismus fortan das Profil.50 Tatsächlich haben die allgemeine Liberalisierung im Diskurs über Sexualität, die sogenannte sexuelle Befreiung, und die sehr viel selbstverständlicheren Freiheiten in den sexuellen Beziehungen, oft genug zu Lasten von Frauen, den nach wie vor wunden Punkt in den traditionellen Geschlechterverhältnissen offengelegt. Die Veränderungen kommen heute in einer neuen Vielfalt von Lebensformen zum Ausdruck und stehen für eine kulturelle Revolution in den Geschlechterbeziehungen. Sie ist in groben Zügen festzumachen an gesetzlichen Errungenschaften, die vor 50 Jahren unvorstellbar gewesen wären: zum Beispiel die Entkriminalisierung von Homosexualität (1969), das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (1970), das erstmals die Feststellung der biologischen und rechtlichen Vaterschaft ermöglichte; die Reform des Ehe- und Familienrechts, insbesondere des Scheidungsrechts und damit die Umsetzung des Gleichberechtigungsprinzips im Eherecht (1977). Weit vorgreifend seien hier bereits gesetzliche Errungenschaften erwähnt, die aufgrund feministischer Interventionen und Mobilisierung erst später zustande kamen: die bereits erwähnte Forderung nach der Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe durch Streichung des Tatbestandes »ehelich« in § 177 StGB seit 1997, die im November 2016 durch Verankerung des Grundsatzes »Nein heißt Nein« verschärft wurde, sowie das Gewaltschutzgesetz von 2002 zum Schutz vor Gewalt und Nachstellungen im häuslichen Bereich. Grundlegend war auch die Kindschaftsrechtsreform mit der Verbesserung der Rechtsstellung der Kinder, insbesondere der nichtehelichen, sowie die Möglichkeit zu gemeinsamer elterlicher Sorge auch bei nicht verheirateten Partner_innen (in Kraft seit 1998). Weiterhin zu erwähnen ist die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften (Lebenspartnerschaftsgesetz), seit 2001 mit zahlreichen Novellierungen und Ergänzungen, schließlich seit 2017 ersetzt durch die ›Ehe für alle‹ (vgl. Kap. 8). Die zentrale Rechtsforderung der Neuen Frauenbewegung, die Straflosigkeit des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs innerhalb einer Frist von drei Monaten, ist in Deutschland gesetzlich nach vielen gescheiterten Reformversuchen (1974, 1976, 1992, 1995) nach wie vor durch Regularien und das Plazet der Ärzte eingeschränkt. Die harten Auseinandersetzungen hierüber – die selbst im Einigungsvertrag noch einen Aufschub brauchten, weil der Schwangerschaftsabbruch in der DDR seit 1972 straflos war – kennzeichnen diesen Konflikt über die Selbstbestimmung der Frau als letzte Bastion symbolischer patriarchaler Machtpolitik.

Mit dem Beginn der 1980er Jahre zeigte sich der Erfolg der Mobilisierungsprozesse im Zulauf neuer Gruppierungen. Die Verbreiterung der Frauenbewegung speiste sich etwa aus der Friedensbewegung, aus der neuen frauenpolitischen Orientierung gewerkschaftlicher Politik sowie einer die Kirchenoberen beunruhigenden feministischen Theologie, die weltweit in der ökumenischen Bewegung der Frauen 1983 in Vancouver zum ersten Mal ein Gender-Mainstreaming gefordert hatte. Gleichzeitig meldeten sich Feministinnen in Verbänden, Parteien und Institutionen zu Wort, kam es in Einzelfragen zu Bündnissen zwischen Aktivistinnen der Frauenbewegung und der etablierten Frauenpolitik. Selbst die Presseorgane des Deutschen Frauenrats, des staatlich geförderten Dachverbands der etablierten Frauenverbände, von dem sich die Neue Frauenbewegung deutlich abgegrenzt hatte und vice versa, kam nun nicht mehr umhin, feministische Themen wie die Problematik der Gewalt gegen Frauen aufzugreifen.51 Das zeigt, die Forderungen der autonomen Frauenbewegung wurden zunehmend von den traditionellen politischen Organisationen, Parteien und Institutionen aufgegriffen, dabei aber auch auf spezifische Weise vereinnahmt und oft ihrer radikalen, die Gesellschaft verändernden Spitze beraubt. Ein Beispiel ist die mit der sogenannten konservativen Wende der Kohl-Regierung Anfang der 1980er Jahre propagierte Familienpolitik, die die Vereinbarkeitsprobleme der Frauen aufgreifend zu »Mütterlichkeit im Neuen Gewand« (Christlich demokratische Arbeitnehmerschaft, 1981) aufrief, um mit der Einführung eines Erziehungsgeldes die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie zu befestigen. Mit der Partei DIE GRÜNEN, die seit 1983 im Bundestag vertreten war, tauchten zum ersten Mal dezidiert feministische Funktionsträger_innen in der offiziellen Politik auf. Sie belebten die frauenpolitische Diskussion in vielfältiger Hinsicht, zum Beispiel mit einer neuen Quotierungsdebatte und dem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, der jedoch 1986 im Bundestag keine Mehrheit fand.52 Schließlich wurde mit der Etablierung von Gleichstellungsstellen auf Länderebene und in den Kommunen ein ganz neues Politikfeld im politisch-administrativen System eröffnet, das sich – je nach persönlichen und politischen Rahmenbedingungen – als Schnittstelle zwischen Verwaltung, Politik, traditionellen Frauenverbänden und Initiativen der Frauenbewegung erwies.53 Gleichzeitig hatte die Frauen- und Geschlechterforschung mit der Etablierung von Frauenprofessuren seit dem Ende der 1980er Jahre, eigenen Lehrprogrammen, Graduiertenkollegs und wissenschaftlichen Zentren institutionelle Erfolge zu verzeichnen und war mit ihrer Analyse der Geschlechterverhältnisse in den Lehrplänen und Forschungszentren der Universitäten schrittweise angekommen. Getragen von der Frauenbewegung, begleitete sie diese mit Analysen, neuem Wissen, aber auch mit Kritik, denn als kritische Wissenschaft konnte sie sich nicht von der Bewegung in Dienst nehmen lassen.

Offensichtlich war das Verhältnis von Frauenbewegung und Frauenforschung nie unkompliziert. Zumindest am Anfang bestand Einigkeit darüber, dass die streitbaren Schwestern54 einander brauchen. Die autonome Frauenbewegung, die nicht nur die Geschlechterverhältnisse, sondern die Gesellschaft in toto verändern wollte, war die Triebfeder gewesen für den Aufbruch in die »männliche Wissenschaft«,55 um auch die Wissenschaft und den Kanon des Wissens als Herrschaftswissen bis an die Grundfesten der unterschiedlichen Disziplinen zu erschüttern. Andererseits brauchte die Frauen- und Geschlechterforschung die Rückendeckung durch eine ebenso kritische wie kühne politische Bewegung und eine in gemeinsamer Zielsetzung verbundene Gegenöffentlichkeit, deren Aktivistinnen bereit waren, die männliche Hegemonie in den Wissenschaften und in der Universität in Verfahren, Praxis und Theorie zu hinterfragen und die Einrichtung von Professuren für Geschlechterforschung zu erzwingen.56 Die offen gelegte Parteilichkeit, der politische Impetus der Gender Studies, war gleichwohl permanent ein Grund, ihre Wissenschaftlichkeit anzuzweifeln – so als gäbe es eine objektive, nicht parteiliche Wissenschaft – war doch gerade das Gegenteil von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu lernen.57 Auch unter den Beteiligten aber blieb die Skepsis, inwieweit die Integration feministischer Perspektiven in die Wissenschaften zur Anpassung und Aufgabe feministischer Positionen zwinge.58

In dieser Phase der Professionalisierung und Konsolidierung, die zugleich Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Interessen und Strömungen bedeutete, ereignete sich die sogenannte friedliche Revolution, der Zusammenbruch des realsozialistischen Staatensystems. In dem hochdramatischen, unvorhergesehenen politischen Umbruch zeigte sich auch die Schwäche der Frauenbewegung, die aus einem basisdemokratischen Selbstverständnis auf eine festgefügte Organisation und Mitgliederverbände verzichtet hatte und sich lediglich auf ein dezentrales Netzwerk von Gruppen, Projekten und Einrichtungen stützen konnte. Noch zum Ende der 1980er Jahre waren Bündnisse zwischen westdeutscher Frauenbewegung und Politik von beiden Seiten mit großer Skepsis begleitet worden, beharrte ein radikaler Kern der explizit autonomen Frauenbewegung auf dem Vorbehalt, sich nicht vom patriarchalen Staat und seinen Vertretern vereinnahmen zu lassen,59 während andere – jene des eher partizipatorischen Flügels – den Gegensatz zwischen Autonomie und Partizipation am herrschenden System durch eine Strategie der Einmischung und Beteiligung aufzulösen versuchten.60 Die unterschiedlichen Optionen und Strategien und die Tatsache, dass die Frauenbewegung im politischen Raum nicht repräsentiert war und weder im politischen Mainstream noch in der Zivilgesellschaft – deren Bedeutung um diese Zeit als Antwort auf die sozialistischen Diktaturen neu entdeckt wurde – Berücksichtigung oder Fürsprecher fand, also gerade ihre bewegliche, ›flüssige‹ Struktur,61 sollte sich im Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Nachteil erweisen.

Die ostdeutsche Frauenbewegung

Die ostdeutschen Frauen, die sich entscheidend am revolutionären Umbruch beteiligten und im Herbst 1989 den Unabhängigen Frauenverband (UFV) gründeten, hatten eine andere, ebenfalls bewegende und bewegte Vorgeschichte. Seit dem Beginn der 1980er Jahre gab es verstärkt informelle Frauengruppen, die sich als Teil einer »nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR« verstanden und deren Existenz eine wichtige Ausgangsbasis für die 1989 mögliche Mobilisierung war.62 Zu ihnen gehörten drei Strömungen, die in der Grauzone zwischen Freundinnengruppe, Selbsthilfegruppe und Diskussionskreis entstanden waren:63 Erstens die Gruppen »Frauen für den Frieden«. Auslöser für ihre Konstituierung war der Erlass eines Wehrdienstgesetzes im Jahr 1982, das im Falle der Mobilmachung auch Frauen zum Dienst mit der Waffe verpflichtete. Zweitens die kirchlichen Frauengruppen, die sich zum Teil aus der traditionellen Frauenarbeit in der Kirche rekrutierten, vor allem aber aus Arbeitsgruppen zu feministischer Theologie, die in Anlehnung an die Frauenbewegung in der Ökumene sowie die Frauenforen der Evangelischen Kirchentage eine der wenigen erlaubten Kommunikationsströme zwischen Ost und West nutzen konnten. Schließlich, drittens die Lesbengruppen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre teilweise aus dem Arbeitskreis »Homosexualität« abgelöst hatten und ein lesbisches Selbstverständnis entwickelten. Alle diese Gruppen, die als Oppositionsbewegung vorwiegend Schutz im Raum der evangelischen Kirche und Akademien fanden, veranstalteten seit 1984 jährliche Frauentreffen und bildeten im Laufe der Zeit verschiedene Netzwerke, die durch Rundbriefe wie das Lila Band und Arbeitsgruppen zu speziellen Themen wie Gewalt gegen Frauen, Gentechnologie oder Geschlechtersozialisation verbunden waren. Während die Friedensgruppen sich vor allem als Systemopposition verstanden, der es vorrangig um Diktaturkritik unter Einschluss von Männern ging, sind die anderen beiden Gruppierungen eher als feministisch zu kennzeichnen, da für sie, »mehrheitlich kritisch gegenüber dem DDR-Staat eingestellt«,64 die Patriarchatskritik im Mittelpunkt stand. Während und nach der Wende formierten sich die Oppositionsgruppen neu. Insbesondere die Frauen aus den Friedensgruppen (zum Beispiel Bärbel Bohley, Ulrike Poppe oder Katja Havemann) engagierten sich in den gemischten Gruppen der Bürgerrechtsbewegung – wie »Neues Forum«, »Demokratie Jetzt« oder »Demokratischer Aufbruch« – und trugen wesentlich zu ihrem Erfolg bei.

Dem »Aufruf an alle Frauen« zur Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes am 3. Dezember 1989 in der Berliner Volksbühne waren mehr als 1.200 Frauen gefolgt. Sie kamen, wie die Mitgründerin Christina Schenk schreibt, »aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zueinander – aus den oppositionellen Gruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche, aus privaten Diskussionskreisen […] aus dem universitären bzw. wissenschaftlichen Bereich. Es waren SED-Frauen und auch Frauen, die sich bisher nicht politisch betätigt hatten und erst unter den Bedingungen der ›Wende‹ einen Sinn darin sahen, sich zu engagieren.«65 In dem dort von Ina Merkel verfassten und per Akklamation angenommenen Manifest für eine autonome Frauenbewegung unter dem Motto »Ohne Frauen ist kein Staat zu machen« ging es um weit mehr als um eine »Interessenwahrnehmung und -vertretung von Frauen«, denn eine Reduktion darauf »hieße in der Frauenfrage drei Schritte zurück« genommen zu haben. Stattdessen forderten die Frauen eine »sozialistische Alternative« zur Wiedervereinigungspolitik, »einen modernen Sozialismus auf deutschem Boden«, gar »eine ökologische Reorganisation der Gesellschaft«, Demokratie, Selbstverwaltung und Öffentlichkeit (insbesondere auch eine breite Frauenöffentlichkeit) und letztlich »eine multikulturelle Gesellschaft« und »ein solidarisches Miteinander aller sozialen Gruppen«.66

Sich nicht wie der westdeutsche Feminismus »in Theoriedebatten zu verlieren«, »gemeinsam zu handeln, sich einzubringen«, außerdem »jung« und »euphorisch«, so präsentierte sich die unabhängige Frauenbewegung in der Phase ihrer Konstituierung.67 In der Zeit des Umbruchs »schien sehr vieles möglich zu sein – auch die feministische Gestaltbarkeit der Gesellschaft«.68 Westdeutsche Feministinnen – nach wie vor auf kritischer Distanz zu institutionalisierter Politik, an Niederlagen und Marginalisierung gewöhnt – konnten nur staunen, wie schnell ihre ostdeutschen Kolleginnen bereit waren, die gewonnene »Freiheit vom Staat« zur direkten »Teilnahme am Staat« als parteipolitisch organisierte Interessenvertretung zu nutzen69 und zwar nicht nur durch ihre selbstbewusst erstrittene Beteiligung am Zentralen Runden Tisch,70 sondern bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer im März 1990 auch als Partei in gemeinsamer Wahlplattform mit den GRÜNEN. Dass der UFV schließlich kein Mandat erzielte, hatte verschiedene Gründe: Zum einen hatte er mit seinen politischen Forderungen und seiner feministischen Kritik tatsächlich »keine Resonanz in den alltagsweltlichen Erfahrungen« der meisten DDR-Frauen, ihren »tatsächlichen Bedürfnissen« und ihrem »Selbst-Verständnis gefunden«.71 Denn dieses Selbstverständnis gründete sich auf die lebenslange Erfahrung und Selbstverständlichkeit, auch als Mutter erwerbstätig zu sein, sowie ein gesetzlich verankertes Recht auf Abtreibung und Zugang zu öffentlicher Kinderbetreuung zu haben. Wie ostdeutsche Autorinnen bestätigen, hatte der »Mythos von der bereits erreichten Gleichberechtigung sich in den Köpfen vieler Frauen festgesetzt und sie blind gemacht für die realen Benachteiligungen.«72 Offensichtlich wirkte ein schon historisch gewordener »proletarischer Antifeminismus« nach, der nicht nur in den ehemals sozialistischen Gesellschaften, sondern auch unter den Linken im Westen Tradition hatte. Doch genau diese Selbstverständlichkeit sollte für die ostdeutschen Frauen mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ungewiss, wenn nicht obsolet werden.

So ist festzustellen, dass Frauenpolitik in der DDR bis 1989 nachgerade gegenläufig zur Politik in der BRD betrieben wurde. Während die Integration von Frauen und Müttern in die Erwerbsarbeit in der DDR von Anbeginn gefördert, ja, erzwungen und mit einem nahezu flächendeckenden Angebot staatlicher Einrichtungen zu kollektiver Kinderbetreuung und -erziehung verbunden wurde, propagierte und subventionierte die westdeutsche Familienpolitik in expliziter Abgrenzung zum ostdeutschen Kollektivismus und Sozialismus mit vergleichsweise hohen sozialen Transfers das Modell der traditionell bürgerlichen bzw. modernen Kleinfamilie. Trotz rechtlicher Fortschritte auch im Familienrecht und entgegen der zunehmenden Vielfalt alternativer privater Lebensformen bestimmte das männliche Ernährermodell und die Fixierung der Frauen auf ihre vorrangige Familienrolle bis weit in die 1990er Jahre hinein die Logik westdeutscher Familienpolitik – bis heute gestützt durch strukturelle Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt wie Lohnungleichheit und geringere Aufstiegschancen sowie durch ein hartnäckig verteidigtes Ehegattensplitting im Steuerrecht. In der DDR galt hingegen die mithilfe einer Fülle sozialpolitischer Maßnahmen seit den 1970er Jahren durchgesetzte Eingliederung der Frauen und gerade auch der Mütter in das Erwerbssystem (die sogenannte Muttipolitik) als Verwirklichung von Gleichberechtigung und damit »als größte Errungenschaft der DDR«, sie war für die Beteiligten der »Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus«.73

Die Auswirkungen dieser gegensätzlichen, politisch und ideologisch aufgeladenen Sozialpolitiken auf die Lebenslagen der Frauen aus Ost und West waren zum Zeitpunkt der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wie in einem Brennglas zu besichtigen, insbesondere abzulesen an den Strukturdaten zur Frauenerwerbstätigkeit: Die Erwerbsquote der Frauen in Ostdeutschland betrug seit den 1970er Jahren bereits über 80 Prozent und nahm damit auch im internationalen Vergleich eine Spitzenposition ein.74 1989 lag sie mit etwa 90 Prozent fast auf gleicher Höhe mit der Männererwerbsquote. In Westdeutschland stieg die Frauenerwerbsquote seit den 1970er Jahren nur sehr langsam an und lag 1989 bei 55 Prozent. Noch größer waren die Unterschiede zwischen Ost und West im Vergleich der Müttererwerbstätigkeit. Denn DDR-spezifisch war nicht nur die Berufstätigkeit der meisten Frauen, sondern ebenso die Tatsache, dass über 90 Prozent der Frauen mindestens ein Kind zur Welt gebracht hatten.75 Hingegen hatten in Westdeutschland zur gleichen Zeit von den erwerbstätigen verheirateten Frauen zwischen 25 und 55 Jahren 35 Prozent keine Kinder.76

Schließlich ist die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR innerhalb einer Frist von drei Monaten, die 1972 auf dem Höhepunkt der feministischen Mobilisierung um diese reproduktive Freiheit in Westdeutschland erfolgte, ein weiterer Beleg für die Reziprozität der Frauenpolitiken in West- und Ostdeutschland. Denn in der DDR war hierzu keine Mobilisierung erfolgt – sie wäre auch nicht möglich gewesen – vielmehr wurde der Gesetzesbeschluss in der Volkskammer mit dem Kampf gegen den Klassenparagraphen in der Tradition der Arbeiterbewegung begründet.77 So zeigt sich, dass die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West nicht zuletzt auf dem Feld der Frauen- und Familienpolitik ausgetragen wurde.

Eine gesamtdeutsche Frauenbewegung? – 1989 als Zäsur

Die weltpolitische Wende 1989 und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stellt somit gerade auch im Hinblick auf den Geschlechterdiskurs, auf Feminismus und die Frauenpolitik in Deutschland eine historische Zäsur dar, mit der sich die politischen Prioritäten und Diskurse grundlegend verändert haben. Seither ist fraglich, ob es überhaupt zu einer gesamtdeutschen Frauenbewegung kam oder kommen konnte, denn als partikular west- oder ostdeutsch waren beide Strömungen offensichtlich an ein Ende gekommen. Waren die westdeutschen Feministinnen zunächst allzu selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie von den in Sachen Gleichberechtigung und Bürgerrechtsbewegung erprobten ostdeutschen Frauen Verstärkung erhalten würden – eine Erwartung, die möglicherweise der von westdeutscher Seite durchgesetzten Politik eines ›Beitritts‹ entsprach, so entpuppten sich die Vertreterinnen beider Seiten bald als »ungleiche Schwestern«, taten sich sehr schnell Differenzen und unerwartete Missverständnisse auf.78 Diese waren größtenteils in den unterschiedlichen politischen Biographien, Erfahrungen und Lebenslagen begründet, weshalb trotz gemeinsamer Sprache die politischen Konzepte ganz Unterschiedliches bedeuten konnten. Das galt für Begriffe wie Gleichberechtigung oder Emanzipation, die in der DDR als staatlich verordnete Frauenpolitik in Misskredit geraten waren, ebenso für die Tatsache, dass Familie oder Privatsphäre für Frauen unter sozialistischer Diktatur als »Raum der Freiheit« erlebt worden waren, offen für die »Entwicklung individueller Initiative und Autonomie«,79 nicht aber als der Bereich, in dem mit der Skandalisierung von Gewalt gegen Frauen gerade auch in den privaten Beziehungen Unrechtserfahrungen zur Sprache kamen. Zudem wurde die Wiedervereinigung von westdeutscher Seite dominiert und unter dem Zwang ökonomischer Interessen und Versprechen (»der blühenden Landschaften«) als »einseitiger Anpassungsprozess« inszeniert, weshalb die Verständigungsschwierigkeiten auch zwischen den Frauen aus Ost und West nicht »auf ein Kommunikationsproblem oder eine kulturelle Differenz zu reduzieren, sondern – so Ingrid Miethe – »Ausdruck einer massiven Ungleichverteilung materieller und ideeller Ressourcen zu Ungunsten der Ostseite [waren].«80

Die Schwierigkeit, sich der Dramaturgie eines beschleunigten Beitritts der DDR zur BRD gemäß Art. 23 GG zu entziehen, anstatt die Fragen des Zusammenschlusses im Wege einer Volksabstimmung über einen neuen Verfassungsvertrag gemäß Art. 146 GG81 zu organisieren, wurde schließlich im Scheitern auch anderer zivilgesellschaftlicher Initiativen offenbar, die um 1990 auf verschiedenen Ebenen eine Verfassungsdebatte und einen neuen Gesellschaftsvertrag im vereinten Deutschland einforderten. Das im Juni 1990 gegründete Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder war eine gesamtdeutsche Bürgerrechtsbewegung, die nach öffentlicher Debatte 1991 einen Verfassungsentwurf vorlegte, dessen Verabschiedung als »einzigartige Chance« angesehen wurde, um die zwei unterschiedlichen Gesellschaften nach 40-jähriger Trennung nicht nur rechtlich zu vereinigen, sondern als Gleiche in einem souveränen Gründungsakt an der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu beteiligen. Eine »Verfassung ›von unten‹ sollte »Motor der Einheit« sein.82

Auch Feministinnen aus Ost und West beteiligten sich an dieser Verfassungsdebatte. Nachdem Frauen des Runden Tisches den Entwurf zu einer Sozialcharta erarbeitet hatten, »um das Überleben von Frauen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu sichern«,83 brachten die Vertreterinnen des Unabhängigen Frauenverbandes am Runden Tisch seit Februar 1990 ihre Forderungen auch in die deutsch-deutsche Verfassungsdiskussion ein. Ebenso erarbeitete eine von der Humanistischen Union unterstützte Initiative von Heide Hering, Susanne von Paczensky und Renate Sadrozinski unter dem Motto »Frauen in bester Verfassung« in acht Artikeln essenzielle Frauenforderungen als ausdrückliche Verfassungsziele.84 Gleichzeitig haben Frauen in Frankfurt in einer Kooperation zwischen dem Frauenreferat der Stadt und der Universität für September 1990 in der Frankfurter Paulskirche ein »Forum zur Verfassungsreform« vorbereitet. Unter dem Wahlspruch Frauen für eine neue Verfassung,85 hatten sich hier Feministinnen, Frauen aus Parteien und Gewerkschaften, aus Ost und West zu einem breiten Bündnis zusammengefunden und ein »Frauenmanifest« verabschiedet. Im Nachklang zu dem Internationalen Kongress »Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht«, zu dem sich 1989 anlässlich der 200 Jahr-Feier zur Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte mehr als 1.000 Frauen in der Paulskirche versammelt hatten, war die Arbeit an einer neuen, geschlechtergerechten Verfassung begonnen worden, fiel dies doch zusammen mit dem Fall der Mauer und den Debatten über die Rechtsform der deutschen Vereinigung. Der feministische Anspruch, sich an der Gestaltung des künftigen Deutschlands und damit an der Verfassungsdebatte zu beteiligen, gestaltete sich zu einer praktischen Anwendung jener Erkenntnisse, die zu der Zeit als wissenschaftliche und rechtsphilosophische Kontroverse um Gleichheit und/oder Differenz die internationale feministischen Debatte der nächsten Jahre bestimmen sollte.86 Die Menschenrechte haben (bisher) ein Geschlecht, »es sei denn, wir mischen uns ein und verwirklichen das Recht auf Gleichheit wegen und trotz unserer Verschiedenheiten«, war eine der Schlussfolgerungen.87

Die Kleinarbeit bei der Umformulierung von Verfassungsgrundsätzen (analog zur Paraphrasierung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung durch Olympe de Gouges, vgl. Kap. 4) war daher der sehr konkrete und lehrreiche Versuch, die Erfahrungen und politischen Utopien von einer geschlechtergerechten Gesellschaft im vereinten Deutschland in die Sprache des Rechts zu übersetzen. Das Ziel war, mit der neuen Verfassung einen neuen Gesellschaftsvertrag zu erarbeiten, der ausdrücklich auch als Geschlechtervertrag konzipiert war. In Anlehnung an den Grundrechte-Katalog und die wichtigsten Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes wurden nach gründlicher Diskussion Erweiterungen bzw. Präzisierungen vorgeschlagen wie die »Unantastbarkeit der Würde von Mann, Frau und Kind« (Art. 1 GG), die Durchsetzung von Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen als »staatliche Garantie«, das Recht »jeder Frau, zu entscheiden, ob sie ein Schwangerschaft austrägt oder nicht« (Art. 4). Der umformulierte Art. 6 GG zum Schutz der Familie sah bereits die Anerkennung und den Schutz »anderer Lebensgemeinschaften, die auf Dauer gestellt sind« vor. Weitere Kernforderungen waren der »Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit« sowie soziale Grundrechte bzw. Grundsicherungen (Art. 12 GG), Quotierungen in politischen Gremien wie im Bundestag (Art. 38 GG), die Erweiterung der Formen direkter Demokratie (Art. 28 GG) sowie die Verankerung ökologischer Prinzipien in der Verfassung (Art. 20 GG). In der Präambel wurden die wichtigsten politischen Grundsätze ebenso feierlich wie richtungweisend zusammengefasst. Da heißt es im gleichen Ton wie in der Präambel des Grundgesetzes:

»Im Bewusstsein ihrer Verantwortung für Mensch und Natur […] erfüllt von der Hoffnung auf Frieden, Gerechtigkeit und gleiche Verteilung des Reichtums in der Welt, mit dem Ziel, die gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter an allen gesellschaftlichen Bereichen zu garantieren, die Heilung und dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage zu gewährleisten und einem Verständnis von Freiheit, das die Freiheit der und des Anderen nicht als Grenze, sondern als Bereicherung und Erfüllung der eigenen Freiheit versteht und erfährt, geben sich Bürgerinnen und Bürger […] diese Verfassung.«88

Es folgte der Zusatz: »Im Bewusstsein der Lehren aus Ausschwitz bleibt jede und jeder stets aufgefordert, die Freiheit und Menschenwürde jeder und jedes Einzelnen verantwortlich zu schützen und zu verteidigen […].«89

Letztlich gelang es der gesamtdeutschen Verfassungsbewegung im Hinblick auf Frauenrechte nur, in der 1992 von Bundestag und Bundesrat einberufenen »Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern« eine Präzisierung des Artikels 3 Abs. II GG – »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« – durchzusetzen. In einem Zusatz zu Art. 3, Satz 2 heißt es da seit 1994: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin«. Damit wird nun auch gesetzlich »klargestellt«, dass das Verbot der Diskriminierung auch bei mittelbarer Diskriminierung gilt und dass Frauenförderung und Quotierung unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsgemäß sind, womit der Staat den bindenden Auftrag erhalten hat, für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen, und zwar nicht nur durch den Abbau rechtlicher, sondern auch faktischer, gesellschaftlicher Diskriminierung.90

Schließlich – dies wiegt ebenso schwer wie alle möglicherweise vertanen Chancen – war der Einigungsprozess eine beispiellose Inszenierung männlicher, patriarchaler und ökonomischer Interessenpolitik, in der die Vertreter des westdeutschen korporatistischen und konservativen Parteienstaates jede politische Gelegenheit nutzten, Frauen aus Ost und West nicht gleichberechtigt zu beteiligen. Dies bestätigt Rita Süßmuth, die es als Bundestagspräsidentin und immerhin Vorsitzende des Ausschusses »Deutsche Einheit« wissen musste und im Interview sehr vorsichtig formulierend darauf hinwies: »Niemand wird bestreiten, dass sich die Vereinigungspolitik des Jahres 1990 mit Namen von Männern, nicht von Frauen verbindet.«91 Auch im Zuge der Abwicklung und Planung einer neuen Hochschulstruktur für die ostdeutschen Universitäten wurde die institutionelle Verankerung der Frauen- und Geschlechterforschung an den Hochschulen tunlichst vermieden und die Disziplin somit erneut an den Rand des Kanons der Wissenschaften gedrängt.92