Galgendieb - Bernard Cornwell - E-Book

Galgendieb E-Book

Bernard Cornwell

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Beschreibung

Von seinem verblassenden Ruhm als Held bei Waterloo kann sich Rider Sandman im London des Jahres 1817 leider nichts kaufen. Aus schierer Not übernimmt er einen Auftrag des Innenministers: Er soll routinemäßig die Hintergründe eines Todesurteils prüfen. Der Fall: eine Dame von Adel, vergewaltigt und anschließend erstochen, Täter war angeblich ein junger Maler. Dass der aber freiwillig keine Frau anfassen würde, wird Sandman schnell klar. Nur wer war es dann? Die Tote hatte ein exotisches Vorleben als Schauspielerin – mit vielen Verehrern und noch mehr Feinden. Sandman fügt Puzzleteil an Puzzleteil und steht irgendwann vor der Türe des Seraphim's Club. Herren aus allerhöchsten Kreisen verkehren darin. Und was sie dort treiben, weiß keiner. Ein wunderbarer Roman aus dem London der Regency-Zeit, spannend, vor Leben sprühend, einfach großartig.

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Seitenzahl: 492

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Bernard Cornwell

Galgendieb

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Von seinem verblassenden Ruhm als Held bei Waterloo kann sich Rider Sandman im London des Jahres 1817 leider nichts kaufen. Aus schierer Not übernimmt er einen Auftrag des Innenministers: Er soll routinemäßig die Hintergründe eines Todesurteils prüfen. Der Fall: eine Dame von Adel, vergewaltigt und anschließend erstochen, Täter war angeblich ein junger Maler. Dass der aber freiwillig keine Frau anfassen würde, wird Sandman schnell klar. Nur wer war es dann?

 

Die Tote hatte ein exotisches Vorleben als Schauspielerin – mit vielen Verehrern und noch mehr Feinden. Sandman fügt Puzzleteil an Puzzleteil und steht irgendwann vor der Türe des Seraphim’s Clubs. Herren aus allerhöchsten Kreisen verkehren darin. Und was sie dort treiben, weiß keiner.

 

Ein wunderbarer Roman aus dem London der Regency-Zeit, spannend, vor Leben sprühend, einfach großartig.

Über Bernard Cornwell

Bernard Cornwell, geboren 1944, machte nach dem Studium Karriere bei der BBC. Nach Übersiedlung in die USA entschloss er sich, einem langgehegten Wunsch nachzugehen, dem Schreiben. Im englischen Sprachraum gilt er als unangefochtener König des historischen Abenteuerromans. Bernard Cornwells Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt, die Gesamtauflage liegt bei mehr als 20 Millionen Exemplaren.

Für Antonia und Jef

Prolog

Sir Henry Forrest, Bankier und Ratsherr der Stadt London, musste würgen, als er den Presshof betrat, so grauenhaft war der Gestank, schlimmer als die üblen Dünste der Abwässer, die aus dem Fleet Ditch in die Themse rannen. Es war ein Gestank wie aus den Jauchegruben der Hölle, ein atemraubender Modergeruch, der einem die Tränen in die Augen trieb. Unwillkürlich prallte Sir Henry zurück, drückte sein Taschentuch vor die Nase und hielt den Atem an aus Angst, sich übergeben zu müssen.

Sir Henrys Führer kicherte: «Ich merke den Geruch gar nicht mehr, Sir, aber ich schätze, auf seine Art ist er verteufelt schlimm, verteufelt schlimm. Passen Sie auf die Stufen auf, Sir, Vorsicht.»

Behutsam ließ Sir Henry das Taschentuch sinken und zwang sich zu fragen: «Woher kommt der Name Presshof?»

«Früher hat man hier die Gefangenen ausgepresst, Sir. Zerquetscht, Sir. Mit Steinen beschwert, Sir, um sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Das machen wir heute nicht mehr, Sir, leider, darum lügen sie auch wie die indischen Teppichhändler, Sir, wie die indischen Teppichhändler.» Der Führer, ein dicker Gefängniswärter, trug eine Lederhose, eine fleckige Jacke und einen kräftigen Knüppel. Er lachte. «Hier drinnen gibt es nicht einen Schuldigen, Sir, nicht wenn Sie sie selbst fragen!»

Sir Henry bemühte sich, so flach zu atmen, dass er die üble Mischung aus Gestank, Schweiß und Moder nicht riechen musste. «Gibt es hier sanitäre Anlagen?», erkundigte er sich.

«Ganz modern, Sir Henry, ganz modern. Newgate hat richtige Kanalisation, Sir. Wir verwöhnen sie, wirklich, aber sie sind dreckige Viecher, Sir, dreckig. Sie beschmutzen ihr eigenes Nest, Sir, das machen sie, sie beschmutzen ihr Nest.» Der Wärter verschloss und verriegelte das Tor, durch das sie eingetreten waren. «Die zum Tode Verurteilten können sich über Tag frei im Presshof bewegen, Sir», erklärte er, «außer an Feiertagen und Festtagen wie heute.» Sein Grinsen verriet Sir Henry, dass es als Scherz gemeint war. «Da müssen sie warten, bis wir fertig sind, Sir. Wenn Sie nach links gehen, treffen Sie Mister Brown und die anderen Herren im Aufenthaltsraum.»

«Aufenthaltsraum?», fragte Sir Henry.

«Wo die Verurteilten sich über Tag aufhalten, Sir», erklärte der Schließer, «außer an Feiertagen und Festtagen wie heute, Sir, und hinter den Fenstern da links sind die Salzkisten, Sir.»

Am Ende des langen, schmalen Hofes sah Sir Henry auf drei Stockwerken fünfzehn vergitterte Fenster, klein und dunkel. Die Zellen, die sich dahinter verbargen, wurden Salzkisten genannt. Warum sie diesen Namen trugen, wusste er nicht, wollte aber auch nicht fragen, um den Wärter nicht zu weiteren groben Scherzen zu verleiten. Allerdings wusste Sir Henry, dass man die fünfzehn Salzkisten auch als Wartezimmer des Teufels und Vorhölle bezeichnete. Es waren die Todeszellen von Newgate. Ein zum Tode Verurteilter, von dem hinter den dicken Gitterstäben nur die Augen als mattes Schimmern zu erkennen waren, starrte Sir Henry an, der sich umdrehte, als der Schließer die schwere Tür zum Aufenthaltsraum öffnete. «Sehr verbunden, Sir Henry, sehr verbunden.» Zum Zeichen seiner Ergebenheit tippte der Wärter sich mit dem Knöchel an die Stirn, als Sir Henry ihm als Dank für sein Geleit durch das Labyrinth der Gefängniskorridore einen Shilling in die Hand drückte.

Sir Henry trat in den Aufenthaltsraum, wo ihn der Gefängnisverwalter William Brown begrüßte, ein verhärmter Mann mit Glatze und schweren Hängebacken. Neben ihm stand, salbungsvoll lächelnd, ein untersetzter Priester in altmodischer Perücke, Soutane, fleckigem Chorrock und Beffchen. «Erlauben Sie mir, Ihnen den Ordinarius vorzustellen», erklärte der Gefängnisverwalter. «Das ist Reverend Doktor Horace Cotton. Sir Henry Forrest.»

Sir Henry nahm seinen Hut ab. «Zu Ihren Diensten, Doktor Cotton.»

«Zu Ihren Diensten, Sir Henry», antwortete Doktor Cotton übertrieben nach einer tiefen Verbeugung. Die altmodische Perücke des Ordinarius bestand aus drei plumpen Wollbüscheln, die sein käsiges Gesicht rahmten. Auf seiner linken Wange prangte ein nässender Pickel, und zum Schutz gegen den Gefängnisgestank hatte er sich einen kleinen Strauß Blumen unmittelbar oberhalb des Beffchens um den Hals gebunden.

«Sir Henry ist in Amtspflichten hier», vertraute der Gefängnisverwalter dem Priester an.

«Ach!» Doktor Cottons Augen weiteten sich, als wolle er andeuten, dass Sir Henry ein seltener Genuss bevorstünde. «Ist das Ihr erster Besuch dieser Art?»

«Ja», gestand Sir Henry.

«Ich bin überzeugt, Sie werden es erbaulich finden, Sir Henry», sagte der Priester.

«Erbaulich!» Sir Henry fand diese Wortwahl unangemessen.

«Diese Erfahrung hat manche Seele zu Christus bekehrt», erklärte Doktor Cotton streng, «wahrhaftig, zu Christus bekehrt!» Lächelnd verbeugte er sich, als der Gefängnisverwalter Sir Henry zu den anderen sechs Besuchern führte, die zum traditionellen Newgate-Frühstück erschienen waren. Beim letzten dieser Gäste, Matthew Logan, bedurfte es keiner Vorstellung, da er und Sir Henry alte Freunde waren. Als Ratsherren galten die beiden heute Morgen als Ehrengäste, denn die Ratsversammlung war der offizielle Dienstherr des Gefängnisses Newgate. Verwalter und Ordinarius des Gefängnisses, deren Gehälter von den Ratsherren festgelegt wurden, drängten den beiden Herren Kaffee auf, aber beide lehnten ab. Logan nahm Sir Henrys Arm und führte ihn an den Kamin, wo sie ungestört vor glimmenden Scheiten und rauchender Asche einige Worte miteinander wechseln konnten.

«Bist du sicher, dass du dir das ansehen möchtest?», fragte Logan seinen Freund besorgt. «Du siehst verflixt blass aus.»

Sir Henry war ein gut aussehender Mann, groß, schlank, von gerader Haltung und klugen, anspruchsvollen Zügen. Er war ein reicher, erfolgreicher Bankier. Sein vorzeitig ergrautes Haar – sein fünfzigster Geburtstag lag erst wenige Tage zurück – verlieh ihm etwas Distinguiertes. Als er nun vor dem Kamin im Aufenthaltsraum des Gefängnisses stand, wirkte er jedoch alt, gebrechlich, ausgemergelt und kränklich. «Das liegt an der frühen Morgenstunde, Logan», erklärte er, «so kurz nach Tagesanbruch bin ich nie in bester Verfassung.»

«Schon.» Logan gab vor, der Erklärung seines Freundes Glauben zu schenken. «Aber nicht jeder ist für diese Erfahrung geschaffen, obwohl ich sagen muss, dass das Frühstück im Anschluss sehr gut ist. Scharfe Nierchen. Ich bin schon zum zehnten oder elften Male hier, und das Frühstück hat mich noch nie enttäuscht. Wie geht es Lady Forrest?»

«Florence ist wohlauf, danke der Nachfrage.»

«Und deiner Tochter?»

«Eleanor wird ihren Kummer sicher überleben», erklärte Sir Henry trocken. «An gebrochenem Herzen ist noch niemand gestorben.»

«Außer in Gedichten?»

«Verdammte Gedichte, Logan», sagte Sir Henry lächelnd. Er hielt seine Hände ans Feuer, das darauf wartete, wieder zu Leben erweckt zu werden. Die Gefangenen hatten ihre Töpfe und Kessel seitlich daneben gestapelt, ein Häufchen angekohlter Kartoffelschalen kräuselte sich in der Asche. «Arme Eleanor», sagte Sir Henry, «wenn es nach mir ginge, würde ich sie heiraten lassen, Logan, aber Florence will nichts davon hören. Vermutlich hat sie recht.»

«Mütter wissen meist in solchen Dingen am besten Bescheid», antwortete Logan leichthin. Das leise Gemurmel im Raum erstarb, und die Gäste wandten sich einer verriegelten Tür zu, die sich plötzlich mit schrillem Quietschen geöffnet hatte. Einen Herzschlag lang erschien niemand, und alle Gäste hielten offenbar den Atem an, bis unter hörbarem Aufseufzen ein Mann mit einer dicken Ledertasche hereinstapfte. Nichts an seinem Äußeren rechtfertigte dieses Seufzen. Er war untersetzt, hatte ein gerötetes Gesicht und trug braune Gamaschen, eine schwarze Kniebundhose und einen schwarzen Rock, der sich über seinem vorgewölbten Bauch spannte. Respektvoll zog er einen schäbigen braunen Hut, als er die wartenden Adeligen bemerkte, entbot ihnen aber keinen Gruß und wurde auch von keinem der Anwesenden gegrüßt.

«Das ist Mister James Botting, bekannter unter dem Namen Jemmy», erklärte Logan Sir Henry verhalten.

«Der Antragsteller?», fragte Sir Henry leise.

«Ebender.»

Sir Henry unterdrückte ein Schaudern und mahnte sich, einen Menschen nicht nach seinem Äußeren zu beurteilen, obwohl es schwerfiel, keinen Anstoß an der Hässlichkeit eines James Botting zu nehmen, dessen Gesicht von Warzen, Grützbeuteln und Narben entstellt war. Seine Glatze war umgeben von einem Kranz glatter brauner Haare, die ihm über seinen ausgefransten Kragen fielen, und wenn er Grimassen schnitt, was er aus einer nervösen Angewohnheit alle Augenblicke tat, zeigte er gelbe Zähne in geschwundenem Zahnfleisch. Mit seinen großen Händen schob er eine Bank von einem Tisch fort, auf dem er seine Ledertasche abstellte. Wohl wissend, dass die Gäste ihn schweigend beobachteten, öffnete er die Schnallen seiner Tasche und holte acht Docken dünner weißer Kordel heraus. Sorgfältig ordnete er sie in einer Reihe auf dem Tisch an, jeweils in gleichen Abständen zueinander. Als Nächstes zog er mit der Miene eines Zauberkünstlers vier weiße Baumwollsäcke hervor, jeder etwa einen Fuß lang und breit, legte sie zu den Kordelstücken und holte zuletzt, nachdem er sich mit einem verstohlenen Seitenblick vergewissert hatte, dass man ihm zusah, vier kräftige dreifache Hanfseile heraus. Jedes Seil sah aus, als sei es zehn bis zwölf Fuß lang, war an einem Ende zu einer Schlinge gebunden und am anderen zu einer Öse gesplissen. James Botting legte die Seile auf den Tisch und trat zurück. «Guten Morgen, Gentlemen», sagte er.

«Ach, Botting!» William Brown, der Gefängnisverwalter, sprach in einem Ton, als habe er Botting gerade erst bemerkt. «Einen schönen guten Morgen wünsche ich Ihnen.»

«Das ist es, wahrhaftig, Sir», sagte Botting. «Ich dachte schon, es würde regnen, weil ich solche Schmerzen in den Ellbogen hatte, aber es ist kein Wölkchen am Himmel, Sir. Heute nur die vier Kunden, Sir?»

«Nur die vier, Botting.»

«Sie haben eine ganz hübsche Menge angelockt, Sir, eine hübsche Menge, muss ich sagen,»

«Schön, sehr schön», sagte der Verwalter vage und wandte sich wieder seinem Gespräch mit einem der Frühstücksgäste zu. Sir Henry schaute seinen Freund Logan an. «Weiß Botting, weshalb wir hier sind?»

«Ich hoffe nicht.» Logan, Bankier wie Sir Henry, verzog das Gesicht. «Wenn er es wüsste, könnte er es verpfuschen.»

«Verpfuschen?»

«Wie sollte er uns besser beweisen, dass er einen Helfer braucht?», erklärte Logan grinsend.

«Wie viel zahlen wir ihm?»

«Zehn Shilling, sechs Pence die Woche, aber er hat noch Nebeneinkünfte. Zum einen die heilende Hand und zum anderen die Kleider und die Seile.»

«Nebeneinkünfte?» Sir Henry war verblüfft.

Logan grinste. «Wir schauen uns die Vollstreckung bis zu einem gewissen Punkt mit an, Henry, aber dann ziehen wir uns zu scharfen Nierchen zurück. Sobald wir fort sind, lässt Mister Botting die Leute auf die Galgentribüne, damit sie einem der Toten die Hand berühren können. Das soll angeblich Warzen heilen, ich glaube, er nimmt für jede Behandlung einen Shilling. Und was die Kleider der Gefangenen angeht, so verkauft er sie an Madame Tussaud, falls sie sie haben möchte, und wenn nicht, werden sie als Andenken verhökert. Die Galgenstricke werden in Stücke geschnitten und auf der Straße verkauft. Glaub mir, Mister Botting leidet keinen Mangel. Ich habe schon oft überlegt, dass wir dem Meistbietenden die Henkersarbeit übertragen sollten, statt dem Schurken noch Lohn zu zahlen.»

Sir Henry musterte Bottings entstelltes Gesicht. «Die heilende Hand scheint aber beim Henker nicht zu wirken, nicht wahr?»

«Kein schöner Anblick», pflichtete Logan ihm grinsend bei, dann hob er die Hand. «Hörst du?»

Sir Henry hörte ein Klirren. Im Raum wurde es still, und er spürte eine kalte Angst. Er verachtete sich für die Lüsternheit, die ihn veranlasst hatte, zu diesem Frühstück zu kommen, und sah nun schaudernd, wie die Tür zum Presshof sich öffnete.

Ein weiterer Wärter kam herein. Er grüßte den Verwalter, indem er sich mit dem Fingerknöchel an die Stirn tippte, und stellte sich neben einen niedrigen Holzblock, der auf dem Boden stand. Er hielt einen kräftigen Hammer in der Hand, und Sir Henry überlegte, welchem Zweck er dienen mochte, wollte aber nicht fragen. Die Gäste, die der Tür am nächsten standen, nahmen ihre Hüte ab, weil der Sheriff und sein Vertreter die Gefangenen in den Aufenthaltsraum führten. Es waren vier, drei Männer und eine junge Frau, kaum mehr als ein Mädchen mit bleichem, vor Angst verzerrtem Gesicht.

«Branntwein, Sir?» Ein Diener des Gefängnisverwalters trat zu Matthew Logan und Sir Henry.

«Danke», sagte Logan und nahm zwei der Becher. Einen reichte er Sir Henry. «Der Branntwein ist zwar schlecht», raunte er ihm zu, «aber gut zur Vorbeugung. Beruhigt den Magen.»

Die Gefängnisglocke begann zu läuten und ließ das Mädchen aufschrecken. Der Wärter befahl dem Kind, einen Fuß auf den Holzblock zu stellen, damit er ihr die Fußeisen abschlagen konnte. Sir Henry, der den Gefängnisgestank schon lange nicht mehr wahrnahm, trank den Branntwein und fürchtete, ihn nicht bei sich zu behalten. Er fühlte sich leicht benommen und unwirklich. Der Wärter schlug die Nieten der ersten Fußfessel ab, und Sir Henry bemerkte, dass der Knöchel des Mädchens voller Schwären war.

«Den anderen Fuß, Mädchen», befahl der Wärter.

Die Glocke läutete und würde erst verstummen, wenn die vier Leichen abgeschnitten wurden. Sir Henry merkte, dass seine Hand zitterte. «Wie ich höre, kostete Getreide letzte Woche in Norwich dreiundsechzig Shilling», sagte er eine Idee zu laut.

Logan musterte das zitternde Mädchen. «Sie hat ihrer Herrin eine Halskette gestohlen.»

«Ach?»

«Perlen. Sie muss sie verkauft haben, man hat die Kette nie gefunden. Der Große hinter ihr ist ein Straßenräuber. Schade, dass es nicht Hood ist, was? Aber eines Tages werden wir Hood auch hängen sehen. Die anderen beiden haben einen Krämer in Southwark ermordet. Dreiundsechzig Shilling? Ein Wunder, dass überhaupt noch jemand zu essen hat.»

Unbeholfen, weil es nicht mehr gewohnt war, ohne Fußfesseln zu gehen, schlurfte das Mädchen von dem behelfsmäßigen Amboss fort und begann zu weinen. Sir Henry kehrte ihm den Rücken zu. «Scharfe Nierchen, sagst du?»

«Der Verwalter serviert an Henkerstagen immer scharfe Nierchen, das ist Tradition», bestätigte Logan.

Der Hammer zerschlug die Fußeisen des Straßenräubers, die Glocke läutete, und James Botting rief das Mädchen barsch zu sich. «Steh still, Mädchen. Trink das, wenn du willst. Trink es aus.» Er deutete auf einen Becher Branntwein, den jemand neben die ordentlich aufgerollten Seile auf den Tisch gestellt hatte. Mit zittrigen Händen verschüttete das Mädchen etwas von der Flüssigkeit, trank den Rest aus und ließ den Blechbecher fallen, der scheppernd über die Fliesen rollte. Sie wollte sich für ihre Ungeschicklichkeit entschuldigen, aber Botting fiel ihr ins Wort: «Arme an die Seiten, Mädchen, Arme an die Seiten.»

«Ich habe nichts gestohlen», jammerte sie.

«Ruhig, Kind, ruhig.» Reverend Cotton war zu ihr getreten und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Gott ist unsere Zuflucht und Zuversicht, Kind, du musst auf ihn vertrauen.» Er knetete ihre Schulter. Sie trug ein hellblaues Baumwollkleid mit tiefem Ausschnitt, und die Finger des Priesters bedrängten ihr nacktes weißes Fleisch. «Der Herr ist eine große Hilfe in Zeiten der Not», sagte der Ordinarius. Seine Finger hinterließen rosige Spuren auf ihrer weißen Haut. «Er wird dich trösten und führen. Bereust du deine Sünden, mein Kind?»

«Ich habe nichts gestohlen!»

Sir Henry zwang sich, in tiefen Zügen zu atmen. «Bist du diese brasilianischen Anleihen losgeworden?», fragte er Logan.

«Ich habe sie an Drummonds verkauft», antwortete Logan, «ich bin dir verdammt dankbar, Henry, verdammt dankbar.»

«Bedanke dich bei Eleanor», sagte Sir Henry. «Sie hat eine Meldung in einer Pariser Zeitung gesehen und daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Kluges Mädchen, meine Tochter.»

«Schade um die Verlobung», sagte Logan. Er beobachtete das zum Tode verurteilte Mädchen, das laut aufschrie, als Botting ihr die Ellbogen mit einem Stück Schnur fesselte. Er band sie so fest auf ihren Rücken, dass sie vor Schmerz stöhnte. Grinsend zog Botting die Kordel noch fester an und zwang das Mädchen, seine Brüste vorzurecken, dass der Stoff ihres billigen Kleides sich spannte. Reverend Cotton beugte sich so weit vor, dass sein Atem warm ihr Gesicht streifte. «Du musst bereuen, mein Kind, du musst bereuen.»

«Ich habe es nicht getan!» Sie atmete stoßweise, Tränen strömten über ihr verzerrtes Gesicht.

«Hände nach vorn, Mädchen!», fuhr Botting sie an. Als sie linkisch die Hände hob, ergriff er ein Handgelenk, schlang ein Stück Kordel herum, das er anschließend auch um ihr zweites Handgelenk band. Da er ihr die Ellbogen so fest auf den Rücken gebunden hatte, konnte sie ihre Handgelenke vorn nicht mehr aneinanderlegen, und so begnügte er sich damit, sie nur zu fesseln.

«Sie tun mir weh», jammerte sie.

«Botting?», mischte sich der Verwalter ein.

«Dürfte gar nicht meine Aufgabe sein, sie zu fesseln», schnaubte Botting, lockerte aber die Fessel an ihren Ellbogen ein bisschen, worauf sie ihm mit einem jämmerlichen Kopfnicken dankte.

«Sie wäre sicher recht hübsch, wenn sie gewaschen wäre», sagte Logan.

Sir Henry zählte die Töpfe im Kamin. Alles erschien ihm unwirklich. Gott steh mir bei, dachte er, Gott steh mir bei.

«Jemmy!», grüßte der Straßenräuber den Henker schnaubend, nachdem seine Fußeisen durchtrennt waren.

«Komm her, Bursche.» Botting überhörte die Vertraulichkeit. «Trink das und leg deine Arme an die Seiten.»

Der Straßenräuber legte eine Münze neben den Becher auf den Tisch. «Für dich, Jemmy.»

«Bist ein guter Kerl», sagte der Henker leise. Für die Münze würde Botting dem Straßenräuber die Arme nicht allzu fest binden und dafür sorgen, dass sein Tod so schnell wie möglich einträte.

«Eleanor sagt, sie ist über die Verlobung hinweg», sagte Sir Henry, immer noch mit dem Rücken zu den Gefangenen, «aber ich glaube ihr nicht. Sie ist sehr unglücklich, das spüre ich. Weißt du, manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht verdreht ist.»

«Verdreht?»

«Logan, ich habe den Eindruck, dass sie sich nur noch mehr zu Sandman hingezogen fühlt, seit die Verlobung gelöst wurde.»

«Er war ein sehr anständiger junger Mann», stellte Logan fest.

«Er ist ein sehr anständiger junger Mann», stimmte Sir Henry zu.

«Aber so skrupelhaft, dass es schon fast ein Makel ist», sagte Logan.

«Allerdings», bestätigte Sir Henry. Er starrte nun zu Boden in dem Bemühen, das leise Schluchzen des Mädchens zu überhören. «Der junge Sandman ist ein guter Mann, ein sehr guter Mann, aber mittlerweile ohne Aussichten. Völlig ohne Aussichten! Und Eleanor kann schließlich nicht in eine Familie heiraten, die in Schande geraten ist.»

«Wahrhaftig nicht», pflichtete Logan bei.

«Sie sagt, sie kann, aber so ist Eleanor nun mal», sagte Sir Henry kopfschüttelnd. «Und Rider Sandman trifft an alledem keine Schuld, aber er steht jetzt ohne einen Penny da. Völlig mittellos.»

Logan runzelte die Stirn. «Er bekommt doch sicher eine Pension?»

Sir Henry schüttelte den Kopf. «Er hat sein Offizierspatent verkauft, um den Unterhalt seiner Mutter und seiner Schwester zu bestreiten.»

«Er unterhält seine Mutter? Diese grässliche Frau? Armer Sandman.» Logan lachte leise. «Aber Eleanor mangelt es doch gewiss nicht an Verehrern?»

«Ganz und gar nicht.» Sir Henry klang bedrückt. «Sie stehen Schlange, Logan, aber Eleanor findet an allen etwas auszusetzen.»

«Das kann sie gut», sagte Logan leise, aber ohne Bosheit, denn er mochte die Tochter seines Freundes, auch wenn er sie für allzu verwöhnt hielt. Eleanor war zwar tatsächlich klug und allzu belesen, aber das war noch lange kein Grund, ihr Zaumzeug, Peitsche und Sporen zu ersparen. «Aber sie wird doch sicher bald heiraten?», erkundigte er sich.

«Sicher», sagte Sir Henry trocken, denn seine Tochter war nicht nur attraktiv, es war auch allgemein bekannt, dass Sir Henry ihrem zukünftigen Ehemann ein stattliches Einkommen sichern würde. Daher war Sir Henry manchmal auch versucht, sie Rider Sandman heiraten zu lassen, aber ihre Mutter wollte nichts davon hören. Florence strebte für Eleanor einen Adelstitel an, und den besaß Rider Sandman nicht. Und da er nun auch kein Vermögen mehr hatte, würde die Ehe zwischen Captain Sandman und Miss Forrest wohl nicht zustande kommen. Sir Henrys Grübeleien über die Aussichten seiner Tochter nahmen ein jähes Ende, als das zum Tode verurteilte Mädchen so jämmerlich aufschrie, dass Sir Henry sich erschrocken umdrehte. James Botting hatte einen der kräftigen Stricke auf ihre Schultern gelegt, und das Mädchen schrie, als sei der Bridport-Hanf mit Säure getränkt.

«Ruhig, mein Kind», sagte Reverend Cotton, schlug sein Gebetbuch auf und trat einige Schritte von den vier Gefangenen zurück, die nun alle gefesselt waren.

«Das war nie Aufgabe des Henkers», beklagte sich James Botting, bevor der Ordinarius mit den Gebeten für die Seelen der Todgeweihten beginnen konnte. «Der Strangknecht hat im Hof – im Hof – die Eisen abgeschlagen und die Fesseln angelegt! Der Strangknecht. Das Fesseln war nie Aufgabe des Henkers!»

«Er meint, das habe sein Helfer erledigt», flüsterte Logan.

«Er weiß also, weshalb wir hier sind?», fragte Sir Henry, während der Sheriff und sein Vertreter, beide in bodenlangen Roben und Amtsketten sowie mit einem Stab mit Silberspitze in der Hand, offenkundig zufrieden waren, dass die Gefangenen ordnungsgemäß vorbereitet waren, und zum Verwalter traten, der dem Sheriff mit einer förmlichen Verbeugung ein Schriftstück reichte.

«Ich bin die Auferstehung und das Leben», hob Reverend Cotton mit lauter Stimme an, «wer an mich glaubt, soll leben, auch wenn er stirbt.»

Der Sheriff warf einen Blick auf das Dokument und steckte es mit einem Kopfnicken in eine Tasche seiner pelzbesetzten Robe. Bisher waren die Gefangenen der Obhut des Gefängnisverwalters von Newgate unterstellt, nun gehörten sie dem Sheriff der Stadt London, der, nachdem die Formalitäten erledigt waren, mit ausgestreckter Hand und verbindlichem Lächeln auf Sir Henry zukam. «Sie sind zum Frühstück gekommen, Sir Henry?»

«Mein Amt führt mich her», erklärte Sir Henry streng, «aber es ist schön, Sie zu sehen, Rothwell.»

«Sie müssen unbedingt zum Frühstück bleiben», sagte der Sheriff, während der Ordinarius die Totengebete sprach. «Es gibt hervorragende scharfe Nierchen.»

«Frühstück bekomme ich auch zu Hause», sagte Sir Henry. «Nein, ich bin hier, weil Botting einen Gehilfen beantragt hat, und wir dachten, bevor wir diese Ausgabe genehmigen, sollten wir uns selbst ein Urteil bilden, ob er einen solchen braucht. Sie kennen Mister Logan?»

«Der Ratsherr und ich sind alte Bekannte», antwortete der Sheriff und schüttelte Logan die Hand. «Dem Mann einen Gehilfen zu geben, hat den Vorteil, dass er bereits seinen Nachfolger ausbildet», erklärte er Sir Henry leise. «Und falls es auf dem Galgengerüst Schwierigkeiten gibt, sind zwei Männer besser als einer. Schön, Sie zu sehen, Sir Henry, und auch Sie, Mister Logan.» Mit gefasster Miene wandte er sich Botting zu: «Sind Sie bereit, Botting?»

«Alles bereit, Sir, alles bereit», antwortete Botting, nahm die vier weißen Säcke und steckte sie in eine Tasche.

«Wir können uns beim Frühstück unterhalten», sagte der Sheriff zu Sir Henry. «Scharfe Nierchen! Ich habe sie schon im Vorbeigehen gerochen.» Er zog eine Zwiebeluhr aus seinem Uhrtäschchen und ließ den Deckel aufspringen. «Zeit zu gehen, denke ich, Zeit zu gehen.»

Der Sheriff führte die Prozession aus dem Aufenthaltsraum über den schmalen Presshof. Reverend Cotton hatte eine Hand in den Nacken des Mädchens gelegt, um es zu führen, während er laut die Totengebete sprach, die er bereits am Tag zuvor in der Kapelle beim Seelenamt für die zum Tode Verurteilten gebetet hatte. Die vier Gefangenen hatten in der berüchtigten schwarzen Kirchenbank neben dem aufgebahrten Sarg gekniet, und der Ordinarius hatte ihnen das Seelenamt gelesen und gepredigt, sie würden für ihre Sünden bestraft, wie Gott es befohlen habe. Er hatte die Flammen der Hölle geschildert, die sie erwarteten, die teuflischen Qualen, die man ihnen bereiten würde, und hatte das Mädchen und einen der beiden Mörder zu Tränen gerührt. Auf der Empore der Kapelle hatten sich Zuschauer gedrängt, die einen Shilling, sechs Pence bezahlt hatten, um den letzten Gottesdienst der vier verdammten Seelen mitzuerleben.

Die Gefangenen in den Zellen am Presshof riefen Beschimpfungen und Abschiedsgrüße, als die Prozession nun vorüberzog. Sir Henry erschrak über den Lärm und wunderte sich über eine Frauenstimme, die Verwünschungen schrie. «Männer und Frauen teilen sich doch nicht etwa die Zellen?», fragte er.

«Nicht mehr», erklärte Logan und folgte dem Blick seines Freundes, «ich vermute, sie ist keine Gefangene, sondern eine Dirne, Sir Henry. Sie zahlen den Wärtern ein sogenanntes ‹Sündengeld›, damit sie hier ihren Lebensunterhalt verdienen können.»

«Sündengeld? Gütiger Gott!» Sir Henry wirkte bekümmert. «Und das erlauben wir?»

«Wir schauen weg», sagte Logan gelassen, «in der Einsicht, dass es besser ist, Dirnen im Gefängnis zu haben als einen Aufruhr der Gefangenen.» Der Sheriff hatte die Prozession eine Steintreppe hinunter in einen Tunnel geführt, der unter dem Hauptgefängnis hindurch bis zum Torhaus verlief. In diesem finsteren Gang kamen sie an einer leeren Zelle vorüber, deren Tür offen stand. «Hier haben sie ihre letzte Nacht verbracht», sagte Logan. Als das zum Tode verurteilte Mädchen schwankte, nahm ein Wärter seinen Ellbogen und schob es weiter.

«Mit nichts kamen wir auf diese Welt», hallte die Stimme Reverend Cottons dumpf von den Granitwänden des Tunnels wider, «und mit Gewissheit können wir nichts mitnehmen. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, gepriesen sei der Name des Herrn.»

«Ich habe nichts gestohlen!», schrie das Mädchen unvermittelt.

«Ruhig, Kind, ruhig!», knurrte der Gefängnisverwalter. Die Männer waren nervös. Sie wollten, dass die Gefangenen keine Scherereien machten, aber das Mädchen war einem hysterischen Anfall nahe.

«Herr, lass mich wissen, wann mein Ende naht und meine Tage gezählt sind», betete der Ordinarius.

«Bitte!», flehte das Mädchen. «Nein, nein! Bitte.» Ein zweiter Wärter trat an seine Seite, falls es zusammenbrechen sollte und den Rest des Weges getragen werden müsste, aber es stolperte weiter.

«Wenn sie sich allzu heftig wehren, werden sie an einen Stuhl gebunden und so gehenkt», erklärte Logan Sir Henry. «Aber ich muss gestehen, dass ich das schon Jahre nicht mehr erlebt habe, allerdings erinnere ich mich, dass Langley es einmal so machen musste.»

«Langley?»

«Bottings Vorgänger.»

«Du warst schon öfter dabei?», fragte Sir Henry.

«Einige Male», bestätigte Logan. «Und du?»

«Noch nie. Aber heute hielt ich es für meine Pflicht.» Sir Henry sah die Gefangenen die Treppe am Ende des Tunnels hinaufsteigen und wünschte, er wäre nicht gekommen. Er hatte noch nie einen gewaltsamen Tod gesehen. Rider Sandman, der sein Schwiegersohn hatte werden sollen, hatte als Soldat manchen gewaltsamen Tod miterlebt, und Sir Henry wünschte, der junge Mann wäre bei ihm. Er hatte Sandman immer gemocht. Eine Schande, was seiner Familie zugestoßen war.

Die Treppe mündete im Torhaus, dessen höhlenartiger Innenraum auf die Straße namens Old Bailey führte. Die Tür zur Straße, die man Schuldnerpforte nannte, stand offen, ließ aber kein Tageslicht herein, da man unmittelbar davor das Galgengerüst aufgestellt hatte. Hier war das Lärmen der Menge laut zu hören, während die Gefängnisglocke gedämpft klang, aber die Glocke der Kirche Saint Sepulchre am anderen Ende der Newgate Street läutete ebenfalls für die Todgeweihten.

«Meine Herren?» Der Sheriff, der nun die Verantwortung für das morgendliche Verfahren trug, wandte sich an die Frühstücksgäste. «Wenn Sie die Treppe zum Galgenpodest hinaufgehen, finden Sie rechts und links Stühle. Wären Sie bitte so nett, zwei in der vorderen Reihe für uns frei zu lassen?»

Als Sir Henry durch den hoch aufragenden Bogen der Schuldnerpforte trat, sah er vor sich den dunklen Hohlraum unter dem Galgenpodest und entdeckte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Unterbau einer Bühne, die auf rohen Holzbalken ruhte. Da Front und Seiten mit schwarzem Boi verhängt waren, drang Licht lediglich durch die Ritzen zwischen den Brettern, die den Boden der erhöhten Plattform bildeten. Rechts von Sir Henry führte eine Holzstiege in den Schatten hinauf, knickte scharf links ab und mündete in einem überdachten Pavillon im hinteren Teil des Podests. Treppe und Plattform machten einen soliden Eindruck, der vergessen ließ, dass sie erst einen Tag vor einer Hinrichtung aufgestellt und im Anschluss sofort wieder abgebaut wurden. Der überdachte Pavillon sollte Ehrengästen bei schlechter Witterung Schutz bieten, aber heute schien die Sonne auf Old Bailey so hell, dass Sir Henry blinzeln musste, als er in den Pavillon trat.

Lauter Jubel begrüßte die Gäste. Wer sie waren, kümmerte niemanden, aber ihr Erscheinen kündete die Ankunft der Gefangenen an. Auf Old Bailey herrschte Gedränge. Jedes Fenster zur Straße war besetzt, selbst auf den Dächern saßen Leute.

«Zehn Shilling», sagte Logan.

«Zehn Shilling?» Sir Henry begriff wieder einmal nichts.

«Für einen Fensterplatz», erklärte Logan. «Wenn ein berühmter Verbrecher hingerichtet wird, steigen die Preise auf zwei bis drei Guineen.» Er deutete auf eine Taverne unmittelbar gegenüber vom Galgen. «Die besten Plätze hat das Magpie and Stump, weil man von da direkt in die Fallgrube schauen kann, in die sie fallen.» Er kicherte. «Beim Wirt kann man ein Fernrohr leihen, um sie sterben zu sehen. Aber wir haben natürlich die besten Plätze.»

Sir Henry wollte sich in den Schatten im hinteren Teil des Pavillons zurückziehen, aber da Logan bereits in der vorderen Stuhlreihe Platz genommen hatte, setzte Sir Henry sich neben ihn. Sein Kopf dröhnte von dem entsetzlichen Lärm auf der Straße. Er fühlte sich wie auf einer Theaterbühne, war überwältigt und benommen. So viele Menschen! Überall richteten sich Gesichter auf das schwarz verhängte Podest. Der eigentliche Galgen vor dem Pavillon war dreißig Fuß lang und fünfzehn Fuß breit, überragt von einem dicken Holzbalken, der vom Dach des Pavillons bis zur Plattformkante reichte. Schwarze Metzgerhaken waren in seine Unterseite geschraubt, und eine Leiter stand an ihn gelehnt.

Höhnischer Jubel grüßte die Sheriffs in ihren pelzbesetzten Roben. Sir Henry saß auf einem harten Holzstuhl, der etwas zu schmal und äußerst unbequem war. «Zuerst kommt das Mädchen an die Reihe», sagte Logan.

«Warum?»

«Weil die Leute ihretwegen gekommen sind», erklärte Logan. Offenkundig genoss er das Spektakel, was Sir Henry verwunderte. Wieder wünschte er, Rider Sandman wäre bei ihm, denn er vermutete, dass der Soldat einen so leichtfertigen Umgang mit dem Tod nicht billigen würde. Oder war Sandman abgehärtet gegen Gewalt?

«Ich sollte ihn sie heiraten lassen», murmelte er.

«Was?» Logan musste die Stimme erheben, da die Menge nach den Gefangenen rief.

«Nichts», sagte Sir Henry.

«Ich werde meine Zunge im Zaum halten, solange ich schaue das Gottlose.» Reverend Cottons Stimme wurde lauter, als er hinter dem Mädchen die Stiege heraufkam.

Als Erster erschien ein Wärter, hinter ihm das Mädchen, immer noch unbeholfen, da es nicht mehr gewohnt war, ohne Fußeisen zu gehen. Als es auf der obersten Stufe beinahe stolperte, musste der Wärter es stützen.

Nun sah auch die Menge sie. «Hüte ab! Hüte ab!» Der Ruf setzte vorne ein und hallte hinten wider. Er entsprang keineswegs dem Respekt, sondern dem Umstand, dass die hohen Hüte der vorderen Zuschauer den hinteren die Sicht nahmen. Das Grölen der Menge schwoll ohrenbetäubend an, und dann drängten die Menschen vor, bis der Marschall der Stadt und seine Männer, die den Galgen schützten, ihre Lanzen heben mussten. Sir Henry fühlte sich bedrängt von dem Lärm und den Tausenden lauthals grölender Menschen. Unter den Zuschauern waren ebenso viele Frauen wie Männer. Sir Henry bemerkte eine respektabel wirkende Matrone, die sich im Fenster des Magpie and Stump über ein Fernrohr beugte. Neben ihr aß ein Mann Brot mit Spiegelei. Eine andere Frau hielt ein Opernglas. In einem Hauseingang bot ein Straßenhändler Pasteten feil. Aufgescheucht von dem Lärm, kreisten Tauben, Rote Milane und Spatzen am Himmel. Benommen sah Sir Henry mit einem Mal vier Särge am Rand des Podests stehen. Sie waren aus ungehobelten, harzigen Fichtenbrettern. Das Mädchen stand mit offenem Mund da, sein eben noch bleiches Gesicht war nun rot und verquollen. Tränen liefen ihm über die Wangen, als Botting es an den gefesselten Ellbogen in die Mitte des Podests führte. Hier befand sich eine Falltür, die unter ihrem Gewicht knarrte. Das Mädchen zitterte und stöhnte, während Botting es am vorderen Ende des Podests unter den Galgenbaum stellte. Sobald es an der richtigen Stelle stand, holte er einen Baumwollsack aus der Tasche und setzte ihn ihm auf wie einen Hut. Bei seiner Berührung schrie es auf und versuchte, sich ihm zu entwinden, aber Reverend Cotton legte ihm die Hand auf den Arm, während der Henker den Strang von seinen Schultern nahm und die Leiter hinaufstieg. Die Sprossen knarrten beängstigend unter seinem Gewicht. Er schob die kleine Öse im Seil über einen der schwarzen Metzgerhaken und stieg mit rotem Gesicht und schwer atmend herunter. «Ich brauche unbedingt einen Gehilfen», knurrte er. «Das ist ungerecht. Man hat immer einen Gehilfen. Zappele nicht rum, Fräulein! Geh wie ein Christenmensch!» Er schaute dem Mädchen in die Augen, als er ihm die Schlinge um den Hals legte, den Knoten unter dem linken Ohr anzog und kurz an dem Strick ruckte, wie um sich zu vergewissern, ob er das Gewicht aushalten würde. Bei diesem Ruck stöhnte das Mädchen und schrie, weil Botting ihm ins Haar griff. «Sei still, Mädchen!», schnaubte er und zog den weißen Baumwollsack über das Gesicht.

Sie schrie: «Ich will sehen!»

Sir Henry schloss die Augen.

«Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie ein Tag.» Der Ordinarius erhob die Stimme, um das Toben der Menge zu übertönen. Der zweite Gefangene, der Straßenräuber, kam nun auf das Podest. Botting stellte ihn neben das Mädchen, stülpte den Sack auf seinen Kopf und stieg auf die Leiter, um den Strick einzuhängen. «O lehre uns, unsere Tage zu zählen», psalmodierte Reverend Cotton, «auf dass wir unsere Herzen der Weisheit öffnen.»

«Amen», sagte Sir Henry inbrünstig, allzu inbrünstig.

«Hier», Logan stieß Sir Henry, der die Augen immer noch geschlossen hielt, in die Seite und reichte ihm ein Flakon. «Guter Brandy. Geschmuggelt.»

Der Straßenräuber hatte Blumen im Knopfloch. Er verneigte sich vor der Menge, die ihm zujubelte, aber sein Mut war gespielt, wie Sir Henry an seinen zitternden Beinen und dem Zucken seiner gefesselten Hände sah. «Kopf hoch, Schätzchen», sagte er zu dem Mädchen an seiner Seite.

In der Menge waren auch Kinder. Ein Mädchen, das kaum älter als sechs Jahre sein mochte, saß auf den Schultern seines Vaters und lutschte Daumen. Die Menge johlte bei jedem Gefangenen, der erschien. Eine Gruppe Matrosen mit langen Rollen Kautabak rief Botting zu, er solle dem Mädchen das Kleid herunterziehen. «Zeig uns ihre Titten, Jemmy! Na los, raus damit!»

«Bald ist es vorbei», sagte der Straßenräuber zu dem Mädchen, «du und ich sind gleich bei den Engeln, Mädchen.»

«Ich habe nichts gestohlen!», jammerte das Mädchen.

«Gesteht eure Schuld! Beichtet eure Sünden!», drängte Reverend Cotton die vier Gefangenen, die nun alle auf der Falltür standen. Das Mädchen war am weitesten von Sir Henry entfernt. Es zitterte. Alle vier hatten Baumwollsäcke über dem Gesicht und eine Schlinge um den Hals. «Tretet reinen Herzens vor Gott!», drängte der Ordinarius. «Erleichtert euer Gewissen, tretet in Demut vor Gott!»

«Na los, Jemmy! Zieh der Frau das Kleid aus!»

Die Menge grölte um Ruhe in der Hoffnung auf ein paar letzte Worte.

«Fahr zur Hölle, du fettes Schwein», knurrte einer der Mörder den Ordinarius an.

«Wir sehen uns in der Hölle wieder!», rief der Straßenräuber dem Priester zu.

«Nun, Botting!» Der Sheriff wollte die Sache schnell erledigt wissen, und Botting schlurfte ans hintere Ende des Galgenpodests und zog einen hölzernen Spund von der Dicke eines Nudelholzes aus einem der Bretter. Sir Henry verkrampfte sich, aber nichts geschah.

«Der Spund ist nur eine Sperrvorrichtung», erklärte Logan leise. «Er muss nach unten gehen, um die Falltür zu öffnen.»

Sir Henry schwieg. Er schrumpfte in sich zusammen, als Botting ihn auf dem Weg zur Treppe im hinteren Teil des Pavillons streifte. Nur die vier Verurteilten und der Ordinarius standen nun noch in der Sonne. Reverend Cotton hielt sich zwischen den Särgen in sicherem Abstand zur Falltür. «Denn wenn du zürnst, sind all unsere Tage dahin», psalmodierte er, «wir vollenden unsere Jahre, als wären sie ein Märchen.»

«Cotton, du fettes Schwein!», rief der Straßenräuber. Das Mädchen schwankte, Sir Henry sah, dass sein Mund sich unter der dünnen Baumwolle, die sein Gesicht verdeckte, öffnete und schloss. Der Henker war unter dem Podest verschwunden und kletterte in dem Gebälk, auf dem das Gerüst ruhte, zu einem Seil, mit dem er den Balken unter der Falltür wegziehen würde.

«Wende dich zu uns, o Herr!» Reverend Cotton erhob eine Hand und die Stimme gen Himmel. «Und erbarme dich deiner Diener!»

Botting zerrte an dem Seil, und der Balken gab nach, rutschte aber nicht vollständig heraus. Sir Henry, der gar nicht merkte, dass er den Atem anhielt, sah die Falltür rucken. Das Mädchen schluchzte, seine Beine gaben nach, und es brach auf der immer noch geschlossenen Falltür zusammen. Ein Aufschrei ging durch die Menge, erstarb jedoch, als sie merkten, dass nichts geschehen war. Botting zog mit aller Kraft an dem Seil, der Balken gab nach, die Falltür klappte nach unten und ließ die vier Verurteilten in die Tiefe fallen. Sie stürzten lediglich fünf oder sechs Fuß tief, was keinen von ihnen tötete. «Als sie noch den Wagen in Tyburn benutzten, ging es schneller», sagte Logan und beugte sich vor. «Aber so dauert der Morris länger.»

Sir Henry brauchte nicht zu fragen, was Logan meinte. Die vier zuckten und wanden sich. Sie führten den Morris-Tanz am Galgen auf, die Kapriolen am Strang, die die Gehängten in ihrem Todeskampf vollführten. Botting sprang unten im Inneren des Galgengerüsts beiseite, als das Mädchen seine Eingeweide entleerte. Sir Henry sah von alledem nichts, denn er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie auch nicht, als die Menge sich heiser schrie, weil Botting dem Straßenräuber über seine gefesselten Ellbogen auf die Schultern kletterte wie eine schwarze Kröte, um sein Sterben zu beschleunigen. Dafür hatte der Straßenräuber Botting schließlich bezahlt, und der Henker hielt seinen Teil der Abmachung ein.

«Wahrlich, ich enthülle euch ein Geheimnis.» Der Ordinarius achtete nicht auf Botting, der grinsend wie ein monströser Buckel auf dem Rücken des Sterbenden hing. «Nicht alle werden wir schlafen, vielmehr werden wir in einem Augenblick verwandelt werden», betete Cotton.

«Der Erste ist hinüber», sagte Logan, als Botting vom Rücken der Leiche stieg. «Jetzt habe ich einen mordsmäßigen Hunger, bei Gott, was für einen Hunger!»

Drei der vier tanzten noch, allerdings immer schwächer. Der tote Straßenräuber baumelte mit verdrehtem Kopf, als Botting sich an die Knöchel des Mädchens hängte. Sir Henry roch Kot, menschlichen Kot, und konnte plötzlich das Spektakel nicht mehr ertragen. Er stolperte die Stiege vom Galgen hinunter in das kühle, steinerne Torhaus. Hier erbrach er sich, rang nach Atem, lauschte auf die Menge und das Knarren der Podestbretter und wartete, bis es Zeit war, zum Frühstück zu gehen.

Zu scharfen Nierchen. So war es Tradition.

1

Rider Sandman stand an diesem Montagmorgen erst spät auf. Man hatte ihm sieben Guineen gezahlt, um für die Kricketmannschaft von Sir John Hart gegen ein Team aus Sussex anzutreten. Den Gewinnern hatte eine Prämie von hundert Guineen gewinkt. Sandman hatte im ersten Innings dreiundsechzig Läufe erzielt und zweiunddreißig im zweiten, aber Sir Johns Mannschaft hatte trotzdem verloren. Das war am Samstag, und während Sandman zuschaute, wie die anderen Schlagmänner wild auf schlecht gezielte Bälle eindroschen, war ihm klargeworden, dass der Spielausgang eine abgekartete Sache war. Die Buchmacher hatten mit einem mühelosen Sieg von Sir Johns Mannschaft gerechnet, nicht zuletzt, weil der berühmte Rider Sandman mit von der Partie war, nun wurden sie geschröpft, denn jemand hatte offenbar mit hohem Einsatz auf das Team aus Sussex gesetzt, das mit einem Innings und achtundvierzig Läufen Vorsprung gewann. Das Gerücht kursierte, Sir John habe selbst gegen seine Mannschaft gewettet, und dass er Sandman nicht in die Augen schauen konnte, machte dieses Gerücht glaubwürdig.

Also war Captain Rider Sandman zu Fuß nach London zurückgegangen.

Er ging zu Fuß, weil er es ablehnte, mit Männern eine Kutsche zu teilen, die sich hatten bestechen lassen, um ein Spiel zu verlieren. Er liebte Kricket, er war ein guter Spieler und hatte einmal in einem berühmten Spiel hundertvierzehn Läufe für eine englische Mannschaft erzielt, die gegen eine Auswahlelf des Marquess of Canfield angetreten war. Liebhaber dieses Sports reisten meilenweit, um Rider Sandman, den ausgedienten Hauptmann des 52. Infanterieregiments Seiner Majestät, spielen zu sehen. Aber er hasste Bestechung, verabscheute Korruption und neigte zu Jähzorn. Daher hatte er sich auf einen heftigen Streit mit seinen verräterischen Mannschaftskollegen eingelassen, und während sie in dieser Nacht in Sir Johns komfortablem Haus schliefen und am nächsten Morgen bequem nach London fuhren, verzichtete Sandman auf beides. Er war zu stolz.

Stolz und arm. Weder die Fahrt mit der Postkutsche noch das Entgelt für einen einfachen Fuhrmann konnte er sich leisten, weil er Sir John Hart den Lohn für das Spiel in seiner Wut ins Gesicht geschleudert hatte – was, wie Sandman zugeben musste, dumm war, weil er dieses Geld ehrlich verdient hatte. Also ging er zu Fuß nach Hause, verbrachte die Nacht zum Sonntag in einem Heuschober in der Nähe von Hickstead und wanderte den ganzen Sonntag, bis die Sohle an seinem rechten Stiefel fast durchgelaufen war. Erst spät am Abend erreichte er die Drury Lane, ließ in seiner gemieteten Dachkammer die Kricketausrüstung auf den Boden fallen, zog sich aus, fiel auf das schmale Bett und schlief. Er schlief immer noch, als in Old Bailey die Falltür fiel und das Johlen der Menge Tausende Vögel aufgeschreckt in den rauchverhangenen Londoner Himmel flattern ließ. Sandman träumte auch um halb neun noch. Er träumte unruhig und schweißgebadet, stieß einen unzusammenhängenden Alarmruf aus, Hufschlag und das Donnern von Musketen und Kanonen im Ohr, Krummsäbel und blanke Degen vor Augen, und dieses Mal sollte sein Traum damit enden, dass die Kavallerie die gelichteten Reihen der Rotröcke durchbrach, doch dann vermengte sich das Hufgetrappel mit Schritten auf der Treppe und einem flüchtigen Klopfen an seiner dünnen Mansardentür. Er schlug die Augen auf, erkannte, dass er kein Soldat mehr war, und noch bevor er auf das Klopfen antworten konnte, stand Sally Hood im Zimmer. Einen Moment lang hielt Sandman die strahlenden Augen, das Kalikokleid und das goldene Haar für einen Tagtraum, doch dann lachte Sally. «Ich habe Sie geweckt. Gott, tut mir leid!» Sie wollte schon gehen.

«Schon gut, Miss Hood.» Sandman tastete nach seiner Uhr. Er schwitzte. «Wie spät ist es?»

«Saint Giles hat gerade halb neun geschlagen», antwortete sie.

«Meine Güte!» Sandman konnte kaum fassen, dass er so lange geschlafen hatte. Es gab nichts, wofür er hätte aufstehen müssen, aber das frühe Aufstehen war ihm schon lange zur Gewohnheit geworden. Er setzte sich im Bett auf und zog sich die dünne Decke vor die Brust, als ihm einfiel, dass er unbekleidet war. «An der Tür hängt ein Morgenmantel, Miss Hood, wenn Sie so nett wären?»

Sally holte den Morgenmantel. «Es ist nur, ich bin schon spät dran», erklärte sie ihr Erscheinen in seinem Zimmer, «mein Bruder ist weg, ich muss zur Arbeit und kriege die Häkchen an meinem Kleid nicht zu, sehen Sie?» Sie kehrte ihm den Rücken zu und zeigte ihm ihren nackten Rücken. «Ich hätte ja Mrs. Gunn gefragt, aber sie guckt sich heute die Hinrichtung an. Weiß Gott, was sie überhaupt sieht, wo sie doch halb blind und ständig betrunken ist, aber sie hat was für eine gute Hinrichtung übrig, und in ihrem Alter hat sie ja nicht mehr viel Freude. Schon gut, Sie können jetzt aufstehen, ich habe die Augen zu.»

Vorsichtig stand Sandman auf, denn in seiner winzigen Dachkammer gab es kaum eine Stelle, an der er stehen konnte, ohne sich den Kopf an den Dachbalken zu stoßen. Er war sechs Fuß und einen Zoll groß, hatte hellblondes Haar, blaue Augen und ein langes, grobknochiges Gesicht. Er war nicht gut aussehend im herkömmlichen Sinn, dafür war sein Gesicht zu markant, aber aus seiner Miene sprachen eine Kompetenz und Freundlichkeit, die ihn bemerkenswert machten. Er zog seinen Morgenmantel über und schloss den Gürtel. «Sie sagen, Sie müssen arbeiten?», fragte er Sally. «Eine gute Arbeit, hoffe ich?»

«Nicht gerade das, was ich mir gewünscht habe», sagte Sally, «weil es nicht auf den Brettern ist.»

«Auf den Brettern?»

«Auf der Bühne, Captain», erklärte sie. Sie bezeichnete sich als Schauspielerin, was sie vielleicht ja auch war, obgleich Sandman kaum Anzeichen sah, dass die Bühne viel Verwendung für Sally hatte, die sich ebenso wie er selbst knapp am Rande der Anständigkeit durchschlug, wenn auch nur dank ihres Bruders, eines äußerst geheimnisvollen jungen Mannes, der zu seltsamen Tageszeiten arbeitete. «Aber es ist keine schlechte Arbeit», fuhr sie fort, «und anständig obendrein.»

«Davon bin ich überzeugt», sagte Sandman, der spürte, dass Sally nicht darüber sprechen mochte. Er fragte sich, warum sie eine anständige Arbeit derart vehement verteidigte, während Sally überlegte, warum Sandman, der offensichtlich ein Gentleman war, sich eine Dachkammer in der Taverne Wheatsheaf in Londons Drury Lane gemietet hatte. Abgebrannt, so viel stand fest, aber trotzdem, ausgerechnet das Wheatsheaf? Vielleicht wusste er es nicht besser. Das Wheatsheaf war eine berüchtigte Unterweltspelunke, in der von Taschendieben bis Einbrechern, von Bettlern bis Bankräubern alles verkehrte, und Captain Rider Sandman machte auf Sally den Eindruck eines grundehrlichen Mannes. Aber er war nett, fand Sally. Er behandelte sie wie eine Dame, und obwohl sie nur ab und an ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, wenn sie sich auf den Gasthausfluren begegnet waren, hatte sie eine gewisse Freundlichkeit bei ihm bemerkt. Genügend Freundlichkeit, um ihn an diesem Montagmorgen in seinem Zimmer zu stören. «Und was ist mit Ihnen, Captain?», fragte sie. «Arbeiten Sie auch?»

«Ich suche eine Stelle, Miss Hood», sagte Sandman. Es entsprach der Wahrheit, aber er fand keine. Er war zu alt für eine Lehre, besaß keine Ausbildung in Juristerei oder Bankwesen und war zu heikel, um eine Anstellung als Sklaventreiber auf den Zuckerrohrinseln anzunehmen.

«Ich hab gehört, Sie sind Kricketspieler», sagte Sally.

«Ja, das bin ich.»

«Und ein berühmter dazu, sagt mein Bruder.»

«Das weiß ich nicht», antwortete Sandman bescheiden.

«Aber damit können Sie doch bestimmt Geld verdienen, oder?»

«Nicht so viel, wie ich brauche», sagte Sandman, außerdem galt das nur für den Sommer und falls er bereit wäre, sich auf Bestechung und Korruption einzulassen. «Ich habe hier ein kleines Problem. Es fehlen einige Haken.»

«Das ist, weil ich nie dazu komme, sie anzunähen», sagte Sally. «Machen Sie einfach, was geht.» Sie starrte auf seinen Kaminsims, auf dem ein Stapel Briefe lagen, deren ausgefranste Ränder erkennen ließen, dass sie vor langer Zeit abgeschickt worden waren. Sie schwankte leicht vor und erkannte, dass der oberste Brief an eine Miss Soundso adressiert war, den Namen konnte sie nicht lesen, aber dieses eine Wort zeigte ihr, dass die Dame Captain Sandman wohl den Laufpass gegeben und ihm seine Briefe zurückgesandt hatte. Armer Captain Sandman, dachte Sally.

«Und an manchen Stellen sind Haken, aber keine Ösen», sagte Sandman.

«Deshalb habe ich das hier mitgebracht», sagte Sally und ließ ein ausgefranstes Seidentuch über ihre Schulter baumeln. «Stecken Sie es in die Lücken, Captain. Sorgen Sie dafür, dass ich anständig aussehe.»

«Heute werde ich einige Bekannte aufsuchen», kam Sandman noch einmal auf ihre Frage von vorhin zurück, «und schauen, ob sie mir eine Anstellung anbieten können, und heute Nachmittag werde ich der Versuchung nachgeben.»

«Ooh!» Sally grinste ihn mit funkelnden blauen Augen über die Schulter an. «Versuchung?»

«Ich werde mir ein Kricketspiel auf dem Artilleriegelände anschauen.»

«Könnte mich nicht reizen», sagte Sally. «Übrigens, Captain, wenn Sie frühstücken wollen, sollten Sie es bald tun, nach neun kriegen Sie keinen Bissen mehr.»

«Nicht?», fragte Sandman, obwohl er nicht die geringste Absicht hatte, in der Taverne für ein Frühstück zu bezahlen, das er sich nicht leisten konnte.

«Das ’Sheaf ist immer brechend voll, wenn es in Newgate eine Hinrichtung gibt», erklärte Sally. «Hinterher wollen alle frühstücken, wissen Sie? Macht hungrig. Mein Bruder ist auch hin. Er geht immer nach Old Bailey, wenn sie einen aufknüpfen. Sie haben ihn gern dabei.»

«Wer?»

«Seine Freunde. Meistens kennt er einen von den armen Hunden, die zappeln.»

«Zappeln?»

«Aufhängen, Captain. Henken, aufknüpfen, zappeln, baumeln, den Hals zuschnüren, den Newgate-Morris tanzen, auf Jemmy Bottings Bühne tanzen, am Strang gurgeln. Wenn Sie hier leben, müssen Sie die Ausdrücke der Unterwelt lernen, Captain.»

«Das sehe ich ein», sagte Sandman. Er hatte gerade angefangen, das Seidentuch in die Lücken des Kleides zu flechten, als Dodds, der Laufbursche des Gasthauses, den Kopf durch die halboffene Tür steckte und grinste, weil er Sally Hood in Captain Sandmans Zimmer erwischt hatte und der Captain ihr Kleid richtete, wobei sein Haar zerzaust war und er nichts als einen alten Morgenmantel trug.

«Wenn du dein blödes Maul nicht zumachst, fängst du noch Fliegen damit», sagte Sally. «Er ist nicht mein Schatz, du dreckiger Mistkerl. Er macht mir nur das Kleid zu, weil mein Bruder und Mutter Gunn zum Galgen sind. Genau da endest du auch, wenn es eine verdammte Gerechtigkeit gibt.»

Dodds achtete nicht auf ihre Tirade, sondern hielt Sandman ein versiegeltes Schreiben hin. «Brief für Sie, Captain.»

«Nett von dir», sagte Sandman und beugte sich zu seinen über einen Stuhl gefalteten Kleidern, um einen Penny herauszuholen. «Warte einen Moment», befahl er dem Jungen, der keinerlei Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen, bevor er ein Trinkgeld erhalten hatte.

«Geben Sie ihm bloß nichts!», protestierte Sally. Sie schob Sandmans Hand fort und nahm Dodds den Brief ab. «Der kleine Fußabtreter hat ihn vergessen, stimmt’s? Heute Morgen ist überhaupt kein Brief gekommen! Wie lange ist er schon hier?»

Dodds schaute sie beleidigt an. «Seit Freitag», gab er schließlich zu.

«Wenn ein Brief am Freitag kommt, lieferst du ihn verdammt noch mal auch am Freitag ab! So, und jetzt mach dich aus dem Staub!» Sie schlug die Tür hinter dem Jungen zu. «Verflixter Faulpelz. Man sollte ihn nach Newgate schicken und am Galgen tanzen lassen. Das würde ihm seinen verdammten Hals schon lang ziehen.»

Sandman steckte das Seidentuch weiter in die Lücken zwischen den Haken und Ösen des Kleides, trat zurück und nickte. «Sie sehen ganz entzückend aus, Miss Hood.»

«Finden Sie?»

«Wahrhaftig», bestätigte Sandman. Das hellgrüne Kleid mit dem Kornblumenmuster passte in seinen Farben gut zu Sallys honiggoldener Haut und ihrem lockigen Haar, das ebenso blond war wie Sandmans. Sie war hübsch mit ihren hellblauen Augen, der nicht durch Pockennarben entstellten Haut und ihrem ansteckenden Lächeln. «Das Kleid steht Ihnen wirklich gut», sagte er.

«Es ist das einzige halbwegs gute Kleid, das ich habe», sagte sie. «Es muss mir also gut stehen. Danke.» Sie reichte ihm den Brief. «Machen Sie die Augen zu, drehen Sie sich drei Mal auf der Stelle und sagen Sie laut den Namen Ihrer Liebsten, bevor Sie ihn aufmachen.»

Sandman grinste. «Und wozu soll das gut sein?»

«Das bedeutet gute Nachrichten, Captain», erklärte sie ernsthaft, «gute Nachrichten.» Mit einem Lächeln verschwand sie.

Sandman lauschte ihren Schritten auf der Treppe nach und betrachtete den Brief. Vielleicht war es eine Antwort auf seine Anfragen wegen einer Stelle? Das Briefpapier war ohne Zweifel von bester Qualität, und die Handschrift wirkte gebildet und stilvoll. Er schob einen Finger unter die Umschlagklappe, um das Siegel zu erbrechen, hielt aber dann inne. Obwohl er sich vorkam wie ein Narr, schloss er die Augen, drehte sich drei Mal auf der Stelle und sprach laut den Namen seiner Liebsten: «Eleanor Forrest.» Dann öffnete er die Augen, brach das rote Briefsiegel auf und faltete den Bogen auseinander. Er las, las noch einmal und überlegte, ob es eine gute Nachricht war.

Der Ehrenwerte Viscount Sidmouth entbot Captain Sandman seinen Gruß und bat um die Ehre seines baldigsten Besuchs, vorzugsweise am Vormittag in Lord Sidmouths Büro. Um umgehende Antwort an Lord Sidmouths Privatsekretär wurde gebeten.

Sandmans erster Gedanke war, dass der Brief schlechte Neuigkeiten bedeuten müsse, dass sein Vater den Viscount Sidmouth ebenso betrogen habe wie so viele andere und dass Seine Lordschaft ihm nun schrieb, um Ansprüche auf die jämmerlichen Überreste des Sandman-Vermögens zu erheben. Das war jedoch Unsinn. Soweit Rider Sandman wusste, war sein Vater Lord Sidmouth nie begegnet, denn wäre das der Fall gewesen, so hätte er sich zweifellos damit gebrüstet, da Sandmans Vater die Gesellschaft bedeutender Männer geliebt hatte. Und es gab nur wenige bedeutendere Männer als den Ehrenwerten Henry Addington, erster Viscount Sidmouth, ehemaliger Premierminister von Großbritannien und nun Innenminister Seiner Majestät.

Weshalb wollte der Innenminister Rider Sandman sehen?

Es gab nur eine Möglichkeit, es zu erfahren.

Sandman zog sein sauberstes Hemd an, putzte seine abgetragenen Stiefel mit dem schmutzigsten Hemd, bürstete seinen Rock aus, kleidete sich, seine Armut verleugnend, als der Gentleman, der er war, und machte sich auf den Weg zu Lord Sidmouth.

 

Viscount Sidmouth war ein durch und durch dünner Mann mit dünnen Lippen, dünnem Haar, dünner Nase, schmalem Kiefer, spitzem Kinn und Augen von der Wärme eines spitz behauenen Feuersteins. Seine dünne Stimme war präzise, trocken und unfreundlich. In seinem Spitznamen, «der Doktor», schwang weder Wärme noch Zuneigung mit, aber er war treffend, denn Seine Lordschaft war nüchtern, missbilligend und kalt. Er hatte Sandman zwei und eine viertel Stunde warten lassen, doch daraus konnte Sandman dem Innenminister wohl keinen Vorwurf machen, da er unangemeldet in seinem Büro erschienen war. Nun, während eine Schmeißfliege an einem der Oberlichter brummte, musterte Lord Sidmouth seinen Besucher stirnrunzelnd über den Schreibtisch hinweg. «Sir John Colborne hat Sie empfohlen.»

Sandman antwortete mit einem wortlosen Kopfnicken. Es gab nichts zu sagen. Eine Großvateruhr tickte laut in einer Ecke des Büros.

«Sie waren in Sir Johns Bataillon in Waterloo, stimmt das?», fragte Sidmouth.

«Ja, Mylord.»

Sidmouth knurrte, als habe er nicht viel für Männer übrig, die in Waterloo waren, und Sandman überlegte, dass dies durchaus denkbar war, da Großbritannien sich mittlerweile in zwei Lager zu spalten schien, in die Männer, die gegen die Franzosen gekämpft hatten, und jene, die zu Hause geblieben waren. Die Letzteren waren neidisch, vermutete Sandman, und deuteten ganz gern an, sie hätten die Chance verpasst, sich im Ausland zu amüsieren, weil schließlich jemand den Wohlstand Britanniens habe sicherstellen müssen. Die Kriege gegen Napoleon lagen inzwischen zwei Jahre zurück, aber diese Kluft hielt sich beharrlich, obgleich Sir John Colborne einen gewissen Einfluss bei der Regierung besitzen musste, wenn seine Empfehlung bewirkt hatte, dass man Sandman zum Innenminister rief. «Sir John teilt mir mit, dass Sie eine Anstellung suchen?», fragte der Innenminister.

«Ich muss, Mylord.»

«Muss?», hakte Sidmouth nach. «Muss? Sie beziehen doch als ehemaliger Offizier sicher ein Ruhegeld? Und Ruhegeld ist kein geringes Einkommen, möchte ich meinen?» Die Frage klang säuerlich, als missbillige Seine Lordschaft zutiefst, dass Pensionen an Männer gezahlt wurden, die durchaus imstande waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

«Ich habe keinen Anspruch auf Ruhegeld, Mylord», sagte Sandman. Er hatte sein Offizierspatent verkauft und wegen der Friedenszeiten weniger dafür erzielt, als er erhofft hatte, aber es hatte gereicht, um ein Haus für seine Mutter zu pachten.

«Sie haben keine Einkünfte?», fragte Sebastian Witherspoon, der Privatsekretär des Innenministers, von seinem Stuhl neben dem Schreibtisch seines Herrn.

«Nur geringe», antwortete Sandman, hielt es aber für besser, nicht zu sagen, dass er sein kleines Einkommen mit Kricket verdiente. Der Viscount Sidmouth wirkte nicht wie ein Mann, der so etwas billigen würde. «Nicht genug», berichtigte Sandman seine Antwort, «und ein großer Teil dieser Einkünfte fließt in die Begleichung kleinerer Schulden meines Vaters. Schulden bei Kaufleuten», fügte er für den Fall hinzu, dass der Innenminister annehmen könnte, er versuche die beträchtlichen Summen abzuzahlen, die er wohlhabenden Investoren schuldete.

Witherspoon runzelte die Stirn. «Rechtlich sind Sie nicht für die Schulden Ihres Vaters verantwortlich, Sandman.»

«Ich bin für den guten Namen meiner Familie verantwortlich», antwortete Sandman.

Lord Sidmouth schnaubte verächtlich, sei es als Hohn über Sandmans guten Namen, als ironische Antwort auf seine offenkundigen Skrupel oder, was wahrscheinlicher war, als Kommentar zu Sandmans Vater, der sich angesichts einer drohenden Inhaftierung oder Verbannung wegen seiner hohen Schulden das Leben genommen, seinem Namen Schande gemacht und seine Frau und seine Familie ruiniert zurückgelassen hatte. Der Innenminister musterte Sandman lange und säuerlich und schaute dann zu der Schmeißfliege, die gegen das Fenster flog. Die Großvateruhr tickte hohl. Im Zimmer war es heiß. Sandman spürte unbehaglich den Schweiß, der sein Hemd durchnässte. Das Schweigen zog sich in die Länge, während der Innenminister, wie Sandman vermutete, abwog, ob es klug sei, dem Sohn Ludovic Sandmans eine Stellung anzubieten. Fuhrwerke rumpelten unter dem Fenster vorbei. Hufgeklapper durchschnitt die Luft. Endlich kam Lord Sidmouth zu einer Entscheidung: «Ich brauche einen Mann für eine Aufgabe, aber ich sollte Ihnen gleich sagen, dass es sich nicht um eine dauerhafte Position handelt. Es ist keineswegs dauerhaft.»

«Es ist alles andere als dauerhaft», warf Witherspoon ein.

Sidmouth wirkte verdrossen über den Beitrag seines Sekretärs. «Die Position ist durchaus vorübergehend», sagte er mit einer Geste auf einen großen, hüfthohen Korb, der voller Papiere auf dem Teppich stand. Manche waren gerollt, andere gefaltet und mit Siegellack verschlossen, während einige ihren Anspruch auf amtlichen Charakter durch rotes Band kenntlich machten. «Das sind Petitionen, Captain», erklärte Lord Sidmouth in einem Ton, der seine Verachtung für Bittschriften unverhohlen zum Ausdruck brachte. «Ein verurteilter Verbrecher kann an den Regenten ein Gnadengesuch stellen oder sogar um vollständigen Straferlass ersuchen. Das ist ihr Vorrecht, Captain, und sämtliche Petitionen dieser Art aus ganz England und Wales landen in diesem Büro. Wir bekommen davon alljährlich an die zweitausend! Anscheinend gelingt es jedem zum Tode Verurteilten, in seinem Namen eine Petition einreichen zu lassen, und alle müssen gelesen werden. Werden sie nicht alle gelesen, Witherspoon?»

Sidmouths Sekretär, ein junger, pausbäckiger Mann mit stechenden Augen und eleganten Manieren, nickte. «Sicher werden sie geprüft, Mylord. Es wäre nachlässig von uns, solche Bitten unbeachtet zu lassen.»

«Nachlässig, wahrhaftig», sagte Sidmouth feierlich, «und wenn das Verbrechen nicht allzu abscheulich ist, Captain, und wenn Personen von Stand bereit sind, sich für den Verurteilten zu verwenden, zeigen wir eventuell Milde. Wir verwandeln möglicherweise ein Todesurteil in, sagen wir, eine Verbannung.»

«Sie, Mylord?», fragte Sandman, verwundert über das Wörtchen «wir».

«Die Petitionen sind an den König gerichtet», erklärte der Innenminister, «aber die Entscheidung liegt im Grunde bei mir. Meine Entscheidungen werden anschließend vom Kronrat ratifiziert, und ich kann Ihnen versichern, Captain, ich meine ratifiziert, nicht in Frage gestellt.»

«Wahrhaftig nicht!» Witherspoon klang amüsiert.

«Ich entscheide», erklärte Sidmouth gehässig. «Es gehört zu den Zuständigkeiten dieses hohen Amtes, Captain, zu entscheiden, wer hingerichtet und wer verschont wird. In Australien gibt es Hunderte Seelen, die ihr Leben diesem Amt verdanken, Captain.»

«Und ich bin sicher, dass ihre Dankbarkeit keine Grenzen kennt», warf Witherspoon aalglatt ein.

Sidmouth schenkte seinem Sekretär keine Beachtung, sondern schob Sandman eine mit Band versehene Schriftrolle zu. «Und ab und an, allerdings äußerst selten, veranlasst eine Petition uns zu einer Untersuchung des Sachverhalts. In diesen seltenen Fällen beauftragen wir jemanden mit einer Untersuchung, allerdings tun wir das nur ungern, Captain.» Er stockte, offensichtlich um Sandman Gelegenheit zu der Frage zu geben, warum das Innenministerium nur widerstrebend eine Untersuchung einleitete, aber diese Frage kam Sandman anscheinend nicht in den Sinn, während er das Band der Schriftrolle entfernte. «Ein zum Tode Verurteilter hat in jedem Fall ein Gerichtsverfahren hinter sich», erklärte der Innenminister dennoch. «Er oder sie wurde von einem Gericht für schuldig befunden und verurteilt, und es ist nicht Aufgabe der Regierung Seiner Majestät, Fakten zu überprüfen, die von einem ordentlichen Gericht festgestellt wurden. Es entspricht nicht unserer Politik, die Gerichtsbarkeit zu untergraben, Captain, doch ab und an, äußerst selten, führen wir eine Untersuchung durch. Bei dieser Petition handelt es sich um einen dieser seltenen Fälle.»

Sandman entrollte die Bittschrift, die in bräunlicher Tinte auf billigem gelbem Papier geschrieben war. Er las: Got ist mein Zeuge, er is ein guhter Junge. Er könnte nie die Lady Avebury umbringen. Got weis, das er nicht mal ner Fliege was thun könnte. In dieser Weise ging es noch lange weiter, aber Sandman konnte nicht länger lesen, da der Innenminister seine Erläuterungen fortsetzte.

«Die Angelegenheit betrifft Charles Corday», erklärte Lord Sidmouth. «Das ist nicht sein richtiger Name. Wie Sie selbst sehen, stammt die Petition von Cordays Mutter, die mit Cruttwell unterschreibt, aber der Junge hat offenbar einen französischen Namen angenommen. Weiß Gott, warum. Er wurde wegen Mordes an der Countess of Avebury verurteilt. Sie erinnern sich sicher an den Fall?»

«Ich fürchte, nein, Mylord», antwortete Sandman. Er hatte sich nie für Kriminalfälle interessiert, nie die Newgate Calendars gekauft oder die Handzettel gelesen, die berühmt-berüchtigte Schurken und ihre verruchten Taten feierten.

«Da gibt es nichts Geheimnisvolles», sagte der Innenminister.