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Ratschläge fürs Lehrer-Leben, im typischen Frau Freitag-Sound Jeder Lehrer steht vor den ewiggleichen Problemen: Wie gehe ich mit Störern um? Welche Haltung beziehen ich bei Handys, Schminke und Jacken im Unterricht? Was tun, wenn einem der Klassenchef auf der Nase herumtanzt? Wie wäre es zum Beispiel mit der Konfrontationstaktik? »Na, Mustafa, möchtest du vor deiner und seiner Mutter wiederholen, was du eben zu Emre gesagt hast? Was meinst du, wie deine Mama es findet, dass du so Sachen sagst wie: Ich pisse auf das Grab deiner Toten?« Frau Freitag gibt in ihrem unterhaltsamen Ratgeber Tipps und Tricks, wie Lehrer, Schüler und Eltern den Unterrichtsalltag überleben. Mit Problemen im Schulalltag kennt sie sich aus. Seit über fünfzehn Jahren unterrichtet sie an Brennpunktschulen. Ihre eigene Ausbildung wird Frau Freitag nie vergessen: diese Mischung aus Panik, mangelndem Selbstvertrauen und liebevoll-chaotischen Schülern, die das Unterrichten unmöglich macht. Was nicht hilft: die Theorien der Pädagogikpäpste, die seit Jahren keine Schule mehr von innen gesehen haben. Frau Freitags Kultbestseller sind schon längst Lehrmaterial. Und jetzt hat sie den praxisnahen Ratgeber geschrieben, den sie selbst gerne gehabt hätte.
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Das Buch
Jeder Lehrer steht vor den ewiggleichen Problemen: Wie gehe ich mit Störern um? Welche Haltung beziehe ich bei Handys, Schminke und Jacken im Unterricht? Was tun, wenn einem der Klassenchef auf der Nase herumtanzt?
Wie wäre es zum Beispiel mit der Konfrontationstaktik? »So, Murat und Serhan, das ist doch schön, dass ihr hier alle mit euren Müttern zusammensitzt. Murat, du bist doch so wahnsinnig interessiert an Serhans Mutter. Hier ist sie. Jetzt kannst du ihr doch endlich mal direkt sagen, was du alles mit ihr machen willst.«
Oder mit der Taktik des »Besten Mannes«? »Tarik, los, nun fang mal mit der Aufgabe an. Du bist doch mein bester Mann hier in Kunst.«
Anhand vieler Beispiele erklärt Frau Freitag die Eigenarten der Schüler, vom »Paten« bis zur »Mutti«, beschreibt verschiedene Lehrertypen wie den Schonlehrer, den Schülerschleimer oder den harten Hund – und gibt für jede Situation im Schulalltag praktische Hilfestellung. Damit Lehrer, Schüler und Eltern besser miteinander klarkommen.
Die Autorin
Frau Freitag, geboren 1968, wollte schon immer Lehrerin werden. Erst im Referendariat hat sie verstanden, dass es den stets wissbegierigen Schüler nur in Büchern gibt. Im echten Leben unterrichtet sie seit fünfzehn Jahren Englisch und Kunst in lauter überdrehten, dafür recht leistungsschwachen Klassen. Frau Freitag lebt in Berlin.
FRAU FREITAG
FÜR MICH IST AUCH DIE 6. STUNDE
Überleben unter Schülern
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ISBN 978-3-8437-1335-1
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Covergestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © semper smile, München / © ShutterstockVögelchen: © semper smile, München
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Die Ausbildung und der Beruf
Schlagschatten – Wenn der Hauptseminarleiter kommt
Konflikt ist unser Job! – Eine gesunde Berufseinstellung
Frau Bäcker hat keen Bock mehr – Die erste eigene Unterrichtsstunde
Revolution bitte erst später – Tipps zum Umgang mit Seminarleitern
Lehrer und gleichzeitig Schüler – Verhalten im Seminar
Berufswahl – Was sagt man den Schülern?
Berufswahl – Was sagt man Erwachsenen?
Ernst kommt nicht klar – Die Probleme erkennen und runterbrechen
Das Chaos sortieren
Sie müssen strenger sein! – Erst mal die Zügel hart anziehen
Das erste Mal in einer neuen Klasse – Wie man einen Sitzplan erstellt
Kein vorgegebener Sitzplan • Sitzplan vorher festlegen
Zum Glück bin ich nicht meine Klasse – Sitzplan im Praxistest
Du sollst nicht stören – Vor- und Nachteile von Klassenregeln
Monster Energy – Das Koffeinverbot
Super, weiter so – Lieber loben als immer nur meckern
Stundenbeginn • Arbeitsmaterial • Stundenende • Vorschusslorbeeren • Lob streuen
Vom Wissensvermittler zum Coach – Gruppentische? Ja, nein, vielleicht
Sieben vor der Tür – Wohin mit den Störern?
Ruf doch die Eltern an – Was bringen Telefonate mit den Erziehungsberechtigten?
Wenn die Eltern kommen – Wie führt man ein gutes Elterngespräch?
Die berühmte Lehrerpersönlichkeit
Ich bin die Tollste – Wann ist man eine gute Lehrerin?
Es sah so easy aus – Warum sieht man nicht, wie sie das macht?
Frau Dienstag – take this! – Es ist nie zu spät, sich zu verbessern
Dranbleiben wie ein Pitbull – Wenn sie kein Arbeitsmaterial haben
Wurzeln – Wenn sie nicht lernen und der Lehrer nicht zuhört
Gymnasium kann jeder – Warum es an manchen Schulen besonders anstrengend ist
Der Schüler
Stell dir vor, du wärst 13 – Was Schüler täglich leisten
Bei ihm zu Hause ist es voll dreckig – Wenn Schüler über Lehrer meckern
Der Störer, die Schlampe und der Pate – Wie man Schülertypen erkennt
Der Alles-richtig-Macher • Der Störer • Der überforderte Störer • Der unterforderte Störer • Die BFFs (»Best Friends Forever«-Typen) • Die Mutti • Die Schlampe • Die Skeptikerin • Die Leidende • Die Ruhige • Der Unsichtbare • Die Playboys • Der Gangster • Der Pate • Der Entertainer
Spaaaß! – Warum es wichtig ist zu lachen
Das Kleid ist schwarz-blau – Wie funktioniert Beziehungsarbeit
Mr. President, we are under attack – Schulstunden, die man nicht vergisst
Der Lehrer
Tangas und Sandalen – Was soll man als Lehrer anziehen?
Shit happens – Wie man es nicht machen sollte
Was du bis Ostern nicht schaffst, schaffst du nicht mehr – Wie sich ein Schuljahr strukturiert
1. Block (Schuljahresbeginn–Herbstferien) – Der herrliche Neustart • 2. Block (Herbstferien–Weihnachtsferien) – Die Härte • 3. Block (Weihnachtsferien–Winterferien) – Die große Täuschung • 4. Block (Winterferien–Osterferien) – Der kleine Neustart • 5. Block (Osterferien–Sommerferien) – Das große Warten
Chill mal – Wie man entspannt in die Ferien geht
Frau Freitag, …? – Wenn Schüler Fragen stellen
Oh, Apfelkuchen? – Was darf der Lehrer essen?
Arme Klassenlehrer – Warum Klassenlehrer mehr arbeiten als Fachlehrer
Kann man sich hier einfach Kaffee nehmen? – Wenn man neu ist im Kollegium
Die Neuen – Wie man Neue im Kollegium aufnimmt
Tarik – Die Bester-Mann-Taktik
36 Shades of Bunt – Tariks individuelle Förderung
Pralinen im Fach – Wenn man sich was einbildet
Bloß nicht morgens kopieren – Noch mehr Tipps für neue Kollegen
Klein und schlecht – Wenn die Selbstzweifel kommen
Weil ich euch so mag – Über positive Selbstsuggestion
Auweia, keine Wimpern – Wenn man versucht, immer nett zu sein
Sex oder Schokolade – Nicht nett sein macht mehr Spaß
Aua, mein Rücken! – Der kranke Lehrer und andere Typen
Der Schonlehrer • Der Resignierte • Die Mutti • Die sexy Junglehrerin • Der Verpeiler • Der Wie macht der das?-Lehrer • Der Profilierer • Das Arbeitstier • Der harte Hund • Der Kumpellehrer • Der Schülerschleimer • Der tolle Freak • Der Brennende • Der Unterrichtsflüchtige
Der Unterricht
Deine Klasse ist dein Klo – Über Vertretungsunterricht
Werd doch Lehrerin! – Die Sache mit dem Gehalt
Die Faust im Fenster – Wie ich Horrorstunden heute zu vermeiden versuche
Mach nicht so! – Über Unterrichtsstörungen
Pack das weg! – Noch mehr Unterrichtsstörungen
Der Raum • Die Mützen und die Jacken • Das Handy • Essen und Trinken • Schminke • Gummibänder, Spuckröhrchen und Kürbiskerne • Briefchen • »Wir müssen was klären« – Konflikt geht vor • Der Lehrer als Detektiv • Beleidigungen • Zuspätkommen und Schwänzen • Vögel, Bienen und andere Insekten
Denn sie tun nicht, was du willst – Wenn Schüler den Anweisungen gar nicht folgen
Prinzip kaputte Schallplatte • Die Eltern einbeziehen • Haribo-Mert – Wie sich manchmal alles zum Guten fügt • Das negative Verhalten ignorieren • Das Prinzip der zwei Möglichkeiten
Viele Hände – schnelles Ende – Wie man pünktlich in die Pause kommt
Malen oder andere aufwendige Sachen (Pappmaché und so)
In der Siebten mach ich immer voll den Körnel – Dinge, die bei mir gut klappen
Ökonomisch das Halbjahr planen • Den Schultag planen • Eine Unterrichtseinheit planen • Unterrichtseinstieg • Im Unterricht • Entdeckung der Langsamkeit • >Zensieren • Klassenarbeiten und Tests vorbereiten • Klassenarbeiten und Tests zurückgeben • Hofaufsicht • Arbeite an deinem Ruf • Umgang mit persönlichen Fragen • Facebookkontakt mit Schülern • Was man noch probieren kann • Unbedingt einen Hefter mit Klarsichthüllen haben
Lehrer werden – ich bleiben – Wie man gesund bleibt
Und am Ende fragt man sich: Wo bleibt der Applaus?
Dank
Empfehlungen
»Oliver, zeig uns jetzt mal die Schlagschatten!«, sage ich und gucke unauffällig nach hinten zu meinem Hauptseminarleiter Herrn Dannert. Sein erster Besuch bei mir.
Meine Kunstseminarleiterin hat gesagt, dass ich eine gute Lehrerpersönlichkeit hätte, allerdings an meinen Impulsen arbeiten und die Tische umstellen müsse. Kein Problem, dachte ich und bastelte für die Stunde mit Herrn Dannert eine komplett neue Sitzordnung. Ich bin eine super Lehrerin, sagte ich mir, dem Herrn Dannert werde ich eine ganz authentische Unterrichtssituation präsentieren. Deshalb erzählte ich den Schülern vorher nicht, dass wieder Besuch kommen würde.
Es klingelt. Die Schüler stürzen in den Raum. Mittendrin Herr Dannert.
»Was ist das für ’ne behinderte Sitzordnung?«
»Was ist mit die Tische? Wie ich soll neben Justin sitzen? Niemaaals!«
»Frau Freitag, kann ich nicht neben Katrin, ich sitze immer neben sie?«
Herrn Dannert habe ich dummerweise direkt hinter ADHS-Paul und Fuat gesetzt. Warum sitzen die eigentlich zusammen? Egal.
Es geht um Schatten. In dieser Stunde sollen die Schüler eine angestrahlte Klopapierrolle zeichnen. Dazu habe ich extra eine Stehlampe und diverse weiße Sachen durch die ganze Stadt in die Schule geschleppt. Ich will mit einer kurzen Wiederholung beginnen, um mit dem Schülerwissen zu glänzen.
»Wer von euch kann mir auf den Gegenständen mal die Schlagschatten zeigen?«
Sofort fliegt Olivers Arm in die Luft. Wie schön, denn Oliver beteiligt sich sonst nie am Unterricht. Außerdem hat er die nervende Angewohnheit, alles, was ich sage, zu wiederholen: »Höhö, Schlagschatten. Hihi, Gegenstände.« Ständig brabbelt er vor sich hin wie ein gestörter Papagei.
Aber jetzt meldet er sich: »Ich, ich, Frau Freitag, nehmen Sie mich!«
Ich reiche ihm den Laserpointer. Er grabscht gierig danach.
»Oliver, nun zeig uns doch mal die Schlagschatten!«
Oliver guckt mich an, senkt den Kopf und strahlt sich mit dem Laserpointer direkt ins Auge. Dazu gibt er unverständliche Urlaute von sich: »Uaaagh!!!«
Häh? Ich denke: Auge, Laserpointer, Laserpointer, Auge! Die anderen Schüler werden unruhig. Ich gucke zu Herrn Dannert, der hektisch irgendetwas in meinen Unterrichtsentwurf kritzelt. Ich entreiße Oliver den Laserpointer.
»Okay, also wo waren wir stehen geblieben?« Ich wühle in meinen Unterlagen. Plötzlich fliegt eine Papierkugel gegen die Tafel.
»Wer war das?« Niemand meldet sich. Ich sehe, wie Justin seine Hände unterm Tisch versteckt. Hände voller Papierkugeln. Ich habe den Faden verloren. Finde ihn auch nicht mehr wieder. Was soll ich jetzt tun? Ich habe keine Lust mehr. Ich will hier raus. Irgendwann klingelt es.
Die Schüler verschwinden. Herr Dannert setzt sich mit mir an einen Tisch.
»So, Frau Freitag.«
»Ja, Herr Dannert«, sage ich und weiß dann nicht weiter. Herr Dannert wartet.
»Na ja«, sage ich, »kann noch verbessert werden. War noch nicht perfekt, oder?«
Herr Dannert lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme hinterm Kopf und sagt: »Frau Freitag, ich bin jetzt seit dreiundzwanzig Jahren Seminarleiter, aber so was habe ich noch nie gesehen.«
Die Schlagschattenstunde mit Herrn Dannert hatte mir zu denken gegeben. War ich vielleicht doch keine so super Lehrerin, wie ich dachte? Irgendwie war es in all meinen Unterrichtsstunden unruhig. Aber zum Glück gibt es Ratgeberbücher.
»Ich habe mir gestern ein neues Buch gekauft. Mit Schülern klarkommen. Das MUSST du auch haben! BRAUCHST du!«, sage ich zu Frau Dienstag. Sie schreibt sich den Titel auf. »Cornelsen«, sage ich.
Wir sind seit ein paar Monaten im Referendariat. Wenn ich nicht in der Schule bin, dann sitze ich entweder am Schreibtisch oder stöbere durch die Schulbuchläden. Klett, Cornelsen, Westermann, Diesterweg. Ich habe meine feste Runde. Gestern habe ich Mit Schülern klarkommen – Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten gekauft. Ich komme gar nicht klar. Überhaupt nicht. Aber jetzt habe ich das Buch. Genau das brauche ich. Ich brauche professionellen Umgang. Ich bin nicht professionell.
Jeden Tag gehe ich in den Unterricht und versuche die Lehrerin zu sein. Aber ich komme mir vor wie eine schlechte Schauspielerin. Die Schüler merken doch sofort, dass ich es nicht draufhabe. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Ich habe ständig Unterrichtsstörungen. Obwohl, wenn ich ganz ehrlich bin, dann habe ich eigentlich nur Störungen, denn Unterricht mache ich so gut wie nicht. Es ist immer so laut, dass ich gar nicht zum Unterrichten komme.
Im Lehrerzimmer lächle ich und tue so, als hätte ich alles im Griff. Die erfahrenen Lehrerinnen und Lehrer sitzen da entspannt rum und schlürfen ihren Kaffee. Niemand fragt mich, ob ich klarkomme. Und selbst wenn sie fragen würden – würde ich mich trauen zu sagen, dass ich so dermaßen nicht klarkomme? Dass bei mir jede Stunde Chaos herrscht, dass jeder macht, was er will, dass niemand auf mich hört? Nie sind die Schüler leise. Aber zum Glück habe ich ja nun das Buch.
»Jetzt wird alles anders«, sage ich zu Frau Dienstag.
»Hol ich mir gleich morgen«, sagt sie.
Ich brauche Hilfe. Die Schüler sollen endlich ruhig sein. Ich will endlich unterrichten. Die erfahrenen Kollegen sagen Sachen wie »Erst mal die Zügel hart anziehen« oder »Don’t smile until Christmas«. Aber was soll das heißen? Ich will doch nicht gleich meckern und streng sein. Ich will eine nette Lehrerin sein. Die Schüler sollen mich mögen. Die Lehrer, die ich in meiner Schulzeit mochte, die haben nicht gemeckert und rumgeschrien. So wie sie will ich auch werden.
Neben meinem Schreibtisch stehen zwei große Billy-Regale. Sie sind voll mit Büchern aus den Schulbuchverlagen. Bei jedem Buch denke ich: Brauch ich! Dieses Buch wird mein Leben verändern. Kein Wunder, dass die Schüler nicht mitmachen, wenn ich so langweilig unterrichte.
Darum kaufe ich Bücher mit total spannenden Unterrichtsbeispielen und lese die zu Hause genau durch. Ich kopiere auf farbigem Papier, laminiere, schneide, klebe und mache alles genau so, wie es in den Büchern steht. Aber die Schüler machen nicht mit. Die anderen Lehrer verteilen nie farbige Arbeitsblätter. Ich kopiere sogar immer noch eine extra für die Stunde designte Titelzeile und kleine Bilder von den Simpsons darauf. Trotzdem arbeiten die Schüler nicht mit.
Darum kaufe ich noch mehr Bücher. Nicht nur zum Unterricht. Auch zur Unterrichtsführung. Richtig dicke Bücher. Bücher über die Pubertät, über Lernpsychologie und Disziplinierung. Wenn ich die alle durchgearbeitet habe, dann bin ich endlich eine gute Lehrerin. Dann werden die Schüler vor mir sitzen, mit dem Arbeitsmaterial auf dem Tisch, und mir zuhören. Wenn ich genau mache, was in den Büchern steht, dann werden sie interessiert und leise sein. Dann werden sie mitmachen und ganz viel bei mir lernen. Darauf freue ich mich. Denn so soll Unterricht doch sein. So sieht Unterricht immer im Fernsehen aus. Die Schüler sitzen ruhig im Raum und arbeiten, bis es klingelt. Unser Lehrer Dr. Specht kann sogar während des Unterrichts rausgehen, und die Schüler bleiben auf ihren Plätzen und lernen. Das will ich auch. Ich werde alles dafür tun, dass es schnell so wird. Ich will eine gute Lehrerin werden.
So dachte ich im Referendariat und in den ersten Berufsjahren. Ich war davon überzeugt: Irgendwann kommt der Tag, an dem alle meine Schüler ruhig auf ihren Plätzen sitzen und interessiert mitarbeiten. Nie wäre ich damals auf die Idee gekommen, dass es diesen Idealzustand gar nicht gibt. Jedenfalls nicht an den Schulen, an denen ich unterrichte. Frau Dienstag dachte genauso wie ich.
Irgendwann! Irgendwann werden sie immer ruhig sein und uns zuhören. Das steht doch auch in den Büchern. Wenn du die und die Methode anwendest, die Sozialform änderst, die Phasen gut einteilst und dich perfekt vorbereitet hast, dann wird alles super. Und bleibt auch so. Bis zur Rente.
Damals hat mir niemand gesagt, dass es nie so sein wird. Warum eigentlich nicht? Vielleicht um mich nicht zu entmutigen. Vielleicht denken manche Lehrer noch nach zwanzig Jahren und unzähligen im Chaos untergegangenen Stunden, dass irgendwann der Tag der lieben, ruhigen, wissbegierigen Kinder kommt.
»Weißt du was?«, sagt Frau Dienstag irgendwann, als wir uns nach dem Sport umziehen. »Ich glaube, Konflikt IST unser Job.«
»Wie? Was meinst du?«
»Na, man denkt doch immer, unser Job ist es zu unterrichten. Aber eigentlich geht es doch immer um irgendwelche Konflikte. Das ist unser Job. Die Konflikte zu begleiten und zu lösen. Immer wieder. Jeden Tag.«
Konflikt ist unser Job. Ich habe lange über diesen Satz nachgedacht. Innerlich hielt ich auch nach Jahren immer noch an dem Wunschtraum einer ruhigen, folgsamen Fernsehklasse fest. Aber eigentlich hat Frau Dienstag recht. Jeden Tag gibt es Konflikte. Die Schüler sind nicht pünktlich, haben ihr Arbeitsmaterial nicht dabei, hören nicht zu, streiten oder schlagen sich, spielen mit dem Handy … nenn es, wie du willst: Konflikte, Unterrichtsstörungen, Disziplinprobleme … alles, was dich und die Schüler daran hindert, Unterricht zu machen, ist ein Konflikt. Wenn das eigentlich unser Job ist, dann brauche ich auch nicht mehr darauf zu warten, dass die Schüler irgendwann ruhig auf ihren Plätzen sitzen und lernen wollen.
Diese Erkenntnis kam spät, aber sie hat meinen Schulalltag erleichtert. Als ich mich irgendwann – mit ein bisschen Wehmut – von der Idee verabschiedet hatte, ich könnte unser Lehrer Dr. Specht werden, verzweifelte ich nicht mehr an all den kleinen Dingen, die den Unterricht störten, sondern sah es als sportliche Herausforderung, mir immer neue Wege zu überlegen, um diese vielen kleinen und großen Konflikte aus dem Weg zu räumen.
Und siehe da, ich wurde immer besser. Manche Unterrichtsstörungen ließen sich mit einem Spruch abstellen, andere mit einem Anruf bei den Eltern, wieder andere mit einem intensiven Gespräch nach der Stunde.
Mein pädagogischer Ehrgeiz war geweckt. Es machte mir Spaß, immer wieder neue und auch ungewöhnliche Methoden auszuprobieren. Sachen, die ich nie in Büchern gelesen habe. Wenn irgendetwas in der Schule passierte – sei es eine Auseinandersetzung mit einem Schüler, mit einem Kollegen oder den Eltern –, besprach ich das mit meiner Freundin Frau Dienstag und meiner anleitenden Lehrerin Fräulein Krise. Oft hatten sie ähnliche Erfahrungen gemacht und wussten, was zu tun war, oder wir überlegten gemeinsam, wie man sich bei bestimmten Konflikten verhalten könnte.
Es machte mir richtig Spaß, in die Schule zu gehen und mich unangenehmen Situationen zu stellen. Immer mit der inneren Haltung: So! Wollen wir doch mal sehen, ob sich da nicht was machen lässt. Hoffentlich behält Hamsa heute wieder seine Jacke an. Dann sage ich das und das. Bitte, bitte, liebe Kollegin, sag mir heute noch mal, dass die Schüler bei dir immer leise sind und ihre Handys sofort abgeben, dank Fräulein Krise weiß ich jetzt genau, wie ich darauf reagieren werde.
Oft konnte ich so Unterrichtsstörungen und Konflikte aus dem Weg räumen. Wenn ich es nicht schaffte, dann ging die Welt auch nicht unter.
Ich will gar nicht behaupten, dass mir die Bücher dabei nicht geholfen haben, aber die Analysen mit meinen Freundinnen waren sehr viel effektiver. In der Fachliteratur wird einem immer vermittelt, dass man nach der Lektüre mit einem Schlag alle Probleme lösen kann. Leider klappt das nie. Auch nicht, wenn das Buch besonders teuer und besonders dick ist.
Eine bessere Lehrerin zu werden, ist ein Prozess, der lange dauert und nie aufhört. Nach einiger Zeit hatte ich immer wieder einzelne Stunden, in denen die Schüler ruhig waren und genau das taten, was ich wollte. In machen Gruppen konnte ich sogar kurz den Raum verlassen, und wenn ich wiederkam, arbeiteten sie immer noch.
Mit den Jahren hat man immer mehr solche Stunden. Seitdem ich jedoch weiß, dass sie nicht die Regel, sondern die wunderbare Ausnahme sind, zelebriere ich solche Momente.
Vielleicht braucht man auch ab und zu ganz schreckliche Stunden, um die schönen angemessen zu genießen.
Es ist ein langer, mühsamer Weg, aber je früher man seine Einstellung zum Berufsbild justiert, umso leichter wird er.
»Sechsundzwanzig Dienstjahre – ick hab keen Bock mehr!«, sagt Frau Bäcker und zündet sich eine Reno Menthol 100 an. Weiße Filter haben die. Weiße Filter sind mir suspekt. Frau Bäcker ist mir suspekt. Sie sieht alt aus. Sie ist alt. Sie lächelt nie.
Ich bin seit ein paar Wochen im Referendariat. Die Sommerferien sind gerade vorbei. An ihrem allerersten Schultag stehen die neuen Schüler der 7. Klassen erwartungsvoll auf dem Hof. Die Klassenlehrerinnen haben sich auf der Treppe vorm Schuleingang aufgereiht und lesen vor, wer in ihre Klassen kommt. Alle Lehrerinnen lächeln freundlich, nur Frau Bäcker steht abseits und guckt grimmig zu Boden. Ab und zu schielen einzelne Schüler zu ihr rüber und rennen erleichtert die Stufen hoch, sobald sie ihren Namen gehört haben. Irgendwann steht nur noch Frau Bäcker auf der Treppe und schaut auf die achtundzwanzig Schülerinnen und Schüler, die übriggeblieben sind.
»Ihr seid bei mir. Mitkommen!«, raunzt sie mit tiefer Stimme. Ich folge der Klasse, denn ich soll die neue Englischlehrerin sein. Meine anleitende Lehrerin hat sich während ihrer Kur ein Bein gebrochen. Kurz vor Schuljahresbeginn rief sie mich an und teilte mir mit, dass ich nun die Englischlehrerin der Bäcker-Klasse sei. Ich müsste noch die Englischbücher besorgen, die Workbooks bestellen, damit die Schüler mir die dann abkaufen können (kaufen die ihre Workbooks alleine, dauert das so lange), und dann schon mal mit dem Unterricht anfangen, das würde ich schon schaffen.
Der Klassenraum von Frau Bäcker ist kalt und grau. Die Wände sind nackt und schmutzig. Frau Bäcker steht am Fenster und guckt auf den Hof. Die Schüler sitzen bewegungslos auf ihren Plätzen. Es herrscht Totenstille.
»Blatt rausholen! Ich diktiere!«, sagt sie plötzlich, ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden. Nach wenigen Sekunden sitzt jeder Schüler mit einem Stift bewaffnet vor einem leeren Blatt. »Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen.«
Dann diktiert Frau Bäcker ihrer neuen 7. Klasse am allerersten Schultag in der Oberschule die Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen aus dem Schulgesetz. Es gibt weder ein Namensspiel noch irgendeinen Kennenlernschnullikram, und es werden auch keine Erwartungen oder Befürchtungen der Schüler abgefragt. Es gibt nur die Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen. Irgendwann klingelt es.
Am nächsten Tag habe ich meine erste Englischstunde. Ich baue einen Stuhlkreis. Ich lasse die Schüler auf die Stühle steigen. Sie suchen Adjektive zu ihren Namen. Wir spielen endlose Kennenlernspiele. Nach 45 Minuten kenne ich die Klasse. Verschwitzt gehe ich ins Lehrerzimmer. Dort sitzt Frau Bäcker und raucht.
»Das war eben meine allererste richtige Unterrichtsstunde«, sage ich glücklich, lasse mich auf einen Stuhl fallen und hole meine Wasserflasche aus der Schultasche.
Frau Bäcker guckt mich an: »Sechsundzwanzig Dienstjahre – ick hab keen Bock mehr.« Ich trinke einen Schluck Wasser. Sie guckt auf die Flasche. »Ick hab so’n Brand.« Das Wasser ist angenehm kalt. Frau Bäcker sitzt mir gegenüber, zieht an ihrer Zigarette und wartet. Ich sehe sie an, aber mein Wasser will ich ihr nicht geben.
Vor ein paar Jahren ist Frau Bäcker gestorben. Aber immer wenn jemand von den Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen spricht, dann denke ich an sie. So wie jetzt, während ich die Einladung für eine Klassenkonferenz schreiben soll. Aber vielleicht gucke ich zwischendurch mal kurz bei Facebook.
Mein Freund Ernst schreibt mir: »Ich muss gleich los zur Vereidigung.« In einer Woche beginnt sein Referendariat. Mein einziger Ratschlag für ihn ist, dass er gleich in die private Krankenkasse eintreten soll, damit er sich die Zähne sanieren lassen kann. Das habe ich so gemacht, und meine Zähne sind jetzt top. Meine Ausbildungszeit ist schon lange vorbei, aber ist das wirklich der einzige Tipp, den ich Ernst mitgeben kann? Uns hat man bei der Vereidigung gesagt: »Jeder wird Sie um Ihre Ferien beneiden – keiner um Ihren Job.« Ja, das stimmt, aber was nützt mir diese Feststellung? Ich habe im Referendariat so einiges falsch gemacht. Ich habe das ganze Referendariat gar nicht richtig verstanden.
Zuerst fand ich alles super. Frau Dienstag und ich waren bestimmt die einzigen Referendare in unseren Seminaren, die sich über die Sommerferien geärgert haben. »Waaas, jetzt schon keine Schule mehr? Wenigstens die Seminare könnten doch in den Ferien stattfinden.« Wir dachten beide, wir seien die geborenen Lehrerinnen. Dieser Zahn wurde uns schnell gezogen. Frau Dienstag erlag anfangs der Vorstellung, sie sei so ein Naturtalent, dass sie das Referendariat gar nicht erst machen müsse und man sie sofort in den Schuldienst schicken würde. Dem war nicht so. Ich dachte: Ich werde alles ganz anders machen als die anderen. Das wird den Seminarleitern den Kopf wegblasen. Aber auch ich bekam nach meinem ersten Unterrichtsbesuch, in dem uns Oliver den Schlagschatten zeigen sollte, keinen unbefristeten Vertrag angeboten.
Bei mir hat es sehr lange gedauert, bis ich gecheckt habe, worum es im Referendariat eigentlich geht. Hätte ich das früher erkannt, hätte ich mir viel Ärger und Stress erspart. Also schreibe ich Ernst:
»Private Krankenversicherung ist nicht alles. Noch was zum Referendariat: Hör genau hin, was die drei Seminarleiter wollen. Da will jeder was anderes. Finde möglichst schnell heraus, worauf die stehen. Wollen die den Lehrer, der sich komplett zurücknimmt? Wollen die das mega Methodenfeuerwerk? Wie sollen die Phasenwechsel im Unterricht sein, Einführung, Erarbeitung und so weiter? Sollen die Schüler lieber alleine arbeiten, oder will dein Seminarleiter den Lehrer als Entertainer? Frag die Referendare, die schon eine Weile dabei sind. Frag, worauf die Seminarleiter besonders achten, was sie überhaupt nicht mögen, welche Bücher sie empfehlen. Und vor allem, welche Kekse sie gerne essen. Ich habe für die Nachbesprechungen immer Kekse mitgebracht, die selbstgebacken aussahen. Okay, Ernst, wenn du dann weißt, was die Seminarleiter gut finden – dann machst du genau das! Immer wieder! Auch, wenn du das nicht gut findest.«
»Auch, wenn ich das nicht gut finde?«, schreibt Ernst. »Wirklich?«
»Ja, sorry, aber deine große Selbstverwirklichung muss warten. Du kannst später so strange und extravagant unterrichten, wie du willst, aber um Individualität geht es im Referendariat leider nicht. Es geht nur um die Eitelkeiten der Seminarleiter, dass sie sich in deinem Unterricht wiedererkennen und was sie dir beigebracht haben. Besonders gute Noten bekommst du, wenn du sehr schöne Arbeitsblätter machst. Jeder Seminarleiter steht auf die aufwendig erstellten Unterrichtseinheiten der Referendare. Denn die setzen sie dann in ihrem eigenen Unterricht ein. Da klappen die Sachen dann auch sehr gut, weil der Seminarleiter wahrscheinlich weniger Disziplinprobleme hat als du. Und schreib bloß nicht so ein albernes Copyright-c (©) mit deinem Namen auf die Materialien. Voll peinlich, und der Seminarleiter muss das dann erst mühsam wegtippexen.«
»Das klingt alles schrecklich. Na ja, ich hab ja schon mal unterrichtet. Ich bin ja kein totaler Anfänger«, schreibt Ernst.
»Oh Gott, Ernst, erzähl bloß nicht im Seminar, dass du schon Unterrichtserfahrung hast. Seminarleiter mögen keine Leute, die meinen, sie wüssten schon alles. Sie werden dir sofort klarmachen, dass du gar nichts weißt. Das Referendariat funktioniert wie die Grundausbildung beim Militär: Erst mal wirst du auseinandergenommen und dann von den Seminarleitern neu zusammengesetzt. Lass das auf jeden Fall zu! Verärgere die Seminarleiter nicht. Das sind teilweise ganz seltsame Leute, die diesen Job vor allem machen, um ihr eigenes Ego aufzupolieren, weil sie dich da formen können.«
Der Freund kommt und bringt mir Kaffee. Er liest meine Unterhaltung mit Ernst.
»Das ist aber ein bisschen gemein gegenüber den Seminarleitern. Es gibt doch bestimmt auch nette«, sagt der Freund.
Ja, klar gibt es nette Seminarleiter. Seminarleiter sind auch nur Menschen. Die Fachseminarleiter sind, im Gegensatz zu den Hauptseminarleitern, die voll aus der Schule raus sind, sogar alle auch noch Lehrer und gehören deshalb ja schon zu meinen Lieblingsmenschen. Seminarleiter wird man wahrscheinlich auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Denn zunächst sind sie ja stinknormale Lehrkräfte. Der Wunsch, Referendare zu unterrichten, kann verschiedene Ursachen haben.
1. Man macht selbst so einen super-duper Unterricht, dass man gar nicht anders kann, als seine Fähigkeiten weiterzugeben.
2. Man wird gefragt, ob man das nicht machen möchte, weil es sonst niemanden gibt, und man opfert sich und macht es halt.
3. Man findet die Unterrichtsverpflichtung mit 26 bis 28 Stunden zu hoch und verspricht sich von den zehn Stunden Ermäßigung eine Entlastung oder zumindest Abwechslung.
4. Man sucht die Herausforderung und möchte gerne mit jungen Erwachsenen oder wenigstens Nichtjugendlichen zusammenarbeiten.
5. Man liebt sein Fach und die Fachdidaktik so sehr, dass man nicht anders kann, als Seminarleiter zu werden.
6. Man denkt, man wäre etwas Besseres als Seminarleiter, und spekuliert schon auf den Hauptseminarleiterjob – wo es dann wirklich auch mehr Geld gibt und man keine Schüler mehr um sich hat.
7. Man liebt die Macht und die Möglichkeit, über das Leben der einem hilflos ausgelieferten Menschen zu urteilen. Anteile davon hat jeder Lehrer – das ist Teil unseres Jobs. In der Seminartätigkeit ist die Macht allerdings um ein Vielfaches potenziert, denn im Referendariat entscheiden drei Leute und die Schule darüber, ob du Lehrer wirst oder nicht. Schüler haben meistens dreizehn unterschiedliche Lehrer, die über ihre schulischen Leistungen urteilen. Da reduziert sich die Macht des Einzelnen erheblich.
8. Den Unterricht von anderen zu sehen inspiriert einen, deshalb will man Seminarleiter werden.
So vielfältig die Beweggründe für die Jobwahl sind, so unterschiedlich sind auch die Menschen, die diesen Job machen. Ich hatte ganz tolle Seminarleiter, und ich hatte das Grauen. Aber ohne das Grauen wäre das Referendariat auch zu einfach. Wenn ich ehrlich bin, denke ich gerne und vor allem mit diesem wohligen Schaudern an mein eigenes Referendariat zurück. Wenn die Ausbildungszeit ein Frühlingsspaziergang wäre, dann wäre die Abgrenzung zur Berufsanfangsphase auch zu undefiniert. Stellt euch mal vor, die zwei Jahre Ausbildung wären die schönsten, und dann wird alles schrecklich.
Nee, da habe ich lieber ein paar Monate Horror, und dann wird alles besser. Und das wird es! Mehr Geld, Ferien, die ihren Namen verdienen, mehr Unterricht (okay, das ist vielleicht nicht so toll), aber niemand mäkelt mehr an dir und deiner Unterrichtsplanung herum. Vergurkte Stunde, tja, egal, passiert halt, zwanzig Stunden für die Planung EINER Stunde? Niemals!
Nur eins nervt – so dünn wie im Referendariat wird man nie wieder.
»Ernst, wie läuft’s?«, frage ich.
»Ganz gut. Wir hatten bisher nur das Hauptseminar und waren noch nicht in der Schule. Aber ist schon komisch, dass man jetzt ja auch irgendwie wieder Schüler ist.«
Das ist wirklich eine seltsame Situation im Referendariat. Auf der einen Seite bist du Lehrer und sollst unterrichten, zensieren und dich wie ein Lehrer benehmen, aber in den Seminaren bist du eindeutig wieder Schüler. Frau Dienstag und ich haben uns bei der Vereidigung kennengelernt und waren sogar im selben Hauptseminar. Im Referendariat hat man für jedes Fach ein Fachseminar und für den allgemeinen Schulkram das Hauptseminar. Da Frau Dienstag und ich uns gleich gut verstanden, saßen wir immer zusammen. Wie zwei Teenager haben wir dauernd getuschelt und gegackert. Mir fiel zu jedem Mitseminaristen und vor allem zu unserem Seminarleiter Herrn Dannert immer ein bekloppter Spruch ein, über den sie dann leise kicherte.
Das Muster war immer gleich: Der Seminarleiter sagt etwas, und ich flüstere ihr irgendwas Lustiges zu, sie tritt mich unterm Tisch: »Sag das mal laut, hihihi, sag das mal laut!« Anfangs war ich auch noch so blöd, es wirklich laut zu wiederholen. Über meinen unqualifizierten Quatsch haben dann die anderen Referendare gelacht. Der Seminarleiter aber nicht. War das gut? Ich weiß nicht. Irgendwann habe ich meine Bemerkungen nicht mehr laut wiederholt. Meistens waren es nur so Sachen wie »Dieser Klippert, war der überhaupt mal Lehrer? Gruppenarbeit wird doch total überbewertet«. Aber auch: »Au Backe, guck mal seine Schuhe. Slippper! Iiih! Wo kriegt man denn so was? Und der Bart. Voll mit Lineal rasiert. Was er wohl für Unterwäsche trägt?« Was man halt so als Abhängiger über den Machthaber sagt, während man so abhängig im Seminar abhängt.
Die Seminarleiter waren Machthaber, die einen prägenden Eindruck hinterlassen haben. Viele Sätze von Seminarleitern habe ich in den Tiefen meines Hirns abgespeichert. Das sind Sätze, die so eine Wirkung auf mich hatten, dass man sie einfach nicht mehr vergisst. Mein Favorit bleibt: »Frau Freitag, ich bin jetzt seit dreiundzwanzig Jahren Seminarleiter, aber so was habe ich noch nie gesehen.« Schön aber auch: »Frau Freitag, was labern Sie da im Stuhlkreis die Schüler so voll? Wollen Sie zeigen, wie schlau Sie sind?«
»Frau Freitag, das ist Unterricht wie aus den 50er Jahren.« Oder: »Frau Freitag, Unterricht wie aus den 70er Jahren.« Immerhin habe ich damals einen Sprung von zwanzig Jahren von einer Vorführstunde zur nächsten hingelegt.
Meine anleitende Lehrerin im Unterrichtspraktikum: »Frau Freitag, wenn ich Ihnen jetzt alles aufzähle, was Sie falsch gemacht haben, dann sind Sie ja völlig demotiviert.«
Dann wieder der Seminarleiter: »Frau Freitag, Sie verschwenden die Lebenszeit der Schüler.«
»Frau Freitag, dass Sie den armen Klee benutzen, um Ihre blöden Farben zu erklären, da tut er mir direkt leid. Der würde sich im Grab umdrehen.«
Aber auch ich habe im Referendariat Sätze gesagt, die ich wohl lieber für mich behalten hätte:
»Gruppenarbeit ist doch scheiße.«
»Hilbert Meyer, was weiß der schon?«
»Klippert nervt!«
»Nö, ich finde, ich habe das Stundenziel sehr wohl erreicht.«
»Tja, die einen sagen so, die anderen sagen so.«
Und hier der Knaller – kam gar nicht gut an: »Jetzt habe ich es noch nicht drauf, aber ich weiß, dass ich irgendwann eine sehr gute Kunstlehrerin sein werde.« Dieser Satz war es wahrscheinlich, der mir das Genick gebrochen hat. Kombiniert mit der Feststellung: »Frau Seminarleiterin, ich glaube, wir haben so Probleme miteinander, weil wir uns so ähnlich sind.«
Diese Sprüche trugen nicht gerade dazu bei, dass ich mich bei der Seminarleiterin beliebt machte. Durch totale Selbstaufgabe und absolute Unterwerfung bekam man bessere Noten als mit einer vorlauten Art. Unsere Seminarleiterin wollte die Mutti von uns sein. Ich wollte aber keine Mutti. Ich wollte lediglich lernen, wie man Kunstlehrerin wird, aber sie wollte, dass wir alle immer jammern und in regelmäßigen Abständen heulen. Damit sie dann sagen kann: »Wird schon wieder. Mutti hilft dir.«
Ich habe auch geheult. Vor Wut, aber nicht im Seminar. Oh Mann, habe ich geheult. Ich bin regelrecht dehydriert im Referendariat. Meine Kunstseminarleiterin war drei Meter groß und sah aus wie Sauron. Ich war klein und abhängig und wollte mich nicht in diese Rolle fügen, sondern strampelte mit den Füßen wie ein Käfer im Schnabel von einem Vogel. Aber meinen 50er-/70er-Jahre-Unterricht konnte sie mir nicht austreiben. Und heute sage ich mir in jeder zweiten Kunststunde: »Ich bin wirklich eine sehr gute Kunstlehrerin geworden.«
Und der arme Ernst hat das ganze Referendariat noch vor sich.
»Ernst, wieso hattest du eigentlich bisher nur das Hauptseminar? Warum warst du noch nicht in der Schule? Wir mussten da gleich hin. Ihr nicht?«
»Nee, man hat jetzt erst mal eine Woche so eine Art Einführung im Allgemeinen Seminar oder Hauptseminar – oder wie das heißt.«
»Ach, das klingt doch gut. Ein softer Einstieg. Und was ja wirklich schön ist am Referendariat, dass man zwei Jahre regelmäßig Geld bekommt.«
»Wieso zwei Jahre? Die Ausbildung ist nur noch 18 Monate lang – jedenfalls hier in Berlin.«
»Echt? Bei mir ging das von Mai bis Mai. Zwei ganze Jahre. Ach, und jetzt ist das nur noch anderthalb Jahre lang. Na, umso besser. Obwohl das ja ganz schön knapp ist, so mit den ganzen Unterrichtsbesuchen und der schriftlichen Arbeit, die man am Ende schreiben muss und …«
»Die Arbeit gibt es gar nicht mehr. Jetzt hat man solche Modulprüfungen. Ich glaube, davon hat man zwei. Einmal im Bereich Erziehen und im Bereich Unterrichten.«
»Krass, obwohl – keine schriftliche Arbeit ist ja cool, aber dann noch die Examensstunden und die mündliche Prüfung.«
»Die mündliche Prüfung gibt es auch nicht mehr. Man macht jetzt die beiden Modulprüfungen, und dafür bekommt man Noten. Dann kriegt man noch eine Note, die sich aus drei Gutachten zusammensetzt, die von den beiden Fachseminarleitern und der Schule kommen. Da wird deine Progression während der Ausbildung bewertet. Am Ende hast du nur noch die zwei Prüfungsstunden.«
»Ach, keine mündliche Prüfung mehr am Ende? Das ist ja cool. Bei uns war das ja noch alles an einem Tag. Erst die zwei Examensstunden, dann noch Fachdidaktik mündlich und Schulrecht und … Ach, das war furchtbar. Am Ende wusste man nicht mehr, wie man heißt.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Und, Ernst, wenn du an der Schule bist und die deinen Einsatz im Unterricht planen, dann nimm nach Möglichkeit nicht so viele Stunden. Man muss doch nur vier bis maximal acht Stunden in der Woche unterrichten und zwei Stunden hospitieren. Bei uns haben viele Referendare freiwillig acht Stunden unterrichtet, weil sie meinten, dass es ihnen helfen würde, sich auf später vorzubereiten, wenn sie eine volle Stelle haben. Aber das ist Quatsch. Wenn du fertig bist und sechsundzwanzig – oder an der Grundschule sogar achtundzwanzig – Unterrichtsstunden halten musst, dann macht das gar keinen Unterschied, ob du in der Ausbildung sechs oder acht Stunden in der Woche unterrichtet hast. Das Unterrichten ist am Anfang so schwer. Mach eher weniger Stunden und hospitiere lieber bei anderen Lehrern.«
»Okay, danke für den Tipp.«
Ich habe im Referendariat immer nur sechs Stunden in der Woche unterrichtet, das hat mir damals auch gereicht. Die Vorbereitung dauert am Anfang sowieso unglaublich lange. Dafür habe ich am Anfang meiner Ausbildung versucht, möglichst oft den Unterricht von Kollegen anzuschauen. Meistens wird es allerdings ziemlich langweilig, wenn man 45 Minuten hinten drinsitzt. Man sollte auch mal versuchen, einen Schultag mit einer Klasse zu verbringen. Das habe ich damals gemacht. Ich bin den ganzen Vormittag in den Unterricht der 8. Klasse gegangen, die ich in Englisch unterrichtet habe. Das war sooo unglaublich anstrengend. Man vergisst als Lehrer, wie sich fünf oder sechs Schulstunden für Schüler anfühlen. Wenn ich die Kollegen gefragt habe, ob ich mit in den Unterricht kommen kann, dann sagten die immer das Gleiche: »Ja gerne, aber ich mache heute nichts Besonderes.« Lustigerweise sage ich das heute auch immer, wenn bei mir jemand hospitieren möchte. »Gerne, aber wir machen nichts Besonderes. Wir wiederholen heute nur das Simple Past. Das kann sehr langweilig werden.«
»Frau Freitag, warum werden die Lehrertoiletten gründlicher geputzt als die Schülertoiletten?«, fragt Esra. »Werden sie doch gar nicht.« Woher will Esra wissen, wie die Lehrertoiletten aussehen?
»Wir Lehrer schmeißen nur keine Toilettenpapierrollen ins Klo und pinkeln auch nicht daneben.« Esra denkt nach. Sie pinkelt bestimmt auch nicht daneben, und eigentlich hat sie recht. Wir Lehrer haben schönere Toiletten. Wir haben es in der Schule sowieso besser als die Schüler. Jeden Tag bin ich froh, dass ich die Schule nicht als Schüler, sondern als Lehrer betreten darf. Ich habe Schlüssel, ich habe ein Lehrerzimmer, ich habe eine saubere Lehrertoilette. Und ich habe die Macht!
»Mögen Sie Kinder?«, fragt Esra plötzlich. »Klar, sonst wäre ich ja nicht Lehrerin geworden«, antworte ich reflexartig. Denke dann noch mal nach. »Obwohl … man könnte auch gerade Lehrer werden, weil man keine Kinder mag.« Esra grinst. »Jaaa, immer so voll gemein sein und schlechte Noten geben!«
Die Stimmung ist gut. Und wenn die Stimmung gut ist, dann kommen immer ein paar persönliche Fragen: »Warum heiraten Sie nicht Ihren Freund? Wie alt waren Sie noch mal? Warum sind Sie Lehrerin geworden?«
Man kann diese Fragen wahrheitsgemäß beantworten, muss man aber nicht. Man kann sich auch immer wieder etwas anderes ausdenken. Die »Warum ich Lehrerin geworden bin«-Frage umschiffe ich oft mit einem ominösen »Das war eine Verquickung von unglaublichen Zufällen, und jetzt schlagt mal eure Bücher auf«. Oder ich sage: »Weil ich mir nichts Schöneres habe vorstellen können, als euch das Simple Past beizubringen.«
Irgendwie scheint die Schüler diese Frage brennend zu interessieren. Wieso will jemand so einen doofen Job machen? Die Schüler wissen ja selbst am besten, wie unausstehlich und anstrengend sie sein können.
Neulich erzählte Herr Werner, dass ihn seine Klasse auch gefragt hat, wie es zu seiner Berufswahl kam. Seine Antwort: »Denkt ihr denn wirklich, ich mache das hier freiwillig? Damals hieß es: Entweder lebenslänglich in den Knast oder Lehrer werden.«
Die Schüler: »Echt?«
Er: »Na klar, und das war nicht nur bei mir so. So war das bei allen Lehrern an unserer Schule.«
»Wir haben zusammen studiert«, sage ich zu der blonden Frau, die neben mir an der Käsetheke bei Karstadt steht und mich anstarrt.
»Ach, stimmt! Habe ich mir doch gedacht, dass du mir so bekannt vorkommst.« Ich nicke und grinse sie an. Sie grinst auch. Ich weiß ihren Namen nicht mehr und sie meinen wahrscheinlich auch nicht. Peinliche Stille. Dann holt sie tief Luft und fragt: »Und, bist du Kunstlehrerin geworden?«
»Ich? Ja, klar. Und du?«
Sie schüttelt den Kopf und guckt auf den Boden. »Nee. Ich nicht. Kurz vor dem Examen habe ich meine Tochter bekommen und bin dann in meinen alten Beruf zurück. Sozialarbeit.«
»Aha. Hattest du noch ein zweites Fach studiert?«
Sie grinst stolz. »Ja, Sonderpädagogik.«
»SONDERPÄDAGOGIK?!?«, wiederhole ich etwas zu laut. Oh Mann, Sonderpädagogik ist Goldstaub. Damit kann man sich die Stellen aussuchen.
»Sonderpädagogik! Das ist schon immer das totale Mangelfach. Willst du dich nicht bewerben? Du könntest berufsbegleitend zu Ende studieren und dann das Referendariat machen …«
Sie grinst. Wahrscheinlich hat sie darüber auch schon nachgedacht. Ich bin nicht zu bremsen. »… und als Sonderpädagogin hast du echt voll den easy Job. Immer nur mit einzelnen Schülern. Wenn man mal die Kontakte zum Jugendamt und der Schulpsychologie geknüpft hat, dann ist das voll der Selbstläufer. Und denk mal an die Ferien, und Weihnachtsgeld gibt es ja auch wieder. Wahrscheinlich verdienst du auch viel mehr als als Sozialarbeiterin. Wir bekommen 5000 Euro brutto.«
»Wow! Ja, mehr zu verdienen wäre nicht schlecht. Ich hatte schon mal überlegt, mich zu bewerben.« Ich erkläre ihr, auf welchen Seiten der Senatsverwaltung sie Informationen zum Lehrerberuf für Quereinsteiger findet, wann der Bewerbungsschluss ist, wieso Leute wie sie gerade händeringend gesucht werden (schließlich gehen die Babyboomer in den nächsten fünf Jahren alle in Rente – und es fehlen überall Lehrer) und erzähle ihr detailliert, wie viel Spaß es macht, Lehrerin zu sein. Dann verabschieden wir uns.
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