Future Angst - Mario Herger - E-Book

Future Angst E-Book

Mario Herger

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Beschreibung

Welche aktuellen Ängste prägen uns? Mit welchen Ängsten waren die Menschen in der Vergangenheit konfrontiert, als es die heutigen Technologien noch nicht gab? Warum mischen wir heute im Wettbewerb der Kulturen um neue Technologien nicht ganz vorne mit? Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um neue Technologien nicht als etwas Beängstigendes und Feindseliges zu betrachten, sondern als ein Mittel zur Lösung der großen Probleme der Menschheit? Innovationsexperte Dr. Mario Herger stellt in "Future Angst" die entscheidenden Fragen in Bezug auf Technologie und Fortschritt und zeigt professionelle und zukunftsweisende Lösungen auf. Mit seinem Appell "Design the Future" bietet Herger einen unkonventionellen und transformativen Ansatz für ein neues, human geprägtes Mindset.

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Dr. Mario Herger

FutureAngst

Copyright 2021:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Daniela Freitag

Gestaltung und Satz: Daniela Dittrich

Herstellung: Daniela Freitag

Vorlektorat: Karla Seedorf

Korrektorat: Diane Kieselbach

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-771-1eISBN 978-3-86470-772-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenbuchverlage

www.instagram.com/plassen_buchverlage

Für Gabriel, Darian und Sebastian.And for May Kou.

INHALT

1.„Alexa hört ja immer zu!“

Wie schön wäre Technik ohne Menschen

Sind wir zu dekadent geworden?

2.Present Angst – Status quo

Die Zunge des Spechts

Das Funktionsdilemma

Ein Land voller Moralunternehmer

Erwähnungsumkehr

Die digitale Malaise

Dinglichkeit der Dinge

Verklagt die Innovatoren!

3.Past Angst – Goldmine der Absurditäten

Soziale Phasenverschiebungen

Die gute alte Zeit

Innovationen der Vergangenheit und damalige Reaktionen

Zombie-Ideen und Bullshit

Digitaler Cargo-Kult

Wirtschaftswachstum und Effizienzsteigerungen

Die Giraffe des Kaisers von China

Der Mann, der China liebte

Schlussfolgerungen

4.Past Chance – Wir konnten es einst!

Vom Mittelalter ins Maschinenzeitalter

Die Entstehung der Wissenschaften

China und der Islam: Paradigmen einer Stagnation

Die Geschichte von der bedeutendsten Erfindung der Menschheitsgeschichte

5.Present Angst – Die Gründe und Auswirkungen

Mindset

Institutionen

Megatrends

Profiteure

Signalwirkung

6.Future Chances – Zukunftsmaßnahmen

Mindset

Institutionen

Personen

Rahmenbedingungen

Technologiebewertung

7.Past the Future

Realismus

Moonshots oder Die Linderung des menschlichen Leids

Der drohende Bevölkerungskollaps

8.Design the Future

Endnoten

KAPITEL 1

„Alexa hört ja immer zu!“

Wenn Sie einen Moment in der Geschichte wählen müssten, um geboren zu werden, und Sie wüssten nicht im Voraus, wer Sie sein würden – Sie wüssten nicht, ob Sie in eine wohlhabende oder arme Familie, in welchem Land oder ob Sie als Mann oder Frau geboren würden –, wenn Sie blind wählen müssten, in welchem Moment Sie geboren werden möchten, würden Sie jetzt wählen.

Barack Obama, 2016

Ein Journalist eines deutschsprachigen Wirtschaftsmagazins fährt in meinem Auto mit. Er berichtet über digitale Trends und ist auf Erkundungstour im Silicon Valley. Als wir auf einer der Hauptverkehrsachsen einem der knapp 800 selbstfahrenden Autos, die hier getestet werden, begegnen, zücken wir beide unsere Smartphones, um es zu filmen. Irgendwie drücke ich im Eifer den falschen Knopf meines iPhone X, während ich als Fahrer auf den Verkehr achten muss, und merke erst im Nachhinein, dass ich kein Video aufgenommen habe. Mein Beifahrer allerdings schon – mit seinem iPhone 6. Das Video, das er mir nachher dankenswerterweise zusendet, ist von der Auflösung her so schlecht, dass ich es für meinen Blog nicht verwenden kann. Es ist Sommer 2018, zu diesem Zeitpunkt gibt es das iPhone X schon seit einem Jahr. Warum besitzt er, der über neueste Technologien berichtet, ein altes iPhone? In Autojahren entspricht das einem 30 Jahre alten Auto, das er nicht als Oldtimerliebhaber fährt, sondern mit der Einstellung: „Wozu brauche ich das neueste Zeugs?“

Im Herbst 2018 blättere ich durch die aktuelle Ausgabe von t3n, einem Magazin für Digitalos und Technologie-Enthusiasten. In einem Artikel werden prominente digitale Pioniere gefragt, was sie bei ihren Dienstreisen in ihren Rucksack packen. Der digitale Vorreiter eines großen deutschen Konzerns zählt auf: Laptop, Powerbank, Buch und – ich glaube, mich verlesen zu haben – sein iPhone 6. Wieder jemand, der ein digitaler Innovationsvorreiter in seinem Unternehmen sein sollte und alte digitale Werkzeuge verwendet.

Im März 2020 wurden meine Timelines auf den sozialen Medien mit Meldungen überflutet, in denen meine Kontakte von den Video- und Onlinekonferenzen mit ihren Mitarbeitern und Geschäftspartnern berichteten. Aufgrund der weltweiten Ausgangssperren durch den Coronavirus Covid-19 musste jedes Unternehmen die Mitarbeiter ins Homeoffice schicken und zur Weiterführung des Geschäftsbetriebs Online-Tools einsetzen. Aufmunternde Worte waren die Regel wie auch Tipps, wie diese Werkzeuge von Zoom, Skype, Google Hangouts, Microsoft Teams oder WebEx am besten zu verwenden wären. Ich war etwas baff. Spätestens seit meinem Umzug in die USA im Jahr 2001 gehörten solche virtuellen Konferenzen für mich zum Alltag. In meiner Zeit bei SAP war das die einzige Möglichkeit gewesen, mich mit meinen Kollegen in Deutschland, Israel, China und Indien auszutauschen und auf dem laufenden Projektstand zu bleiben. Zwei- bis dreimal täglich über Jahre hinweg wählte ich mich in solche Onlinekonferenzen ein und habe dabei alles miterlebt: von Verbindungsschwierigkeiten, irrtümlich der Videokonferenz beitretenden Kollegen bis zum kläffenden Hund in der Leitung.

Mir ist schon klar, dass ich mich damals als Mitarbeiter einer großen IT-Firma und dann noch speziell im kalifornischen Silicon Valley in einer technologischen Fortschrittsblase befand. Dennoch überraschte mich, wie sehr diese mindestens 20 Jahre alten Technologien für viele bei uns neuartige Technologie darstellten. Und da stellt sich mir die Frage, was in den letzten Jahren bei all den Konferenzen zu digitaler Transformation denn eigentlich diskutiert worden war? Ich war der Meinung gewesen, wir seien am Beginn, Technologien wie künstliche Intelligenz, Roboter, Chatbots, TensorFlow oder Blockchain auszuprobieren. Dann kristallisiert sich allerding heraus, dass ein simples Onlinevideokonferenzwerkzeug wie Zoom die Unternehmen und Mitarbeiter vor ungeahnte Herausforderungen stellt.

Wer glaubt, wir seien technisch bereits bestens gewappnet, den möchte ich darauf hinweisen, dass in derselben Krise Ärzte und Kliniken Informationen per Fax versandten und Schüler Hausaufgaben auf Papier ausgedruckt von der Schule abholen mussten.

Szenenwechsel: Las Vegas, Nevada. Am Vorabend der CES treffen sich drei Dutzend IT-Berater zu Vorträgen und zum Gedankenaustausch bei einem Dinner. Auf meine Frage, wer einen Sprachassistenten besitzt, bleiben alle Hände unten, dafür ertönt sofort aus dem Hintergrund der Vorwurf: „Alexa hört ja immer zu!“

Genau so funktionieren Sprachassistenten. Sie müssen zuhören. Das Zuhören der Technologie ist so wichtig, wie Licht uns sichtbar macht. Aber hier verbirgt sich die Angst, dass das Zuhören zum Ausspionieren verwendet wird. Diese Angst – ob berechtigt oder nicht – verhindert, dass sich diese IT-Berater damit auseinandersetzen, eine Voraussetzung dafür, dass sie die Funktionsweise und die heutigen Möglichkeiten begreifen, aber auch erkennen, wo diese Technologie aktuell noch scheitert. Und diese IT-Berater, die sich selbst ihren Kunden gegenüber als Technologievorreiter präsentieren und ihnen einen Schritt voraus sein sollten, um sie in die Zukunft zu führen, verwehren sich dem.

Szenenwechsel: Silicon Valley. Auf die Frage, warum manche immer noch ein fünf Jahre altes iPhone verwenden, erklärt ein Geschäftsführer, er habe schon einmal ein iPhone X bekommen, dieses aber ungebraucht einer Verwandten geschenkt, weil er mit seinem alten iPhone zufrieden sei. Als Autoliebhaber wäre er nie auf die Idee gekommen, ein 30 Jahre altes Auto zu fahren – das Äquivalent zur Entwicklungsgeschwindigkeit von Smartphones – sondern immer die neuesten Modelle.

Szenenwechsel: Ich befinde mich in Baden-Baden in Baden-Württemberg, der deutschen Innovationsschmiede vor 130 Jahren, wo Unternehmen wie Daimler-Benz, Bosch, Porsche, Steiff oder 1972 SAP gegründet wurden. Nach dem Vortrag zu Elektroautos und dem autonomen Fahren meldet sich eine Zuhörerin: „Woher soll nur all der Strom herkommen?“

Eine Frage, die mit Vorwürfen beladen ist und zu der die Fragende eigentlich keine Antwort haben will, sondern sie als Statement gedacht hat. Auf die Gegenfrage, ob sie wisse, wie viel Energie in die Bereitstellung von Flüssigkraftstoffen fließt (Hinweis: 2,8-mal so viel), schweigt sie und erbleicht, als wir uns die Zahlen genauer ansehen.

Szenenwechsel: Bad Nauheim in Hessen. Eine Veranstaltung der Automobilbranche, in der es um Lösungen rund um Schlösser, Klappen, Türgriffe und Scharniere geht. Von den 300 internationalen Teilnehmern heben weniger als fünf die Hand, als ich die Frage stelle: „Wer besitzt ein Smartphone mit Gesichtserkennung?“

Keiner von ihnen hat Erfahrung, wie Gesichtserkennung heute funktioniert und wie diese Technologie beispielsweise für den Zugang zu einem Auto verwendet werden kann. Auf mein Nachfragen, warum fast keiner so ein Smartphone hat, höre ich immer wieder als Antwort: „Ich will nicht, dass meine Daten bei irgendeiner amerikanischen Firma landen.“

Szenenwechsel: Eine Delegation mit dem deutschen Bundesminister für Wirtschaft und Energie besucht Start-ups und Firmen im Silicon Valley und trifft dabei auch deutsche Mitarbeiter und Gründer. Bei einer Veranstaltung bittet der Google-Innovationsevangelist Frederik Pferdt zu einer kleinen Übung. Die Delegationsteilnehmer sollen die Augen schließen und kleine Rechenaufgaben ausführen. „Eins plus eins ist zwei“, sagt Pferdt. Man hört nichts. „Zwei plus zwei ist vier.“ Alle sind konzentriert und mucksmäuschenstill. „Drei plus drei ist fünf.“ Der Bundesminister ruft laut: „Falsch!“ Pferdt macht unbeeindruckt weiter. „Vier plus vier ist acht.“ Und ein weiteres Mal: „Fünf plus fünf ist zehn.“ Keiner meldet sich.

Alle Augen gehen auf und Pferdt sagt: „Haben Sie bemerkt, dass von fünf Aufgaben vier korrekt waren, aber niemand hat dazu Lob ausgesprochen? Dafür war eine falsch und sofort wurde darauf reagiert und die Aufmerksamkeit messerscharf darauf fokussiert. Und genau das ist der Unterschied zwischen Deutschland und dem Silicon Valley: sich nicht mit einem Fehler aufzuhalten, sondern positiv zu denken, weiter neue Dinge auszuprobieren.“1

Szenenwechsel: Die Digitale Woche Kiel 2019 brachte Dutzende Referenten aus aller Welt zusammen und sollte der Bevölkerung aus Kiel und dem Umland einen Einblick in die Möglichkeiten und Aktivitäten der Stadt zu diesen Technologien geben. Neben der meiner Meinung nach äußerst gelungenen Veranstaltungsreihe bleiben mir vor allem zwei Dinge im Gedächtnis.

Einerseits, wie oft Kieler mir sagten, wie hässlich Kiel sei. Die Stadt hatte im Zweiten Weltkrieg als Heimathafen der Marine massiv unter Bombardierungen gelitten, die die mittelalterliche Bausubstanz restlos zerstört hatten. Meine Rundgänge durch die Stadt hingegen offenbarten anderes. Ich entdeckte eine nicht unerhebliche Zahl an Ziegelbauten im Bauhausstil, die dem heutigen Kiel eine ganz eigene, moderne Form verleihen. Die Kieler sahen selbst nicht, was für architektonische Juwelen sie hatten.

Der wesentlich überraschendere Moment kam aber, als ich in eine Diskussion mit Besuchern der Digitalen Woche Kiel zu den Schadenersatzzahlungen von Volkswagen im Zuge des Dieselskandals geriet. VW hatte zu diesem Zeitpunkt bereits um die 29 Milliarden Euro an Strafen zahlen müssen. Nicht diese Zahl echauffierte die Teilnehmer, sondern dass die „Amerikaner“ damit den Deutschen eins „auswischen“ wollten. Die Quintessenz dieser Diskussion war, dass nicht so sehr Volkswagen am Skandal schuld gewesen sei, sondern die Amerikaner, die das ausnutzen würden, um der deutschen Wirtschaft zu schaden und der eigenen zu helfen. Dasselbe Argument wird einige Wochen später von Teilnehmern einer deutschen Delegation bei einem Besuch im Silicon Valley vorgebracht.

Ich verstehe jetzt besser, wie Verschwörungstheorien entstehen und dazu beitragen, vom eigenen Versagen abzulenken: Man sieht sich als Opfer, nicht als Täter. Nicht die eigene Schummelei sei die Verschwörung, sondern deren Aufdeckung durch die Beschummelten. Und das verhindert, dass wir unsere Fehler sehen und daran arbeiten.

Szenenwechsel: Eine 100-köpfige Delegation aus Baden-Württemberg unter Führung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann macht es sich zum Abendessen gemütlich, während ich einen Vortrag zu den Entwicklungen in der Automobilindustrie im Bereich des autonomen und elektrischen Fahrens aus der Sicht des Silicon Valleys halte. Anschließend erlebe ich einen offensichtlich geschockten Kretschmann, der mit den Händen vor dem Gesicht und den Ellbogen aufgestützt neben mir am Tisch sitzt. Er meint: „Ich wusste, dass wir mit Elektroautos im Rückstand sind. Die Menge an Teslas hier im Silicon Valley ist nicht zu übersehen. Was ich nicht wusste, ist, wie weit autonomes Fahren hier bereits ist. Wir verlieren diese Industrie.“ Der Rest des Abends widmete sich der Frage, was wir tun könnten, damit Deutschland diese wichtige Industrie nicht verliert.

Szenenwechsel: Ein Berliner Bekannter postet im Herbst 2020, als die Zahl von Corona-Infizierten erneut in die Höhe geschnellt war, folgendes Gespräch, das er am Frühstückstisch mit seiner 14-jährigen Tochter, die die 10. Klasse eines Gymnasiums besucht, geführt hatte:2

T:Ab Montag haben wir wegen Corona drei Tage Homeschooling.

Ich:Ah, cool, Unterricht via Zoom?

T:Das hatten wir im März genutzt, die Nutzung wurde aber leider wegen Datenschutz verboten.

Ich:MS Teams?

T:Da hat die Schule zwar eine Lizenz, die wurde aber noch nicht an alle weitergegeben.

Ich:Aha. Jitsi?

T:Hatten wir auch ausprobiert. Ist leider ebenfalls wegen Datenschutz verboten.

Ich:Und wie lernt ihr jetzt?

T:Wir haben vor den Ferien Aufgaben ausgedruckt bekommen. Die bearbeiten wir jetzt zu Hause.

Mein Bekannter stellte sich die Frage, warum acht Monate nach Beginn der Pandemie mit einem längeren Lockdown die Schulen sich so schwertaten, auf digitalen Unterricht umzustellen. Die Schuld daran liegt nur teilweise bei den Schulen. Auch die Länder sowie die Eltern haben einen Anteil daran. In einem Gespräch mit einer der Lehrerinnen erfuhr er, dass die Schule auf Initiative der Lehrer, die Videokonferenzplattformen Zoom und Jitsi zu verwenden, von den Eltern über 50 E-Mails erhalten habe. Darin beschwerten sie sich über die Unverantwortlichkeit der Lehrkörper, eine Software zu verwenden, die den Datenschutz verletze.

Angesichts der Tatsache, dass Kinder in diesem Alter ohnehin bereits eifrig in unterschiedlichen sozialen Medien unterwegs sind, sabotieren hier unter anderem die Eltern die Fortführung des schulischen Betriebs in einer Krisensituation. Der Datenschutz ist heiliger als die Schulbildung der Kinder. Angesichts der Todesfälle während der Pandemie in Europa und den USA im Vergleich zu China wird dies zu einem Problem mit tödlichen Konsequenzen. Wie Jürgen Gerhards und Michael Zürn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreiben, komme …3

… man nicht darum herum, Informationen über das Bewegungsverhalten der Bürger und ihre Kontakte zu erheben. Dies stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Wie bei allen politischen Zielkonflikten wäre hier eine öffentlich diskutierte Güterabwägung zwischen den drei zentralen Zielen „Vermeidung hoher Infektionen und einer hohen Sterblichkeit“, „Vermeidung eines Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden“ und „Schutz der informationellen Privatsphäre“ nötig gewesen. Eine solche Diskussion hat faktisch nicht stattgefunden. Stattdessen wurde sehr früh die Privatsphäre als sakrosankt gegenüber staatlichen Eingriffen erklärt. Wie die Erfahrungen demokratischasiatischer Länder aber zeigen, lassen sich durchaus Möglichkeiten finden, das Tracking von Personen mit dem Schutz der Privatsphäre zu verbinden.

Die Autoren sparen nicht mit Kritik an dieser – wie sie schreiben – „eigenartigen Schieflage bei der Gefahreneinschätzung“:

Insbesondere das zweite Versäumnis [Informationen über das Bewegungsverhalten, Anm.] verweist auf eine eigenartige Schieflage bei der Gefahreneinschätzung im Zuge der Digitalisierung innerhalb des Westens. Der Missbrauch von Daten ist fraglos ein reales Problem. In Westeuropa und Nordamerika neigt man vor diesem Hintergrund dazu, dem Staat digitale Eingriffe in die Privatsphäre weitgehend zu untersagen, aber zugleich der Kolonisierung der persönlichen Daten durch private Digitalgiganten tatenlos zuzusehen. Das ist der falsche Weg. Es bedarf einer scharfen Kontrolle der Unternehmen bei gleichzeitiger Handlungsermöglichung des Staates, insoweit er Gemeinwohlzwecke wie Gesundheit oder Verbrechensbekämpfung verfolgt.

Woher kommt diese Skepsis vor Technologie und Fortschritt in einem Kulturkreis, der sich seiner Ingenieure rühmt und German/Swiss/Austrian Engineering zu einem Markenzeichen für hochpräzise, verlässliche Technologien aller Art gemacht hat? Von Schweizer Feinmechanik, deutschem Automobil- und Maschinenbau bis hin zu österreichischen Seilbahnen und dem Tunnelbau – um nur ein paar zu nennen – finden sich auf der ganzen Welt Technologie und Ingenieure aus unserem Kulturkreis im Einsatz. Mit deutschen Maschinen werden weltweit die Güter der Welt produziert.

Wie gelangten wir von einer Gründerwelle von vor eineinhalb Jahrhunderten, die unseren Kulturkreis ergriffen und das Bild des schläfrigen deutschen Michels korrigiert hatte, zu diesem Zaudern und Zögern, zu dieser Ängstlichkeit, ja sogar zu dieser offenen Feindseligkeit gegenüber Wandel und Fortschritt? Warum lassen wir uns von übertriebenen Gefahren und falschen und falsch verstandenen Argumenten einschüchtern, die uns in einer Art Massenhysterie zu Fortschrittsfeinden machen? Selbst dort, wo das Neue viel besser für uns und die Umwelt ist als das Alte, sehen wir nur die Fehler des Neuen. Ja, eine Digitalkamera ist in der Herstellung umweltschädlich, aber Fotos einer Analogkamera auf Filmpapier zu entwickeln war immer ein chemischer Prozess, der über die Lebensdauer viel weniger nachhaltig ist.

Im vorliegenden Buch werden wir dazu viele Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart sowie Gründe dafür besprechen wie auch Vorschläge für eine ausgewogenere Position, weg von einer für Menschen außerhalb unseres Sprachraums recht hysterischen Sichtweise auf Technologie und Fortschritt hin zu einer, wie ich hoffe, realitätsnäheren.

Sebastian Thrun, der in den USA lebende ehemalige Stanford-Professor für künstliche Intelligenz und Gewinner der DARPA Grand Challenge für autonomes Fahren, antwortet in einem Interview mit der Zeitschrift Forbes auf die Technologieskepsis mit folgenden für deutsche Ohren ungewohnt optimistischen Worten:4

Nun, zuallererst, jeder, der pessimistisch ist, bitte nicht. Bitte seien Sie nicht pessimistisch. Natürlich sind die Zeiten immer unsicher, aber wir haben uns gerade bewiesen, dass wir ein unglaublich großartiges Verfassungssystem in diesem Land haben. Wir haben enorme Fortschritte gemacht, fast alles, was Ihnen in Bezug auf Technologie wichtig ist – von Ihrem Smartphone über Ihre Toilettenspülung bis hin zu Ihrem Lichtschalter in Ihrem Haus, den Sie sicher alle zu schätzen wissen –, ist nicht älter als 150 Jahre. Das Flugzeug, das Smartphone, richtig? Die Vollnarkose bei Operationen, die Hüftprothese, Dinge, die vielen von Ihnen am Herzen liegen, sind nicht älter als 150 Jahre. Und ich sage 150 Jahre, weil ich die Menschheit – Menschen, Homo sapiens – auf etwa 300.000 Jahre datiere. Wenn wir also 300.000 Jahre nehmen und auf 150 Jahre schauen, ist das wie nichts. Es ist wie eine Mikrosekunde. Wenn das nun der Fall ist, wenn wir all diese wichtigen Dinge in den letzten – fast ausschließlich, nicht ganz, der Großteil war in Europa –, aber fast ausschließlich in den letzten 150 Jahren erfunden haben, was bringen uns dann die nächsten 150 Jahre? Werden wir einfach aufhören, Dinge zu erfinden? Ganz ehrlich? Ich denke, wir befinden uns in einer sich beschleunigenden Kurve von großartigen neuen Erfindungen. Und wir stehen erst am Anfang.

Die teleologische Frage, die sich aus dieser Betrachtungsweise ergibt und die wir uns stellen sollten, lautet: Was ist unsere Aufgabe, unsere Mission in der Welt? Wollen wir ein relevanter Teil dieser nächsten 150 Jahre sein und einen positiven Beitrag dazu leisten oder wehren wir uns dagegen und verraten damit einen Teil unserer eigenen Geschichte?

Wie schön wäre Technik ohne Menschen

Wer in den USA mit dem Auto unterwegs ist, wird rasch bemerken, dass die Kreuzungen anders geregelt sind als in Europa. Besonders in der Nacht wird das deutlich, wenn die Ampeln auf der leeren Straße rasch auf Grün für die eigene Fahrtrichtung schalten. An den meisten Kreuzungen sind unter dem Asphalt Induktionsschleifen angebracht, die auf den einzelnen Fahrspuren erkennen, ob sich dort ein Auto befindet. Damit werden die Ampeln je nach Bedarf geschaltet und dies verringert die Wartezeit. Die Technik reagiert hier in eingeschränktem Maße auf das Verhalten und die Bedürfnisse von Menschen.

Plötzliche Verhaltensänderungen können ganze Systeme aus dem Gleichgewicht bringen, wenn sie nicht flexibel angepasst werden können. Viele Onlineplattformen, die künstliche Intelligenz zur optimalen Steuerung von Inhalten und Vorschlägen einsetzen, sahen sich 2020 mit dem Covid-Lockdown konfrontiert – und mit stark veränderten Verhaltensweisen der Menschen. Die Algorithmen, die durch große Datenmengen und viel Arbeit der letzten Jahre zu optimierten Vorschlägen führen sollten, konnten mit Bestellungen zu Klopapier, Desinfektionsmitteln oder der Bestellung von Gütern, die üblicherweise nicht online vorgenommen wurden, nichts anfangen und waren mehr als verwirrt. Und die Ampeln an den nun fast leeren Straßen fuhren tagsüber ihre langen Schaltzyklen nach wie vor so, als ob es das sonst übliche Verkehrsaufkommen gäbe.

Wir Menschen haben mehr Einfluss auf Technologien, als wir annehmen. Sehr zum Leidwesen der Ingenieure, die solche Technologien entwickeln. Für sie stehen wir im Mittelpunkt und dort stehen wir im Weg. Um einen Liedtext des seligen österreichischen Liedermachers und Humoristen Georg Kreisler über Wien und die Wiener etwas holprig umzumünzen und stattdessen das Wehklagen von Ingenieuren auszudrücken:

Wie schön wäre Technik ohne Menschen!

Wir vergessen leicht, dass Technologie von Menschen für Menschen geschaffen wird. Auch wenn wir manchmal denken, sie wird gegen unser Wohl eingesetzt, so ist sie zumeist zu unserem Wohle gedacht. Keine Ingenieurin, die ich kenne, kein Naturwissenschaftler, mit dem ich das Vergnügen hatte zu plaudern, kam in diese Profession, weil sie oder er Übles vorhatten. Kein Arzt ergreift den Beruf, weil er Menschen mit Impfstoffen töten möchte. Auch ich studierte Chemieingenieurwesen deshalb, weil ich besser verstehen wollte, wie Chemie die Umwelt negativ beeinflusst und was dagegen getan werden kann. Dass Technologie nicht immer das tut, wofür sie ursprünglich gedacht war, kann die Menschen zu der Ansicht verleiten, dass das Übel von Anfang an das Ziel gewesen war.

Das hat vielleicht auch mit dem Phänomen der „Unsichtbarkeit von gut funktionierender Technologie“ zu tun. Eine Kaffeemaschine oder ein Fahrstuhl, die ihre Dienste klaglos verrichten, nehmen wir nicht wahr. Wehe aber, sie tun einmal nicht das, was sie sollen. Es funktioniert überraschend viel Technologie so reibungslos, dass wir gar nicht wahrnehmen, wie sie unser Leben vereinfacht oder gar erst in dieser Qualität ermöglicht.

Dabei ist Technologie nicht etwas, das zu uns via Gottes Gnaden „herabsteigt“, unser Leben schonungslos bestimmt und unabänderlich ist. Das ist die Meinung und Furcht der Technikdeterministen.5 Für sie ruft Technologie soziale, politische und kulturelle Anpassungen hervor, die einen sozialen und kulturellen Wandel zur Folge haben, ohne dass wir Menschen Einfluss darauf oder ein Mitbestimmungsrecht haben. Technologie wird von Menschen geschaffen, bestimmt und durch Menschen beeinflusst.

Was die Technikdeterministen – also diejenigen, die an eine aktuelle oder kommende Vormundschaft der Menschheit durch Technologie glauben und davor warnen – gerne übersehen, ist, dass auf Technologie selbst sozialer, politischer und kultureller Einfluss ausgeübt wird. Technologie steht und entsteht nicht in einem Vakuum. Sie kann erst dann zum Ausdruck und zur Anwendung kommen, wenn diese Rahmenbedingungen es erlauben. Tun sie es nicht, dann muss entweder die Technologie angepasst werden oder die Rahmenbedingungen müssen sich ändern. Geschieht das nicht, dann setzt sich die Technologie nicht durch und verschwindet. Manchmal für immer, manchmal nur vorübergehend.

Nehmen wir als Beispiel die heilige Kuh in unserem Land, das Automobil. Dessen Erfindung und Einführung am Ende des 19. Jahrhunderts hat sicherlich zu vielen Veränderungen sozialer und kultureller Natur geführt. Wir, die wir damals nicht gelebt haben, können uns den Gestank und den permanenten hygienischen Ausnahmezustand in den Städten angesichts der Tonnen von Pferdekot und tagelang liegen gebliebenen toten Gäulen in den Straßen nicht vorstellen. Trotz seines Ölgestanks und Lärms galt da das Automobil als Verbesserung. Autos erforderten bessere Straßen, die zu mehr Verkehr und damit intensiveren Beziehungen zwischen Regionen und Städten führten. Die Transportkosten für Waren und Personen sanken drastisch, das Einzugsgebiet für Produzenten erweiterte sich stark. Das schuf Gelegenheiten für Unternehmer und brachte Arbeitsplätze, die wiederum zu vermehrtem Wohlstand und mehr Austausch zwischen Regionen und Ländern führten.

Doch der Feind des Guten ist nicht das Bessere, sondern zu viel des Guten. Die Probleme, die uns zu viele Autos gebracht haben, scheinen uns fast schon wieder als vorherbestimmt und damit unabänderlich. Zumindest dachten wir das bis vor Kurzem. Und dann kommt eine Krise, die uns einen neuen Denkansatz erlaubt. Plötzlich ergreifen Städte während einer Pandemie die Chance eines zum Erliegen gekommenen Autoverkehrs und gestalten Straßen zu Fußgängerzonen und Fahrradspuren um. Die Leute entdecken die Fahrbahnmitte und das Fahrrad wieder für sich. Wie es ein Fahrradhändler mir gegenüber ausgedrückt hat, weil es weltweit zu einer Fahrradknappheit gekommen war: „Fahrräder sind das neue Klopapier.“

Dieser und andere sich seit einiger Zeit abzeichnenden Trends zum Automobil zeigen, dass nicht die Technik allein bestimmt, wie wir leben, sondern ein komplexes Wirken aus sozialen, politischen, kulturellen und natürlich technologischen Faktoren unsere Lebensqualität schafft. Die Technikdeterministen und -warner setzen auf unsere Hilflosigkeit angesichts dieser Technologien, um sie für ihre Zwecke auszunutzen. Genauso wie die Profiteure von Technologien die Alternativen verhindern. Technologie wird immer weniger als etwas zum Menschsein Beitragendes und stattdessen als etwas uns davon Entfernendes betrachtet.

In der BBC-Dokumentation „The Pleasure of Finding Things Out“ („Das Vergnügen, Dinge herauszufinden“) aus dem Jahr 1981 schildert Physiknobelpreisträger Richard Feynman, wie die Wissenschaften zum Wissen beitragen und nicht davon ablenken oder sogar etwas wegnehmen:

Ich habe einen Freund, der Künstler ist und manchmal eine Ansicht vertritt, mit der ich nicht so ganz einverstanden bin. Er hält eine Blume hoch und sagt: „Schau, wie schön sie ist.“ Und ich stimme zu. Dann sagt er: „Ich als Künstler kann sehen, wie schön das ist, aber du als Wissenschaftler nimmst das alles auseinander und es wird eine langweilige Sache.“ Und ich denke, dass er irgendwie verrückt ist. Zunächst einmal ist die Schönheit, die er sieht, auch für andere Menschen zugänglich und für mich auch, glaube ich …

Ich kann die Schönheit einer Blume schätzen. Gleichzeitig sehe ich viel mehr von der Blume, als er sieht. Ich kann mir die Zellen darin vorstellen, die komplizierten Vorgänge im Inneren, die auch eine Schönheit haben. Ich meine, es ist nicht nur Schönheit in dieser Dimension, auf einem Zentimeter; es gibt auch Schönheit in kleineren Dimensionen, die innere Struktur, auch die Prozesse. Die Tatsache, dass sich die Farben in der Blume entwickelt haben, um Insekten zur Bestäubung anzulocken, ist interessant; das bedeutet, dass die Insekten die Farbe sehen können. Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es diesen ästhetischen Sinn auch bei den niederen Formen? Warum ist er ästhetisch? Alle Arten von interessanten Fragen, die das wissenschaftliche Wissen nur zu der Aufregung, dem Geheimnis und der Ehrfurcht vor einer Blume hinzufügt. Es fügt nur hinzu. Ich verstehe nicht, wie es subtrahieren kann.

Als Menschen scheinen wir zwischen diesen beiden Seiten eingekeilt. So wie eingesperrte Hunde durch Elektroschocks so lethargisch gemacht werden, dass sie selbst bei der Gelegenheit, diesem Schicksal zu enteilen, diese nicht ergreifen, genauso hält uns die „erlernte Hilflosigkeit“ davon ab, die Chancen der Technologien zu ergreifen und die Risiken zu vermeiden. Die Technikdeterministen und -warner wollen aller Technologie entsagen, die Technologieprofiteure uns diese alternativlos aufdrängen. Warum aber sollten wir wählen müssen und nicht mehr von den Chancen und dafür weniger von den Risiken haben? Das allerdings erfordert einen mündigen Technologienutzer. Und diese Erziehung beginnt bei uns selbst und bei unseren Kindern.

Sind wir zu dekadent geworden?

Meine Reaktion, wenn das deutsche LinkedIn erst mal

wieder jahrelang diskutiert über die Frage:

„Darf man jetzt eigentlich auch am Wochenende posten?“

Leute – Stock aus’m Rücken, machen!

Dina Brandt (Trotziger Millennial)6

Wir befinden uns im Zeitalter der Dekadenz, wie es Ross Douthat, der Autor von „The Decadent Society: How We Became the Victims of Our Own Success“ („Die dekadente Gesellschaft: Wie wir Opfer unseres eigenen Erfolges wurden“), schreibt. Dekadenz definiert er dabei als das Resultat einer Mischung aus wirtschaftlicher Stagnation, institutionellem Verfall und kultureller und intellektueller Erschöpfung. Wiederholung wird zur Norm, Innovation zur Ausnahme – und sie befällt alle öffentlichen und privaten Einrichtungen gleichermaßen. Das geistige und intellektuelle Leben scheint sich dabei im Kreis zu drehen und liefert weniger, als zu erwarten wäre. Die Stagnation und der Verfall sind dabei – ganz wichtig – ein Ergebnis des eigenen signifikanten Erfolgs.

Ich sage dazu immer, dass Zürich, Hamburg, Wien, Köln oder München „zu schön für Innovation“ seien. In welchen Regionen finden wir die innovativsten Gesellschaften? In Gegenden, wo Verfall und Funktionieren in einer inspirierenden Balance stehen. Nicht dort, wo zu viel nicht funktioniert. Auch nicht dort, wo zu viel gut funktioniert. Wenig überraschend, dass das Silicon Valley, Tel Aviv, Berlin oder Shenzhen offensichtlich dieses Gemisch aus gut und schlecht, verfallen und aufgeräumt, Chaos und Ordnung, Licht und Schatten bieten. All diese Orte sind einzigartig in der Art, wie der inspirierende Mix zusammenkommt.

Besucher im Silicon Valley sind oft erstaunt über die Rückständigkeit der hiesigen Infrastruktur. Stromkabel, die auf Holzmasten gespannt sind, Straßen, bei denen die Aufgabe des Asphalts rein im Verbinden der Schlaglöcher zu liegen scheint, und selbst Schecks – jawohl, auf Papier – sind nach wie vor übliche Zahlungsmittel im Land der Hochfinanz. Uber oder Lyft konnten nur dort entstehen, wo es zwar öffentlichen Nahverkehr gab, der aber gleichzeitig genau die richtige Prise schlecht ist, um eine Chance für innovative Unternehmer zu bieten. In der Schweiz mit ihrem perfekten und pünktlichen Eisenbahnsystem käme niemand auf die Idee, Alternativen dazu zu entwickeln. Man fände auch keine Investoren.

Mein Leben in Kalifornien, wo ich seit 2001 meinen Wohnsitz habe, gestattet die Sicht auf unsere deutschsprachige europäische Gesellschaft von außen. In seinem Buch „Psychotherapy East and West“ schrieb der Philosoph Alan Watts, dass man die starren Gesellschaftsstrukturen seiner Region als gegeben hinnimmt, ohne sie zu hinterfragen. Um zu erkennen, wie verrückt gewisse Einschränkungen und Regeln sind, müsse man „rausgehen“. Mit zwei Jahrzehnten Erfahrung in Kalifornien, wo die Gesellschaft von Immigranten aus aller Herren Ländern geprägt wird und das geografisch genauso weit weg von Asien liegt wie von Europa, ist mein Blick auf meine Herkunftsgesellschaft und Kultur einer von außen und zugleich von innen. Und das erlaubt einen an manchen Stellen schärferen, an anderen einen oberflächlicheren Blick auf die Besonderheiten, aber immer einen, der den Vergleich erlaubt, die Schwächen und Stärken aller „Philosophien“ zu sehen. Meine Verbundenheit mit dem Kulturkreis meiner Herkunft ist nicht in Zweifel zu ziehen und deshalb will ich mit den folgenden Kapiteln dazu beitragen, den Menschen hier und dort eine Hilfestellung zu geben. Genauso, wie ein Vater oder eine Mutter manchmal ihre Kinder schelten müssen, weil sie deren Bestes wollen, wird es auch in diesem Buch an kritischen Aussagen und schmerzhaften Erkenntnissen nicht mangeln. Wäre mir die Zukunft meiner Familie, meiner Freunde und Bekannten in Europa egal, würde ich die kritischen Stellen auslassen. Den Stress, mich der Kritik auf meine Kritik zu stellen, könnte ich mir ersparen. Doch die Zukunft Europas und meines Kulturkreises ist mir nicht egal und ich hoffe, meine Leserinnen und Leser sehen das genauso.

In „Future Angst“ sehen wir uns in den folgenden Hauptkapiteln zuerst mit „Present Angst“ den aktuellen Status quo an. Welche aktuellen Ängste prägen uns? Im dritten Kapitel „Past Angst“ begeben wir uns auf eine Zeitreise in die Vergangenheit und werden mit den Ängsten der Menschen vor den Technologie-Innovationen der Vergangenheit konfrontiert. Der Spiegel, der Fahrstuhl oder der Container waren auch einmal neu für die Menschen und die Sicht auf die Reaktionen der Menschen lässt uns unsere Reaktionen auf heutige Innovationen besser verstehen und einordnen. Im vierten Kapitel verbringen wir noch etwas mehr Zeit in der Vergangenheit, in der wir die „Past Chance“, von denen wir heute so profitieren und auf die wir stolz sind, zeigen und beweisen, dass wir es konnten. Und nichts hält uns davor zurück, es nicht auch heute wieder zu können. Im fünften Kapitel „Present Angst“ analysieren wir die Gründe und Verhaltensweisen, die uns heute davor zurückhalten, im Wettbewerb der Kulturen um neue Technologien zum positiven Nutzen der Menschheit ganz vorne mitzumischen. Es soll auch hilfreiche Begrifflichkeiten vermitteln, denn wenn wir die Ängste und Gründe nicht in Worte fassen können und kein Vokabular dafür haben, dann stehen wir hilflos davor. Versteht man diese, hält uns nichts davon ab, im sechsten Kapitel die „Future Chances“ zu ergreifen. Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um die Dekadenz zu überwinden und neue Technologien nicht als etwas Beängstigendes und Feindseliges zu betrachten, sondern als Mittel zur Lösung der großen Probleme der Menschheit? Das siebte Kapitel „Past the Future“ erweitert den Betrachtungszeitraum über die nächsten 15 bis 20 Jahre hinaus zum Ende des Jahrhunderts. Bis dahin könnten sich heute als Problem identifizierte Trends ins Gegenteil verkehren und zu noch größeren Bedrohungen werden. Das klingt widersprüchlich, doch man lasse sich überraschen. Den Abschluss bietet „Design the Future“ mit einem unkonventionellen und transformativen Ansatz zu einem neuen Mindset.

Letztendlich geht es bei Technologie und Fortschritt nicht um diese selbst, sondern vor allem um den Menschen. Menschen entwickeln die Technologien, verwirklichen den Fortschritt und sollten deshalb auch Nutznießer davon sein. Nicht nur ein kleiner Teil der Menschheit, sondern möglichst alle. Technologie ohne Menschen ist nur Entropie ohne Wärme, niemandem nützlich und für niemanden schön.

KAPITEL 2

Present Angst – Status quo

Fortschritt wäre wunderbar – würde er einmal aufhören.

Robert Musil

Vor einiger Zeit postete eine Freundin eines dieser Fotos, die auch ich zu schießen pflege: von einem Büchertisch in einer Buchhandlung mit dem eigenen, neu erschienenen Sachbuch zwischen einer Reihe anderer Sachbücher. Die Nachbarschaft zu anderen Büchern erhöht die Bedeutung des eigenen. Michaela Ernst zeigte mit dem Bild, mit welchen anderen Titeln ihr absolut empfehlenswertes Buch „Error 404: Wie man im digitalen Dschungel die Nerven behält“ auf dem Tischchen vereint ist.

Was mir allerdings gleich ins Auge stach, war der Tenor der anderen Buchtitel zu digitalen Technologien und Systemen. Die auf dem Tischchen vereinigten Büchertitel waren:

•„Die große Zerstörung: Was der digitale Bruch mit unserem Leben macht“

•„Der Preis des Profits: Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten“

•„Revolte: Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung“

•„Alles könnte anders sein: Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“

•„Facebook: Weltmacht am Abgrund“

•„Das Leben nach Google: Der Absturz von Big Data und der Aufstieg der Blockchain“

•„Der Spion in meiner Tasche: Was das Handy mit uns macht und wie wir es trotzdem benutzen können“

•„Mindf*ck: Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird“

•„Weltsystemcrash: Krisen, Unruhen und die Geburt einer neuen Weltordnung“

•„Der größte Crash aller Zeiten: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Wie Sie jetzt noch Ihr Geld schützen können“

•„Nach dem Kollaps: Die sieben Geheimnisse des Vermögenserhalts im kommenden Chaos“

•„Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“

•„Wer schützt die Welt vor den Konzernen? Die heimlichen Herrscher und ihre Gehilfen“

Lässt sich erkennen, was mir ins Auge stach? Welches der Bücher spricht von hoffnungsfrohen Zukunftsszenarien und beschreibt die Gegenwart positiv? Die Antwort lautet: keines. Ich denke, es wird klar, worauf ich hinauswill. Die Prämisse jedes einzelnen abgebildeten Buchtitels ist, dass wir entweder bereits in einer digitalen, technologischen Dystopie leben oder diese unmittelbar bevorsteht, weil das bestehende System kollabieren wird. Kein einziger Titel behandelt die Sichtweise, wie Technologien bereits unser Leben verbessert haben oder es zukünftig verbessern könnten. Man beachte auch, dass jeder der Autoren genau diese Technologien verwendet, um solch ein Buch zu schreiben, zu recherchieren, anzupreisen und zu Vortragsrunden zu reisen.

Es ist mir schon klar, dass dieser eine Büchertisch in einer Wiener Buchhandlung nicht repräsentativ für alle Buchhandlungen im deutschsprachigen Raum ist und der Buchhändler die Auswahl selbst getroffen hat. Doch solch eine Auswahl kommt nicht von ungefähr. Zuerst einmal müssen die Verlage selbst solche Bücher zur Veröffentlichung bestimmen. Hätte der Buchhändler die Wahl, Sachbücher mit den Chancen zu diesen Themen aufzulegen, hätte er es vermutlich gemacht. Und die Verlage publizieren und die Buchhändler legen Bücher auf, die verstärkt gekauft werden. Und da gilt nach wie vor: „Only bad news are good news!“

Je reißerischer der Titel, je dystopischer das Szenario, je böser die Bösewichte, je bunter ausgemalt wird, dass wir in der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte leben, desto eher greifen wir danach und desto besser ist es für die Verkaufszahlen. Menschen sind evolutionär darauf konditioniert, Bedrohungen größere Aufmerksamkeit zu widmen als den positiven Dingen. Ignorierte Bedrohungen können uns das Leben kosten, verpasste gute Dinge holen wir bei nächster Gelegenheit nach.

Und genau das ist das Problem bei uns. Zwar gibt es im Silicon Valley, wo ich seit fast zwei Jahrzehnten wohne, auch Buchtitel dieser Art, doch behandelt ein Drittel bis die Hälfte der Sachbücher die positive Seite und die Chancen dieser Themen. Diese Negativität im deutschsprachigen Raum – und, wenn ich dazusagen darf, auch im französischen – ist ein mentales Hindernis für uns, um Chancen zu ergreifen und Großes zu leisten.

Es ist klar, dass mit jeder Technologie und jedem System Gutes und Schlechtes vollbracht werden kann. Doch Schuld daran hat der Mensch, nicht die Technologie selbst. Dennoch nutzen uns diese Technologien und Systeme mehr, als sie uns schaden. Und die Lösungen auf die geschaffenen Probleme sind zumeist weitere Technologien und Systeme. Das scheint allerdings hier nicht der Tenor zu sein. Der Tenor ist, sich davon zu lösen oder etwas völlig Utopisches zu erwarten: nämlich, dass die Menschen plötzlich alle gut werden, das Beste für andere im Sinne haben und generell radikale Änderungen vornehmen. Doch wie soll eine Gesellschaft, die dem Fortschritt skeptisch gegenübersteht, sich plötzlich radikal wandeln?

Es gibt keine alternative Sicht auf die Zukunft als diese negative, dystopische. Und genau das eine Bild zeigt unsere Zukunftsangst. Zukunft ist eine Bedrohung. Digitale und sonstige Technologien sehen wir vor allem als etwas, was unser Leben und unseren Lebensstil bedroht. Fast alle diese Technologien stammen aus anderen Ländern und wurden nicht von uns daheim erschaffen. Und vielleicht ist das der wahre Grund für unsere Zukunftsangst: Wir gestalten sie nicht mit, wir werden von ihr überrollt, wir haben das Gefühl, keine Kontrolle darüber zu haben, und wir sind vielleicht ein wenig neidisch auf diejenigen, die sie erschaffen. Der einzige Ausweg, den viele von uns zu sehen scheinen, ist, diese Technologien und Systeme schlechtzureden.

Die Zunge des Spechts

Die vorindustrielle Ära litt nicht an einem Mangel an Vorstellungskraft, sondern an einem Mangel an Umsetzungskraft.

Carl Benedikt Frey

An die 7.000 eng mit Notizen und Zeichnungen beschriebene Seiten umfasst Leonardo da Vincis Nachlass. Es wird vermutet, dass das einem Viertel seines umfangreichen Schaffens entsprach. Alle damals bekannten Bereiche der Wissenschaft und Kunst hatte er in seinen Notizen behandelt. So groß war da Vincis Wissensdurst gewesen, dass er sich immer wieder in neuen Fragestellungen verzettelte und nur wenige Auftragsarbeiten beenden konnte, sehr zum Missfallen seiner Gönner und Auftraggeber. Ein wahrer Renaissancemensch mit Tendenz zum Prokrastinieren.

Man konnte es Leonardo nicht übel nehmen, lebte er doch in einer spannenden Phase des Wandels in Europa. Die Renaissance war einerseits bestimmt durch das Interesse an den Lehren der klassischen Antike, andererseits aber auch durch das endgültige Loslösen von ihr und den Beginn der modernen Wissenschaften. Lange glaubten die Gelehrten, es ließen sich alle neuen Erkenntnisse durch intensives Studium der alten Schriften und Texte der antiken Gelehrten ableiten. Doch die „modernen“ Zeiten warfen zu viele neue Fragen auf, auf die es keine befriedigenden Antworten der Altvorderen gab. Bestimmte Indizien und Beobachtungen machten offensichtlich, dass die Antike nicht bloß keine Antworten auf neue Fragen hatte, sondern auch oft mit ihren Antworten auf alte Fragen falschlag. Man brauchte also neue Herangehensweisen. Und wie das so ist, tauchten immer wieder neue Fragen auf, die wiederum neue Methoden zur Beantwortung erforderlich machten. Man begann sich von der reinen theoretischen Ableitung aus Bekanntem zu lösen und Experimente als rechtschaffenes Instrument des Erkenntnisgewinns zu verstehen.

Da Vinci war ein wichtiger Vertreter, weil er intensiver als alle vor ihm und seinen Zeitgenossen eben genau solche Experimente durchführte. Als uneheliches Kind geboren, genoss er nicht die Vorzüge eines Buchgelehrten. Die wichtigsten Bücher damals waren in Latein verfasst, einer Sprache, in der er nie unterrichtet worden war, die er sich aber im Laufe der Jahre autodidaktisch aneignen sollte. Der Buchdruck war gerade erst erfunden worden und Bücher in der Muttersprache erst im Kommen, es führte somit kein Weg daran vorbei, Latein zu lernen.

Was ihm in dieser Beziehung fehlte, machte er durch Neugier und Experimentierfreude wett. Er konstruierte für viele seiner Fragestellungen Versuchsapparate, um die Antworten zu finden. Unter anderem entwickelte er ein Glasherz, um zu beobachten, wie sich die Herzklappen öffnen und schließen und das Blut dadurch fließt.

Sein ganzes Leben lang behielt er diesen unbändigen Wissensdurst. Selbst uns trivial erscheinende Dinge faszinierten ihn. Eine Liste aus dem Jahr 1490, die er in Mailand angelegt hatte, zeigte, was er lernen und tun wollte:1

•Die Abmessungen von Mailand und Umgebung

•Zeichne Mailand.

•Überrede den Arithmetikmeister, mir zu zeigen, wie man ein Dreieck quadriert.

•Frage Giovanni den Bombardier, wie die Mauer des Turms der Stadt Ferrara gebaut wurde.

•Frage Benedetto Protinari, auf welche Weise man in Flandern auf dem Eis geht.

•Frage einen Hydraulikspezialisten, wie man eine Schleuse, einen Kanal und eine Mühle auf lombardische Weise repariert.

•Frage Maestro Giovanni Francese, den Franzosen, nach der versprochenen Bemessung der Sonne.

•…

•Untersuche einen Gänsefuß: Wenn er immer offen oder immer geschlossen wäre, dann könnte das Tier sich kaum fortbewegen.

•Warum ist der Fisch im Wasser wendiger als der Vogel in der Luft, wenn es doch das Gegenteil sein müsste, da Wasser schwerer und dicker als Luft ist?

•Beschreibe die Zunge des Spechts.

Ein Sammelsurium an Fragen, die ihn beschäftigten, aber besonders der letzte Eintrag scheint uns ein Kuriosum zu sein. Eine Spechtzunge beschreiben? Wieso? Was ist daran interessant? Es handelte sich jedenfalls um kein Versehen, derselbe Eintrag findet sich auch Jahre später wieder.

1508 machte er eine Reihe von anatomischen Studien, für die er eine Liste erstellte. Wie so oft hatte er den Bogen Papier dicht beschrieben und vollgezeichnet. To-dos, Einkaufsliste und Zeichenstudien waren bunt durcheinandergewürfelt. Auf der einen Seite der Liste befanden sich Darstellungen von Anatomiewerkzeugen, auf der anderen kleine Zeichnungen von Blutgefäßen und Nerven, die er im Hirn eines verstorbenen 100-Jährigen untersucht hatte. Und dazwischen eine Liste aus benötigten Werkzeugen und Dingen, die er erledigen wollte:

•Lass Avicennas Buch von nützlichen Erfindungen übersetzen (Buch eines persischen Universalgelehrten aus dem 11. Jahrhundert);

•Liste von benötigten Werkzeugen:

Brille mit Hülle

Zünder

Gabel

Gebogenes Messer

Kohlekreide

Bretter

Papier

Weiße Kreide

Wachs

Glasstücke

Feinzahnige Knochensäge

Skalpell

Inkhorn

Bleistiftmesser

und einen Schädel

•Finde heraus, wie die Zunge des Spechts funktioniert.

Schon wieder die Zunge des Spechts und auf den nachfolgenden Seiten nochmals Einträge zu diesem Vogel:

•Mache die Bewegung der Spechtzunge (Fa’ il moto della lingua del picchio);2

•Beschreibe die Zunge des Spechts und den Kiefer des Krokodils (Scrivi la lingua del picchio e la mascella del coccodrillo).3

Menschliche Zungen, Spechtzungen und Krokodilkiefer. In seinem Wissensdurst hatte Leonardo da Vinci über die Jahre Dutzende Leichen von Menschen, aber auch von Pferden und anderen Tieren seziert. Damals von der Kirche nicht gern gesehen und sogar unter Strafe stehend waren das die ersten Ansätze von Wagemutigen wie da Vinci, den menschlichen Körper besser zu verstehen. Als Ingenieur, Maler, Skulpteur, Architekt und erster moderner Wissenschaftler war er stetig bestrebt, seine Disziplinen zusammenzubringen. Ja, eigentlich sah er sie gar nicht als getrennte Disziplinen an.

Um Gesichtsausdrücke und Körper in seinen Gemälden wirklichkeitsnah und lebendig darstellen zu können, musste er seinem Verständnis nach Muskeln und deren Wirkungsweisen verstehen. Das uns noch heute mysteriös erscheinende Lächeln der „Mona Lisa“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Studien und der Suche nach dem Funktionieren und Wirken der Natur. Er wollte verstehen, wie Muskeln die Lippen, Wangen oder Stirn bewegten.

Die menschliche Zunge erschien ihm dabei als Ausreißer besonders interessant. Es handelt sich um den einzigen Muskel, der nicht durch Kontraktion, also durch Zusammenziehen wirkt, sondern durch Ausdehnung. Und weil er eben ein Universalinteressierter war, wollte er das beim Specht auch verstehen, vermutlich, um Erkenntnisse zur menschlichen Zunge zu erhalten. Immerhin war es leichter und weniger riskant in Bezug auf die Obrigkeit, an einen Tierkadaver zu gelangen als an eine menschliche Leiche.

Was ihm natürlich erschien – nämlich verstehen zu wollen, wie Dinge funktionieren, und aktiv danach zu streben, diese Fragen zu beantworten und Experimente zu entwickeln und auszuführen –, erfordert eine ganze Menge an Energie. Es wäre einfacher, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, und sie nicht weiter zu hinterfragen. Nicht aber Leonardo da Vinci. Sein ganzes Leben lang war er auf der Suche, die Welt zu verstehen und seine Arbeit aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse zu perfektionieren.

Abbildung 1: Bildnis der Ginevra de’ Benci, datiert zwischen 1474 und 1478

Wie sehr sich das auf seine Kunst auswirkte, sieht man am Vergleich zweier Porträts. Das von Ginevra de’ Benci fertigte er als junger Künstler zwischen 1474 und 1478 an, das als Mona Lisa bekannte Porträt der Lisa del Giocondo 30 Jahre später.

Da Vincis Ginevra ist technisch durchaus gekonnt und dem Stand der Zeit würdig. Allerdings ist eine nicht zu übersehende Leere im Gesicht, die das ganze Porträt wenig natürlich und lebhaft erscheinen lässt. Die ausdruckslosen Augen, die bleiche Haut, die wie angepappt wirkende Lockenpracht, die da Vinci als Lockenträger selbst so sehr liebte, lassen uns Ginevra als Zombie erscheinen.

Abbildung 2: Mona Lisa, datiert zwischen 1503 und 1506

Ganz anders die bei den Franzosen als La Joconde bekannte Mona Lisa. Nicht nur hatte da Vinci eine viel feinere Maltechnik entwickelt, auch die Perspektiven, die Farben, die Schatten und letztendlich die Erfassung der Gesichtszüge zeigen bei der Mona Lisa eine bis dahin unerreichte Stufe der Porträtmalerei. In ihrem geheimnisvollen Lächeln, das uns sogar noch 500 Jahre nach ihrer Erschaffung fasziniert, manifestiert sich Leonardo da Vincis Können, das er nicht nur durch die Malpraxis und den unermüdlichen Drang nach neuen Erkenntnissen verbesserte, sondern auch in seiner Furchtlosigkeit, verbotenerweise Leichen zu sezieren, um die Funktionsweise und das Zusammenspiel von Muskeln und Gewebe zu verstehen.

Was Leonardo da Vinci uns vorlebte, ist das, was wir heute als „Renaissancemensch“ bezeichnen. Den Universalgelehrten, den Polymath, der ein Leben lang seine Neugierde selbst für die unscheinbarsten Phänomene aufrechterhält.

Das steht im Kontrast zur digitalen Anti-Renaissance des modernen Menschen. Seit einiger Zeit stelle ich dem Publikum auf Konferenzen in oder Delegationsteilnehmern aus Europa ähnliche Fragen:

•Wer verwendet ein Smartphone mit Gesichtserkennung?

•Wer hat einen Sprachassistenten zu Hause?

•Wer hat schon einmal einen Ridesharing-Anbieter wie Uber verwendet?

•Wer spielt Pokémon Go?

•Wer hat schon einmal eine Spechtzunge skizziert?

Man muss dabei berücksichtigen, dass die Leute, denen ich diese Fragen stelle, nicht die Otto Normalverbraucher sind. Es handelt sich bei ihnen um Innovationsmanager, Produktentwicklungsleiter, Vorstände, IT-Berater, digitale Evangelisten, Journalisten zu digitalen Themen und Trends. Menschen, zu deren Aufgabe unter anderem zählt, ihre Organisationen und Gesellschaften in die Zukunft zu führen.

Die vorgebrachten Ausreden habe ich alle gehört: Das iPhone ist zu teuer. Ich brauche mein iPhone X nicht, ich habe es weitergeschenkt. Der Sprachassistent hört immer zu. Und überhaupt: Wer braucht so etwas?

Gleichzeitig besitzen aber fast alle der Anwesenden mit Autos eine Technologie, bei der der Preis (fast) keine Rolle spielt und die pro Jahr in Deutschland 3.500 Menschen tötet. Und Autos besitzt man doch, obwohl der öffentliche Verkehr in Europa gut ausgebaut ist. Alexa hat meines Wissens nach noch nie jemanden umgebracht und kostet weniger als ein paar Dutzend Euro. Meine erhielt ich auf einer Konferenz sogar gratis mit dem Teilnehmerticket. Aber den angeblichen Innovationsvorreitern Europas tropft der Angstschweiß von der Stirn, weil ein technisches Gerät zuhört oder so viel kostet wie ein Konferenzticket.

Diesen Argumenten hängt der Geruch nach Ausflüchten an. Sie zeigen einen erschreckend großen Mangel an Neugier und Willen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Ich möchte nochmals unterstreichen, dass ich hier weder vom Durchschnitt der Bevölkerung spreche noch das iPhone X oder Alexa als Dinge, die man unbedingt besitzen muss, bewerben will. Es handelt sich hier um Symptome einer tiefer liegenden Sorge. Dieselben Personen, die ihre Unternehmen und ihr Land in die Zukunft bringen sollen, sind an der Welt merkwürdig desinteressiert. Mit neuen Trends will man sich, wenn überhaupt, dann nur theoretisch, aber nicht praktisch beschäftigen. Somit können sie in ihrer Bedeutung kaum erkannt werden. Das führt dazu, dass die Initiative und Entwicklung nicht aus unseren Reihen kommen.

Man kann einfach nicht das Pingpongspielen lernen, indem man nur ein Buch darüber liest. Man lernt nicht das Autofahren, indem man zahlreiche Videos auf YouTube schaut. Man lernt auch „Digital“ nicht, indem man lediglich Konferenzen zu digitaler Transformation besucht. Man muss schon selber den Pingpongschläger in die Hand nehmen und aktiv werden, sich hinter das Steuer eines Autos setzen und das neueste Smartphone oder einen Sprachassistenten und Ähnliches selbst verwenden – und das regelmäßig und für längere Zeit.

Diese aktive Neugier, die Leonardo so sehr vereinnahmte, scheint uns zumindest teilweise abhandengekommen zu sein. Und das hat vermutlich mit unserer Erziehung und dem nachhaltigen Einfluss der Religion zu tun. Der Philosoph Michel Foucault schrieb, die Tradition lehre uns, der Neugier – insbesondere der Neugier auf die Schöpfung – dürfe man nicht ungestraft frönen:4

Neugier ist ein Laster, das abwechselnd vom Christentum, von der Philosophie und sogar von bestimmten Auffassungen der Wissenschaft stigmatisiert wurde. Neugierde, Vergeblichkeit. Das Wort jedoch gefällt mir. Für mich suggeriert es etwas ganz anderes: Es evoziert „Besorgnis“; es evoziert die Sorgfalt, die man für das, was existiert und existieren könnte, aufbringt; eine Bereitschaft, das, was uns umgibt, seltsam und einzigartig zu finden; eine gewisse Bereitschaft, unsere Vertrautheit aufzubrechen und ansonsten die gleichen Dinge zu betrachten; eine Inbrunst, das, was geschieht und was vergeht, zu klassifizieren, eine Lässigkeit in Bezug auf die traditionellen Hierarchien des Wichtigen und Wesentlichen.

Ohne die digitale Anti-Renaissance abzuschütteln und sich für das moderne Äquivalent der Spechtzunge zu interessieren, werden wir weder unsere Unternehmen noch Europa in die Zukunft bringen, geschweige denn diese Zukunft mitgestalten können. Wir müssen selbst experimentieren und ausprobieren und uns nicht nur Konferenzwissen aneignen. Wir müssen die Angst vor dem Unbekannten abschütteln und neugierig sein. Leonardo beschäftigte sich mit Dingen, die uns trivial erscheinen mögen, aber selbst im Trivialen sind Erkenntnisse verborgen, die weitreichende Bedeutung haben.

Vor einiger Zeit besuchte ich eine lokale Messe in der kalifornischen Stadt Fresno. Hier, mitten in dieser von Agrarland umgebenen Kleinstadt, hält die aus Laos eingewanderte Hmong-Bevölkerung alljährlich ihre einwöchige Kulturfeier mit vielen Ausstellern ab. In einer Halle gab es den Stand eines örtlichen Fortbildungsinstituts, bei dem eine Lehrerin demonstrierte, wie man mit einem Lockenstab unterschiedliche Arten von Locken in das lange Haar des Models machen kann. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich das beobachtet. Eine leichte Drehung hier, ein längeres Pressen da – und die Locken waren entweder kurz und eng oder lang und voluminös. Werde ich das Wissen darüber je brauchen? Bei meinem Kurzhaarschnitt eher nicht. Aber wer weiß heute schon, wo diese Erkenntnis einmal praktisch oder als Metapher zum Einsatz kommen kann. Zumindest hier in diesem Buch konnte ich sie schon einmal als Beispiel anführen.

Das Funktionsdilemma

Die Bedeutung deines Lebens ist etwas, das du schaffst.

Noam Chomsky

Es ist ein regnerischer Novembertag, als ich mich auf den Weg zu einem Vortrag vor Studenten und Absolventen der Technische Universität München ins neu eingeweihte Werksviertel mache. In diesem Stadtentwicklungsgebiet, von dem aus die Pfanni-Knödelfabrik jahrzehntelang die Bundesrepublik mit Fertigknödeln belieferte, befinden sich heute Bürogebäude, schicke Container mit Weinbars sowie gleich neben einem Partydach Schafe und Hühner auf einer „Dachalm“. Dass die Tiere dort überhaupt sein dürfen, war nicht dem Münchner Veterinäramt zu verdanken, das sich nicht dazu äußern wollte, ob sich Hühner und Schafe überhaupt miteinander vertragen. Das Amt übertrug die Verantwortung den Betreibern, sie dort anzusiedeln. Bei jeder Party auf dem begrünten Dach der ehemaligen Fabrik kommen die Schafe neugierig an die Partyzone heran, staunen und lauschen.

Genauso lauschten und staunten vermutlich die Studenten bei meinem Vortrag über die Technologietrends in der Automobilbranche. Fahrerlose Autos navigieren heutzutage sicher durch die Straßen der San Francisco Bay Area. Ein Physikabsolvent hob nach dem Vortrag die Hand und erklärte überzeugt:

Ich habe ein Haus in den Bergen und im Winter ist das immer zugeschneit. Da muss ich zehn Kilometer über schneebedeckte Straße fahren, um dorthin zu gelangen. Das wird ein autonomes Auto nie können.

Das war im Jahr 2019, genau 50 Jahre nach der ersten bemannten Mondlandung. Das war einige Tage, nachdem die Voyager-2-Sonde unser Sonnensystem verlassen und endgültig in den interstellaren Raum vorgedrungen war. Das war Jahre, nachdem Menschen in 10.000 Metern Tiefe mit U-Booten und Tauchrobotern im Meer die Welt erkundet haben, nachdem wir Raumsonden auf andere Planeten und Monde in unserem Sonnensystem gesandt haben und wir mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf unserem eigenen Planeten fliegen können.

Dennoch ist ein Physiker der TU München felsenfest davon überzeugt, autonome Autos würden nie eine zehn Kilometer lange schneebedeckte Strecke zurücklegen können – von derselben TU, dessen Hyperloop-Team viermal in Folge den Wettbewerb zum schnellsten Hyperloop-Pod gewonnen hat und sogar eine eigene Teststrecke um München erhalten wird.

Ich könnte diese Behauptung als einen statistischen Ausreißer ignorieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein Physiker macht noch keine TU. Doch ist dies kein Einzelfall, denn gerade aus dem deutschsprachigen Raum kommen zu selbstfahrenden Autos immer wieder solche Reaktionen. Kritischer sehe ich solche Aussagen, wenn sie von Ingenieuren stammen. Menschen, die ausgebildet wurden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden, die dem Wohl der Menschheit dienen.

Wer erinnert sich nicht an die Prüfungsfragen in der Schule und an der Universität, die üblicherweise die Form von „Finde den Wert von x“ aufweisen? Ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Aufgabe die Prüflinge aufforderte, alle Gründe zu finden, warum etwas niemals funktionieren könne.

In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Beispielen zu Erfindungen und Innovationen aus der Vergangenheit befassen, die zeitgenössisch mit Skepsis oder sogar mit Warnungen vor dem moralischen Verfall der Gesellschaft aufgenommen worden waren. Oft zeichneten sich diese Erfindungen bereits ab. Dennoch fanden sich genügend „Expertenstimmen“, die das Streben nach der Lösung als vergebliche Liebesmüh und als etwas Widernatürliches bezeichneten. So druckte 1903 die New York Times unter der Schlagzeile „Flugmaschinen, die nicht fliegen“ („Flying Machines Which Do Not Fly“) zehn Wochen, bevor Wilbur und Orville Wright den ersten kontrollierten Flug mit einem Motorflugzeug erfolgreich absolvierten, eine Kolumne ab, die die bisherigen Fehlversuche als nichts Überraschendes darstellte.5

Wenn es also zum Beispiel tausend Jahre dauert, bis ein Vogel, der mit rudimentären Flügeln begonnen hat, für einen einfachen Flug geeignet ist, oder zehntausend Jahre für einen Vogel, der ohne Flügel begonnen hat und sie erst ausbilden musste, dann könnte man davon ausgehen, dass der Flugapparat, der tatsächlich fliegen wird, durch die gemeinsamen und kontinuierlichen Bemühungen von Mathematikern und Mechanikern in einer Million bis zehn Millionen Jahren entwickelt werden könnte – vorausgesetzt natürlich, dass wir inzwischen so kleine Nachteile und Unannehmlichkeiten wie das bestehende Verhältnis zwischen Gewicht und Festigkeit bei anorganischen Materialien beseitigen können.

Wie kommt es, dass gerade Technikexperten derart überzeugt davon sind, dass etwas nicht und niemals klappen wird? Und warum tendieren sie dazu, zuerst sämtliche Gründe aufzuzählen, warum etwas nicht funktionieren könnte? Ist unser Ausbildungssystem nicht eigentlich darauf ausgelegt, unsere Sinne darin zu schärfen und uns Werkzeuge an die Hand zu geben, Lösungen und Antworten zu finden? Wo also auf dem Weg vom Schüler, Studenten und Experten läuft da etwas schief?

Während die einen vor allem erklären, warum etwas nie klappen wird, befürchten die anderen, dass es zu gut klappen kann. Erstere agieren in einem Umfeld absoluter Sicherheit, die Letzteren hingegen leben in einem von Unsicherheit und Angst geprägten Umfeld.

Eine E-Mail, die ich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens über eine Informationsplattform erhielt, drückte das aus. Der Autorin ging es vor allem um ethische Fragen und listete eine Reihe von Gefahren auf: digitale Gesundheits-Apps, die eine Abhängigkeit von Arbeitgebern schafften; die Anfälligkeit von Patientendaten, die gehackt werden könnten und das Arztgeheimnis verletzten; künstliche Körperteile, die uns zu Cyborgs machten; Organspenden, die zu einem lukrativen illegalen Organhandel führen würden.

Dieser Angstfokus erinnert an den Film „Die Truman Show“, in der Jim Carrey den Versicherungsangestellten Truman Burbank spielt, der – ohne sich dessen bewusst zu sein – der Hauptdarsteller einer Realityshow ist, die sich um sein Leben dreht. Von seiner Geburt bis zu seinem Berufseinstieg lebt er in der unter einer Kuppel gelegenen künstlichen Seestadt Seahaven. Damit er nicht den Wunsch entwickelt, verreisen zu wollen, und so die Illusion verlässt, in der er sich unwissentlich befindet, ließen sich die Showproduzenten viele Tricks einfallen, um in ihm die Angst vor Reisen zu verstärken. So soll sein Vater (ebenfalls ein Schauspieler) angeblich bei einem Bootsunfall verstorben sein. Und als der inzwischen misstrauische Truman Burbank ein Reisebüro aufsucht, um eine Reise nach Fidschi zu buchen, wo seine ehemalige Freundin angeblich hingezogen war, sieht man an diesen Wänden eher ungewöhnliche Plakate. Diese warnen vor Terroristen, Krankheiten, Wildtieren, Banden und von Blitzen getroffene Flugzeuge.

Würden wir in ein Reisebüro gehen oder eine Reiseplattform benutzen, die uns vor allem auf einen möglichen, aber sehr unwahrscheinlichen katastrophalen Ausgang einer Urlaubsreise hinweist? Und weitergedacht: Würden wir zu einer Ärztin gehen, uns in ein Krankenhaus legen oder eine Gesundheitsplattform benutzen, wenn diese hauptsächlich den lukrativen Organhandel oder die Gefahren aufzeigt, dass unsere Patientenakten in falsche Hände fallen und wir durch Körperimplantate wie Herzschrittmacher oder Hörapparate zu willenlosen Werkzeugen anonymer Technologieunternehmen werden? Wie würden wir uns beim Griechen oder Italiener um die Ecke fühlen, wenn dieser uns zuerst auf die Gefahren von Ersticken am verschluckten Essen, vor Verbrühungen an Heißgetränken, Alkoholproblemen und tödlich endenden Erdnussallergien hinweisen und die Hintergrundmusik ständig von Warnungen unterbrochen werden würde?

Vermutlich gar nicht gut. Wir suchen doch eigentlich nach einer Lösung für ein bestehendes Problem, nicht nach weiteren Problemen, die dieses noch verstärken würden, ohne dass uns eine Lösung angeboten wird. Und das Problem, das wir lösen wollen, ist, wieder gesund zu werden, den Hunger zu stillen oder den wohlverdienten Urlaub anzutreten.

Aus evolutionärer Sicht ist unser Fokus auf bedrohliche Szenarien verständlich. Es haben diejenigen überlebt und ihre Gene weitergeben können, die dem Brüllen eines Tigers die sofortige notwendige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Heute, wo die Gefahr, einem Tiger zur Mahlzeit zu dienen, verschwindend gering geworden ist, reagieren unsere Affenhirne trotzdem immer noch wie vor Hunderttausenden von Jahren. Gefahren erhalten unsere sofortige Aufmerksamkeit, denn die richtige Antwort darauf garantierte unser Überleben.

Doch in einer modernen Welt kommen uns ebendiese so erfolgreich weitervererbten Gene in die Quere. Zehn Lösungen wiegen weniger schwer als ein Problem. Wir sehen vor allem die mit Rotstift markierten Fehler bei Klausuren, nicht die richtigen Antworten. Wir schießen uns auf ein gescheitertes Projekt ein und suchen nach den Schuldigen, anstatt kontrolliertes Scheitern zu ermöglichen und daraus für folgende Projekte zu lernen.

Damit sollen die Probleme nicht verharmlost werden. Datenschutz, die Auswirkungen von Körperimplantaten und Organhandel ebenso wie mögliche Risiken selbstfahrender Autos oder das Brandverhalten eines Elektroautos nach einem Unfall sind wichtige Themen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass viele dieser potenziellen Gefahren recht selten eintreten und oft auch nicht in dem Ausmaß, wie sie von Warnern an die Wand gemalt werden.

Wir werden darauf zurückkommen, wie Technologieinnovationen in der Vergangenheit zu ähnlicher Skepsis geführt haben. Heute, wo diese Technologien für uns selbstverständlich sind, erscheinen uns die damaligen Ängste absurd. Stattdessen traten seit der Einführung dieser Technologien andere Probleme als die befürchteten auf, die wiederum durch Fortschritte in der Technologie gelöst werden konnten.

Viele der Argumente aus der Vergangenheit ähneln denen, die den heutigen Technologien vorgeworfen werden. Waren es damals der Spiegel, der Lift, die Glühbirne oder das Radio, so sind das heute die künstliche Intelligenz, das Smartphone, soziale Medien oder das autonome Auto. Das ist dieses Funktionsdilemma, vor dem wir stehen. Wie viel Gutes und Schlechtes bringt uns die Technologie? Wir können Lehren aus der Vergangenheit ziehen, wie wir ein gutes Gleichgewicht zwischen den Chancen und Möglichkeiten und den Risiken und Gefahren bei der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien finden können.

Trotz aller auftauchenden Probleme dürfen wir die Gründe für die Entwicklung dieser Technologien nie aus den Augen verlieren. Mit jeder Innovation stellt sich diese Frage nicht nur aufs Neue, sie fordert uns auch immer wieder neu heraus zu erkennen, wo dieses Gleichgewicht des größten Nutzens für die Menschheit eigentlich liegt. Schon im Jahr 1947 beschäftigte sich der britische Autor W. H. Auden in seinem Gedichtband „The Age of Anxiety“ („Das Zeitalter der Ängste“) mit den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Suche des Menschen nach Inhalt und Identität.6 War es damals die Industrialisierung, so ist es heute unter anderem die Automatisierung durch künstliche Intelligenz, die ähnliche Fragen aufwirft.7 Was damals Ängste auslöste, wird heute als normaler Bestandteil unseres Alltags gesehen. Es fällt nur auf, wenn es nicht funktioniert oder wenn es nicht vorhanden ist.

Ein Land voller Moralunternehmer

Mancher findet nur darum ein Haar in jeglicher Suppe, weil er das eigene Haupt schüttelt, solange er isst.

Friedrich Hebbel

Was haben Regenschirme, Impfungen, Teddybären, Comics oder Spiegel gemein? Genau dieselbe Tatsache wie das Selfie, das Smartphone, das Elektroauto und der Walkman. Vor ihnen wurde – wie vor vielen anderen Erfindungen und Innovationen der Vergangenheit und der Gegenwart – von Moralunternehmern ausdrücklich gewarnt.

Moralunternehmer sind selbstberufene Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, vor den ihrer Meinung nach hauptsächlich negativen Auswirkungen neuer Technologien und Gesellschaftsmodelle zu warnen.8 Zur Begründung werden soziale, moralische und ethische Normen herangezogen, die gemäß den Moralunternehmern zu einer Auflösung der Gesellschaft, degenerierten Kindern, dem Verlust von Traditionen und Normen und generell einem Verfall von Zivilisation und Kultur führen würden.

So wurden Teddybären verteufelt, weil sie kleine Mädchen davon ablenken würden, sich auf eine Mutterschaft vorzubereiten. Bei Spiegeln wurde die Gefahr gesehen, dass Mädchen und Frauen sich den ganzen Tag nur mehr vor dem Spiegel betrachten würden. Man ersetze Spiegel durch Selfie und die Argumente sind dieselben. Jonas Hanway zog vor 250 Jahren in London mit seinem Regenschirm den Spott seiner Mitbürger auf sich. All diese Erfindungen waren widernatürlich und ein Zeichen des Sittenverfalls, der Verweichlichung der Gesellschaft und des zivilisatorischen Niedergangs.

Dass eine Erfindung widernatürlich sei, einem moralischen Normbruch gleichkäme und damit die Gesellschaft und die Menschheit den Bach runtergehe, ist ein wiederkehrendes Motiv über all die Jahrhunderte. Nichts vereint die Menschheit mehr über die Zeitenspanne als das Jammern über den Sittenverfall und die Jugend von heute.

Mag das bei den Älteren als Spleen durchgehen oder ironisch gemeint sein – oftmals nostalgisch verklärt –, so betrachten Moralunternehmer, die sogenannten „Merchants of Bad“ („Verkäufer schlechter Nachrichten“), das als ihren Job.9