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Die Klima- und Umweltkrise ist das Resultat von sozialen Verhältnissen, die historisch gewachsen sind – und die überwunden werden können. Milo Probsts Streifzüge durch die emanzipatorischen Kämpfe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schärfen den Sinn für das Mögliche und ziehen Verbindungslinien, aus denen Neues erwachsen kann: Probst folgt den Spuren eines anarchistischen Aktivisten und Schriftstellers, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Buenos Aires für einen breiten Solidaritätsbegriff eintrat, der auch die Natur miteinbezog, denen eines britischen Sozialisten, der in den 1890er Jahren Arbeiter*innen zum Kampf gegen die Luftverschmutzung animieren wollte, denen eines kubanischen Unabhängigkeitskämpfers, der Anarchistin und Feministin Louise Michel und anderen. Ihre Geschichten verdeutlichen, dass so etwas wie eine universelle Menschheit nur durch gemeinsame Kämpfe, einen Prozess des Solidarisierens sowie einen Bruch mit einem System möglich ist, das Menschen systematisch entmenschlicht. Der Umweltschutz der 99% ist zugleich Wiederanknüpfung an eine antikapitalistische Tradition und Neuerfindung. Er ist antirassistisch, feministisch und dekolonial, klassenkämpferisch und internationalistisch. Er sucht ein neues Wir, das alle einschließt, die in diesem System ausgebeutet, unterdrückt, diskriminiert und ausgeschlossen werden. Nur wenn Klima- und Umweltschutz als genuin soziale Fragen betrachtet werden, lässt sich dieses Wir entdecken.
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Seitenzahl: 258
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MILO PROBST, geboren 1991 in Basel, ist Historiker und Aktivist und arbeitet zurzeit an der Universität Basel an einer Dissertation über die Umweltkritik im Anarchismus des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts. Er interessiert sich für die Schnittstellen zwischen Forschung und Aktivismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.
MILO PROBST
EINE HISTORISCHE SPURENSUCHE
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2021
Deutsche Erstausgabe September 2021
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Porträt des Autors auf Seite 2:
© Pierre Kappler
1. Auflage
ePub ISBN 978-3-96054-267-4
Vorwort. Bisswunde im Orchideenhügel
TEIL 1: KONTUREN EINES UMWELTSCHUTZES DER 99 %
Für ein anderes Wir. Oder: Weshalb es beim Umweltschutz der 99 % darum geht, alles zu verändern
TEIL 2: ZUKUNFTSTRÄCHTIGE VERGANGENHEITEN
1Solidarität mit der Natur. Oder: Weshalb Utopien wichtig sind
2Es noch einmal versuchen. Oder: Weshalb sich der Umweltschutz »industrialisieren« sollte
3Umweltschutz der Armen. Oder: Was Umweltschutz mit menschlicher Gesundheit zu tun hat
4Abolition ecology. Oder: Was Umweltschutz mit Antirassismus zu tun hat
5Ökologie der Sorge. Oder: Was Umweltschutz mit Feminismus zu tun hat
6Commoning. Oder: Weshalb Umweltschützende die Eigentumsfrage stellen müssen
7Woanders beginnen. Oder: Weshalb in einer ökologischen Welt viele Welten Platz haben müssen
Schlusswort. Weil man uns die Zukunft klaut
Danksagung
Namensregister
Wir kommen nicht von nirgendwo,um die Welt zu retten.
Assa Traoré, 2017
Wer über die Hauptstraße von Osten her ins waadtländische Dorf Eclépens einfährt, wird von den grauen Gebäuden und Förderbändern eines Zementwerks in Empfang genommen. Die Silos gleichen Wachtürmen, die den Mormont-Hügel in ihrem Rücken wie eine Beute behüten. Von hier aus ist nur schwer zu erahnen, was sich hinter dieser Fabrik abspielt. Die riesige Aufschrift »Ihr regionaler Partner für nachhaltiges Bauen«, die die Blicke unwillkürlich auf sich zieht, soll die Neugier stillen. Um mehr zu verstehen, müssen wir uns diesem Zementwerk von der anderen Seite des Hügels nähern. Dies ist nicht nur ein geografischer Positionswechsel. Indem wir den Mormont-Hügel umrunden und von der uns abgewandten Westseite hochsteigen, unternehmen wir auch eine Reise in andere Zeiten. Wir können abschätzen, wie dieser Hügel aussah, bevor er eine Beute des Bauhungers wurde. Wir begreifen, dass der gesamte Hügel aufgefressen werden könnte, wenn die Gier des Zementunternehmens nicht gestoppt wird. Und wir erahnen, wie dieser Hügel – und vielleicht andere Stücke dieser Erde – künftig auch noch belebt werden könnten.
Vom Dorf La Sallaz auf der Westseite des Hügels führt ein Weg auf die Anhöhe. Hinter uns liegen die schneebedeckten Flanken der Jurakette. Nach einigen hundert Metern stellt sich uns ein Bogen der ganz besonderen Art in den Weg. Zwei aus Paletten und anderem Restholz gebaute Türme sind mit einer hölzernen Brücke verbunden. Darunter versperrt ein Tor den Durchgang. Ein weißes Transparent mit farbiger Bemalung nennt uns den Ort, den wir sogleich betreten werden: ZAD de la Colline. Wir sind in der ersten Zone à défendre der Schweiz.
Solche Schutzzonen, eine Form des ökologischen Widerstandes, sind zuerst in Frankreich entstanden. Die wohl berühmteste ZAD, jene von Notre-Dame-des-Landes, wurde 2018 geräumt, nachdem die Aktivist*innen nach einem langjährigen Widerstand und dank einer Allianz mit Anwohner*innen, Landwirt*innen und Gewerkschafter*innen ein Flughafenprojekt verhindern konnten. Mit der seit Oktober 2020 bestehenden ZAD auf dem Mormont-Hügel wehren sich die Umweltschützer*innen gegen den Ausbau eines Steinbruchs durch ein Zementunternehmen. Ein artenreiches Ökosystem ist dadurch bedroht. Ihr Kampf hat aber auch eine globale Dimension, denn die Zementproduktion ist für 8% der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Nur wenig verdeutlicht die kapitalistische Lebensfeindlichkeit besser als die Flächenversiegelung durch Einkaufszentren und Autobahnen oder das Zumauern von Grenzen.
Nachdem uns das Tor geöffnet wurde und wir hindurchschreiten, fällt mir der Stacheldrahtkringel auf, der an der gesamten oberen Seite des Bogens befestigt ist. Hier aber markiert dieser Draht weder Privateigentum noch eine Landesgrenze. Beim Durchschreiten des Tors betreten wir vielmehr das Jenseits einer Welt des Eigentums.
Die Zweckentfremdung des Stacheldrahtes ist eine, die uns auf dem Gelände der ZAD immer wieder begegnen wird. Wir betreten eine Welt, in der Holzpaletten Barrikaden bilden, halbierte PVC-Rohre als Dachrinnen funktionieren, gewöhnliche Hausfenster Licht in Baumhäuser hineinlassen. Und doch scheint hier vieles an seinem Platz. Grund dafür ist nicht nur, dass hier die Lebensdauer von Abfällen aus einer verschwenderischen Gesellschaft verlängert wird. Vor allem verstehe ich, dass Dinge anders angeordnet werden können; dass sich ihre Funktion nicht nur in dem erschöpft, was in Produktbeschreibungen und Gebrauchsanweisungen vorgegeben wird. Hier sind es nicht tote Dinge, die den Menschen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Hier sind es Menschen, die mithilfe von Dingen andere Beziehungen leben. Wir können uns aus dem Bestehenden eine andere Welt zimmern.
Ich verlasse die Gruppe, mit der ich angereist bin, und schaue mich alleine um. Auf von Bäumen gesäumten Wiesen stehen verstreut einige Zelte und Jurten, wie auf einem Campingplatz außerhalb der Urlaubssaison. Überall sind Menschen beschäftigt. Für einen abgeschirmten Ort, in den man nur durch ein bewachtes Tor gelangt, bleibe ich erstaunlich unbeachtet. Durch Blickkontakt und freundliche Grüße möchte ich meine Anwesenheit irgendwie rechtfertigen, die Bestätigung bekommen, dass ich willkommen bin. Doch diese Bestätigung kam mir bereits zuteil, als ich das Tor durchschritt. Jetzt darf ich hier sein. Aber ich bin noch nicht ins zwischenmenschliche Beziehungsnetz eingebunden. Als kurzer Besucher eines einzigen Nachmittags bleibt mir dieser Einbezug verwehrt. Ich verspüre die für Besetzungen übliche Mischung aus bedingungsloser Gastfreundschaft und sorgfältigem Misstrauen, das einem vor allem dann begegnet, wenn man mit seiner Anwesenheit oder seinen Fragen allzu ungestüm in die Intimität der Bewohnenden eindringt.
Zum Zentrum der Besetzung führt ein von den Besetzer*innen angelegter Weg. Ein Schild erklärt, weshalb von den Besucher*innen die Disziplin erwartet wird, auf den Wegen zu gehen: Die an diesem Ort wachsenden Orchideen müssen geschützt werden. Auf dem gesamten Gelände sind Orchideenpflanzen mit kleinen dreieckigen roten Fähnchen einzeln markiert. Einigen Orchideen wurde sogar ein rotes Grablicht zur Seite gestellt. Wieder eine dieser wunderbaren Zweckentfremdungen. Fahnen sind hier nicht dazu da, ein Territorium in Besitz zu nehmen, das dann von den Eigentümern nach Belieben benutzt und je nach Laune auch zerstört werden kann. Hier dienen sie dazu, dem nicht-menschlichen Leben einen Schutzraum zu geben. Die Umweltschützer*innen haben das Territorium der Pflanzen abgesteckt. Sie sind die zärtlichen Verbündeten der Pflanzen, weil sie in der Symbolsprache der Menschen für die Orchideen einen Raum der Autonomie einfordern.
Den topografischen Höhepunkt der ZAD bildet ein Aussichtsturm. Von hier aus lässt sich die dem Hügel zugefügte Bisswunde überblicken. Eine U-förmige Schlucht legt das Fleisch des Hügels, einen braunen Kalkstein, offen. Die Zähne des Gebisses bestehen aus roten Röhren, die in den Boden eingelassen sind. In sie wird Sprengstoff gefüllt, um den Hügel ein Stück weiter anzufressen. Seit Jahren trachten die Werksbetreiber nach der Ausdehnung dieses Beutestücks, um ihren und den Hunger anderer – jenen der Bauindustrie und Immobilienbranche – zu stillen. Ein Einspruch von Umweltschützer*innen wurde im Mai 2020 vom Kantonsgericht abgewiesen und liegt nun beim Bundesgericht.1
Über einen mit Gämsenkot besäten Weg schreiten wir zu dritt am Rand der Schlucht entlang. Über uns betonen die unbelaubten und fast schwarzen Flaumeichen, die unter den vergangenen Hitzewellen und ausgebliebenen Regenfällen sichtlich gelitten haben, den trostlosen Anblick dieser Grube.
Nun haben wir unseren Rundweg abgeschlossen. Wir sehen nicht nur von oben die im Tal liegende Rückseite des Werks, in das Lastwagen ein- und ausfahren. Wir haben auch einen Teil der sprichwörtlichen Kehrseite dessen gesehen, was uns anfänglich als »regionale und nachhaltige« unternehmerische Partnerschaft angepriesen worden war. Um weitere Rückseiten dieser Glanzfassade in den Blick zu bekommen, reichen unsere Füße nicht mehr aus. Andere Wege müssen wir im Geiste begehen. Wir müssen den Finanzströmen eines Konzerns folgen, die Verästelungen des Stammbaums einer Familiendynastie durchwandern.
LafargeHolcim heißt die Betreiberin dieses Zementwerks. 2015 fusionierten die zwei Giganten der Zementbranche Holcim und Lafarge zu einem Unternehmen, das 2019 26,7 Milliarden Schweizer Franken umsetzte. An diese unternehmerische Allianz lassen sich weitere Brücken ansetzen, mit deren Hilfe wir über unterschiedliche Zeiten und Orte hinwegschreiten können. Zunächst eine Verbindung nach Syrien: Zwischen 2011 und 2015 zahlte Lafarge 15 Millionen Dollar an in Syrien aktive Terrororganisationen, darunter der sogenannte Islamische Staat. Der Unternehmensvertreter, der diese Zahlungen beaufsichtigte, tauchte bei den französischen Gemeinderatswahlen von 2014 auf einer Liste des rechtsextremen Front National auf. Andere Stege können an dieser Stelle nur angedeutet werden. Sie führen in 34 Länder, vornehmlich des globalen Südens, in denen das Unternehmen einer Studie von Greenpeace zufolge für 122 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung verantwortlich ist.2 Nochmals andere Überführungen bringen uns in die Vergangenheit, wo wir auf die hinter Holcim steckende Familiendynastie stoßen, die etwa mit dem Südafrika der Apartheid Geschäfte machte. In der vierten Generation dieses Stammbaums treffen wir auf der einen Seite auf Thomas Schmidheiny, der weiterhin einen Anteil von ca. 7% an LafargeHolcim hält und dessen Vermögen von Forbes auf 4,8 Milliarden Dollar geschätzt wird. Er glaubt nicht mehr daran, dass sich das international vereinbarte Zweigradziel erreichen lässt.3 Auf der anderen Seite ist da Stephan Schmidheiny, langjähriger Inhaber des Asbestherstellers Eternit. In den 1980er Jahren profitierte er von den neoliberalen Reformen der Pinochet-Diktatur und kaufte sich im südlichen Chile 120.000 Hektar Wald, der den Mapuche- Indigenen enteignet worden war.4
Das rasche Durchwandern dieser kapitalistischen Geografie der Naturzerstörung und Ausbeutung offenbart aber auch andere Räume und Praktiken. Im Untergrund gibt es immer Menschen, die sich und ihre Umgebung wahren und pflegen. Zum Beispiel die Mapuches, die in Chile gegen eine zerstörerische Forstwirtschaft und für den Erhalt der Gewässer und ihrer Lebensformen kämpfen; oder die Arbeiter*innen, Gewerkschaften und Wissenschaftler*innen, die seit Anfang des letzten Jahrhunderts vor der Gefährlichkeit des Asbests warnten; oder eben die Aktivist*innen der ZAD de la Colline.
Bereits jetzt existiert ein weitverzweigtes Tunnelsystem, das diese Orte und Zeiten untergründig verbindet. Es verläuft horizontal, wenn sich Aktivist*innen aufeinander beziehen, sich gegenseitig aushelfen oder miteinander solidarisieren. Es verbindet aber auch unterschiedliche Zeitebenen, wenn etwa Menschen der Gegenwart an vergangen geglaubte Hoffnungen auf eine gerechtere Welt anknüpfen.
Hier setzt Umweltschutz für die 99 % an. Es geht nicht nur um den Schutz der Natur, sondern genauso um Fragen der menschlichen Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Die Umweltzerstörung kann nicht getrennt von den anderen sozialen Krisen der Gegenwart adressiert werden. Umweltschutz der 99 % ist deshalb Herstellen von Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Orten und Zeiten, die gegen die Herabsetzung und Zurichtung des Lebens durch einen heteropatriarchalen, rassistischen und neokolonialen Kapitalismus kämpfen.
Die Covid-Pandemie hat das lebensverneinende Prinzip des Kapitalismus mit schmerzhafter Deutlichkeit zum Vorschein gebracht. Wie ich später zeigen werde, zeichnet sich der Kapitalismus dadurch aus, dass er die Natur zerstückelt und die Zusammenhänge des Lebens negiert. Wie der Klimawandel fallen auch Pandemien nicht vom Himmel, sondern haben gesellschaftliche Ursachen. Biodiversitätsschwund, Entwaldung und Fragmentierung der Landschaften fördern das Überspringen von tierischen Krankheitserregern auf Menschen, dies belegen bereits verschiedene Studien.5
Auch wenn der Kapitalismus die Zusammenhänge des Lebens durchtrennt; die fundamentalen Naturgesetze verändern kann auch er nicht. Kapitalismus zeichnet sich vielmehr durch den unablässigen Versuch aus, den Eigensinn, der dem menschlichen und nicht-menschlichen Leben innewohnt, zu disziplinieren und für sich auszunutzen. Das gelingt aber immer weniger – Menschen und Nicht-Menschen beginnen zu streiken. Das Tragische daran ist, dass der Streik des nicht-menschlichen Lebens in Form von Unwettern, Hitzewellen, Waldbränden oder eben Pandemien zuerst vorwiegend jene trifft, die der Natur tendenziell weniger Schaden zugefügt haben: Indigene, People of Colour, Frauen, Inter, Nichtbinäre, Trans und Agender (FINTA) Menschen, Lohnabhängige, Geflüchtete, Obdachlose, Kinder und Jugendliche und viele mehr. Glücklicherweise haben aber auch Menschen einen Eigensinn. Sie können protestieren, sich verweigern, streiken, besetzen, blockieren, retten, teilen, für einander sorgen. Und sie können dadurch neue Allianzen mit den Nicht-Menschen eingehen. In einem gewissen Sinn ist Umweltschutz der 99 % die geschwisterliche Assoziation der Eigensinnigen.6
Allianzen, die nichts Selbstverständliches an sich haben, sondern aktiv durch eine Praxis des Kennenlernens und des produktiven Aushaltens von Differenzen hergestellt werden müssen. Die der Occupy-Bewegung entlehnte Bezeichnung der 99 % soll hier kein eintöniges und stets harmonisierendes Kollektiv benennen. Sie soll auch nicht die Tatsache negieren, dass beachtliche Teile der Bevölkerung aktuell rassistische, sexistische, klassistische oder umweltzerstörerische Praktiken übernehmen oder billigen. Umweltschutz der 99 % wäre vielmehr ein politischer Horizont, den alle ansteuern sollten, denen nicht-ausbeuterische Beziehungen zu den Mitmenschen und der Umwelt ein Anliegen sind. Umweltschutz der 99 % wäre Herstellung von Verbindungen zwischen Kollektiven, ohne die Unterschiede und Konflikte restlos zu tilgen.
So versucht dieses Buch, mithilfe der bestehenden und vergangenen Kämpfe zukunftsträchtige Verbindungen herzustellen. Es nimmt sich ein Vorbild an den Menschen, die gerade deshalb sorgen und schützen, weil sie durch Wände flüstern, Risse in Mauern schlagen, Gitterstäbe auseinanderbiegen, Arme rettend ausstrecken, unter Dornen hindurchkriechen, Drähte durchtrennen, Dielen auseinanderhebeln, mit dem Finger auf beschlagene Fensterscheiben wunderbare Zeichen malen und dadurch immer etwas Kostbares über Grenzen hinweg in andere Zeiten und Orte einschleusen.
Beim Mittagessen in der ZAD unter der klaren Januarsonne erregt etwas unter den vielen Tags und politischen Botschaften rund um das Gebäude meine Aufmerksamkeit. Mit weißer Farbe steht auf einer hölzernen, durch die Witterung dunkel gewordenen Dachtraufe:
Mit unseren Vorfahren und den kommenden Generationen
Ich hoffe, dass auch diese Dachseite bald eine Dachrinne bekommt. Damit dieser Spruch durch die künftigen Gewitter nicht abgewaschen wird.
Januar 2021
Was wurde mit dieser Erde angerichtet, die uns gegeben wurde, um zu wachsen und zu glauben und frei zu sein wie in einem Spiel? Die wir sahen und die uns die Fähigkeit gab zu betrachten. Die uns von der anderen Seite der Nacht und der Trauer Zeichen gab. […]
Was sind wir, wenn sie nicht mehr ist? Uns erfinden, gemeinsam zur Welt kommen: Können wir wieder nicht einsam sein?
Eduardo Galeano, 1975
1907 versendete der deutsche Soziologe Adolf Levenstein Fragebogen an circa fünftausend männliche Arbeiter der Textil- und Metallindustrie. Er hatte die Absicht, die »sozialpsychologische Seite des modernen Großbetriebs« sowie die »psychophysischen Einwirkungen auf die Arbeiter« zu ergründen. Neben den Arbeitsbedingungen wollte Levenstein mit seiner Erhebung auch die Haltung der Arbeiter gegenüber »außerberuflichen Kultur- und Lebensproblemen« erforschen. Deshalb stellte er ihnen folgende Fragen: »Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, wenn Sie auf dem Waldboden liegen, ringsherum tiefe Einsamkeit?« Die Antworten publizierte er fünf Jahre später in einem Buch.7
Da gab es einen 33-jährigen Bergarbeiter, Vater von zwei Kindern, der sich im Wald an die Worte »Göthes« erinnerte. Ein anderer glaubte in den Bäumen »Beethoven-Symphonien rauschen zu hören«. Ein Textilarbeiter konnte hingegen nicht viel denken, da er jedesmal sofort einschlief. Viele andere wiederum schilderten, wie sie in Einsamkeit und Verzweiflung verfielen oder ihre Gedanken an die »Armseligkeit der Menschen« sowie an die Kapitalisten richteten. Und nicht wenige begannen, im Wald Verbindungen mit anderen Lebewesen zu verspüren, ja sie traten mit ihnen sogar in einen Dialog. Dies kam laut Levenstein einer »Vermenschlichung der Natur« gleich, die als psychologische Kompensation von vereinsamten Individuen in einer sozialdarwinistischen Massengesellschaft zu verstehen war. »Jeder Halm, jedes Blatt, jede Blume zeigt Leben und spricht zu mir in einer Sprache, die ich verstehe«, heißt es etwa. Einer fühlte die »Blutsverwandtschaft mit der lebenden Welt«, ein weiterer erkannte in den Bäumen seine »Brüder«, und nochmals ein anderer wurde davon überzeugt, dass »jedes lebende Geschöpf ein Recht hat zu leben«.
Die Momente im Wald, »wo noch kein Schornstein die Luft verpestete«, waren für einige Befreiung von den Städten, aber auch Einsicht, dass selbst das Leben im Wald vor den »Industriebaronen« nicht geschützt war, denn diese hätten »auch das letzte Stückchen« Wald geraubt. So musste ein Bergarbeiter feststellen: »Ich gehe sehr oft in den Wald leider mann kann sagen es ist kein Wald hier im Kohlerevier.« Und als ein bereits 48-jähriger Textilarbeiter über das »Weltganze« sinnierte, stellte er sich eine freie Welt vor, in der die Erde ein »Garten« sein wird, »in dem die Gärtnerhand des Menschen rodet, ordnet und pflegt«.8
Als sich Levenstein Fragen ausdachte, um die Arbeiter über ihre Haltung zu Kultur- und Lebensproblemen zu befragen, nahm er wohl nicht ganz zufällig das Thema Wald. Wälder waren für das frühe 20. Jahrhundert in Deutschland zentral bei der Entstehung eines Naturschutzdenkens, das die Entwaldung aus einer konservativen, gar reaktionären Haltung aus kritisierte.9 So ist die frühe Naturschutzbewegung dann auch meistens in die Geschichtsschreibung eingegangen: als rückwärtsgewandte, romantisierende Tradition, welche die mit der kapitalistischen Moderne verbundene Naturzerstörung mit dem Traum nach einer patriarchalen, hierarchisch geordneten Gesellschaft überwinden wollte. Aber wenn auch ein Teil dieses konservativen Diskurses die Antworten der Arbeitenden geprägt haben mag, so lässt sich in ihren Aussagen weitaus mehr finden.
Zum einen waren die kostbaren Momente im Wald auch Erfahrungen der Freiheit, des Ausbruchs aus kapitalistischen Zwängen. Auffällig viele Arbeiter träumten von Emanzipation und einer anderen Welt, »wo sich die Menschheit in Liebe vereinigte«; einem »Zukunftsstaat«, wie es ein 33-jähriger Textilarbeiter, Vater von drei Kindern, nannte, »wo diese Herrlichkeit nicht einem einzigen gehören wird«. Der Wald war für zahlreiche Arbeiter Befreiung vom erdrückenden Arbeitsalltag, ein Platz der Ruhe »vor dem grausamen Kampf ums Dasein«, ein kostbarer Moment, in dem man sein »eigner Herr« war. An die Revolution und »auch mal an ein weibliches warmes Herz« dachte einer, während ein anderer diesen schönen Wald »für seine Nachkommen erobern« wollte.
Auffallend ist zum anderen, dass dieser Traum von einer schönen, wohlgeordneten und freien Natur – so romantisch und religiös verbrämt er auch gewesen sein mag – regelmäßig an den kapitalistischen Bedingungen zerschellte. »Keine Zeit, in den Wald zu gehen«, antwortete ein 23-jähriger Bergarbeiter lapidar. »Hab’ keine Zeit«, meinte ebenfalls ein mehr als zehn Jahre älterer Textilarbeiter kurz angebunden. »[W]enn die Arbeit kürzer sein möcht dann könnte man eher in den Wald gehen«, begründete ein Vater von fünf Kindern den Umstand, dass ihm zum Spazieren unter den Bäumen keine Zeit blieb. In blumiger Sprache drückte es ein 40-jähriger kinderloser Textilarbeiter aus:
»Die Wipfel wiegen und neigen sich. Es ist als wollten sie winken und rufen. – Kommt her! – Alle! – Unsere Herrlichkeit zu schauen. Aber niemand kommt. Man schafft und schuftet in staubigen Fabriken, dunstgeschwängerten Sälen, zwischen lärmenden Maschinen – in toddrohenden Schächten. Der Wald schweigt. – Als könne er nicht begreifen. – Nur Geduld Du schöner Wald. Es kommt die Zeit, da unter Deinen Wipfeln ein glückliches Geschlecht wandeln wird.«
Verwaisung des Waldes und Einsamkeit der Arbeitenden hängen hier zusammen. Zwei Folgen einer kapitalistischen Welt, in der die Menschen unter die Erde und in verstaubte Fabriken geschickt werden, damit sich einige Wenige bereichern und darüber hinaus auch noch die Natur unter den Nagel reißen können. Realitätsfremde Schwelgereien von einer mit der Natur wieder versöhnten Menschheit? Vielleicht. Aber auch erste Fragmente eines Umweltschutzes der 99 %.10
Einem Umweltschutz der 99 %, dessen Konturen in diesem Buch erkundet werden sollen, geht es nicht darum, die Natur ihrem Schutze zuliebe vom Menschen fernzuhalten. Umweltschutz der 99 % muss ein enges Verständnis des Naturschutzes hinter sich lassen und alle Dimensionen der aktuellen gesellschaftlichen Krise in ihren Zusammenhängen verstehen und gleichzeitig adressieren.11 Es geht also ganz grundsätzlich darum, die Erde anders zu bewohnen, was auch bedeutet, die Beziehungen zwischen den Menschen grundlegend anders zu gestalten. In diesem Buch lasse ich mich von drei Prämissen leiten.
Erstens bin ich davon überzeugt, dass wir uns in einer fundamentalen zivilisatorischen Krise befinden. Jahrzehntelange Diskussionen und Auseinandersetzungen um Umwelt- und Klimaschutz haben gezeigt, dass es so etwas wie einen »nachhaltigen« bzw. »grünen« Kapitalismus nicht gibt. Der Klimawandel ist dabei nur eine Folge dieser kapitalistischen Naturverhältnisse. Hinzu kommt das Überschreiten von weiteren »planetarischen Grenzen« wie Biodiversität, Landnutzung oder biochemischen Kreisläufen, was zu einer irreversiblen Deregulierung des Erdsystems führen könnte.12 Deshalb spreche ich nicht nur von Klima-, sondern von Umweltschutz, um diese verschiedenen Aspekte der ökologischen Zerstörung miteinzubeziehen. Somit versteht ein Umweltschutz der 99 % die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen als notwendiges Produkt des Kapitalismus, der sowohl die Menschen als auch die Natur ausbeutet, unterdrückt und zu einfachen »Inputs« eines auf Wachstum getrimmten Produktionsprozesses degradiert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Kampf für einen »Systemwandel«, wie es häufig heißt, als Teil von diversen sozialen Auseinandersetzungen zu denken. Deshalb ist Umweltschutz der 99 % zweitens auch eine Neudefinition der Subjekte einer sozialen und ökologischen Transformation. Er geht davon aus, dass wir ein neues Wir finden müssen, das alle einschließt, die in diesem System ausgebeutet, unterdrückt, diskriminiert und ausgeschlossen werden. Der Umweltschutz der 99 % beruht deshalb auf einer intersektionalen Klassenpolitik. Schon immer stand der Umweltschutz in einer konfliktgeladenen Beziehung sowohl zur Arbeiter*innenbewegung als auch zu anderen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit. Vor allem vonseiten großer Nichtregierungsorganisationen heißt es noch heute, dass Umweltschutz im Interesse aller Menschen sei und von Fragen der sozialen Gerechtigkeit abgekoppelt werden könne. Auf der anderen Seite haben auch viele Gewerkschaften ein ambivalentes bis kritisches Verhältnis zum Klima- und Umweltschutz. Immer noch gibt es Gewerkschaften, die gegen den Rückbau fossiler Industrien kämpfen und damit den Schutz der Erde und die Bewahrung von Arbeitsplätzen gegeneinander ausspielen. Umweltschutz der 99 % sieht diesen Interessensgegensatz zwischen Lohnarbeitenden und Umweltschützenden nicht als unvermeidlich an, sondern als Produkt einer spezifischen politischen Konstellation, die durch soziale Kämpfe und dem Zeichnen gesellschaftlicher Alternativen verändert werden kann. Nur wenn Klima- und Umweltschutz als genuin soziale Fragen betrachtet werden, lässt sich dieses Wir entdecken.
Dadurch ergibt sich der Umweltschutz der 99 % jedoch auch drittens aus dem Befund eines doppelten Scheiterns. Zum einen das Scheitern der bis vor wenigen Jahren in Westeuropa vorherrschenden Strömungen innerhalb der Umweltbewegung, die sich bislang allzu wenig mit sozialen Fragen befasst haben. Zum anderen aber auch das Scheitern eines Großteils der historischen Linken und Arbeiter*innenbewegung, die sich – trotz Ausnahmen – dem Umweltschutz nur ungenügend gewidmet haben. Demnach ist Umweltschutz der 99 % sowohl Wiederanknüpfung an eine antikapitalistische Tradition als auch Neuerfindung. Eine Neuerfindung, bei der eine Spurensuche im 19. und anbrechenden 20. Jahrhundert den Sinn für das Mögliche schärfen kann. Denn es gibt eine verschüttete, vergessene, selbst in linken Erzählungen allzu häufig übergangene Tradition des Umweltschutzes der 99 %, die es mit Blick auf die Dringlichkeit einer ökologischen und sozialen Transformation neu zu entdecken gilt.
Dieses Buch hat zwei Teile. In diesem ersten Teil umreiße ich den Begriff des Umweltschutzes der 99 %. Ich argumentiere, dass Umweltschutz der 99 % antikapitalistisch, antirassistisch, feministisch, dekolonial, klassenkämpferisch und internationalistisch sein soll sowie für Solidarität, Kooperation und Selbstbestimmung einstehen muss. Ein Anliegen dieses Buches ist, die möglichen Subjekte der Kämpfe für eine soziale, ökologische und solidarische Welt näher zu bestimmen. Denn ich habe den Eindruck, dass sich linke Diskussionen über eine sozialökologische Transformation vor allem auf die programmatische Ebene fokussieren und in erster Linie politische Forderungen und alternative Gesellschaftsentwürfe behandeln. Dadurch geraten jedoch die Subjekte, die solche Forderungen umzusetzen in der Lage wären, etwas aus dem Blickfeld.13 Das Buch ist somit auch als Plädoyer dafür zu verstehen, sozialökologische Transformation von den Bewegungen und Kämpfen aus zu denken.
Der zweite Teil stellt die Geschichte in einen Dialog mit den ökologischen Herausforderungen der Gegenwart. Mithilfe einer Reise durch verschiedene Zeiten und Orte wird eine alternative Kartografie der Linken gezeichnet, die sich vor allem mit Beispielen aus dem transatlantischen Anarchismus und libertären Sozialismus befasst. Anhand von sieben Beispielen werden verschiedene, geografisch wie auch zeitlich verstreute Aspekte eines Umweltschutzes der 99 % besprochen. Das zweite Kapitel diskutiert die Allianzen zwischen Umweltschützenden und Industriearbeitenden. Wenn wir Umweltzerstörung auch als Gesundheitsfrage betrachten und Umweltschutz als eine Politik des Körpers definieren, werden, so das Argument in Kapitel drei, neue politische Allianzen denkbar. Kapitel vier, fünf und sieben behandeln unterschiedliche Subjekte (Frauen, People of Colour und Indigene) und illustrieren, wie deren spezifische Unterdrückung mit Umweltzerstörung zusammenhängt – und weshalb ihre Kämpfe ökologisches Potenzial besitzen. Das sechste Kapitel diskutiert die Eigentumsfrage und zeigt auf, dass der Kampf gegen Umweltzerstörung auch ein Kampf für die Demokratisierung aller Lebensbereiche sein muss. Bei diesen Kapiteln handelt es sich um Fragmente eines Umweltschutzes der 99 %, die nur durch dünne historische und narrative Fäden zusammengehalten werden. Dadurch soll die heterodoxe und ausgangsoffene Dimension jeder Suche nach neuen emanzipatorischen Horizonten verdeutlicht werden. Obwohl die Anordnung der Kapitel im zweiten Teil einer gewissen darstellerischen Logik folgt, können sie in unterschiedlichen Reihenfolgen und unabhängig voneinander gelesen werden.
Ein Umweltschutz der 99 % ist das Gegenstück eines Umweltschutzes für die 1%. Er macht den Herrschenden die Fähigkeit streitig, im Namen der gesamten Menschheit für angeblichen Klimaschutz zu sorgen. Denn dem dominanten Umweltschutz haftet eine Blindheit für soziale Fragen an. Dies ist nicht neu. Der Umweltschutz hat eine lange Geschichte der Vertreibung, Ausbeutung und Unterdrückung. Seit der Gründung der ersten Naturschutzgebiete im 19. Jahrhundert werden lokale Bevölkerungsgruppen teils gewaltsam vertrieben, nur damit einige meist weiße Eliten die »unberührte« Natur bestaunen können.14 Auch heute noch verschärfen viele »von oben« entworfene Klimaschutzpolitiken soziale Ungleichheiten, indem die Kosten einer angeblich »nachhaltigen« Wirtschaft auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden. Man denke nur an die Gelbwestenbewegung. Die Ende 2018 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron geplante Steuererhöhung auf Benzin traf in erster Linie die Prekären und Niedriglohnempfänger*innen, die etwa in Stadtrandgebieten ohne öffentliche Verkehrsinfrastruktur auf das Auto angewiesen sind. Aber beileibe nicht alle Aktivist*innen der Gelbwesten waren und sind gegen jeglichen Umweltschutz. Indem sie aber die soziale Ungleichheit, die deutlichen Demokratiedefizite und die mangelnde gesellschaftliche Infrastruktur – öffentlicher Verkehr, Spitäler, Altenheime, Schulen – anprangerten, erfanden sie, manchmal in Zusammenarbeit mit Umweltschützenden, eine Art Umweltschutz der 99 %.15
Die drohende Klima- und Umweltkatastrophe ist somit das Resultat von sozialen Verhältnissen, die historisch gewachsen sind und deshalb auch überwunden werden können. Weder eine dem Menschen angeborene Gier und Maßlosigkeit noch eine in der »westlichen Zivilisation« allgegenwärtige »Mentalität« der Naturunterwerfung können für die ökologischen Zerstörungen verantwortlich gemacht werden. Natürlich spielen kulturelle Faktoren eine Rolle. Diese als alleinige Ursachen zu benennen, verdeckt allerdings die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und damit die ungleiche Verantwortung für Klimawandel und Umweltzerstörung. Es sind ganz konkret und in erster Linie die Reichen und Mächtigen sowie die Großkonzerne, allen voran die Energiefirmen, Finanzinstitute und Agrarmultis, welche mit Unterstützung ihrer Regierungen Mensch und Natur zerstören und ausbeuten.
Trotz dieser ungleichen Verantwortung nehmen aber dominante Umweltschutzdiskurse die Armen genauso in die Pflicht wie die Reichen und Mächtigen. Ohne Unterscheidung wird an alle Konsument*innen oder Bürger*innen appelliert, unter Missachtung der Tatsache, dass umweltschädliche Konsumpraktiken mit steigenden Einkommen konsequent zunehmen. Eine viel beachtete Oxfam-Studie berechnete etwa, dass das reichste 1% der Weltbevölkerung doppelt so viel CO2 emittiert wie die ärmste Hälfte der Bevölkerung.16 Die weltweite Flotte der 300 größten Superjachten mit einer Länge von 60 Metern oder mehr emittiert allein für ihre Fortbewegung in einem Jahr ähnlich viel CO2 wie ganz Burundi.17 Doch viele bevorzugen es, an ein abstraktes Kollektiv zu appellieren, das Fragen von Klasse und CO2 übergeht und uns alle gleichermaßen von Klimawandel und Umweltzerstörung betroffen machen will. Als Gefangene auf dem »Raumschiff Erde« müssten wir uns alle entscheiden, ob wir unsere Reise fortsetzen oder als gesamte Besatzung an der Klippe des Klimawandels unser Ende finden möchten. Im Dezember 2020 kündigte der Erdölkonzern ExxonMobile auf Twitter einen Bericht von Öl- und Gasfirmen mit Maßnahmen zur Emissionsreduktion mit folgenden heuchlerischen Worten an: »We are all in this together.« Dass wohl nicht alle zu diesem Wir gehören, zeigte sich bereits einige Monate früher, als interne Berichte von ExxonMobile publik wurden. Darin rechnete das Unternehmen im Rahmen seiner 210 Milliarden Dollar umfassenden Expansionsstrategie kaltblütig mit einem 17-prozentigen Emissionsanstieg bis 2025.18
Seit Jahrzehnten machen Aktivist*innen zu Recht darauf aufmerksam, dass wir nicht alle gleichermaßen von Umweltzerstörung und Klimakatastrophe betroffen sind. Die Klima- und Umweltgerechtigkeitsbewegung bricht damit ganz entscheidend mit der Vorstellung einer im Angesicht der Apokalypse zusammenstehenden Menschheit. Sie zeigt, dass der Kampf für eine wirklich nachhaltige Welt nur mit einem Kampf für soziale Gerechtigkeit und der Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung denkbar ist. An vorderster Front dieser Kämpfe stehen Frauen, Landlose, Bäuerinnen und Bauern, People of Colour, junge Menschen und Indigene. Nicht zufällig sind aus diesen Kämpfen für Umwelt- und Klimagerechtigkeit fruchtbare Allianzen entstanden. Solche Kämpfe verdeutlichen, dass so etwas wie eine universelle Menschheit nur durch gemeinsame Kämpfe, einen Prozess des Solidarisierens sowie einen Bruch mit einem System möglich ist, das Menschen systematisch entmenschlicht. Um eine soziale und ökologische Zukunft zu erobern, müssen wir den Herrschenden die Fähigkeit streitig machen, im Namen aller für angebliche Nachhaltigkeit zu sorgen.
Nichtsdestotrotz tappen immer noch viele Umweltorganisationen und Parteien in die Falle, die uns ein abstrakter Begriff der Menschheit stellt. Weil rasch ins Auge sticht, dass nicht alle die Schalthebel des Raumschiffes bedienen, wird gerne an die Einsicht derjenigen appelliert, die den Kurs dieses Gefährtes bestimmen können. Auch vonseiten der Fridays-For-Future-Protestierenden in Deutschland, der Klimastreikenden in der Schweiz oder der Aktivist*innen von Extinction Rebellion sind bisweilen solche Appelle zu hören. Da wir nun alle »im selben Boot sitzen«, alle dieselbe dreckige Luft einatmen, dasselbe verschmutzte Wasser trinken und alle gleichermaßen unter der sengenden Hitze leiden, müssten wir alle am selben Strang ziehen. Untätigkeit der Entscheidungsträger*innen wird so zu einem Problem des Wissens, der mangelnden Ein- respektive Voraussicht. Doch ein solcher Fokus auf Wissen setzt voraus, dass auf Einsicht direktes und angebrachtes Handeln folgt. Mit anderen Worten: Appelle an die Vernunft der Herrschenden setzen immer voraus, dass wir in einer vernünftigen Welt leben. Dass indes die dominante »Vernunft« zutiefst unvernünftig sein kann und dass das, was unter den herrschenden Zuständen als unvernünftig gilt, den Keim einer anderen, universelleren Vernunft in sich tragen kann, hat schon der junge Marx erkannt.19
Das Problem ist somit nicht nur das Leugnen wissenschaftlicher Fakten. Das Problem ist in erster Linie, dass diesem kapitalistischen System eine tiefsitzende Leugnung der biophysischen und menschlichen Grenzen eingebaut ist. Auch Mächtige, die oberflächlich die Fakten der Wissenschaft anerkennen, scheuen systematisch vor ihren praktischen Implikationen zurück. Was verdeutlicht dies eindrücklicher als die Tatsache, dass seit der Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention im Jahr 1992 – also der internationalen Anerkennung des Klimawandels als Bedrohung für die Menschheit – die Treibhausgasemissionen um mehr als 60% angestiegen sind?20 Umgekehrt sind auch die an den Schalthebeln der Macht stehenden »Klimaskeptiker*innen« alles andere als untätig. Zwar widersetzen sie sich einer Reduktion der Treibhausgasemissionen, doch treffen sie sehr wohl Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Privilegien: Sie schützen ihre Villen und Golfplätze vor steigenden Meeresspiegeln, schicken Flugzeugträger in von Stürmen zerstörte Regionen oder bauen Grenzmauern.21
Trotzdem bleibt die Hoffnung, dieses System könne doch noch die Kurve kriegen, weiterhin bei Vielen bestehen. Eine im akademischen Duktus daherkommende Version davon vertritt der Historiker Dipesh Chakrabarty. In einer Replik auf kapitalismuskritische Analysen des Klimawandels entgegnete er 2017, dass der Kampf gegen den Klimawandel auch im Interesse der reichen Nationen und Klassen sei. Schließlich müssten auch die Privilegierten einsehen, dass ihre Arbeitskräfte irgendwann einmal keine Luft mehr zum Atmen haben werden. Er setzte seine Hoffnung deshalb auf ein »aufgeklärtes Eigeninteresse« der Herrschenden.22 Inzwischen sind die Treibhausgasemissionen noch einmal angestiegen, riesige Flächen des amazonischen Regenwalds und Australiens abgebrannt und ein Temperaturrekord nach dem anderen aufgestellt worden. So etwas wie Einsicht ist nicht zu beobachten, schon gar nicht nach der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise, auf die die Herrschenden größtenteils mit weiteren klimaschädlichen Maßnahmen reagieren.
In seinem jährlichen Emission Gap Report berechnet das Umweltprogramm der UNO jeweils die Differenz zwischen den kommunizierten Reduktionszielen der Regierungen und den Emissionsreduktionen, die zur Einhaltung des 2°C-Ziels, respektive des 1,5°C-Ziels notwendig wären.23