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Wenn das Liebesglück an der Tür klopft... Als die Hochzeitsplanerin Sophie Harkness sich weigert, die Hochzeit einer Freundin zu verschieben, um einer verwöhnten Braut entgegenzukommen, ist sie schlagartig arbeitslos. Bis sie erfährt, dass ihre verstorbene Großmutter ihr einen Laden in dem hübschen schottischen Städtchen Briar Glen gekauft hat. Überrascht und erfreut eröffnet Sophie dort ihr eigenes Porzellangeschäft zu Ehren ihrer Großmutter. Doch als Sophie ein ungewöhnliches Teeservice zusammen mit einem geheimnisvollen Brief erhält, kann sie nicht anders, als sich für die Geschichte hinter dieser Antiquität zu interessieren. Und als der gutaussehende, aber unnahbare Kunstkritiker Xander North an ihre Tür klopft, ist Sophie kurz davor, die wahre, farbenfrohe Vergangenheit ihres neuesten Schatzes herauszufinden. Doch nicht nur das: auch ihr Leben wird durch Xander um einiges bunter.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch:
»Mir war bewusst, dass ich nicht so weitermachen konnte. Ich war nicht glücklich. Ich lebte wie ein Roboter, der Tag für Tag mechanisch seinen Aufgaben nachging. Seit ich von jetzt auf gleich Grandma verloren hatte, fragte ich mich, was mir eigentlich wichtig war und was ich mit meinem Leben anstellen wollte.
Ich musste etwas ändern. Und zwar schnell. Meine Zukunft am Schlafittchen packen und ordentlich durchschütteln. Aber wie sollte ich das anstellen?«
Zur Autorin:
Julie Shackman ist eine ehemalige Journalistin und arbeitet heute als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Schottland.
Julie SHACKMAN
Fürimmer abjetzt
Roman
Übersetzt aus dem Englischen von Sarah Heidelberger
HarperCollins
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel A Scottish Highland Surprise bei One More Chapter, London.
© 2022 Julie Shackman
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH,
Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Covergestaltung von Büro Süd GmbH, München
Coverabbildung von mauritius images / Sonja Jordan / imageBROKER / Creative Travel Projects / chainarong06 / Bokeh Blur Background / Mrs.Moon / ARTYuSTUDIO / icemanphotos / Shutterstock
E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749907373
www.harpercollins.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.
Eine Geschichte über die Dinge, die wir bereuen, weil wir sie nicht getan haben … nicht, weil wir sie getan haben.
»Was, in aller Welt, soll das denn sein? Das ist nicht der Farbton, den ich ausgesucht habe!« Das per Selbstbräuner auf Mahagonibraun getrimmte Gesicht meiner Kundin kam meinem gefährlich nah.
Ich warf einen Blick auf das hübsche olivfarbene Seidenband, mit dem die Braut vor mir herumwedelte. »Entschuldigen Sie bitte, Ms. Carberry … ähm … Ich meine natürlich … Mrs. Carberry-Joyce«, korrigierte ich mich hastig, während die Hochzeitsgäste um uns herumstolzierten und unter wieherndem Gelächter Champagner in sich hineinkippten. »Aber das ist genau die Farbe, die Sie für die Gastgeschenke ausgewählt haben.«
Sie kniff die hellen Katzenaugen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Oh, aber ganz sicher ist sie das nicht.« Der Schleier umwölkte ihren Kopf wie ein schneeweißer Vulkanausbruch. »Ich wollte Papageiengrün!«
»Liebes«, versuchte ihr frischgebackener Ehemann, der hinter ihr aufgetaucht war, sie zu beruhigen. »Kann das nicht bis später warten? Bunty und Seb müssen schon los, damit sie den Morgenflug nach Gstaad erwischen.«
Sie schüttelte seine blasse Hand von ihrem Arm ab. »Siehst du nicht, dass ich gerade beschäftigt bin?«
Ich holte die Mappe unter meinem Arm hervor und blätterte durch die Seiten, auf denen minutiös jedes noch so kleine Detail aufgelistet war, auf das Misha Carberry-Joyce für ihre Hochzeit beharrt hatte.
Da stand es alles klar und deutlich in Schriftart Arial – von dem Dutzend rosafarbener Kanarienvögel, die auf dem Hotelgelände freigelassen werden sollten, bis hin zu den beiden ineinander verschlungenen, aus einem Eisblock gehauenen Herzen.
Inzwischen war der Empfang in vollem Gang, die Gäste hatten die Tanzfläche erobert, die Kronleuchter verbreiteten gedämpftes Licht, und die kunstvolle Eisskulptur wurde nach und nach Opfer der Wärme. Ein wenig erinnerte sie mich an eine schmelzende Wachsfigur in einem Horrorfilm, und ich konnte gar nicht anders, als fasziniert zu beobachten, wie sie langsam in sich zusammenfiel. Die Pfütze kam der mannshohen Hochzeitstorte mit Zitronen- und Schokoladencremefüllung gefährlich nahe. Ich empfand eine tiefe innere Verbundenheit mit der Skulptur.
Mühsam riss ich mich von dem Anblick los und durchsuchte weiter meine Mappe nach dem Belegstreifen für das Seidenband, den Mrs. Carberry-Joyce mir schon vor Monaten mitgebracht hatte. Wobei »Mappe« es nicht ganz traf. Das Ding erinnerte eher an ein Telefonbuch. Manchmal kam es mir so vor, als hätte ich die letzten zwei Jahre meines Lebens nichts anderes getan, als diese verdammte Hochzeit zu organisieren.
Doch ich verdrängte meinen aufflammenden Unmut sofort wieder. Reiß dich zusammen, Sophie. Nur noch ein paar Stunden, dann hast du diesen Höllenritt hinter dir.
Aus Sicherheitsgründen hatte ich das Schleifenstück in einem Plastiktütchen untergebracht. Nun zog ich es heraus und reichte es der Braut. »Ist dies das Stück Seidenband, das Sie mir mit der Bitte, damit die Gastgeschenke zu verzieren, überreicht haben, Madam?« Ich versuchte, mir meine zunehmende Genervtheit nicht anmerken zu lassen. Für diese Hochzeit hatte ich wirklich alles gegeben. Hatte Überstunden geschoben, meine Kontakte spielen lassen und dafür am Ende nicht mal ein Dankeschön zu hören bekommen.
Hinter uns hatte das Streichquartett zusammengepackt und ein affektiert klingender DJ namens Astor hatte das Mikro an sich gerissen.
Während die ersten Beats eines Songs von Pharrell Williams erklangen, musterte die angriffslustige Braut das Seidenband. Dann trat sie in ihren Killerabsätzen verlegen auf der Stelle und schluckte. »Das Belegstück müssen Sie mit dem von einer anderen Hochzeit verwechselt haben. Ich werde mich beschwe…«
Ihre anklagende Stimme verstummte, als ich das Band umdrehte. Auf der Rückseite stand in ihrer krakeligen Handschrift Olivgrün für die Gastgeschenke.
Zwei rote Flecke erschienen auf ihren Wangen.
Ich wartete auf ihre Entschuldigung, aber sie zappelte nur in ihrem weißen Baiser-Albtraum von Kleid herum und suchte nach Worten.
»Alles in Ordnung, Ms. Harkness?«
Mir rutschte das Herz in die Hose. Na toll. Der auch noch!
Heston Cole war der Manager des Luxushotels Castle Marrian und mein Chef. Irgendwie war es ihm gelungen, sich wie von Geisterhand neben mir zu materialisieren. Wie machte er das nur? Auf den dicken Teppichen in den Hotelgängen hätte ich es mir ja erklären können. Aber hier auf dem polierten Kirschholzparkett im großen Saal?
»Danke, alles bestens«, flötete ich und betete dabei insgeheim, dass er sich gleich wieder verzog.
Ohne weiter auf mich zu achten, richtete Heston sein schmieriges Lächeln auf die nörgelige Braut. »Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit, Madam.«
Sie presste die Lippen zusammen. Ihr war anzusehen, wie ihre Gedanken ratterten. Nach einem kurzen Blick in meine Richtung antwortete sie: »Ja, danke. Es ist alles … zufriedenstellend.«
Zufriedenstellend? Sollte das ein Witz sein?
Die Eisskulptur, die rosafarbenen Vögel, der Ed-Sheeran-Doppelgänger, der auf dem Weg zum Altar für sie gesungen hatte, und die mit roségoldenen Strasssteinen besetzte Limousine, in der sie und ihr Mann nachher in die Flitterwochen fahren würden, fand sie … zufriedenstellend? Und dabei war das noch längst nicht alles!
Mein Blut begann zu köcheln. Die monatelange Arbeit an dieser verfluchten Hochzeit hatte meinen Stresspegel in den Turbomodus versetzt. Noch nie war ich so häufig mit Kopfschmerzen nach Hause gegangen. Neben der heutigen Feier kamen mir die Dutzende von Hochzeiten, die ich hier auf Castle Marrian bereits organisiert hatte, wie Kindergeburtstage vor.
Heston schien zu spüren, wie kurz meine Lunte war, und wandte sich mir zu. »Wenn Sie möchten, können Sie für heute Abend gern Schluss machen, Ms. Harkness. Ich übernehme. Während der verbleibenden Feierlichkeiten kann sich Madam mit allen Wünschen an mich wenden.«
Ich ballte die Fäuste. Es war mir nahezu unmöglich, Misha Carberry-Joyce anzusehen, ohne ihr ins Gesicht zu springen.
Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel.
Ich setzte ebenfalls ein Lächeln auf und marschierte zwischen den Gästen hindurch und weiter den schwarz-weiß gefliesten, mit Porträts geschmückten Gang entlang zur Terrassentür, hinter der sich die parkähnliche Hotelanlage erstreckte. Die Tür stand offen, und die frische Frühlingsluft dieses an sich herrlichen Aprilabends drang herein. Weiter hinten im Garten hielt sich ein Gästepaar ein wenig unbeholfen umschlungen.
Ich ließ meine Mappe neben mir auf den Kiesweg fallen. Da stand ich nun in meinem zerknitterten marineblauen Hosenanzug und den spitzen Pumps. Ein paarmal atmete ich tief durch und sog den scharfen Duft der Pfefferminzbeete in meine Lunge. In der Ferne plätscherten glockenhell die Meerjungfrauen-Wasserspiele.
Ich war so glücklich und aufgeregt gewesen, als ich nach meiner Stelle in der PR-Abteilung des Gemeinderats diesen Job hier ergattert hatte. Irgendwann waren mir die Lust an Pressemitteilungen über behördliche Ausgaben und die Ideen für neue Ausflüchte bezüglich eines zwielichtigen Stadtrats, der absurd hohe Spesen produzierte, weil er gleichzeitig seine Frau und seine Geliebte zufriedenstellen musste, ver- beziehungsweise ausgegangen.
Aber nach und nach hatte auch das weitläufige Luxushotel mit seinen sahneweißen Türmchen, den smaragdgrünen Rasenflächen und hochkarätigen Gästen einiges von der Anziehungskraft verloren, die es ursprünglich einmal auf mich ausgeübt hatte.
Die Ansprüche der Hochzeitspaare wurden von Jahr zu Jahr abstruser, insbesondere bei unserer gut betuchten Kundschaft.
Unter den zukünftigen Bräuten der gehobenen Gesellschaft hatte sich schnell herumgesprochen, dass ich gute Arbeit leistete, was dazu geführt hatte, dass mein liebenswürdiger Chef Heston mehr und mehr Aufgaben an mich delegierte und gleichzeitig immer häufiger durch Abwesenheit glänzte. Und ehe ich michs versah, war ich ausgebrannt gewesen, ohne einen Funken Anerkennung für meine Leistungen zu erfahren, ganz abgesehen davon, dass der Begriff Work-Life-Balance ein Fremdwort für mich war.
Wenigstens ließ sich nicht leugnen, dass es um meinen Kontostand recht rosig bestellt war, da der Job hier auf Castle Marrian deutlich besser bezahlt war als der bei der Stadt. Was mir allerdings nicht viel brachte, solange ich aussah wie Freddy Kruegers kleine Schwester.
Kein Wunder, dass mein Ex Callum meine ständigen Überstunden irgendwann sattgehabt hatte. Dass er Trost in den Armen seiner deutlich älteren Chefin in der Bank gefunden hatte, würde ich ihm allerdings trotzdem nie verzeihen. Eine hässliche Trennung später bezweifelte ich, dass ich in Männerfragen je wieder auf mein Bauchgefühl vertrauen würde.
Blinzelnd zwang ich mich zurück in die Gegenwart und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Im Frühlingswind hatten sich ein paar hellblonde Strähnen aus meiner Hochsteckfrisur gelöst, aber das scherte mich nicht. Ich wollte gerade nur noch eins: in einer nach Lavendel duftenden heißen Badewanne untertauchen und Grandma anrufen, um mich auszuheulen.
Meine Gedanken legten eine Vollbremsung ein. Das geht nicht mehr, Sophie. Auf einmal hatte ich einen dicken Kloß im Hals. Grandmas Tod war erst zwei Wochen her, und die Trauer traf mich erneut mit voller Wucht. Ich ließ die Schultern hängen. Solange ich etwas zu tun hatte, konnte ich das Thema verdrängen, aber jetzt, da ich allein, erschöpft und aufgebracht im Hotelgarten stand …
Mir brannten Tränen in den Augen, aber ich bemühte mich redlich, sie wegzublinzeln. Durch die offene Tür hinter mir drang das Geräusch von klirrenden Gläsern und quietschenden Stühlen in den Garten.
Noch immer hatte ich den intensiven Geruch der weißen Lilien in der Nase und konnte den verlorenen Ausdruck in Mums Augen auf der Beerdigung vor mir sehen, während Dad uns beide umarmte und tröstliche Worte murmelte.
Grandma Helena war im Alter von achtzig Jahren gestorben und hatte bis zu ihrem Tod absolut unbesiegbar gewirkt.
Sie war es, der ich meine Liebe zu allem, was mit Porzellan zu tun hat, zu verdanken habe. Ich war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie mir die zarte Schönheit des weißen Goldes und seine teils faszinierende Geschichte nahegebracht hatte. Sie hatte mir gezeigt, wie herrlich es sich anfühlte, seinen Tee aus filigranen Tassen mit hauchzarten Untertassen zu trinken.
Stundenlang hatten wir dasitzen und davon träumen können, eines Tages ein seltenes Stück von Meissen oder Spode zu entdecken.
Sie hatte Porzellan gesammelt und ihren beachtlichen Schatz an schönen Stücken in den zahlreichen Glasvitrinen in dem kleinen Wohnzimmer ihres Cottages voller Stolz zur Schau gestellt.
Neben ihrer Liebe zu Porzellan hatte sie auch einen großartigen Sinn für Humor besessen. Bei dem Gedanken daran, wie Grandma ihre unangenehm neugierigen Nachbarn häufig als »Waldorf und Statler« bezeichnet und jedes Mal die Titelmelodie der Muppet Show gesummt hatte, wenn sie die beiden in ihrem Garten sah, musste ich lächeln.
Meine Mum hatte daraufhin immer die Augen verdreht und gesagt: »Musst du so sarkastisch sein, Mutter?«, woraufhin Grandma mit fröhlich funkelnden Augen erwidert hatte: »Das nennt man Witz, Liebes.«
An einem Sonntagnachmittag im März war sie unerwartet in ihrem Sessel in ihrem gemütlichen kleinen Cottage eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht – umgeben von ihrem geschätzten Porzellan und in dem Wissen, dass wir sie von ganzem Herzen geliebt hatten.
Ich schluckte schwer, wischte mir die Tränen mit dem Handrücken weg und hob die Mappe mit den Hochzeitsinformationen wieder auf.
Zum Glück hatte ich morgen frei. Ein sonderlich ruhiger und friedlicher Tag erwartete mich allerdings nicht, denn ich hatte Mum versprochen, ihr dabei zu helfen, Grandmas Cottage auszuräumen. Wir hätten schon längst damit anfangen sollen, aber Mum hatte es nicht übers Herz gebracht.
Ich zupfte meinen weißen Rüschenkragen zurecht und sah in den Himmel hinauf, über den sich orangerot leuchtende Streifen spannten.
Mir war bewusst, dass ich nicht so weitermachen konnte. Ich war nicht glücklich. Ich lebte wie ein Roboter, der Tag für Tag mechanisch seinen Aufgaben nachging. Seit ich von jetzt auf gleich Grandma verloren hatte, fragte ich mich, was mir eigentlich wichtig war und was ich mit meinem Leben anstellen wollte.
Ich musste etwas ändern. Und zwar schnell. Meine Zukunft am Schlafittchen packen und ordentlich durchschütteln. Aber wie sollte ich das anstellen?
»Du fehlst mir, Gran«, murmelte ich. Dann kehrte ich ins Hotel zurück, um meine Tasche aus dem Büro zu holen und nach Hause zu fahren.
Grandmas freistehendes Cottage lag gegenüber von einem Spielplatz, nicht weit von meiner Wohnung und dem Haus meiner Eltern in der pittoresken schottischen Kleinstadt Briar Glen, auch bekannt als das »Tor zu den Highlands«.
Als wir vor der Ferry Loan 94 hielten, schlugen in der Ferne träge die Sonntagsglocken. Die Hügel hinter dem Park waren mit Heidekraut bedeckt. Zwischen ihnen hing Nebel, der eine melancholische Atmosphäre schuf.
Dad stellte den Motor ab und drehte sich zu Mum um, die hinter ihm auf dem Beifahrersitz saß. »Marnie?«
Durch die Fensterscheibe betrachtete sie das gepflegte kleine Häuschen mit der kobaltblauen Tür, dem kurzen Rasen und den hübschen Blumentöpfen in Teetassenform, in denen elfenbeinfarbene Tulpen, knallrosa Stiefmütterchen und leuchtend gelbe Narzissen wuchsen. Ich erinnerte mich noch, wie Gran die Töpfe vor einigen Jahren drüben im Gartencenter entdeckt hatte. Sie hatte sich sofort entschieden, sie zu kaufen, und war zum Servicetresen geflitzt, um einen Liefertermin zu vereinbaren.
Mum hatte die Töpfe, die in der Tat ein wenig an Requisiten aus Alice im Wunderland erinnerten, zu auffällig gefunden, aber mir zauberte der Anblick ein Lächeln ins Gesicht.
»Kommt«, seufzte Mum, schnallte sich ab und drückte Dads Hand. »Bringen wir’s hinter uns.«
Dad sah sich zu mir um und schenkte mir ein sanftes Lächeln.
Dann stiegen wir nacheinander aus, und Dad ging uns den kleinen Asphaltweg entlang voraus, schloss Grans Haustür auf und stieß sie auf.
Ein Teil von mir erwartete immer noch, sie dort stehen zu sehen, ihr kehliges Lachen zu hören und in eine feste, nach Lavendel duftende Umarmung gezogen zu werden.
Doch stattdessen erwartete uns lastende Stille im Haus. Ihr Flur mit dem bordeauxroten Teppich war bis auf einen Sekretär aus Eichenholz, auf dem mehrere Fotos von uns standen, leer.
Rechts ging ihr Wohnzimmer ab: offene Vorhänge mit Paisley-Muster, ein massiver gemauerter Kamin, ein weiches meergrünes Sofa und zwei passende Sessel. Dazu weitere Bilder in Goldrahmen: Mum und Dad noch vor ihrer Hochzeit mit einem jugendlichen Funkeln in den Augen. Gran und ich – sechs Jahre alt – am Meer in Ayr, wie wir lachend zu den Möwen hochschauten, die am Himmel ihre Kreise zogen. Der Sommer war schottisch ausgefallen, was uns aber nicht davon abgehalten hatte, riesige Eiswaffeln zu verputzen.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Mum und sah sich ratlos um.
Dad legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du brauchst einfach nur die Gegenstände von Helena zusammenzusuchen, die dir etwas bedeuten. Um den Rest kümmern sich die Entrümpler.«
Mum versenkte die Hände in den Hosentaschen ihrer schwarzen Jeans und schlug vor, dass wir uns als Erstes das Wohnzimmer vornehmen sollten.
Die beiden verschwanden hinter dem Durchgang, und ich blieb noch einen Moment lang im Flur stehen. Wie oft hatten Gran und ich an ihrem runden Küchentisch aus Holz gesessen, Tee aus ihrem geliebten Porzellangeschirr getrunken und über Gott und die Welt geplaudert? Ich hatte ihr von der Arbeit auf Castle Marrian erzählt – von den anstrengenden und den schönen Momenten und später fast nur noch von dem nicht enden wollenden Strom an Ansprüchen von Menschen, die keine Ahnung vom wahren Leben hatten. Und Gran hatte mit ruhiger Miene, nickend und voller Mitgefühl zugehört, wie ich mir meinen aufgestauten Frust von der Seele geredet hatte.
Als ich noch jünger war, hatte ich vor meinen Besuchen jedes Mal zu erraten versucht, welche Teekanne Gran diesmal wohl benutzen würde. Die Royal Albert Roses? Die Wedgwood Butterfly Bloom? Oder das Aynsley-Blue-Crocus-Set?
Ihre Sammlung war ziemlich umfangreich, weswegen ich meistens danebenlag. Aber hin und wieder landete ich einen Treffer, und dann klatschte Gran erfreut in die Hände und überreichte mir meine »Belohnung« in Form eines extragroßen Stücks ihres berühmten selbst gebackenen Chocolate Fudge Cakes. Aber selbst wenn ich mich mit meiner Kannenwahl vertan hatte, hatte das Kuchenstück in der Regel das Format einer Fußmatte.
Der Trauerkloß in meinem Hals wurde größer. Ich schluckte gegen die Tränen an und machte mich in meinen Glitzerturnschuhen auf den Weg in die Küche, um mir die Nase zu putzen und anschließend Mum und Dad zur Hand zu gehen. Ich musste mich zusammenreißen. Mum trauerte auch, und ich wollte ihr eine Stütze sein.
Als ich die Küche gerade wieder verlassen wollte, ließ mich im letzten Moment etwas innehalten. Hinter einer von Grans Teekannen lehnte ein länglicher weißer Umschlag. Alle anderen Kannen befanden sich beim Rest der Service in den Glasvitrinen im Wohnzimmer. Nur diese hier stand einsam und verlassen auf der Arbeitsfläche neben dem Toaster.
Ich runzelte die Stirn. Seltsam. Gran hatte ihre geliebten Teeservice gehütet wie ihren Augapfel. Was also hatte die Kanne hier zu suchen? Und was hatte es mit dem Umschlag auf sich?
Vielleicht enthielt er ja eine Rechnung, die dringend bezahlt werden musste. Ich nahm ihn und wollte gerade nach Mum rufen, als mir auffiel, dass etwas in Grans ausladender geschwungener Handschrift darauf stand. Sophie.
Der Anblick ihrer Schrift überraschte mich so, dass mein Herz einen kleinen Satz machte.
Ich schloss den Mund. Erst einmal würde ich den Brief lesen. Danach konnte ich Mum und Dad ja immer noch rufen, um ihnen zu erzählen, was darin stand. Was, wenn es sich um ein düsteres Familiengeheimnis handelte? Vielleicht war meine Mutter ja mit sechzehn ausgebüxt, hatte sich einer Metalband angeschlossen, und mein leiblicher Vater war in Wahrheit ein alternder Rocker! Oder meine Gran hatte in jungen Jahren für den Geheimdienst gearbeitet!
Bei der Vorstellung musste ich laut lachen. Bestimmt enthielt der Brief etwas viel weniger Spektakuläres. Dass mein Dad Ken wirklich mein Vater war, stand außer Frage. Wir hatten dasselbe schiefe Lächeln und knabberten uns beide an der Wangeninnenseite herum, wenn uns etwas Sorgen bereitete. Und beim MI5 hätte Gran es keine fünf Minuten lang ausgehalten, weil sie nichts für sich behalten konnte. Staatsgeheimnisse hätten da sicherlich keine Ausnahme gebildet.
Ich schob den Finger unter die Lasche und holte einen zusammengefalteten blassrosa Briefbogen aus steifem Papier heraus.
Schnell überflog ich, was Gran mir geschrieben hatte, aber irgendwie konnte ich den Worten nicht richtig folgen. Als der Inhalt schließlich doch bei mir ankam, legte mein Magen einen beeindruckenden Mehrfachsalto hin.
Was sollte das alles? Was hatte sich Gran nur dabei gedacht?
Liebe Sophie,
bitte mach dir wegen dieses Briefs keine allzu großen Gedanken. Und bitte versuch, nicht traurig zu sein. Ich weiß, du findest solche Behauptungen ein wenig albern, aber ich hatte immer schon eine Art sechsten Sinn, und jetzt sagt er mir, dass mir womöglich nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich habe achtzig wunderbare Jahre lang gelebt, und es gibt nichts, was ich bereuen würde. Nun, eins vielleicht doch. Es gibt etwas, das ich gern getan hätte, und das ist der Grund, aus dem ich dir diesen Brief schreibe.
Ich las den Brief erneut, aber es gelang mir nicht recht, mich zu fokussieren. Mum und Dad raschelten einen Raum weiter im Wohnzimmer herum, nichts ahnend, dass ich mit heftig pochendem Herzen in der Küche stand. Hin und wieder hörte ich Mum leise über Grans Yucca-Palme schimpfen, die Weihnachtsbaumgröße erreicht hatte.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Grans Brief. Über den Linoleumküchenboden kroch blasses Morgenlicht.
Ich weiß, wie hart deine Arbeit auf Castle Marrian ist und wie anstrengend es sein muss, ständig nach der Pfeife versnobter Bräute zu tanzen, die sich für den Mittelpunkt der Welt halten.
In meinem Kopf drehte sich zwar gerade alles, aber ich musste trotzdem lächeln, als ich mir vorstellte, wie Grans helle Augen vor Wut gefunkelt haben mussten, als sie diese Zeilen schrieb.
Und das ist der zweite Grund für diesen Brief.
Wie schon erwähnt, gibt es nur eins, was ich in meinem Leben bereue.
Eigentlich geht es um nichts Großartiges. Ich hätte weder gern das Great Barrier Reef gesehen noch die Queen kennengelernt – auch wenn beides sicherlich wunderbare Erlebnisse gewesen wären!
Sicherlich werden viele Leute nicht nachvollziehen können, wie mir etwas so Unbedeutendes auf der Seele lasten kann. Andererseits: Kann etwas unbedeutend sein, wenn man es so sehr liebt?
Ich knabberte mir auf der Unterlippe herum. Grandma Helena mochte vieles gewesen sein – aber ganz sicher nicht unbedeutend.
Ich hätte nie zulassen dürfen, dass mein Herz über meinen Kopf bestimmt. Und ich werde auf ewig bereuen, dass ich es doch getan habe.
Und nun möchte ich dich bitten, einen Blick in die Abseite unter der Treppe zu werfen, Sophie. Wenn du gesehen hast, was sich darin befindet, wird es dir sicher deutlich leichter fallen, zu begreifen, worauf ich hinauswill.
Ich ließ den Brief sinken und sah mich orientierungslos um. Einen Moment lang hatte ich ganz vergessen, wo ich war.
Meine Großmutter hatte immer schon einen Hang zur Dramatik gehabt, aber diesmal hatte sie sich selbst übertroffen.
Wovon, zum Teufel, redete sie da nur?
Nebenan klapperten Mum und Dad weiter herum, ohne zu ahnen, was mir gerade durch den Kopf ging. Ich hörte Dad die Beistelltischchen beiseiteräumen, die Gran immer an den Sessel gerückt hatte, um darauf zu essen.
Nachdem ich den Brief auf den Küchentisch gelegt hatte, ging ich in den Flur zurück.
Die Tür zur Abseite unter der Treppe war passend zum Treppengeländer weiß gestrichen. Sie war so unauffällig, dass ich ihr nie groß Beachtung geschenkt hatte. Ich war einfach davon ausgegangen, dass Gran ihre beachtliche Schuhkollektion darin aufbewahrte oder vielleicht die letzten Überreste der Angelausrüstung meines verstorbenen Großvaters.
Nun kauerte ich mich davor und zog am Griff.
Die Tür öffnete sich knarrend, und der Duft von Staub und Raumspray mit Apfelaroma stieg mir in die Nase.
Ich spähte ins Dunkel. Einen Lichtschalter gab es nicht, also schaltete ich die Taschenlampenfunktion auf meinem Handy ein und leuchtete die Wände ab.
Die Abseite war überraschend groß und tief, sie reichte bis in den hintersten Winkel unter dem Treppenabsatz. Auf allen vieren kroch ich vorwärts und reckte den Hals, während ich weiter umherleuchtete.
An der hintersten Wand waren vier braune, mit Paketband zugeklebte Pappkartons gestapelt. Auf jedem stand mit schwarzem Filzstift Sophie geschrieben.
Die Angelegenheit wurde immer mysteriöser.
Ich zog den ersten Karton, der mit einer 1 versehen war, aus dem engen Kabuff. Er war ziemlich schwer.
Vermutlich war es besser, ihn mit einer Schere zu öffnen. Ich rappelte mich auf und holte eine aus der Küchenschublade. Dann kniete ich mich wieder vor die geöffnete Tür der Abseite und schlitzte das Klebeband auf. Der Inhalt war in Luftpolsterfolie verpackt, und obenauf lag ein weiterer Umschlag. Ich legte ihn beiseite und entfernte aufgeregt die Folie.
Als ich den Inhalt sah, keuchte ich laut auf.
Die Schachtel enthielt ein wunderhübsches Teeservice in hellem Gelb, das mit einem Efeumuster versehen war. Es war alles da: eine rundliche Teekanne, zarte Tassen und Untertassen, ein Milchkännchen. Ich hatte das Geschirr noch nie zuvor gesehen. Bisher war ich stets davon ausgegangen, dass Gran ihre vollständige Sammlung im Wohnzimmer ausgestellt hatte.
Vorsichtig hob ich eine Tasse an und bewunderte die fließenden Efeuranken. Ich hätte schwören können, dass es sich um ein echtes Burleigh-Service handelte – handdekoriert mit einem Kupferroller.
Ob Gran mir das Geschirr in ihrem Testament hinterlassen hatte? Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass sie so wertvolles Porzellan besaß, schließlich hatte sie nie ein Wort darüber verloren! Nun war ich umso neugieriger, was sich in den übrigen Kisten befand.
Ich war so vertieft in den Anblick des zartgelben Porzellans, dass ich darüber fast Grans zweiten Brief vergessen hätte.
Ich griff danach und riss ihn auf.
Meine liebe Sophie,
wie ich dich kenne, hast du sicherlich bereits einen ersten Blick auf den Inhalt dieser Schachtel geworfen. Ist das Service nicht herrlich? Vermutlich hast du auf den ersten Blick erkannt, dass es sich um echtes Burleigh-Geschirr handelt. Und es ist nicht das einzige.
Mit großen Augen sah ich von ihrem Brief zu den drei weiteren Kisten in der Abseite.
In den übrigen Schachteln befinden sich ebenfalls Teeservice, jedes von ihnen ähnlich wertvoll wie dieses. Ich habe mir meinen Lebenstraum, einen kleinen Porzellanwarenladen zu eröffnen, niemals erfüllen können. Deswegen mache ich nun dir dieses Geschenk.
Fassungslos ließ ich mich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und streckte die Beine vor mir aus. O Gran. Was hast du da nur wieder ausgeheckt?
Als hätte sie geahnt, dass ich mir diese Frage stellen würde, fuhr Gran in ihrem Brief fort:
Wie du vielleicht mitbekommen hast, verkauft Mrs. Cotter ihren Blumenladen A Bloom with a View. Oder ich sollte wohl besser sagen: Sie hat ihn verkauft. Als ich davon erfuhr, habe ich mich nämlich umgehend mit ihr getroffen und ihr von meinen Plänen berichtet. Sie war sofort begeistert. Also habe ich ihren Laden gekauft – für dich.
Was?! Jetzt kam ich endgültig nicht mehr hinterher. Meine verstorbene Großmutter hatte Mrs. Cotters Laden für mich gekauft?
Bilder von dem niedlichen kleinen Blumengeschäft in der Hauptstraße von Briar Glen, flankiert von unserem Dorfjuwelier und der Apotheke, zogen vor meinem geistigen Auge vorbei.
Einen Moment lang saß ich einfach nur ungläubig da, ohne mich auf etwas konzentrieren zu können. Dann fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und krabbelte mit einem langen, tiefen Seufzer zu den anderen drei Kartons. Nachdem ich sie hervorgezogen hatte, las ich den Brief zu Ende.
Unten in der ersten Kiste findest du eine Liste, in der ich alle weiteren Service und ihren ungefähren Wert aufgeführt habe. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie vor einigen Monaten schätzen zu lassen. Mein Wunsch ist es, dass du diese Teeservice verkaufst und den Erlös nutzt, um deinen eigenen Porzellanwarenladen zu eröffnen.
Das wurde ja immer besser! Was mich wohl noch alles erwartete?
Zudem findest du eine Liste renommierter Porzellanmanufakturen und -lieferanten mit allen relevanten Informationen. Dort kannst du dein eigenes Sortiment auswählen, wenn du so weit bist.
Verblüfft strich ich mir den Zopf glatt. Die gesamte Situation erschien mir vollkommen surreal. Saß ich gerade wirklich umgeben von kostbarem Porzellan auf dem Boden in Grans Flur?
Das hier ist deine Chance, etwas zu tun, das du liebst, Sophie. Ich weiß, dass dich deine Arbeit schon lange nicht mehr glücklich macht. Du fühlst dich nicht wertgeschätzt.
Und da dachte ich, vielleicht kann ich dir auf diese Weise einen kleinen Stups in die richtige Richtung verpassen.
Ergreif die Gelegenheit beim Schopf! Für dich, aber ein wenig auch für mich. Ich werde dich voller Stolz und Freude beobachten. Du bist eine wunderbare junge Frau geworden, und ich kann mich glücklich schätzen, dich zur Enkelin zu haben.
In Liebe
Gran XX
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort im Flur saß, vor mir der halb geöffnete Karton, in dem das entzückende Teeservice mit dem Efeumuster aus der Luftpolsterfolie hervorblitzte. Mein Handy lag neben mir auf dem Teppich, und die Tür der Abseite stand noch immer offen.
Aber irgendwann musste mein tränenersticktes Keuchen laut genug geworden sein, um Mums und Dads Aufmerksamkeit zu erregen, denn die beiden kamen aus dem Wohnzimmer gelaufen, um nachzusehen, was mit mir los war.
Ich reichte meinen verblüfften Eltern die beiden Briefe von Gran und öffnete schniefend die restlichen Kartons. Darin befanden sich Unmengen an Teeservicen in den verschiedensten Stilen von klassischem Wedgwood-Geschirr bis hin zu einem antiken Silberservice aus dem Jahr 1903.
Dad konnte sich nicht entscheiden, womit er sich zuerst auseinandersetzen sollte: den Teeservicen oder den geheimnisvollen Briefen meiner Großmutter. »Was, in Gottes Namen, ist das alles? Was ist hier los, Sophie?«
Doch ich schüttelte nur den Kopf. Schließlich war ich selbst vollkommen überfordert mit der Situation! »Lies die Briefe, Dad.«
Er wechselte einen Blick mit Mum, dann überflog er rasch den Inhalt. »Verdammte Axt! Deine Grandma hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren …«
Mum wurde langsam ungeduldig. »Nun sag schon, Kenny, was steht da?«
Dad reichte ihr die Briefe, während ich zwischen all dem Porzellan auf dem Flurboden sitzen blieb.
»Sie hat dir einen Laden gekauft?« Mum legte sich die Hand aufs Herz.
Ich nickte.
»Aber … Aber wieso …«
Dad zuckte mit den Schultern. »Helena war eine gewitzte alte Dame. Aber wo, zum Teufel, hat sie all das Geschirr herbekommen?«
Ratlos warf Mum die Hände in die Luft. »Sag du es mir. Ich hatte keine Ahnung davon. Ich meine, von den Servicen in ihren Wohnzimmervitrinen natürlich schon, aber …«
Ich rieb mir die Stirn und bemühte mich, den Überblick zu bewahren. »Weiß der Himmel, was das alles wert ist!«
Dad hob eine seiner dicken grau melierten Brauen. »Oh, ein kleines Vermögen, so viel kann ich dir sagen. Vor dir steht antikes Porzellan im Wert von mehreren Tausend Pfund.«
Mum deutete fassungslos auf die Kisten zu ihren Füßen. »Aber woher hatte sie das Geschirr denn nur?« Ihre rauchblauen Augen weiteten sich. »O Gott. Ihr glaubt doch nicht, dass es gestohlen ist, oder?«
Dad musste laut lachen. »Deine Mutter soll Diebesgut gekauft haben? Sei nicht albern, Marnie. Hast du schon vergessen, wie Helena die gesamte Hauptstraße von Briar Glen abgesucht hat, um den Besitzer einer verloren gegangenen Fünfzig-Pence-Münze zu finden?«
So schockiert ich über die Situation auch war – bei der Erinnerung musste ich ebenfalls lachen.
»Aber irgendwoher muss sie die Sachen doch bekommen haben. Und was meint sie damit, sie hätte nie zulassen dürfen, dass ihr Herz über ihren Kopf regiert?«, fragte Mum.
»Woher soll ich das wissen?« Erneut zuckte Dad mit den Achseln. »Wie auch immer deine Mutter an das Porzellan herangekommen ist, jedenfalls hat sie es Sophie vererbt.«
Ich schluckte. »Ja. Und sie wollte, dass ich meinen eigenen Porzellanwarenladen eröffne.«
Da wir alle zu überwältigt waren, um weiter Ordnung in Grans Haus zu schaffen, schlug Dad vor, dass wir zunächst nur die vier Porzellankisten mitnehmen sollten. »Und wenn ich deine Mutter und dich zu Hause abgesetzt habe, fahre ich noch einmal los und hole die Beistelltische und den Rest.«
Die gesamte Heimfahrt über machte ich mir Sorgen um die Kartons und ihren Inhalt. Zum Glück wohnten Mum und Dad nur zehn Minuten von Grans Cottage entfernt. Bei einer längeren Fahrt mit dieser wertvollen Fracht im Gepäck hätte ich vermutlich einen mittleren Nervenzusammenbruch bekommen.
Gran musste die gesamte Aktion mindestens seit drei Monaten geplant haben, vermutlich sogar länger. Immerhin hatte sie nicht nur das seltene Geschirr besorgen, sondern auch das Ladenlokal kaufen müssen – und das alles, ohne dass Mum, Dad oder ich etwas mitbekamen.
Im Auto herrschte betretenes Schweigen. Erst als Dad in die Einfahrt bog, kam wieder Leben in uns.
Im Gänsemarsch trugen wir die Kisten durch den spätvormittäglichen Sonnenschein in den mit beigefarbenem Teppich ausgelegten Flur meiner Eltern und stellten sie dort ab.
Nachdem Dad seinen Karton, in dem sich ein seltenes Minton-Green-Cockatrice-Service aus Knochenporzellan befand, in der Ecke hinter der Treppe verstaut hatte, richtete er sich so plötzlich auf, als wäre ihm ein wichtiger Gedanke gekommen. An Mum gerichtet sagte er: »Ob es wohl darum ging, als ich vor ein paar Wochen bei Helena vorbeigeschaut habe?«
»Wovon sprichst du?«
Nachdenklich schob er die Hände in die Hosentaschen. »Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht, aber ich habe sie einmal beim Telefonieren erwischt, als ich bei ihr vorbeigeschaut habe, um nach dem Rechten zu sehen. Erwischt sage ich deshalb, weil sie sich benommen hat, als würde sie sich ertappt fühlen, und gar nicht schnell genug auflegen konnte.«
Ich fragte Dad, ob sie erwähnt habe, mit wem sie telefonierte.
»Nein. Sie hat sofort das Thema gewechselt. Es war offensichtlich, dass sie nicht darüber reden wollte«, antwortete er. »Ich fand ihre Reaktion zwar etwas seltsam, habe mir aber nichts weiter dabei gedacht.«
Mum warf mir einen Blick zu. »Sicherlich war sie damals schon dabei, diese ganze Angelegenheit zu organisieren.«
Nachdem Dad die letzte Kiste vom Auto in den Flur getragen hatte, machte Mum uns ein paar Sandwiches mit Käse und Gewürzgurken zum Mittagessen. Dann fuhr ich mit Dad noch einmal zu Gran, um die Wohnzimmervitrinen mit ihrer »offiziellen« Teeservicesammlung zu leeren.
Mum bestand darauf, dass wir nach unserer Rückkehr noch gemeinsam Tee tranken, und wir drei sanken dankbar auf die Sitzgarnitur im Wohnzimmer, wo wir zum ersten Mal richtig sacken ließen, welch gewaltige Bombe meine verstorbene Gran da hatte platzen lassen.
Das Wohnzimmer mit dem stimmungsvollen Aquarellbild, das die Hügel um Briar Glen zeigte, und seiner großen Terrassentür, die auf den gepflegten Garten voller hübscher Keramiktöpfe und sorgsam gestutzter Hecken hinausging, war eigentlich ein idyllischer, friedvoller Ort. Aber es half alles nichts – wir drei waren und blieben aufgewühlt.
»Das ist doch Wahnsinn!«, platzte es aus mir heraus. »Ich hab doch einen Job!« Zugegebenermaßen keinen, den ich sonderlich mochte, aber es war eine Festanstellung, die mir ein sicheres Einkommen bot. Jedenfalls so sicher, wie man das heutzutage erwarten konnte. Ich warf einen Blick durch die offene Wohnzimmertür, hinter der mir Grans geheime Porzellansammlung aus den Kartons heraus zuzuzwinkern schien. »Ich kann doch nicht einfach meinen Job aufgeben und einen Laden eröffnen.«
Mum schnalzte zustimmend mit der Zunge. »Keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht hat. Sosehr ich sie auch geliebt habe, aber manche ihrer Ideen waren einfach zu verrückt.« Unbehaglich rutschte sie auf dem Sofa herum. »Ihr glaubt doch nicht etwa, dass sie vielleicht einen … einen senilen Anfall hatte und gar nicht wusste, was sie tut?«
Dad sah erst Mum, dann mich an. »Helena war mehr bei Verstand als wir drei zusammen. Nur war sie eben ein Freigeist. Oder hat zumindest versucht, einer zu sein, soweit dein Vater es zugelassen hat. Er hat sie nicht unbedingt dabei unterstützt, ihre Ziele zu erreichen, oder?«
Mum ließ sich Dads Worte durch den Kopf gehen. »Mein Vater war ein Gewohnheitstier, und weil er solche Angst vor Risiken hatte, erwartete er von Mum, dass sie es genauso hielt wie er.« Sie hob eine Braue. »Die beiden waren sehr unterschiedlich. Ehrlich gesagt habe ich mich oft gefragt, was sie überhaupt aneinander gefunden haben.« Mit einem Blick auf die inzwischen etwas zerknitterten Briefe von Gran in ihrem Schoß fuhr sie fort: »Und ich habe keine Ahnung, was sie damit meint, dass die Zeiten damals anders waren und es etwas gibt, das sie bereut.«
»Offenbar wollte Helena dir ermöglichen, den Traum zu leben, der ihr selbst verwehrt geblieben ist«, sagte Dad zu mir. »Offensichtlich hat sie gehofft, dass du bereit bist, ein Risiko einzugehen und einer Arbeit nachzugehen, die du wirklich liebst.«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber sofort wieder.
Mum schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr roter Bob hin und her schwang. »Also, ich finde das egoistisch von ihr.« In ihren Augen schimmerten Tränen, und ich sprang vom Sessel auf und zog sie in die Arme. Ihr unaufdringlicher Duft nach Coco von Chanel stieg mir in die Nase, als sie ihr Gesicht in meine Halsbeuge schmiegte. »Ich weiß ja, dass deine Großmutter ihr Leben ohne deinen Großvater häufig frustrierend fand. Aber sie kann doch ihre unerfüllten Lebensträume nicht auf dich projizieren! Das ist einfach nicht fair.«
Ich drückte sie fest an mich. »Ich glaube, Gran wollte nur helfen. Kein Wunder, so oft, wie ich mich über meine anstrengende Hochzeitsklientel beschwert habe.«
Mum strich sich die Tränen von den Wangen. »Ich weiß, dass sie gedacht hat, auf ihre Weise würde sie das Richtige tun. Aber trotzdem …« Sie verstummte und richtete den Blick auf den Sisalteppich, der in der Nachmittagssonne schimmerte.
Dad sah mich an. »Dann hast du also nicht vor, den Vorschlag deiner Großmutter wenigstens in Erwägung zu ziehen?«
In einem Anflug von Schuldgefühlen rieb ich mir die Stirn. Natürlich wollte ich meine Gran nicht enttäuschen! Aber ihr Vorschlag erschien selbst mir zu abwegig. Ich liebte schönes Porzellan genauso wie sie. Doch aus dieser Leidenschaft ein erfolgreiches Unternehmen machen? Augenblicklich fielen mir ausnahmslos Gründe ein, aus denen ihr Plan zum Scheitern verurteilt war. Ich hatte keinerlei Erfahrungen im Einzelhandel. So schlecht, wie es aktuell um die wirtschaftliche Lage bestellt war, hatten selbst die wenigen kleinen Läden, die sich schon ewig in Briar Glen hielten, Schwierigkeiten zurechtzukommen. Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Businessplan erstellte. Die Liste der Dinge, die dagegensprachen, wuchs und wuchs, je länger ich darüber nachdachte.
Ich schüttelte den Kopf und seufzte tief gegen das schlechte Gewissen an, das an meinem Herzen zerrte. Grans Idee war lieb, schön und mehr als großzügig gewesen, und sie würde niemals erfahren, wie sehr ich zu schätzen wusste, was sie mir damit zu ermöglichen versucht hatte. Aber ich konnte diese Chance unmöglich ergreifen.
Also verzog ich den Mund zu einem entschlossenen, traurigen Lächeln. »Es ist eine tolle Idee, Dad, aber Gran hat sie nicht in allen Konsequenzen durchdacht. Was sie mir da vorschlägt, kommt gar nicht infrage.«
Und dann war es auch schon wieder Montag, und eine neue Arbeitswoche mit all ihren Freuden brach an.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, den Sonntag damit zu verbringen, Mum und Dad dabei zu helfen, Grans Sachen zu sortieren – und nun war ich plötzlich Besitzerin einer umfangreichen Sammlung von antikem Teegeschirr, um die mich sogar Harrods beneidet hätte, inklusive eines Geschäfts, in dem ich einen Porzellanwarenladen eröffnen sollte.
Dass es diesen Laden niemals geben würde, war klar. Blieb noch die Frage, was ich nun mit Grandmas Geschirr anfangen sollte.
Mir waren schon mehrere Ideen dazu gekommen. Was, wenn ich das Ladenlokal weiterverkaufte und den Erlös an Einrichtungen spendete, die Gran etwas bedeutet hatten? Und die Teeservice konnte ich vielleicht dem Glasgow History Museum stiften.
Eine ganze Weile blieb ich auf dem Angestelltenparkplatz des Hotels in meinem roségoldenen Skoda Citigo sitzen. Das Castle Marrian ragte vor mir in den Himmel. Seine schimmernden Fenster und Türmchen spiegelten das warme Aprillicht wider.
Im Augenblick erstrahlte Briar Glen in all seiner grünen Pracht. Kein Wunder, dass die Gegend im Frühling so beliebt bei Hochzeitspaaren war.
Seufzend nahm ich meine Tasche vom Rücksitz und strich mir den knielangen marineblauen Rock zurecht.
In der Lobby, die vornehmlich in Glas und Chrom gehalten und mit abstrakten Kunstinstallationen dekoriert war, liefen zahlreiche Gäste hin und her, und aus dem in Schokoladenbraun und Cremeweiß tapezierten Frühstücksraum, in dem noch einige Tische besetzt waren, drangen entspanntes Gemurmel und das Klirren von Geschirr und Besteck zu mir herüber.
Ich begrüßte Una und Derek, die heute am Empfang arbeiteten, dann ging ich weiter in den Frühstücksraum, der auf das hügelige Hotelgelände mit seinem alten Baumbestand und den hübsch angelegten Blumenbeeten hinausging.
Mein Büro lag am Ende eines langen Korridors mit einer eisblauen Milchglastür, der außerdem zum Sensations Spa führte.
Kaum hatte ich meine Jacke abgelegt und den Rechner hochgefahren, um einen Blick auf meine heutigen Termine zu werfen, da kam auch schon Heston mit seiner dunklen Föhnfrisur und seiner dauergestressten Miene hereingeplatzt. Mit seinen langen, schmalen Fingern nestelte er an seiner Castle-Marrian-Krawatte herum, auf die in Gold die Initialen C und M gestickt waren.
»Und, wie war dein Sonntag?« Er lächelte, wobei er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem hungrigen Krokodil aufwies.
Alarmiert wandte ich mich von meinem halbrunden Schreibtisch aus Walnussholz, auf dem Fotos von meinen Eltern und ein Porträt von Gran standen, das sie an ihrem siebzigsten Geburtstag mit einer Torte in Flieder und Rosa zeigte, zu ihm um. »Ganz okay, Heston. Sag einfach, welchen Gefallen ich dir diesmal tun soll.«
Er mimte den Schockierten. »Darf ich mich etwa nicht ganz ohne Hintergedanken bei meiner Lieblings-Hochzeitsplanerin nach ihrem Wochenende erkundigen?«
Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er sich schon auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite meines Schreibtischs gepflanzt.
»Ich muss mir spontan ab heute Nachmittag eine Woche freinehmen. Pablo hat mich eingeladen, seine Eltern in Spanien kennenzulernen«, erklärte er.
Ich war kurz davor, an die Decke zu gehen. »Aber Heston, schau doch mal!« Ich drehte ihm den Bildschirm hin. Mein Kalender war so vollgepackt, dass beinahe die gesamte Fläche hellgrün leuchtete. »Das hier ist nicht etwa das Ergebnis einer erfolgreichen Partie Tetris, sondern mein Terminplan für diese Woche. Kannst du mir mal verraten, wie ich zusätzlich auch noch deine Aufgaben erledigen soll?«
Doch Heston winkte nur mit seiner gewohnt entspannten Art ab. »Ach Sophie, nun mach dir nicht ins Höschen, Liebes. Natürlich verlege ich so viele Termine wie möglich auf die kommende Woche.«
Das war zwar immerhin etwas, aber trotzdem würde ich es bis dahin mit einer ganzen Flut an Hochzeiten in verschiedenen Planungsstadien zu tun haben.
»Wenn du die Organisation von Ulrika Bonningtons Hochzeit übernehmen könntest, wäre das allerdings hervorragend. Mein Termin mit ihrer Mutter und ihr wäre eigentlich heute Vormittag um elf, aber ich habe vor der Abreise noch so entsetzlich viel zu tun!«
Was? Auf keinen Fall. Das konnte er mir nicht antun. Unmöglich!
Aber so schnell, wie er gerade die Flucht aus meinem Büro antrat, konnte er es offenbar doch.
Ulrika war die Tochter von Chastity und Spence Bonnington, denen eine Flotte Luxuskreuzfahrtschiffe gehörte, auf denen sie Schottlandrundreisen anboten. Bei ihrem Zukünftigen handelte es sich um irgendeinen weich gespülten Politikerspross, und die Hochzeit sollte am 22. Dezember hier auf Castle Marrian ausgerichtet werden. Als Ulrika im Hotel angerufen und verkündet hatte, dass die Hochzeit hier stattfinden sollte, hatte sich Heston praktisch überschlagen, um diese »sexy Promihochzeit« zu übernehmen.
Doch laut unserem schwedischen Rezeptionisten Casper trieb Ms. Bonnington unseren lieben Heston seitdem mit einem nicht enden wollenden Strom an abstrusen Forderungen, wütenden Mails und hysterischen Anrufen an den Rand der Verzweiflung.
Wütend schoss ich hinter meinem Schreibtisch hervor und rannte Heston hinterher. »Heston. Heston! Bleib auf der Stelle stehen! Du hast unter Berufung auf deine Vorgesetztenposition darauf bestanden, diese Hochzeit unbedingt persönlich betreuen zu wollen.«
Doch Hestons beeindruckend lange Beine hatten ihn schon fast bis ans andere Ende des Korridors getragen, der von Sockeln mit Vasen voller frischer Blumensträuße flankiert wurde, die einen Hauch von Regenwaldflair verbreiteten. »Die Erfahrung wird dich weiterbringen, Liebes«, flötete er mir über die Schulter zu. »Ich muss jetzt wirklich gehen, Sorcha hat mir für halb neun extra noch einen Augenbrauen-Termin freigeschaufelt. Cia-hao!« Und schon war er durch die Spa-Tür verschwunden.
Entrüstet stapfte ich in mein Büro zurück.
So ein verdammter Mist! Wie konnte Heston mich nur so ins kalte Wasser schubsen? Aber was sollte ich schon groß machen? Die Hochzeit würde in jedem Hochglanzmagazin des Landes erscheinen, und der Betrag, den die Bonningtons dafür auszugeben bereit waren, grenzte ans Absurde.
Mir blieb keine Wahl. Solange Heston nicht da war, würde ich mich der Sache annehmen müssen.
Ein leises Ping! verriet mir, dass ich eine E-Mail erhalten hatte. Sie stammte von Heston und enthielt die Notizen, die er sich bei seinem ersten Treffen mit Ulrika Bonnington und ihrer Mutter gemacht hatte. Na ja, wenigstens daran hatte er gedacht.
Fassungslos ließ ich mich in meinen Schreibtischstuhl plumpsen und verschob meinen eigentlichen Elf-Uhr-Termin mit einer Floristin, die einen neuen Laden in der Gegend eröffnet hatte, auf einen späteren Tag in der Woche, damit ich Zeit für die Bonningtons hatte.
Wenn es mir gelang, den Termin mit den beiden innerhalb einer Stunde abzuwickeln, blieb mir vor meinem Anschlusstermin mit einem frisch verlobten Paar vielleicht sogar noch Zeit, mein mitgebrachtes Lunchpaket zu essen.
Missmutig fuhr ich in meinem Stuhl herum zu meinem Bürofenster, das auf ein paar Bäume und eine weite Rasenfläche hinausging.
Heston schuldete mir was. Und zwar keine Kleinigkeit.
Ulrika Bonnington sah sich in meinem Büro mit seinem petrolfarbenen Teppich und den zurückgebundenen Karovorhängen um, als hätte sie gerade die inneren Kreise der Hölle betreten. »Ich dachte, Heston Cole betreut meine Hochzeit.«
Ich auch.
Doch ich überspielte meine Genervtheit mit einem professionellen Lächeln. »Mr. Cole ist diese Woche im Urlaub und hat mich gebeten, ihn solange zu vertreten.«
Missbilligend rümpfte Ulrika Bonnington die Nase.
»Also.« Ich tippte auf der Tastatur herum und öffnete Hestons Notizen über die Bonnington-Barclay-Hochzeit. »Wie ich sehe, werden Sie am 22. Dezember hier auf Castle Marrian heiraten.«
»Also was das betrifft …«, meldete sich die Brautmutter Chastity Bonnington zu Wort, die neben ihrer Tochter saß wie ein Bodyguard im Nachtclub. »Wir haben festgestellt, dass wir mit dem Datum doch nicht glücklich sind und die Hochzeit verschieben möchten.«
Leise Sorge regte sich in mir. Hoffentlich wollten sie die Hochzeit nicht nach vorn verlegen. Bis Ende des Jahres war der Hotelkalender randvoll mit Veranstaltungen. Um einen gelassenen Tonfall bemüht antwortete ich: »Dürfte ich fragen, weshalb?«
Ulrika nagelte mich mit ihrem Blick förmlich an meinem Drehstuhl fest. Der Ausdruck in ihren Augen verriet deutlich, dass sie mich für den letzten Bauerntrampel hielt. »Selbstverständlich weil der 22. Dezember nicht weihnachtlich genug ist.«
Ich blinzelte gegen ihre grellblonden Extensions und die blassrosa Pelzjacke an. »Nicht … nicht weihnachtlich genug?«
»Ganz genau. Ich habe mit Gideon darüber gesprochen, und wir möchten unsere Hochzeit gern am Weihnachtsabend abhalten.«
Das kann unmöglich dein Ernst sein.
Eine kühle Brise wehte durch mein Büro.
Auf Castle Marrian wurden niemals Hochzeiten am 24. Dezember abgehalten. Die Familie Marrian war überzeugt davon, dass die Angestellten ein Recht auf Zeit mit ihren Familien hatten, und das galt insbesondere für die Weihnachtszeit. Aber ausgerechnet in diesem Jahr hatten sie eine absolute Ausnahme von der Regel gemacht – und zwar für Tony und Sonya, den Sohn und die zukünftige Schwiegertochter von Ivy Dunsmuir, der langjährigsten Hotelmitarbeiterin. Sie waren eine mehr als liebenswürdige Familie, und Sir Guy und Lady Josephine Marrian, Besitzer der Cascada Marrian Hotel Group, hatten darauf bestanden, dass sie eine Rundum-Sonderbehandlung erhalten sollten. Einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zu dieser Entscheidung hatte wohl auch mein Anruf in der Zentrale geleistet, bei dem ich in den buntesten Farben ausgemalt hatte, welch herzerwärmende Weihnachts-PR eine Geschichte wie diese bringen würde. Am Ende hatte die Zentrale sogar darauf bestanden, fünfzig Prozent der Rechnung zu übernehmen, was gemessen an der kostenlosen Publicity, die das Unternehmen dadurch generierte, vermutlich immer noch ein Klacks war.
»Ich befürchte, dass wir am 24. Dezember keine Hochzeiten ausrichten. Es tut mir leid, aber das ist einer unserer Unternehmensgrundsätze«, erwiderte ich mit einem freundlichen Lächeln, auf das die beiden mit unbeeindrucktem Starren reagierten. »Lassen Sie mich schauen, ob ich eine Alternative finde.« Ich scrollte durch den Dezember, doch die knallrot markierten Reservierungen nahmen kein Ende. Die einzige Lücke war eine Stornierung am Nachmittag des 18. Dezember.
Ulrika Bonnington explodierte. »Am 18.? Aber das ist ja noch weniger weihnachtlich als der 22.!«
Erschrocken zuckte ich zurück, als Ms. Bonnington aufsprang und zu mir hinter den Schreibtisch stürmte, um anklagend mit einer ihrer rot lackierten Krallen auf meinen Monitor zu deuten. »Sagten Sie nicht, Sie richten am 24. keine Hochzeiten aus? Und was ist dann das da? Die Reservierung an Weihnachten um elf Uhr?«
Hastig versuchte ich, den Hochzeitskalender wegzuklicken, aber es war zu spät. Sie hatte bereits alles gesehen. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Aber wie hätte ich ahnen sollen, dass sie sich auf diesen halsbrecherischen Acrylabsätzen derart schnell bewegen konnte?
Ich versuchte, mich aus der Affäre zu ziehen. »Welche Reservierung meinen Sie?«
Ulrika stöckelte wieder um den Schreibtisch herum zu ihrer Mutter und stemmte die Hände in die knochigen Hüften. »Die Buchung auf Sonya und Tony – Hochzeit Dunsmuir und Lovegood stand daneben.«
Hilfe suchend sah ich zu Chastity Bonnington, die mich inzwischen aber ebenso finster anfunkelte wie ihre Tochter und mir ähnlich viel Angst machte.
Ulrika nahm wieder Platz und starrte mich mit hochgezogenen Brauen abwartend an.
Nun war es an mir, meinen Funkelblick auszupacken. Ich verschränkte die Arme. Zum Schutz, weil ich schon ahnte, wie die Reaktion der beiden ausfallen würde. »Es tut mir ausgesprochen leid, aber dabei handelt es sich um eine Veranstaltung, die unmöglich verschoben werden kann. Sie steht bereits seit Monaten im Kalender.« Ich hätte mir eher den Arm abgehackt, als Ivy und ihrer Familie diesen wichtigen Tag zu ruinieren, nur um den wechselhaften Launen einer Ulrika Bonnington beizukommen.
Ulrika verzog ihre grünen Katzenaugen zu Schlitzen. »Tja, nun, ich bin mir sicher, dass diese Leute Verständnis haben werden, wenn Sie ihnen mitteilen, wer wir sind.«
Ich gab einen erstickten Laut der Empörung von mir. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Die Unverfrorenheit dieser Frau war wirklich sagenhaft. Bildete sie sich ernsthaft ein, auf Verständnis dafür zu stoßen, dass ein verwöhntes, anspruchsvolles Töchterchen aus der höheren Gesellschaft darauf bestand, jemandem das Hochzeitsdatum wegzunehmen?
Ich schüttelte so entschieden den Kopf, dass mir der Flechtzopf auf dem Rücken tanzte. »Es tut mir ausgesprochen leid, Ms. Bonnington, aber das ist unmöglich.« Mit einem kühlen Lächeln fügte ich hinzu: »Wie ich bereits sagte, kann ich Ihnen einen Ausweichtermin am 18. anbieten, oder Sie behalten das ursprüngliche Datum am 22. bei. In beiden Fällen möchte ich Sie und Ihre Gäste als kleines Entgegenkommen gern auf eine Fahrt mit unserer Weihnachtskutsche auf dem Hotelgelände einladen.« Ohne weiter auf Ulrikas unzufriedenes Schnauben zu achten, fuhr ich fort: »Das Team von Castle Marrian wird außerdem alles dafür tun, das von Ihnen gewünschte Thema Eispalast zu Ihrer vollsten Zufriedenheit umzusetzen.«
Unter ihrem dicken Make-up lief Ulrika feuerrot an. »Ich will aber keine Kutschfahrt mit einem klapprigen alten Esel! Ich will an Weihnachten heiraten!«
Es kostete mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nach außen hin Ruhe zu bewahren, denn in mir wütete ein Sturm der Entrüstung. Selbst Chastity Bonnington legte in dem Versuch, ihre Tochter zu beschwichtigen, eine Hand auf deren Arm. Aber auch ihre Anstrengungen waren nicht von Erfolg gekrönt.
»Ms. Bonnington, ich kann Ihre Enttäuschung verstehen«, log ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber ich versichere Ihnen, dass Sie und Ihre Gäste am 22. Dezember eine herrlich weihnachtliche Hochzeit erwarten wird.«
Ulrikas zweigdürre, braun gebrannte Ärmchen spähten unter ihren Pelzärmeln hervor. »Das ist doch lächerlich. Wo ist Heston? Ich will auf der Stelle mit Heston reden.« Ihre kalten Augen blitzten auf. »Wie heißt es doch so schön? Man soll zum Schmied gehen, nicht zum Schmiedchen.«
Unter dem Tisch ballte ich die Fäuste. »Ms. Bonnington, wie bereits gesagt bereitet Mr. Cole gerade seine Abreise vor.«
»Aha! Dann ist er also noch gar nicht im Urlaub!« Sie ließ sich mit verschränkten Armen zurücksinken wie eine bösartige blonde Medusa.
Oh, verdammt! Das hätte mir nicht rausrutschen dürfen!
Ich versuchte, einen Blick mit ihrer Mutter zu wechseln, die aber konzentriert den Büroteppich musterte. Offenbar bekam ihre Tochter üblicherweise alles, was sie wollte. Nun, diesmal nicht. Nicht auf Kosten unserer überaus geschätzten und liebenswürdigen Ivy und ihrer Familie.
Ich schnappte mir den Hörer und ließ mich ins Spa durchstellen. Heston wirkte vollkommen unbeeindruckt von meinem Anruf. »Meine Brauen sind erst halb fertig!« Es raschelte, vermutlich weil er sich aufsetzte. »Ich kann doch nicht nach Spanien fliegen und dabei nur halb überrascht aussehen!«
Als ich ihm unter Ulrikas bohrendem Blick eine kurze Zusammenfassung der Situation lieferte, gab er ein gequältes Stöhnen von sich. »Bei aller Liebe, Sophie. Wir können es uns nicht leisten, auf ihr Geld zu verzichten. Gib mir fünf Minuten, ich komme gleich bei dir vorbei.«