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Die Situation der großen Unternehmen ist heute durch einen immensen äußeren Druck gekennzeichnet: Die Digitalisierung bringt neue, kannibalisierende Geschäftsmodelle hervor, Kunden vernetzen sich über Social Media und entlarven jeden Marketingsprech und die kreativen Toptalente bewerben sich lieber bei Start-ups. Um diese Herausforderungen als Chance zu nutzen und nicht an ihnen zu scheitern, braucht es die Fähigkeit zu wirklicher Innovation anstatt lediglich kleinschrittiger Verbesserungen des Status quo. Im Kern ist dafür ein radikaler Wandel der Strukturen und der Kultur, wie Menschen in den Unternehmen zusammenarbeiten, nötig. Pia Struck zeigt auf, welche Rahmenbedingungen und welches Verhalten Menschen dazu bringen, mit ihren gesamten Fähigkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Begeisterung für ein Unternehmen zu arbeiten. Das Buch weist Führungskräften und Firmenlenkern Wege zu einer solchen Organisation, in der Menschen bereit sind, ihr Bestes zu tun.
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Seitenzahl: 245
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Meinem Mann.
Meinen Kindern.
Meinen Eltern.
Ihr seid eine große Kraft. Ich bin Euch unendlich verbunden.
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
kennen Sie die Hinter- und die Vorderbühne in Unternehmen und Konzernen? Auf der Vorderbühne besprechen sich Mitarbeiter und Führungskräfte in Meetings mithilfe von PowerPoint- und Excel-Dokumenten, die vorher in verschiedenen Abstimmungsschleifen »aligned« wurden. Sie befüllen und ändern KPI-Dokumentationen, Balanced Scorecards, Ampelsysteme und Ablaufhandbücher. Sie implementieren Prozesse und neue Strukturen, dokumentieren, motivieren, rechtfertigen, planen und setzen manches davon auch um.
Auf der Hinterbühne aber klagen dieselben Mitarbeiter und Führungskräfte über diesen Wahnsinn. Sie tauschen sich darüber aus – auf dem Flur, in der Kantine und hinter verschlossener Tür. Sie zweifeln an, ob das Unternehmen mit der Vielzahl steuernder, abstimmender und kontrollierender Tätigkeiten jenseits der direkten, wertschöpfenden Kernleistung des Unternehmens noch lange so weitermachen kann. Und sie fragen sich, warum es das Unternehmen nicht schafft, das Know-how der Mitarbeiter und Kunden mehr in die Gestaltung des Ganzen einfließen zu lassen.
Die meist folgenlosen Diskussionen auf der Hinterbühne zeigen, wie die heutige Art und Struktur der Zusammenarbeit Mitarbeiter und auch Führungskräfte überfordert und deprimiert. Gleichzeitig ruft das Management laut nach mehr internem Unternehmertum, bereichsübergreifendem Denken und Handeln, mehr Eigeninitiative und Verantwortungsübernahme der Mitarbeiter. Aber alle machen weiter wie bisher, denn das System scheint unumgänglich und von der obersten Führung vorgegeben und gewollt.
Wie kann ein anderer Weg aussehen? Das ist die Frage, die mich in meiner Arbeit in den großen Konzernen dieses Landes seit nunmehr 15 Jahren beschäftigt. Zunächst hat mich die Suche nach Alternativen vor allem deshalb interessiert, weil ich es erschreckend fand, wie wenig die Strukturen der großen Konzerne es schaffen, das Herzblut ihrer Mitarbeiter fließen zu lassen. Nur 14 Prozent der Mitarbeiter in großen Unternehmen sind sehr motiviert. Mir war immer klar, dass ein Mensch, der mit Leidenschaft seiner Arbeit nachgeht, um ein Vielfaches bessere Arbeit leistet. Und ich wunderte mich immer wieder darüber, dass nicht dieser Aspekt in den Vordergrund von Effizienzdiskussionen gelangt. In den letzten Jahren kam ein weiterer wichtiger Aspekt dazu, als ich immer mehr beobachten konnte, wie die Strukturen der Konzerne auch dazu führen, dass kreative Mitarbeiter die Unternehmen verlassen und diese zu Monokulturen der Rationalen, Durchsetzungsfähigen oder Angepassten werden. Ich fragte mich, was das für die Innovationsfähigkeit bedeuten würde, und konnte gleichzeitig beobachten, wie ein Effizienzprojekt dem nächsten folgte.
Die Start-up-Kultur und die vielfältigen, sehr erfolgreichen auf Digitalisierung beruhenden Geschäftsmodelle haben mir dann vor Augen geführt, welche Gefährdungssituation sich für die klassischen Konzerne aufbaut, wenn sie es nicht schaffen, die Art ihrer Zusammenarbeit strukturell und kulturell zu verändern. Das war für mich der Auslöser, strukturiert zu erforschen, welche Faktoren denn die Vorderbühne von der Hinterbühne trennen und was genau die 86 Prozent wenig motivierte Mitarbeiter beklagen. Außerdem wollte ich der Frage nachgehen, ob es Unternehmen gibt, die ein anderes Vorgehen gewählt haben und dadurch andere Ergebnisse erzielen.
Gerne möchte ich Sie mit diesem Buch einladen, meinem Forschungsprozess zu folgen und die spannenden Entdeckungen zu verstehen, die ich machen durfte. Vielleicht gelingt es mir, Ihre Neugier zu wecken auf Fragen, die Ihnen heute möglicherweise unlösbar erscheinen: Wie kann man in neun Jahren ein Unternehmen organisch aufbauen, das heute 9500 Mitarbeiter hat, Marktführer mit 60 Prozent Marktanteil ist, stets schwarze Zahlen schreibt und mit 60 Personen Overhead und ohne eine einzige Führungskraft auskommt? Warum ist es am effizientesten und rational auch am klügsten, auf Kontrolle im Unternehmen gänzlich zu verzichten?
Die Reise in diesem Buch beginnt mit einer Analyse, um den Fehler zu vermeiden, die einfachen Lösungen der Vergangenheit zu reproduzieren. Es geht um fundiertes neues Denken und neues Handeln, liebe Leserinnen und Leser, und keinesfalls um »Quick Wins«. Mein Fazit heute ist: Es muss sich definitiv etwas Großes ändern in den Unternehmen. Und dafür braucht es Mut, Know-how und Menschen wie Sie, die die Gesamtzusammenhänge verstanden haben und sie tatkräftig in die Unternehmensrealität einfließen lassen möchten.
Und nun noch eine augenzwinkernde Warnung meinerseits: Es könnte passieren, dass Sie mit manifesten Glaubenssätzen konfrontiert werden, die Ihr Handeln bisher gelenkt haben und die Sie auf Basis neuer Erkenntnisse nun über Bord werfen.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mit mir unter www.piastruck.de/blog über die im Buch dargestellten Thesen und Zusammenhänge diskutieren. Ganz besonders schätze ich sachlich-fundierte Kontroversen. Sie auch?
Herzlichst Ihre Pia Struck
P.S. Und ganz zum Schluss der folgende Hinweis: Im gesamten Buch verwende ich meist männliche Formen, zum Beispiel der Kunde, der Mitarbeiter und so weiter. Es sind in diesen Fällen immer Frauen und Männer gemeint, aber zugunsten der besseren Lesbarkeit habe ich meist auf die Nennung beider Geschlechter verzichtet.
Der Wandel der äußeren Einflussfaktoren auf und der inneren Anforderungen an Unternehmen und Konzerne ist seit einigen Jahren dramatisch. Längst befinden wir uns in einer Welt, die sich stetig und schnell ändert. Doch nicht die Massivität des Wandels ist bemerkenswert, sondern auch, dass die Unternehmen fast schon kollektiv von der Komplexität der neuen Herausforderungen überfordert sind. Sie nutzen die alten Landkarten, um in der neuen Welt zu navigieren. Die Verunsicherung der Unternehmen ist nicht sofort offensichtlich, sondern sie ist erst in den letzten Jahren stetig gewachsen und wird zunehmend offener benannt. Die Überforderung zeigt sich in den Unternehmen in einer Haltung, die es unmöglich macht, eine Analyse der mittelfristigen Einflussfaktoren auf das Unternehmen zu erstellen und adäquate Reaktionen darauf zu entwickeln. Und sie zeigt sich auch darin, dass die Verunsicherung nicht in den offiziellen Unternehmensforen angesprochen, sondern tabuisiert und dadurch auf die Hinterbühne des Unternehmens – in Kaffeeküchen- und Kantinengespräche – verbannt wird.
Die Unternehmen beschäftigen sich in ihrem gemeinsamen Denk- und Diskussionsprozess nach wie vor fast ausschließlich mit der schrittweisen Verbesserung und Weiterentwicklung ihrer bestehenden Produkte. Ich nenne dieses Vorgehen den Weg der inkrementellen Optimierung. Ein solches Vorgehen sind sie gewohnt, hierin sind sie sehr gut. Aber diese Gewohnheit verstellt ihnen die Sicht auf Einflussfaktoren, die mittelfristig das gesamte Geschäft des Unternehmens bedrohen. In den USA gibt es eine neue Wortschöpfung: being kodaked. Sie steht für Unternehmen, die den Wandel nicht meistern und vom Markt verschwinden, so wie es Kodak als ehemaligem Marktführer im Bereich der analogen Fotografie erging. Durch die Verweigerung, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, weil sie zu bedrohlich für das bestehende Geschäft wirkte, ist das Unternehmen ganz verschwunden.
Die Kopf-in-den-Sand-Strategie ist also keine – doch genau dieses Vorgehen haben Konzerne hierzulande jahrelang praktiziert. Nehmen Sie nur die Mehrheit der deutschen Automobilkonzerne und das Thema Elektromobilität. Jahrzehntelang behauptete man mit Inbrunst, das sei nicht sinnvoll, nicht machbar und so weiter. Erst der Erfolg von Tesla, die großen Fortschritte von Toyota und der Markteintritt von Innovationsplayern wie Google haben dazu geführt, dass hier ein Umdenken passiert. So haben sich endlich im November 2015 die Konzerne Daimler und Volkswagen zusammengetan, um die wichtige Frage der Batterieproduktion gemeinsam zu lösen. Die Tatsache, dass Elon Musk, der Gründer von Tesla, verkündet hat, in einer strukturschwachen Gegend Deutschlands eine Batterieproduktion aufzubauen, hat dazu sicher beigetragen.
Im Epizentrum dieses Umgangs mit den disruptiven äußeren Veränderungen auf das Unternehmen stehen das Topmanagement-Team und seine Arbeitsweise. Ich kenne wenige Teams, die miteinander einen Denk-und Diskussionsprozess vollziehen, in dem sie sich gemeinsam eine Sichtweise auf die wesentlichen Herausforderungen der Zukunft erarbeiten. Würden sie das tun, wäre viel geschafft auf dem Weg »not to be kodaked«. Zumeist ist die Arbeitsweise des Topmanagement-Teams hochgradig arbeitsteilig organisiert, was in der gesamten Organisation zu dem Effekt der »Silobildung« beiträgt. So vorzugehen, mag für Unternehmen adäquat sein, deren Rahmenbedingungen stabil sind. Die Herausforderungen heute brauchen jedoch übergreifende, vernetzte und das gesamte Unternehmen betreffende Lösungen – und die werden so nicht hervorgebracht, weil dafür »die Silos« gemeinsam zum Wohle des Ganzen agieren müssten. So kommt es weiter häufig nur zu Optimierungen anstatt zu wirklichen Innovationen – genau diese braucht es aber, um zukunftsfähig zu sein und zu überleben.
Kennen Sie die kleine Geschichte vom Frosch im Wassertopf? Durch die nur gradweise Erhitzung des Wassers verpasst der Frosch den Zeitpunkt, sein Leben durch den ihm jederzeit möglichen Sprung aus dem Topf zu retten. Er stirbt. Ich möchte Sie einladen, mit mir zu schauen, wie heiß das Wasser in den Unternehmen ist, welche Faktoren zu dieser Erhitzung beitragen, und ich möchte auf die Suche nach Lösungen und funktionierenden Ansätzen gehen, mit denen die hoch krisenhafte, aber in großen Teilen unbewusste Situation der großen Unternehmen verändert werden kann. Nur so können Konzerne sich am Markt gegenüber den Unternehmen behaupten, die in den letzten 15 Jahren bereits mit einer völlig anderen Strategie, Kultur und Struktur gegründet wurden. Ich halte die Gestaltung dieses Wandels für die zentrale Aufgabe jedes Topmanagement-Teams und jeder Führungskraft heute. Nur durch das Annehmen dieser mutigen und durchaus komplexen Aufgabe wird es gelingen, das Unternehmen durch die von starkem Wandel und Unsicherheit geprägte und die Unternehmen revolutionierende Zeit zu navigieren.
Welche starken Wirkkräfte beeinflussen denn überhaupt das heutige Umfeld der Unternehmen besonders und werfen ihre Schatten auf das Morgen voraus? Die Grafik auf der folgenden Seite soll Ihnen einen ersten Eindruck vermitteln.
»Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden.«
Angela Merkel
Ein Ereignis oder eine Erfindung, das bzw. die dazu führt, dass ganze gesellschaftliche oder unternehmerische Umwelten und ihre bis dahin zum Erfolg führenden Strategien sich radikal verändern, bezeichnet man auch als Game Change. Solche Ereignisse sind äußerst selten und prägen und verändern die Menschheitsgeschichte elementar. In unserer Vergangenheit waren es die Zähmung und Nutzung des Feuers, die Erfindung des Rads, der Buchdruck, die Nutzbarmachung der Elektrizität und die Entwicklung des Verbrennungsmotors, die zu disruptiven Weiterentwicklungen in der Menschheit geführt haben.
Für Wirtschaftsunternehmen haben diese Veränderungen ebenfalls radikale Folgen, weil sie den Einfluss unterschätzen oder gar nicht in der Lage sind, ihre Produkte und Dienstleistungen so weiterzuentwickeln, dass sie weiterhin attraktiv sind. So gab es natürlich früher sehr erfolgreiche Kerzen- oder Kutschenhersteller, deren Namen heute niemand mehr kennt, weil die Firmen Osram, Daimler und Ford die Märkte der Beleuchtung bzw. der individuellen Mobilität übernommen haben. Warum ist das wichtig zu verstehen? Weil wir den nächsten Game Change haben und die Geschäftsmodelle vieler deutscher Unternehmen trotzdem noch aus »Kerzen- und Kutschenherstellen und -verbessern« bestehen. Aber es ist noch schlimmer: Die meisten Kerzen- und Kutschenhersteller verstehen leider noch gar nicht, dass unsere Wirtschaft mittendrin ist in einem derartigen disruptiven Wandel.
Der Game Change, der unsere Wirtschaft und unsere Art zu arbeiten in den letzten beiden Jahrzehnten massiv verändert hat, ist die Digitalisierung mit all ihren nachfolgenden Auswirkungen. Eine für uns nicht mehr wegzudenkende Folge der Digitalisierung ist die Entstehung des Internets. Seine Erfindung hat zunächst dafür gesorgt, dass wir wesentlich schneller und einfacher miteinander kommunizieren können. Das hat die Kontakthäufigkeit zwischen den Mitarbeitern in den Unternehmen drastisch erhöht. Vielleicht erinnern Sie sich noch an vergangene Zeiten, in denen man auf das klassische Tastentelefon am Arbeitsplatz und den Postbrief angewiesen war, um miteinander zu kommunizieren, wenn ein direktes Gespräch von Angesicht zu Angesicht nicht möglich war. Wie viel langsamer, informations-und kontaktärmer war diese Zeit im Vergleich zu heute – und wie stark hat sie sich in den letzten zirka 25 Jahren gewandelt und tut es noch.
Die Nutzung von E-Mails beispielsweise steigt stetig weiter: Derzeit werden täglich weltweit rund 89 Millionen E-Mails versendet – mit einer jährlichen weiteren Wachstumsquote von 13 Prozent (Quelle: statista.de). Gleichzeitig werden in den Unternehmen Stimmen laut, die das nicht nur positiv kommentieren – der Stress, den diese Kontakthäufigkeit und die sich auf den Abend und das Wochenende erstreckende Erreichbarkeit auslöst, tritt verstärkt ins Bewusstsein. Die Tatsache, dass wir das Internet mit mobilen Geräten überall nutzen können, hat zu einer großen Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Beruf und Privatleben geführt. Und wir stecken hier immer noch in den Kinderschuhen: 2007 kamen die ersten Smartphones auf den Markt – erst sie haben den Schritt ermöglicht, fast jeden Menschen überall und zu jeder Zeit mit Informationen und Kommunikationsanfragen erreichen zu können. Wir befinden uns in diesem Neuformungsprozess unserer Kommunikation an einem Punkt, der etwa einem Zeitpunkt in der Vergangenheit entspricht, der vermutlich irgendwo zwischen den von den Neandertalern genutzten Flintsteinen und Messer und Gabel liegt. Von einer »Kulturtechnik moderner Tischsitten« lässt sich da ganz sicher noch nicht reden. Zugegeben, die Entwicklungsgeschwindigkeit ist heute eine andere, aber die Neugestaltung der Kommunikation im digitalen Zeitalter ist immer noch in der Entwicklung und wir suchen individuell und kollektiv nach einer Form, die unsere Arbeit und unser Leben optimal unterstützt. Haben Sie Kinder mit Smartphones zu Hause? Dann wissen Sie ja, was ich meine.
In Unternehmen führt die veränderte Kommunikationsart also nicht nur zur Entlastung. Gerade die Leichtigkeit, mit der Kommunikation via E-Mail, Chat und SMS passiert, führt zu einem erheblichen Ausmaß an Fehlsteuerungen und unnötig Involvierten. Jeder wird von seinen eigentlichen Aufgaben abgelenkt, wenn er Nachrichten – egal über welchen Kanal – erhält. Dadurch, dass die Kommunikation auf diesen digitalen Wegen so verführerisch schnell und leicht durchzuführen ist, fehlt oft auch die Zeit für die ausreichende Reflexion des Inhalts, für eine passende Antwort und die Auswahl eines adäquaten Adressatenkreises. Die gesamte Kommunikation ist beschleunigt, und so wird auch sehr oft die erste spontane Reaktion, der erste spontane Gedanke genommen, um eine Nachricht zu formulieren. Meistens enthalten Mails aber Konkretisierungen, Aussagen, Nachfragen oder gar Handlungsanweisungen. Und der Empfängerkreis reagiert auf die gleiche Art: wenig Reflexion, Antwort an alle, Anweisungen weiterschieben … Was hier in den Unternehmen stattfindet, gleicht einem Pingpongspiel, bei dem jeder Spieler versucht, den Ball in der Luft zu halten und ihn möglichst schnell wieder aus dem eigenen Bereich in den Bereich der anderen zurückzuschlagen. Überproportional häufig entstehen so Missverständnisse, die sich im System potenzieren und dadurch die Zeit für saubere, konzeptionelle Arbeit, Vorbereitung, Nachfragen, Austausch mit anderen und so weiter radikal dezimieren.
Die Art, wie die Digitalisierung unsere Kommunikationsweise verändert, hat die Globalisierung im heutigen Umfang ermöglicht. Die kommunikative Nähe der Weltteile zueinander hat zu einer gesteigerten Vergleichbarkeit von Waren und Dienstleistungen geführt, die unmittelbar auf das Wie und Wo der Leistungserbringung von Unternehmen Einfluss nimmt und den Möglichkeitsraum stark erweitert. Außerdem hat die Schaffung von firmeninternen Netzwerken dazu geführt, dass Prozesse und Kooperation unterstützt und effizienter gestaltet werden. Ein weiterer massiver Veränderungseinfluss ist die Tatsache, dass Video-, Audio- und Textinformationen seither zu Grenzkosten nahe null zur Verfügung gestellt und jederzeit von einem großen Teil der Weltbevölkerung abgerufen werden können. Ein Effekt, der die gesamte Medien- und Unterhaltungsindustrie umwälzt. Die Schwächung der Rolle der ehemals übermächtigen Hollywood-Studios zugunsten von Anbietern wie Netflix oder YouTube sind eine Folge. Die Erosion des klassischen Journalismus durch Gratisinhalte im Netz, neue Online-Medien und privat gestartete Blogs, die durch gute Inhalte über Social-Media-Marketing Nutzer generieren, eine weitere. Allein die Tatsache, dass Alphabet (ehemals Google) – ein Anbieter, den alle jahrelang nur für eine Suchmaschine hielten und der Digitalisierung wirklich verstanden hat – heute das mächtigste Unternehmen der Welt ist, sollte eigentlich deutlich zeigen, was die Stunde geschlagen hat.
Gerade vor dem Hintergrund, dass ständig neue Ideen, Methoden, Apps, Marktplätze und Systeme auf dem Markt erscheinen, die etwas anbieten, auf das bisher keiner gewartet hat, das aber einschlägt wie eine Bombe, macht deutlich, an welcher Stelle dieser Entwicklung wir stehen. Wissen Sie, dass es Kodak-Ingenieure waren, die die Digitalfotografie erfunden haben? Und wissen Sie, dass es das Kodak-Topmanagement war, das es abgelehnt hat, diese Erfindung auf den Markt zu bringen? Man argumentierte damals damit, dass die Digitalfotografie eine Bedrohung für die Mitarbeiter sei. Eine krasse Fehleinschätzung, denn genau deshalb arbeitet heute bei Kodak kein einziger Mitarbeiter mehr.
Die Digitalisierung erfasst eine Branche nach der anderen und stellt bestehende Geschäftsmodelle auf den Kopf. Wir sind in einem Wandlungsprozess, der abhängig von Wertschöpfungstiefe, Affinität der Produkte zur Digitalisierung und Patentschutz bestehender Produkte Branche für Branche durchläuft. Und gleichzeitig erlebt Deutschland eine wirtschaftlich sehr stabile, erfolgreiche Zeit, die möglicherweise die trügerische Sicherheit suggeriert, es werde schon nicht so dramatisch werden. Gefährlich ist dabei die Haltung vieler Unternehmen, die die Digitalisierung bereits als Selbstverständlichkeit oder wahlweise auch als Störung wahrnehmen und behandeln. Durch diese Einstellung wird der sich immer stärker abzeichnende revolutionierende Effekt auf die Art, wie gearbeitet wird und welche möglichen neuen Geschäftsmodelle möglich sind, nicht mehr wahrgenommen. Frosch im Wassertopf … Natürlich fehlt den Führungskräften im Unternehmen auch schlicht die eigene Erfahrung mit einem solchen Game Change, um die Dauer des Prozesses, seine Phasen und die Wichtigkeit eines unternehmensübergreifenden Innovationsbewusstseins abzuschätzen. Es wird nicht verstanden, dass das gesamte Unternehmen eine neue Innovationskultur braucht, um nicht zu einem sterbenden System zu werden. Beobachten lässt sich das daran, dass im Moment viele Innovationen zwar durch das Unternehmen initiiert werden, aber als separate Einheit ohne große innere und räumliche Anbindung an das Stammhaus entstehen – so zum Beispiel das bereits genannte Mobilitätskonzept »Car2Go« von Daimler.
Viele Manager behaupten, wahre Innovation könne nur von außen kommen. Damit erklären sie die großen Unternehmen per se zu innovationsfeindlichen Zonen, was einen negativen Einfluss auf das Engagement hat und darauf, wie lange kreative Köpfe im Unternehmen bleiben. Mit einem solchen Vorgehen werden Unternehmen nicht für den Wandel befähigt, sondern von innen ausgehöhlt und auf die Erstellung von »Commodities« reduziert, solange diese noch gebraucht werden.
Der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin erläutert in »Die Zeit« (Ausgabe 50, 4.12.2014), welche Faktoren das neue Wirtschaftszeitalter prägen werden: »Es entsteht das Internet der Dinge, das in Wirklichkeit eine Dreiteilung des Internets in ein Kommunikationsnetz, ein Energienetz und ein Transportnetz ist. Dieses Netz hat Sensoren in der gesamten Wirtschaft, um jedes Gerät, jede Maschine und jeden Menschen zu verbinden.« Rifkin setzt für diesen Wandlungsprozess den Zeitraum der nächsten 40 bis 50 Jahre an. Auch die Zeitdauer dieses Wandlungsprozesses erschwert es den Führungskräften in den Unternehmen, sich seiner in einer der Relevanz angemessenen Form anzunehmen. Die dringenden und kurzfristigen Probleme drängen sich in den Vordergrund der oft nur befristet angestellten Manager und versperren den Blick auf das eigentliche revolutionierende Geschehen.
An der Fähigkeit, das Wesentliche vom Dringenden zu unterscheiden und ihm im unternehmerischen Denkprozess seinen ihm zustehenden Platz zu geben, werden sich künftige Gewinner und Verlierer erkennen lassen. Bestehende Branchen werden in diesem Prozess durch von außen kommende, innovative Marktplayer, die bisher noch keine große Rolle spielten, unter Druck gesetzt. Das wird zu einer Konsolidierung und zum Verschwinden etlicher, derzeitig noch marktprägender Unternehmen führen. Es ist also definitiv höchste Zeit, sich mit den aufkommenden transformierenden Impulsen der Digitalisierung zu beschäftigen.
Wie schwer das ist, durfte ich in der Begleitung einer Gruppe Geschäftsführer, Vorstände und Berater erleben, die sich zum Thema »Machine-to-Machine-Kommunikation« mit den Möglichkeiten und Auswirkungen des von Rifkin skizzierten Umbruchs für ihr Unternehmen und ihren Markt beschäftigen sollten. Fast alle Mitglieder der Gruppe suchten nach Patentrezepten und vorgefertigten Anwendungsmöglichkeiten. Nahezu jeder hatte erkannt, dass sich hier eine technische Veränderung vollzieht, die die Kernprozesse im eigenen Unternehmen und am Markt komplett verändern wird. Es war deutlich zu sehen, dass das erlernte Vorgehen darin besteht, in partiellen Optimierungen zu denken. Die benötigte holistische, die Grenzen überschreitende, neue Denkweise überforderte die Gruppe. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wie wir ausgebildet werden. Das Schul- und Universitätssystem lehrt uns Wissen, welches bereits vorhanden ist. Neues zu entwickeln oder bestehendes Wissen in neue Kombinationsformen zu bringen und so zu neuen Lösungen zu kommen, ist meist nicht Teil der Ausbildung. Der Effekt davon ist, dass 96 Prozent der Kinder vor ihrer Einschulung »hochbegabt« im Bereich »kreatives Denken« sind. Nach Beendigung der Schulzeit wurde dieselbe Fähigkeit wieder getestet – und jetzt sind es leider nur noch 4 Prozent. Ich behaupte, dass auch deshalb die Fähigkeit, Innovationen hervorzubringen, in unserer Gesellschaft unterentwickelt ist. Und doch ist sie dieser Tage die wertvollste Ressource, da nur sie den Wandel gestalten kann.
»Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluss entzieht sich eurem Zugriff. Kommt damit klar.«
Cluetrain-Manifest
Mit diesem Satz fängt das »Cluetrain-Manifest« an, in dem die US-amerikanischen Internetpioniere Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger darstellen, wie sich die Beziehung der Unternehmen zu ihren Kunden und auch zu ihren Mitarbeitern durch das Internet verändert. Das Manifest ist bereits 1999 erschienen, aber wer es liest, der erkennt, dass für die Autoren bereits damals klar war, wie sich die Welt durch das Internet wandeln wird, und dass ein sehr großer Teil der Aussagen sich tatsächlich exakt so bewahrheitet. Es ist also keine »Glaskugel-Leserei« gewesen, sondern eine realistische Zukunftsprognose, deren Aussagen sich immer mehr in äußeren Gestaltungsformen manifestieren.
Trotzdem kenne ich kein Unternehmen, das mit dem Cluetrain-Manifest arbeitet, um die eigenen Kunden- und Mitarbeiterbeziehungen zu verändern. Die Digitalisierung setzt die Unternehmen nicht nur von innen heraus unter Druck. Auch die Anforderungen der Kunden haben sich stark gewandelt. Der gesamte Kernprozess, man kann ihn fast als eine Art DNA der Unternehmen bezeichnen, verläuft seit Jahrzehnten in folgender eingespielter Weise: Die Entwicklung erfindet Produkte, die in der Produktion hergestellt werden und über das Marketing und den Vertrieb verkauft werden. Das Marketing erfüllt seine Funktion dabei, indem es dem Kunden über verschiedene Kanäle erklärt, warum das Unternehmen und seine Produkte spitze sind. Dieser Prozess funktionierte jahrzehntelang hervorragend – nämlich solange dem Kunden das Internet noch nicht als umfassende Informationsquelle und Kommunikationsplattform zur Verfügung stand.
Vernetzte Kunden jedoch formen vernetzte Märkte, und diese beginnen sich schneller selbst zu organisieren als die Unternehmen, die sie traditionell beliefert haben. Mithilfe des Webs werden Kunden und Märkte intelligenter und fordernder als jemals zuvor und stellen so völlig neue Anforderungen. In den Vor-Internet-Zeiten wählte der Kunde einen Händler oder eine Marke seines Vertrauens und musste sich auf die Qualität verlassen. Eine neutrale Information über die tatsächlichen Produkteigenschaften war nur sehr selektiv möglich, etwa über Testberichte in Printmedien oder in Verbrauchermagazinen. Es bedurfte einiger Bemühungen, sie zu erhalten, und wenn man sie hatte, war man immer noch darauf angewiesen, dass das herausgefilterte beste Produkt bei einem Händler in der Nähe oder einem Katalogversand wie Quelle angeboten wurde.
Heute ist jede Information und jedes Produkt innerhalb eines Mausklicks erreichbar. Schon heute sind 81 Prozent der Marketingverantwortlichen in den USA davon überzeugt, dass das Marketing sich und seine Rolle im Unternehmen künftig genau deshalb völlig neu erfinden muss. Aber nur 14 Prozent haben eine Ahnung, wie das funktionieren soll (Quelle: Studie Digital Roadblock, Adobe). Gerade den Kundenstimmen kommt eine besonders hohe Seriosität und Glaubwürdigkeit zu; sie haben einen immens hohen Einfluss auf die Verkaufsmöglichkeiten und den Erfolg eines Produkts. Es ist in diesem Kontext verständlich, dass das Marketing keine geschönten, idealisierten Produktversprechen mehr kommunizieren kann. Vielmehr scheitern solche Versuche bereits im Ansatz und fallen auf die gesamte Glaubwürdigkeit des Unternehmens zurück, wenn zwischen Marketingbotschaft und digitaler Kundenbewertung eine Lücke klafft. Unternehmen setzen sich bei einem solchen Verhalten der Gefahr eines massiven Imageschadens, einer Markenbeschädigung und eines Vertrauensverlustes der Kunden aus.
Wir werden anhand jüngster Ereignisse beobachten können, ob VW den durch das eigene Verhalten – das Veröffentlichen falscher Abgaswerte – produzierten Vertrauensverlust bei den Kunden überleben wird. Es wird ohne Zweifel ein harter Weg, bis auch in Internetforen irgendwann wieder positiv über Produkteigenschaften von VW geurteilt werden wird. Im Prinzip hat VW sich einen »Generalverdacht« der Nutzer zugezogen, dank dem der Konzern mit jedem neuen Produkt im negativen Bereich starten wird. Doch nicht nur VW als Extrembeispiel eines Unternehmens, das einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat, der im Internet noch Jahre nachhallt und in Foren gepflegt werden wird, steht vor großen Herausforderungen. Das Internet mit seiner viralen, unsteuerbaren Meinungsbildung zeigt falschen Marketingversprechen oder Produkten, die die Kundenbedürfnisse nicht befriedigen, fast umgehend die Rote Karte. Ein Beispiel für ein Unternehmen, das daran gescheitert ist, dass es nicht realisiert hat, wie wichtig das Erkennen und Beantworten der Kundenbedürfnisse heute ist, ist Nokia – von 1998 bis 2011 weltweit größter Handyhersteller und somit in einer ursprünglich exzellenten Ausgangssituation. Sowohl Apple als auch Samsung waren einfach besser darin, die Bedürfnisse ihrer Kunden zu identifizieren und entsprechende Produkte zu produzieren. Nokias Strategie setzte nicht auf die Bedürfnisse der Kunden, sondern auf ein Partnermanagement – und arbeitete so konsequent am Markt vorbei. 2013 wurde aufgrund hoher Defizite die Handysparte an Microsoft verkauft. Seit 2014 nutzt Microsoft die Marke Nokia als Handy- und Smartphone-Marke nicht mehr – innerhalb von drei Jahren ist ein Weltmarktführer vom Markt verschwunden. Viele große Unternehmen sind heute noch damit überfordert, das Prinzip der Augenhöhe umzusetzen und Bedürfnisse von Kunden und Mitarbeitern ernst zu nehmen. Es entspricht nicht ihrer gewachsenen, historisch bedingten Herangehensweise und somit weder der internen Kultur, die sie im Umgang mit ihren Mitarbeitern pflegen, noch der externen Kultur im Umgang mit ihren Kunden.
Die drastisch geänderten Anforderungen an das Marketing werden in allen Unternehmen wahrgenommen und führen zu hoher Verunsicherung. Die Folge ist oft eine Reduzierung auf kurzfristige Kennzahlen, wie zum Beispiel die »Realtime-Response-Rate« von Online-Kampagnen, die keinerlei Aussagekraft für die Marketingstrategie haben und das Gegenteil von nachhaltiger Markenführung sind. Man muss das verstehen als wahren Ausdruck der Verzweiflung und Beweis dafür, dass das derzeitige Marketing in seinen Herangehensweisen an seinen Grenzen angelangt ist. Man kann aber auch erkennen, dass die Online-Marketing-Welt immer noch als leicht geänderte Form der klassischen TV- und Print-Marketing-Welt verstanden wird. Social-Media-Marketing wird aus diesem Verständnis heraus so umgesetzt, dass jeder – auch Almighurt – jetzt eine Facebook-Seite hat. Die Unternehmen sind enttäuscht, wenn das keinen Nutzer interessiert.
Dahinter steckt ein fehlendes Online-Media-Verständnis und eine fehlende Umsetzung und Integration der Offline- und Online-Media-Strategien des Unternehmens. Und selbst, wenn ein Unternehmen es schafft, das zu entwickeln, so ist der Kernprozess im Unternehmen heute noch nicht darauf ausgerichtet, den Bedürfnissen des Kunden einen entsprechenden Einfluss auf die Produktentwicklung zu geben. Deshalb kommt es zwangsläufig zwischen dem Marketing und dem Rest des Unternehmens zu einer Art Kampf um die richtige Vorgehensweise. Das Marketing kämpft um mehr Gehör, andere Dialogformen und mehr Einfluss auf die Strategie, die Entwicklung und das Produkt. Auch kämpft es für eine andere Unternehmenskultur, denn will man den Dialog mit dem Kunden glaubhaft ändern, muss die gleiche Offenheit intern in der Art des Umgangs mit den Mitarbeitern herrschen. Oft ist dem Marketing bereits bewusst, dass die Schnittstelle zum Kunden nur auf Basis einer dialoghaften Kommunikation bei gleichzeitiger Sicherung der Einflussnahme des Verbrauchers auf die Gestaltung und Entstehung von Produkten geformt werden kann.
Die Grenzen des Unternehmens verschwimmen dadurch und werden (noch) künstlich aufrechterhalten, jedoch sind in Wahrheit Mitarbeiter, Kunden und Märkte Subsysteme desselben kommunizierenden Netzwerks. Deshalb ist es die einzige Option, wenn man als Unternehmen erfolgreich sein möchte, die Bedürfnisse dieser Menschen ernst zu nehmen und menschlich zu agieren – intern wie extern. Sonst gibt es keine Märkte, keine Kunden – und folgerichtig irgendwann auch keine Mitarbeiter für diese Unternehmen mehr. Andere Bereiche des Unternehmens, die keinen direkten Kundenkontakt haben, wehren sich aber und hinterfragen die Sinnhaftigkeit des Vorgehens, das auf die Kundenbedürfnisse Rücksicht nimmt. Der Kernprozess im Unternehmen läuft deshalb weiter wie bisher, und die meisten Unternehmen geben dem Marketing nicht die notwendige neue Rolle in der Gesamtausrichtung des Unternehmens. Die Unternehmen kommen jedoch nicht umhin, sich der Frage zu stellen, was die Anforderungen mündiger Verbraucher an authentische Produkte und ehrliche Kommunikation für sie selbst bedeuten. Dem Marketing kommt in einem veränderten Modell die Rolle eines Vermittlers zwischen den Interessen der Kunden und den Interessen des Unternehmens zu. Die notwendige Phase des gemeinsamen Neugestaltens und Lernens macht im Unternehmen Angst.
Ein Unternehmen, das diese Herausforderungen bereits angenommen hat und seit 2010 Lernschritte unternimmt, ist Audi. Während das kernprozessgeprägte Denken im Marketing eines Automobilkonzerns stets war, dem Kunden die technische Finesse der Produkte zu erläutern, hat man begriffen, dass sich das eigene Selbstverständnis wandeln muss, um zu überleben. So versteht sich das Unternehmen heute mehr und mehr als Teil eines übergreifenden Mobilitätswesens, das den Menschen nützen muss. Man hat bewusst nicht gefragt »Wie passen die Autos von Audi in dieses Konzept?« oder »Wie muss Mobilität in Zukunft sein, damit wir noch Audis verkaufen können?«. Zunächst wurde erforscht, wie die Wohnsituation, die Städteplanung, die Bevölkerungsentwicklung und die Anforderungen der Einwohner an ihre eigene Mobilität sich heute und in Zukunft wandeln werden. Erst dann hat man sich der Frage gewidmet, welchen Nutzen Audi im Rahmen dieses Wandels stiften kann. An der neuen, offenen Art der Fragestellung erkennt man den Bewusstseinswandel und den größeren Verständnisrahmen für die zukünftige Entwicklung von Mobilität und die mögliche Rolle von Audi darin. Man braucht Mut, solche Fragen zu formulieren, denn sie stellen die bestehende, sicherheitsstiftende Identität infrage, ohne Alternativen oder gar eine klare Zukunft aufzeigen zu können. Das ist ein fundamentaler Haltungswandel, da man bereit sein musste, sich von existierenden Produktpipelines, Produktionsstätten und -möglichkeiten und Ressourcen gedanklich zu lösen, um erst mal über den eigenen Tellerrand zu blicken. Für mich ist das ein gelungenes Beispiel eines Vorgehens, das Konzernen dabei hilft, die Herausforderungen der komplexen globalisierten Welt und der Kunden zu erforschen und für sich zu nutzen: konsequentes Verstehen der Bedürfnisse des Kunden und der Märkte und nachfolgende Ausrichtung des Unternehmens im Inneren daran. Nicht umsonst gibt es etliche Fachleute, die behaupten, CEOs würden künftig oft Marketingexperten sein.