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Als der Wissenschaftler Steve McCord in der abgeschiedenen Stadt Hellmouth ankommt, findet er ein vergessenes Paradies auf Erden. Die Menschen sind freundlich, das Leben ist ruhig und fern aller Hast und Nervosität. Nur eines wundert Steve: Auf der Landkarte existiert Hellmouth schon seit sechzig Jahren nicht mehr. Und mit panischem Schrecken erkennt er, dass er in einen Abgrund der Zeit geraten ist...
Der Roman Zwischen Gestern und Niemals des US-amerikanischen Schriftstellers Emil Theodore Petaja (* 12. April 1915 in Milltown, Montana; † 17. August 2000 in San Francisco) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.
Zwischen Gestern und Niemals erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
EMIL T. PETAJA
ZWISCHEN GESTERN
UND NIEMALS
- Galaxis Science Fiction, Band 49 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ZWISCHEN GESTERN UND NIEMALS
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Als der Wissenschaftler Steve McCord in der abgeschiedenen Stadt Hellmouth ankommt, findet er ein vergessenes Paradies auf Erden. Die Menschen sind freundlich, das Leben ist ruhig und fern aller Hast und Nervosität. Nur eines wundert Steve: Auf der Landkarte existiert Hellmouth schon seit sechzig Jahren nicht mehr. Und mit panischem Schrecken erkennt er, dass er in einen Abgrund der Zeit geraten ist...
Der Roman Zwischen Gestern und Niemals des US-amerikanischen Schriftstellers Emil Theodore Petaja (* 12. April 1915 in Milltown, Montana; † 17. August 2000 in San Francisco) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.
Zwischen Gestern und Niemals erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
Art Mackeys Päckchen mit dem Tonband hatte lange gebraucht, um Steve zu erreichen. Der Himmel mochte wissen, wie und wo Art es in dieser gottverlassenen Wildnis aufgegeben hatte!
Kriegsverletzungen hatten Steve von einem Krankenhaus zum anderen getrieben, sogar zum Berkeley-Forschungsinstitut und dann zurück zu seiner Heimatbasis, wo er einst jahrelang philosophisch-anthropologische Studien betrieben hatte. Schuld an diesen Klinikaufenthalten war ein Schrapnellsplitter im Frontalteil seines Großhirns. Eine leidige Erinnerung an Südostasien. Ein winziges Teilchen hatte sich hineingebohrt. Als man es gefunden hatte, war seine halbe Schädeldecke durch eine Silberplatte ersetzt worden – versehen mit diesen neuen unheimlichen Bionik-Kristall-Zellen, eigens für ihn im Labor entwickelt und maßgerecht eingepasst. Eine geniale Leistung in den Annalen der Gehirnchirurgie; aber Dr. Stephen H. McCord wollte jetzt endlich heraus.
Er blickte durch sein Fenster über den Presidio und den Golden Gate, pfiff vor sich hin und machte sich dann wieder ans Packen. Gott, was für ein Kram hatte sich in diesen acht Monaten Krankenhausaufenthalt angesammelt! Er wusste im Augenblick nicht, wie es weitergehen würde, doch er hatte nur einen Gedanken: Heraus! Irgendwohin! Er unterdrückte die beängstigenden Aussichten, dass er nun selbst über die täglichen Probleme nachdenken musste, und zwar mit seinem neuen, veränderten Gehirn!
Als er sein Rasierzeug aus dem Badezimmer holte, betrachtete er im Spiegel sein Gesicht. Er erschrak über sein hageres, gelbliches Aussehen; dabei hatte er doch oft genug unter der Höhensonne gelegen. Der Straßenanzug hing auf seinem mageren Knochengerüst. Etwas von dem liebenswerten Humor, der so gut zu seinen grünbraunen Augen gepasst hatte, war nicht mehr vorhanden, und der dunkle Haaransatz war gut zwei Zentimeter zurückgewichen. In seinem Gesicht gab es Furchen, die bisher auch noch nicht dagewesen waren. Keine bitteren Linien, aber auch keine lebensfrohen. Um seine normalerweise lächelnden Lippen war jetzt ein leicht zynischer Zug. Als ihm die Haarbürste aus der Hand fiel, blickte er auf die Hand herab. Verdammt noch mal, sie zitterte! Die Mediziner hatten gesagt, dass dieses Zittern allmählich verschwinden würde. Es war eine nervliche Reaktion, die unbewusste Furcht, dass sein Gehirn nicht mehr so rasiermesserscharf arbeiten würde wie früher.
Sie sind so gut wie neu, Doktor McCord, hatten sie gesagt. Sogar noch perfekter. Diese Silberplatte und die Kristallzellen werden Sie ohne weiteres überleben.
Beschützt mich auch vor Dämonen, wie?
Sie können von Glück sagen, dass die Bewegungszentren nicht beschädigt wurden, sagten sie.
Prächtig!
Steve hob die Bürste auf und fuhr damit über sein zottiges schwarzes Haar. Vorsichtig allerdings. Denn die Haare auf seinem Kopf waren sehr spärlich. Man hatte auch Haartransplantationen vorgenommen und gesagt, dass er in absehbarer Zeit wieder sein volles schwarzes Haar haben würde. Hatte man gesagt.
»Ein Päckchen für Doktor Stephen H. McCord!« Bill Brandt, das Nachrichtenblatt der Station C, platzte herein und schwenkte grinsend ein quadratisches flaches Päckchen. »Freut mich, dass ich Sie erwischt habe, Doktor! Sie sehen ja schrecklich aus in Ihrem Fischgrätentweed!«
»Danke. Was haben Sie da?«
»Keine Ahnung. Sieht wie eine unterernährte Pizza aus.«
»Sehr witzig.«
»Werden in Montana Pizzas angebaut?«
»Montana?« Steve nahm das ramponiert aussehende Päckchen an sich und las die verwischten Worte: Zu Händen des Postamtsvorstehers, Missoula, Montana. Er runzelte die Stirn.
»Wer ist Art Mackey?«, fragte Bill vergnügt. Sie waren Freunde geworden, und die meisten Patienten von der US-Army und der US-Marine hatten nichts dagegen, wenn Bill sich in ihre Angelegenheiten mischte.
»Art? Ein alter Kamerad. Ich lernte Art Mackey auf der Universität kennen. Ein großer blonder Finne. Ich habe Ihnen schon von ihm erzählt und mir schon lange die Frage gestellt, ob er sich endlich zum Schreiben aufraffen würde.«
»Ja, richtig! Ich erinnere mich an ihn. War vor einigen Jahren ein großer Footballstar. Merkwürdig, dass Sie so gut mit ihm befreundet sind. Ich meine, er ein Footballspieler und Sie ein Eierkopf – Wissenschaftler, wollte ich sagen.«
Steve lächelte. »Ich habe eine Schwäche für Football. Ich suchte Art auf, als ich meine Dissertation Eine Studie der uralaltaischen Sprachengruppe schrieb. Ich brauchte den Ratschlag eines Finnen, als ich die Kalevala-Sagen im Original durchackerte. Und Art Mackey war der einzige Finne, der perfekt Suomi sprach.«
»Wie kommt das?«
»Arts Familienangehörige lebten zwar in Montana, doch sein Vater hielt ihn bezüglich der finnischen Sprache auf dem laufenden, bis er starb.«
»Ich ging einmal mit einem finnischen Mädchen«, sagte Bill Brandt. »Aber Mackey klingt nicht gerade sehr finnisch. Die meisten finnischen Namen haben an die zehn Silben und hören sich an, als ob man mit den Zähnen Nüsse knackt.«
»Wahrscheinlich hießen sie einmal Makki. Ich hörte diesen Namen, als ich im Sommer vor meiner Einberufung Lappland besuchte. Dass mir in Süd-Ost-Asien Art wieder über den Weg lief, war das einzig Gute an der Sache.«
»Und Art hat Ihnen das Leben gerettet, nicht wahr?«
»Ja. Ich hatte keinen medizinischen Grad, aber eine vormedizinische Ausbildung, bevor ich mich anthropologischen Forschungen zuwandte. Ja, es war Art Mackey. Ich war bei der Ambulanz und kam dem Brennpunkt des Kampfgeschehens zu nahe. Mein Jeep fuhr auf eine Mine. Art zog mich unter dem Wrack hervor und sorgte für meine Sicherheit.«
»Sie verdanken Mackey Ihr Leben. Kein Wunder, dass Sie auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet haben.«
Steve öffnete das flache Päckchen: »Es ist ein Tonband. Ich schenkte Art ein Gerät. Er ist ausgesprochen schreibfaul, und ich dachte, er würde vielleicht mal ein Band besprechen. Vor zwei Monaten habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.«
»Und wohin führte sein Weg?«
»Nach Hellmouth.«
»Hellmouth?«
»Das finden Sie auf keiner Karte. Es liegt irgendwo in den Bergen. Eine Art Holzfällerstadt. Wie diese kleinen Sägewerke im Humboldt-Bezirk.«
»Warum hat Art sich in so eine Sackgasse wie Hellmouth verlaufen?«
»Wegen eines Mädchens.«
»Eine hübsche blonde Finnin vermutlich, wie?«
»Ilma ist wirklich ein hübsches Mädchen, das stimmt. Sie wohnte zwei Jahre in San Francisco. Balletttänzerin. Art pflegte mir ein paar Bruchstücke ihrer Briefe vorzulesen. Dann hörte er nichts mehr von ihr, als sie nach Montana zurückkehrte, um sich um ihren Vater zu kümmern.«
»Ein Rätsel, was?«
Steve furchte die Stirn und nickte. »Ihr Vater und ihr älterer Bruder Yalmar leben auf einer Farm außerhalb von Hellmouth. Als Ilma dreizehn Jahre alt war, schickte sie ihr Vater nach Astoria zu ihrer Tante, um ihr eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Als die Tante starb, trat Ilma in eine kleine Ballettgruppe ein und war für eine Spielzeit beim San-Francisco-Ballett engagiert. Sie war gut. Sehr gut. Aber...«
»Ja?«, fragte Bill dazwischen.
»Ihr passierten merkwürdige Dinge. Unfälle. Ging sie allein am Strand spazieren, rutschte plötzlich ein Stück Klippe unter ihren Füßen hinweg. Oder der merkwürdige Sturm an einem Sonntagvormittag, als sie mit Freunden in der Bucht segelte. – Es ist anzunehmen, dass Ilma in die Gefilde ihrer Kindheit zurückeilte. Ganz abgesehen davon, dass ihr Vater alt und krank war.«
»Zurück zu der alten Farm, auf der noch nie etwas passiert war.«
»Vielleicht kann man das sagen. Aber warum hat sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr an Art geschrieben? Sie warteten doch nur auf seine Entlassung aus der Army, damit sie heiraten konnten. Warum schrieb sie ihm in allen diesen Monaten nicht?« Steve betrachtete nachdenklich die straff gewickelte Tonbandspule in seiner Hand.
»Nun, Sie wissen ja, wie das in diesen Hinterwäldlerstädten ist. Soll ich irgendwo ein Tonbandgerät leihen? Dann könnten wir dem alten Art ein wenig zuhören, wie?«
Steve zuckte die Achseln und schüttelte dann den Kopf. »Tut mir leid, aber ich möchte erst einmal von hier verschwinden. Ich habe eine Menge zu erledigen.«
»So?« Bill Brandt glaubte ihm das nicht und machte keinen Hehl daraus. »Okay... Aber lassen Sie mich wissen, was aus der Sadie geworden ist. Versprochen?«
Steve versprach es ihm.
Es war später Vormittag. Er stand auf der Straße und wusste nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Er hatte keine Angehörigen; seine Freunde von der Universität hatten alle möglichen Berufe ergriffen und waren in alle Winde verstreut. In drei Jahren konnte so etwas passieren. Es war Oktober geworden. Einer von jenen sonnigen, klaren Tagen. Man konnte weit auf die Bucht hinausblicken; die Berge von Marin zeichneten sich grau und verschwommen am Horizont ab.
Er stieg in ein Taxi, blickte durch das Seitenfenster, sah Fort Mason und die glänzenden Boote im Jachthafen von St. Francis, die er – im Gegensatz zu Fort Mason – mit einem neidischen Blick bedachte.
Wohin? Jetzt war die gefürchtete Frage bereits aufgetaucht! Arts Tonbandspule brannte förmlich ein Loch in seine Tasche – aber wo sollte er das Band abspielen?
»Fahren Sie zu Tonys Restaurant in North Beach«, sagte er zu dem Fahrer. »Wissen Sie, wo das ist?«
Der Fahrer wusste es. Steve hatte Ilma bei Tony getroffen. Jener letzte Abend war noch klar und deutlich in seinem kriegsbeschädigten Gehirn, als das Taxi auf die Bucht Zufuhr, die scharfe Rechtskurve nahm und zwei Blocks weiter vor dem Restaurant hielt – ein bescheidenes Restaurant, dessen Name noch nie auf der Liste der besten gestanden hatte, wofür ihm die Stammgäste nur dankbar waren. Das Essen war hervorragend, die Drinks erstklassig und reichlich, die Aussicht auf den Fischerhafen, auf Alcatraz und Angel Island war herrlich. Es hätte gar nicht besser sein können.
Steve und Art hatten bei ihrem letzten gemeinsamen Abendessen mit dem jungen Tony zusammengesessen. Er war deshalb der junge Tony – in Wirklichkeit war er in den Fünfzigern, weil der alte Tony, sein Vater, Mitte Achtzig war. Dann wurde Art nach Übersee verfrachtet, Steve folgte ihm wenig später.
Er stieg jetzt aus, zahlte und ging die Treppe hinunter. Ein Mann mit einem Schnurrbart fegte mit einem Besen den Platz vor dem Eingang. Steve war zumute wie bei einer Heimkehr – und Tonys Restaurant war für ihn so was Ähnliches wie ein Zuhause.
»Nicht geöffnet«, grunzte der Schnurrbärtige. »Noch nicht«, fügte er hinzu.
»Ich weiß, aber ich bin ein Freund von Tony. Ist er in der Nähe?«
»In der Küche.«
Tony Baccigaluppis rundliche Gestalt schlängelte sich an den Tischen mit den aufgestapelten Stühlen vorbei und blickte zum Eingang. Er holte schon Luft, um den Eindringling hinauszuscheuchen, stieß aber stattdessen einen Willkommensschrei aus, als er ihn erkannte.
»Doktor Stephano! Nett von Ihnen, dass Sie den alten Tony besuchen kommen!« Er hüpfte so behände wie ein Balletttänzer über die noch vom Aufwischen nassen Fliesen. »Ich hörte von der Operation. Wie geht’s Ihnen, Doktor? Und wie geht’s dem großen Footballstar Arturo?« Er wischte seine fettigen Hände an der großen Schürze ab, griff nach Steves rechter Hand und bewegte sie wie einen Pumpenschwengel.
»Mir geht’s den Umständen entsprechend gut, Tony. Und was macht die Familie?«
Tony zog eine Grimasse und schimpfte auf die Jugend von heute, während er Steve zu seiner Lieblingsnische zog, von der man den besten Ausblick hatte. Immer weiterredend, holte er die Familienkaffeekanne und zwei riesige italienische Tassen.
»Erzählen Sie mir jetzt, was man mit Ihnen angestellt hat, Doktor. Ja, ich höre noch Ihre Unterhaltung mit Arturo. Und Arturo hatte ja in Footballkreisen einen großen Namen. Und Sie studierten damals Medizin...«
»Ich eignete mich nur nicht dazu«, sagte Steve. »Wie dem auch sei, ich warf mich auf die Anthropologie und bin froh darüber.«
Tony lachte kehlig. »Nun sind Sie wieder da. Wo ist denn Ihr Kollege? Arturo, der fliegende Finne?«
Steve lächelte. »Art Mackey ist nach Montana gereist, um... Sie erinnern sich doch an unsern letzten Abend, Tony?«
»Ja.«
»Art und ich saßen genau hier und warteten auf Ilma. Sie hatte eine Nachtprobe im Opernhaus, und als sie schließlich kam, da war sie...«
»Strahlend! Als hätte sie was Schönes geträumt. Sie war noch immer in ihrem Kostüm. Grün – blassgrün. Und sie trat aus dem Nebel ein wie eine Nymphe. Und als sie ihren Samtumhang zurückschlug... Das Haar fiel über ihre Schultern wie gesponnenes Gold. Und ob ich mich daran erinnere, und ob!«
Auch Steve sah im Geiste Ilma ins Restaurant treten. Ihre großen silberblauen Augen suchten das lärmende, raucherfüllte Restaurant ab. Sie sah Art und lächelte. Wie sich die ganze Welt plötzlich veränderte... Eine Waldnymphe, hatte Steve sofort gedacht. Ilma Halvor war ein Traumgeschöpf aus alten Zeiten.
»...und wenn sie das Vogelmädchen in dem neuen Ballett Green Mansions tanzte, war jeder der Meinung, dass sie einmal ganz groß herauskommen würde. Die Kritiker meinten, von ihr ginge etwas Übernatürliches aus, und ich glaubte es ihnen. Und dann verließ sie plötzlich das Ballett. Ganz plötzlich. Und verschwand! Warum eigentlich?« Tonys kunstbegeisterte Seele war durch eine derartige Pflichtvernachlässigung verletzt.
»Sie kehrte nach Hellmouth zurück. Ihr Vater brauchte sie«, erklärte Steve. »Izza Halvor ist schon sehr alt. Sehr alt. Und krank. Es gibt da auch einen Bruder, wie Art mir erzählte. Yalmar. Ein Bursche, der ein bisschen sonderbar ist. Wandert oft in den Bergen herum. Er ist Ilma ergeben, aber mit seinem alten kranken Vater kann er nicht viel anfangen.«
»Und so verkroch Ilma sich wieder im Wald. Was für eine Talentverschwendung, kann ich da nur sagen!« Tony seufzte.
»Möglich, dass sie wieder zur Bühne zurückkehrt«, sagte Steve. »Art ist jetzt dort.« Er blickte durch das Fenster in den grellen Sonnenschein hinaus.
»Stimmt etwas nicht, Doktor?«
Steve zuckte wieder die Achseln. »Nicht, dass ich wüsste, Tony. Aber Art hatte seit über einem Monat nichts mehr von ihr gehört.«
»Sind eben diese Hinterwäldlerstädte«, meinte Tony. »Wie wird eigentlich die Post nach Hellmouth befördert? Mit Packeseln vielleicht?«
Steve grinste unschlüssig. »Tatsache ist jedenfalls, dass ich gerade einen Tonbandbrief von Art bekommen habe.«
»Und?«
»Ich habe das Tonband noch nicht abgespielt.« Steve nahm die Spule aus dem flachen Karton. »Ich habe mir ein Transistorgerät besorgt. Haben Sie was dagegen?«
»Bewahre.«
Steve zog den kleinen Recorder aus dem Lederetui und legte Arts Tonbandspule ein. Die Plastikspule wackelte ein wenig, fing sich dann aber und rastete ein.
Tony beugte sich über den Tisch und spitzte die Ohren. Steve wollte die Spule jedoch noch nicht ablaufen lassen. Er musste erst wissen, was Art zu sagen hatte – und er konnte Tony schlecht wegschicken. Der Zufall kam ihm zur Hilfe, denn Tonys Frau rief von der Küche her, dass es fast elf Uhr und immer noch nichts getan sei. Tony stieß einen italienischen Fluch aus, stand aber auf und begab sich widerwillig in die Küche.
Steve wartete, bis die Schwingtüren hinter Tonys breitem Rücken zuschlugen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, trank einen Schluck Kaffee und schaltete das Tonbandgerät ein.
»Hallo, Doktor! – Schon über dem Berg?«
Art Mackeys Bariton klang ein, zwei Oktaven höher und ein wenig gepresst. Oder lag es an dem kleinen Lautsprecher? Oder bildete sich Steve das nur ein? Art war immer ein gemütlicher Bursche gewesen, der die Dinge nahm, wie sie kamen. Und so hörte sich normalerweise auch seine Stimme an, breit und getragen. Aber dieses Hallo, Doktor! hörte sich irgendwie verkrampft und an den Haaren herbeigezogen an. Es stimmte nicht mit Arts Persönlichkeit überein.
»Ich hoffe, dass die Silberplatte und die Kristallzellen dir keinen Anlass zur Klage geben...«
Es folgte die übliche Einleitung, die üblichen phrasenhaften Redewendungen. Dann hatte Steve das Gefühl, als säße ihm Art gegenüber auf dem Stuhl, auf dem Tony noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Art sprach von seiner Tätigkeit und schilderte seine Gedanken so ehrlich und geistvoll, dass jene Gesellschaftsklassen, die Wert auf eine gepflegte und umständliche Konversation legten, einigermaßen ratlos gewesen wären.
»Als ich nichts mehr von Ilma hörte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Du weißt, was mir ihre Briefe bedeuteten! Ich kenne ihren Vater, den alten Izza. Ein wunderbarer, derber alter Bursche mit einem feuerroten Bart. Er ist bis obenhin angefüllt mit alten Geschichten über Wassernymphen und Waldtrollen. Und er glaubt diese Geschichten beinahe alle, Steve! Ich denke, sein Wesen hat auch Ilma geprägt ihre dryadenhafte, halb scheue, halb animalische Aura, wenn man so sagen kann. Ihr Wesen und ihr Leben in dieser gottverlassenen Wildnis. Und dann ist da Yalmar...«
»Was ist mit Yalmar?«, murmelte Steve, als eine Pause folgte. »Yalmar ist so hässlich wie Ilma schön ist, Steve. Er hat einen Buckel, lange Arme wie ein Affe und O-Beine. Ich denke, deshalb treibt er sich auch gern mit einem Gewehr in den Bergen herum und legt sich mit den Bewohnern von Hellmouth an. Yalmar ist Ilma absolut treu ergeben und verehrt sie wie eine Göttin. Er ist etwas älter als sie, jetzt ungefähr dreißig Jahre, schätze ich. Er hat nicht mehr mit Izza gesprochen, als er erfuhr, dass Ilma zur Schule gehen würde. Er verließ einfach die Farm, stieg in die Berge und hielt sich dort wochenlang auf. Er ist schon seltsam, dieser Yalmar. Darum kam Ilma auch nach Hellmouth zurück. Darum und wegen dem, was geschah. Diese merkwürdigen Unfälle...«
Wieder eine Pause und ein saugendes Geräusch, dem ein mehrmaliges Klopfen folgte: Art setzte seine Pfeife in Brand.
»Erzähle schon weiter, Art«, sagte Steve.
»Ich möchte dir zunächst ein wenig von diesem Tal erzählen. Es ist wild hier oben. Wild und schön. Und völlig isoliert. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts importierte ein Schwede namens Lars Swenson eine ganze Schiffsladung Finnen aus Oulu, die ihm beim Bau der Stadt helfen sollten. Grubenhölzer wurden für die Minen gebraucht – die Goldminen um Helena. Es war auch Silber vorhanden. Und Kupfer, eine Menge Kupfer. Swenson hatte den Plan, das Sägewerk dort zu bauen, wo der Wald am dichtesten war. Das Land war damals schwer zugänglich, aber das galt für das ganze Territorium der Schwarzfußindianer. Fische und Wild waren reichlich vorhanden, und die Finnen, die Swenson ins Land geholt hatte, waren die langen kalten Winter gewöhnt. Die Errungenschaften der Zivilisation sagten ihnen kaum etwas. Außerdem waren sie ungemein tüchtige Arbeiter, grundehrlich dazu, und sie kannten sich in der Qualität der Hölzer genauestens aus. Die Holzverarbeitung war ja schon immer die Schlüsselindustrie Finnlands.
Hallo, ich rede ja wie ein Geschichtsbuch, was? Aber man könnte schon ein ganzes Buch darüber schreiben, wie Swenson seine kleine Gruppe finnischer Einwanderer hier heraufbrachte und die Stadt und sein Sägewerk in einer Gegend baute, welche von den Schwarzfußindianern als Teufelsland bezeichnet wurde. Er legte am Flussufer ein Schmalspurgleis an, das bis zum Wasserfall am Swan Lake führte. Die Finnen waren mit ihrem Los zufrieden. Sie liebten im Wesentlichen die Einsamkeit. Doch manchmal begaben sich jüngere Leute auf die Wanderschaft und kamen nie wieder zurück. Die älteren Leute blieben.
Selbst als die Anaconda-Copper-Gesellschaft die kleinen Sägemühlen aufkaufte und ein großes Holzverarbeitungswerk anlegte, das rationeller arbeitete als die vielen kleinen Mühlen zusammen, blieben die Hellmouth-Finnen. Wieder die älteren Leute. Mein Vater zählte damals zu den jüngeren Leuten, die wegzogen, als die Mühle schloss. Swensons Traum war nach nur zwanzig Jahren geplatzt. Gewiss, die Kupferminen und die neuen Häuser in den geschützten Bitterroot-Tälern und um Missoula herum brauchten nach wie vor Holz, aber der Anaconda-Copper-Gesellschaft gehörten jetzt alle Minen, und sie konnte das Holz rascher und billiger besorgen als Swenson’s Folly. So kehrte Lars Swenson verbittert in seine alte Heimat zurück und starb dort als armer Mann.
Aber die Finnen blieben!